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Vom kleinen Mädchen, das die Sonne aus den Wolken rief

Da war ein kleines Mädchen, Altrut hat es geheißen, aber alle Leute nannten es Trippelschritt; das war flink mit den Füßen und mit der Zunge, hatte braune Augen und helle Locken und darin eingerahmt ein Gesicht, das sah so aus wie ein Pfirsich, wenn er reif ist und so zarte, rote Backen hat.

Dies Mädchen wachte eines Morgens auf und rief mit heller Stimme: »Mutter, ich will angezogen werden, und wenn ich angezogen bin, will ich auf die grüne Wiese gehen und bunte Schmetterlinge haschen.«

Da sagte die Mutter: »Angezogen sollst du werden, aber auf die grüne Wiese kannst du nicht, und die Schmetterlinge sind gar nicht da. Die Sonne hat vergessen aufzustehen, und die Wolken gießen herunter, daß draußen alles schwimmt.«

»Wenn es nur das ist,« meinte Trippelschritt, »da weiß ich schon Rat! Ich will hinausgehen und die Sonne aus den Wolken rufen.«

Die Mutter lachte und sprach: »Wenn du das kannst, das tu nur. Dann mußt du durch den Wald gehen, der hinter unserm Hause ist, und wenn du durch den Wald bist, steig auf den Hahnenberg; wenn du dann rufst, kann dich die Sonne besser hören. Aber vergiß nicht, einen Schirm mitzunehmen, sonst wirst du naß.«

»Einen Schirm brauch' ich nicht,« antwortete das kleine Mädchen, »ich weiß was Besseres,« und damit ging es über die Diele nach vorn, wo die Großmutter wohnte; die saß in ihrer Stube und spann.

Es klopfte an die Tür und ging hinein und bat: »Großmutter, leih mir deine Nebelkappe; ich will hinaus ins Wetter.«

Da gab ihm die Großmutter ihre Kappe und sagte: »Gib aber fein acht; sie muß unter dem Halse fest zugeknotet werden, sonst verlierst du sie.«

Als nun Trippelschritt die Kappe hatte, setzte es sie auf seine lichten Locken und ging hinaus. Ei, wie goß es da! Aber davor war dem kleinen Mädchen nicht bange. Es machte Trippeltritt und Hüpfeschritt, drehte sich dreimal im Kreise, und dabei sang es:

»Fünf Schritt vor, dann zwei zurück!
Hundert Schritt, dann bück den Rück!
Regen fließt ins grüne Gras,
Macht mir meine Schuh' nicht naß.«

Danach ging es, mir nichts, dir nichts, in den Wald hinein, und es ist wunderbar zu sagen, es bekam keinen Faden naß in seinem Zeug. Als es noch vorn im Walde war, stand dort ein großer Pilz, darunter saß ein Zaunkönig mit seiner Frau.

»Na, was tut ihr denn da?« fragte Trippelschritt.

»Wir bauen uns ein neues Schloß,« gab der Zaunkönig zur Antwort, »aber es ist noch kein Dach darauf, und da sind wir hier untergekrochen. Tritt nur herein, es ist noch Platz genug; draußen wirst du naß.«

»Danke,« erwiderte das Mädchen. »Ich habe Großmutters Nebelkappe auf; die kann schon einen Guß vertragen. Ade!«

Damit ging es weiter, und als es in der Mitte des Waldes war, da äugte ein Fuchs aus seinem Bau und rief: »Guten Tag, Trippelschritt! Du draußen in dem Wetter? Komm doch ein bißchen herein und zeig mir mal, was für ein sonderbares Ding du auf dem Kopfe hast.«

»Du mußt nicht so neugierig sein,« sagte das Mädchen, »übrigens hat dein Haus keine Fenster, und da ist es mir zu dunkel.«

So zog es denn weiter durch den ganzen Wald, und als es ihn beinahe hinter sich hatte, guckte ein Specht aus seinem hölzernen Hause heraus und fragte: »He, kleines Mädchen, will es denn noch nicht bald trocken werden?«

»Gleich,« antwortete Trippelschritt, »wenn ich nur erst oben auf dem Hahnenberge bin. Da will ich die Sonne aus den Wolken rufen.«

»Wenn du das tun willst,« sagte der Specht, »dann pflück dir den Ahornzweig ab, der vor deiner Nase hängt. Unter seinen Blättern sitzen drei Marienkäfer; die kennen die Sonne besser, als einer von euch Menschen sie kennt. Die werden dir helfen können.«

Da brach sich das Mädchen den Zweig ab, und dann ging es den Hahnenberg hinauf.

Nun war es ganz im Freien, und hu! kam der Wind ihm entgegengelaufen und schrie ihm zu: »Lauf nach Hause, Trippelschritt! Ich will nicht haben, daß du die Sonne aus den Wolken rufst,« und dabei wollte er ihm den Regen in die Augen spritzen.

Da lachte ihn das kleine Mädchen aus, drückte sich seine Kappe fest aufs Haar und stieg tapfer weiter, fünf Schritt vor und zwei zurück und nach hundert Schritten bück den Rück. So war es beinahe oben, nur sechs Schritte noch, da freute es sich und lachte hell auf. Aber es freute sich ein wenig zu früh und vergaß das letzte Bück den Rück! Und da bekam der Wind Macht über seine Kappe, riß sie ihm vom Kopfe und warf sie, hast du nicht gesehn! den Hahnenberg hinunter, und dann goß er ihm den Regen über die Kleider, und in einem Nu war es pudelnaß. Aber es biß tapfer die Zähne zusammen und quälte sich doch den Berg hinauf, den Zweig mit den Marienkäferchen noch immer in den Händen. Als es nun oben war, rief es laut mit heller Stimme: »Sonne, Frau Sonne, liebe Frau Sonne!« und rief wohl ein dutzendmal und mehr. Aber die Sonne konnte nichts hören; denn der Wind heulte so laut, als wenn tausend Wölfe bellen.

Da dachte Trippelschritt an die Marienkäferchen, hob den Zweig hoch und sagte:

»Ihr Sonnenküken, Herrgottswürmchen,
Fliegt flugs auf das höchste Himmelstürmchen
Und sagt der lieben Frau Sonne Bescheid:
Sonne soll durch die Wolken lachen
Und mein patschnasses Kleid mir trocken machen,
Mein rosenrotes neues Kleid.«

Nun wollten die Marienkäfer ihre Flügel ausbreiten, aber es ging nicht; denn der Regen war auch gar zu arg. Flugs nahm das kleine Mädchen den Zweig und warf ihn hoch in die Wolken, so hoch, daß er gar nicht mehr zu sehen war. Da war der Wind ganz erstaunt, und er schwieg einen Augenblick still, und das Mädchen rief wieder: »Frau Sonne, Frau Sonne!«

Da kam eine klare, freundliche Stimme aus den Wolken herab mit einem Klang, der einem das Herz warm machen konnte, und die Stimme rief: »Bist du das, Trippelschritt?«

»Ja, das bin ich,« sagte das kleine Mädchen. »Ich bitt' dich, Frau Sonne, schlag doch ein bißchen die Gardinen zurück, daß die Menschen dich mal wieder sehen können.«

Als die Sonne das kleine Mädchen so reden hörte, da mußte sie laut lachen, und sie lachte so herzlich, daß alle Wolken Angst bekamen, und sie riefen den Wind und baten: »Lieber Wind, hilf uns fliegen, sonst wird uns die Sonne noch die Flügel verbrennen!«

So hat Trippelschritt die Sonne aus den Wolken gerufen, und es dauerte nicht lange, da war keine mehr zu sehen, und die Sonne stand ganz allein am Himmel, und mit ihren Strahlen machte sie alles wieder trocken, zuerst das kleine Mädchen und dann die ganze Welt.

Da sang das kleine Mädchen, und singend hüpfte es den Hahnenberg hinunter. Und als es unten ankam, begegnete ihm der Specht und sagte: »Sieh mal, Trippelschritt, was ich wohl gefunden habe!«

Und was war es denn? Seiner Großmutter Nebelkappe war es. Da hat das kleine Mädchen dank' schön! gesagt und sie mitgenommen nach Hause.

Und was hat es dann getan?

Auf die grüne Wiese ist es gegangen und hat die bunten Schmetterlinge gehascht.

*

 


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