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Gedanken sind wie Champagner; sie bedürfen vor ihrer Loslassung notwendig einer gewissen Abkühlung. Und gerade mit den feurigsten Rossen kommt man nicht zu einem bestimmten Ziel, wenn nicht eine ruhige feste Hand sie am Zügel hält. Unsere Gedanken dürfen nicht mit uns durchgehen.
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Eine Kassandra-Natur und ein Kassandra-Beruf sind doch eigentlich von recht zweifelhaftem Werte. Ja, mir will es fast scheinen, als ob ein gegenwartsfrohes und gegenwartsicheres »après nous le déluge« mehr Gutes enthielte und wirkte, als alle Kassandrarufe und Savonarola-Predigten je gethan.
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Pfaffen. – Den meisten Professoren geht es mit der Kunst, wie den meisten Priestern mit Gott: sie haben nie etwas von ihm verspürt, weder von innen noch von aussen; aber sie wissen genau, was sie von ihm zu halten, und noch genauer, was sie von ihm zu reden haben. Sie sind Pfaffen, die einen wie die andern.
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Nichts gewährt einen so drolligen Anblick als die Herren »Wagner« auf ihren Kathedern über den Wagner (des Faust) sprechen zu hören. Das spottet auch seiner selbst und weiss nicht wie.
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Der Stoff in der Kunst. – Das grosse Publikum lässt in Kunstwerken, seien es Werke der bildenden Kunst oder der Dichtung, nur den Stoff auf sich wirken. Daraus folgt, dass derjenige Teil des Publikums, welchen ein historischer, archäologisch-antiquarischer, naturwissenschaftlicher, ethnographischer, anthropologischer, mit einem Worte, wissenschaftlicher Stoff zu interessieren vermag, sich darauf, wenn er will, schon etwas zu Gute thun darf. Denn es gehört dazu immer ein wenn auch noch so geringer Anflug von wissenschaftlicher Bildung, was man so »Bildung« nennt. Für nichtwissenschaftliche Stoffe, z. B. Liebesgeschichten und sonstige Geschehnisse des Menschenlebens, kann sich jede Köchin interessieren. Und von seiner Köchin will man sich doch unterscheiden! Wenn diese Leute einmal geahnt hätten, dass der Stoff nicht nur nicht das einzige, sondern eigentlich das geringfügigste im Kunstwerk ist und an dessen Wesen als solchem gar keinen Teil hat, so müssten sie auch einsehen, dass sie mit ihrer Wissbegier oder gelehrten Neugierde, womit sie ihren gefeierten »Dichter« lesen, wahren Kunstgenüssen um kein Haar näher stehen als die Köchin oder der Schneidergeselle (oder die »höhere und höchste Tochter«), die ihren Leihbibliothekband verschlingen, um zu erfahren, ob und wie »sie sich kriegen«.
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Rein fremder Stoff. –Ich meine: ein Kunstwerk kann uns nur dann wahrhaft künstlerisch interessieren, wenn wir mit seinem Stoffe von vornherein menschlich vertraut sind.
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Es gibt heutzutage Schriftsteller, die ihre Werke selber als Humoresken ankündigen, was ungefähr ebenso geschmackvoll ist als wenn einer riefe: Passt auf, ich werde einen Witz machen.
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Herz. – Ein rechter Unfug wird mit dem Worte »Herz« getrieben. Man muss dies nachgerade ein unglückliches Wort nennen, das selbst bei guten Schriftstellern oft genug eine verzwickte Rolle spielt. So wenig man heute, wie etwa noch zu Goethe's Zeiten, von Nieren und Eingeweiden redet, wenn es sich um Thatsachen des höhern und höchsten Empfindungslebens handelt, so sicher wird eines Tags auch das Wort »Herz« in jedem andern als anatomisch-physiologischen Sinne der poetischen Rumpelkammer verfallen. Ein guter Schriftsteller sollte deshalb, sobald ihm das gemissbrauchte Wort in den Mund kommt, sich genau besinnen, was er damit meint – und das sollte er dann sagen.
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Litterarische Nationalökonomie. – Es gibt einen litterarischen Mittelstand so gut wie einen gesellschaftlichen. Und im letztern nicht nur, auch im erstern ist das Durchschnittsvermögen innerhalb der verschiedenen Nationen ein verschiedenes. Ebenso sein qualitatives und quantitatives Verhältnis zu den andern Klassen, zur Aristokratie einerseits, zum Volkshaufen anderseits. Untersuchungen in diesem Sinne müssten höchst interessant sein. Aber eine litterarische Nationalökonomie haben wir in Deutschland noch nicht, wenigstens keine, die auch nur annähernd so wissenschaftlich, so statistisch genau arbeitete wie ihre zwar ebenfalls noch junge, aber bereits sehr entwickelte und einflussreiche Schwester. Die neue Wissenschaft hätte ihre pikante Seiten.
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Reclam. – Mit der 3000sten Nummer hat die Reclam'sche Universalbibliothek ihr 25jähriges Jubiläum begangen.
Damit lässt sich ein Jubiläum feiern. Auch darf man das Unternehmen und seinen Erfolg aus vollem Herzen beglückwünschen. Reclam hat damit den Beweis geliefert, dass auch in Deutschland Bücher gekauft werden. Und zwar vom Volk. In Frankreich sind alle derartigen Unternehmungen bis jetzt nicht weit gegangen; bei uns können sogar mehrere nebeneinander gedeihen. Daraus geht unbestreitbar hervor, dass bei uns im eigentlichen Volke ein grosses Lesebedürfnis vorhanden ist, dem ein so ungeheuerer Verbrauch von Büchern, von wohlfeilen Büchern natürlich, entspricht, wie ihn vielleicht keine andere Nation kennt. Darauf dürfen wir doch stolz sein! Oder nicht? Gewiss, namentlich wenn es erwiesen ist, dass naturgemäss auf der sozialen Leiter aufwärts dieser Bedürfnis- und Verbrauchsfaktor progressiv wächst. Und da sind wir denn glücklich beim reinsten Hohn angelangt – aber auch bei einer Lebensfrage der Litteratur, der Kunst, der Kultur ...
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Es müsste nicht solche Käuze geben. – Unsere Litteratur bietet eine Reihe von Beispielen, dass gewisse Dichter deutlich merken liessen, wie sie sich nicht sowohl auf ihr Dichtertum als ihr Gelehrtentum etwas zugute thaten. Mit dem letztern glaubten sie ihren Anspruch auf Schätzung bei der Nation besser zu begründen. Seltsame Dichter! Und ebenso gibt es heute Vertreter der Litteratur, die ebenfalls den Dichter in sich heruntersetzen, nicht gegen den Gelehrten, sondern gegen den Offizier; die offenbar bemüht sind, in ihren Werken mehr den Offizier als den Dichter herauszuhängen, denen mehr daran liegt, sich in ihren Werken als guten Offizier zu zeigen, denn als vortrefflicher Schriftsteller. Man kennt verschiedene solcher Käuze.
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Litterarischer Demokratismus. – Es ist keine Frage: Die Litteratur des republikanischen Frankreich hat eine aristokratische Physiognomie und Seele, die Litteratur des Königreichs Preussen aber und des deutschen Kaiserreichs riecht durch und durch demokratisch. Ein gewisser militärisch junkerlicher Feudalismus, der darin zum Ausdruck kommt, ändert daran nichts. Und das kommt daher: der französische Schriftsteller, auch der des 19. Jahrhunderts, auch der von heute, auch der Vollblutrepublikaner – Zola vielleicht ausgenommen – schreibt für die vornehme Gesellschaft, fast wie in vorigen Jahrhunderten. Und der deutsche Schriftsteller, für wen schreibt der? Für die »Gebildeten« sagt man; für den »gebildeten Mittelstand«. Für den »Mittelstand«, das scheint so. Und für dessen Bildung mag es ein Glück sein. Aber für die Litteratur? Uebrigens warum ein Glück für die Bildung des Mittelstandes? Er hat es ja gar nicht nötig, er hat ja, wie man zu sagen pflegt, die Bildung mit Löffeln gegessen. Ich fürchte mit Schöpflöffeln.
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Künstlerisch und unkünstlerisch. – Dieser Schriftsteller will uns nicht nur die Aussenseite der Dinge zeigen, sondern er will auch in ihr Inneres hineinleuchten, in das Innere der Menschen vor allem. Das ist löblich. Aber er sucht dies auf einem Umweg zu erreichen, auf einem unkünstlerischen Umweg, der nicht nur langweilig ist, sondern auch nur unvollkommen oder gar nicht zum Ziele führt, – das überdies oft ohne ihn schon erreicht ist.
Er macht es so: er erzählt den äussern Verlauf einer Handlung oder eines Gesprächs, und wenn er damit fertig ist, berichtet er noch ausdrücklich – wie wenn er ein allwissender Gott wäre –, was dabei im Innern der Menschen vorgegangen ist, wie sie empfunden, wie sie gedacht, gefolgert, kalkuliert haben, was für Beweggründe in ihnen mächtig gewesen und so weiter.
Aber solche Berichte fallen ausserhalb des Rahmens der Kunst. Das ist erklärender Text zum Bild. Das Bild soll sich jedoch von selber erklären. Die Darstellung des sinnfälligen Vorgangs soll so beschaffen sein, dass jeder Nachtragsbericht unnötig ist, dass daraus schon genügend Licht auf den psychologischen Hintergrund fällt, der sich blitzartig, wie von selber erhellen muss – durch die Kunst des Dichters, nicht durch die nachgetragene Laterne seines reflektierenden Verstandes.
Woher anders will der Dichter das Innere der Menschen kennen als aus der scharfen Beobachtung ihres äussern Thun und Lassens? Daraus aber folgt: Gib, wenn du Dichter bist, nicht das Resultat deiner Erkenntnisse, was die Sache der Philosophie ist, sondern stelle einfach deine Beobachtungen hin, in voller farbiger Sinnlichkeit und in feiner Herausarbeitung des Bedeutenden, so wirst du den Leser zwingen, dieselben Folgerungen zu machen, zu denselben Erkenntnissen zu gelangen in Bezug auf das Nichtsinnfällige hinter und unter den Dingen, als wie du selber gemacht und wozu du selber gelangt bist. Das ist künstlerische Methode. Die Kunst ist sinnlich; sie ist wie die Welt selber und spricht zum Geist nur durch die Sinne. Gott selber macht es nicht anders.
Dazu gehört nun freilich die schwere Kunst, in der Rede der Menschen auch das auszudrücken, was sie verschweigen. Es gehört dazu, dass man dem Leser das Vergnügen gönnen mag, vieles zwischen den Zeilen zu lesen, und dass man zu stolz ist, um überhaupt für solche zu schreiben, denen man wie kleinen Kindern den weichsten Brei noch vorkauen soll.
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Realismus? – Dieser Bauernschilderer und Dorfgeschichtenerzähler (Heinrich Hansjakob) vergleicht sich mit Auerbach und Rosegger. Aber er meint, jene seien Dichter, er nicht; die Volksgestalten jener seien poetischer, die seinigen aber wahrer; jene sähen das Volk durch ihre Phantasie und thäten, indem sie es darstellten, von dem Ihrigen hinzu; in seinen Büchern aber erscheine das Volk, wie es leibe und lebe.
Man sieht, der Mann traut sich viel zu und verspricht viel, bei aller scheinbaren Bescheidenheit. Bei seinen Worten wird man an das Riesenfräulein von Burg Niedeck im Grimmschen Märchen erinnert. Das stieg von seiner Burg hernieder aufs Feld, und las alles auf, den Bauern und seinen Pflug, Knecht, Magd, Ochs, Esel und alles was sein war, und trug's in seiner Schürze heim, und zeigte es seinen Gespielinnen. Jedenfalls glaubt Hansjakob, es ganz ebenso machen zu können. Er hat keine Ahnung davon, dass nur Märchen-Riesenkinder und – Dichter solcher Wunder fähig sind. Und will gar kein Dichter sein. Die aber keine Dichter sind, müssen die schönen Sachen fein stehen lassen; sie können höchstens ihre Bemerkungen darüber machen, oberflächliche oder tiefe, dumme oder gescheite, langweilige oder geistreiche.
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Die Kunst soll erfreuen. – Die Kunst soll nicht niederschlagen, sie soll erheben, erheitern, erfreuen. Gewiss. Aber der eine erfreut sich an Hunden, Pferden, Kunstreiterinnen, der andere an der Blume am stillen Feldrain und an den weissen Wolken die am Himmel gehen; Kinder freuen sich am Flittergold und bunten Steinchen. Man kann jedem gern seine Freude gönnen, aber man muss bei passender Gelegenheit darauf hinweisen, dass es Kunstwerke gibt und – Puppen und nürnberger Spielwaren. Zur Freude der Menschenkinder dienen beide; beide haben also ihre Berechtigung, man darf sie nur nicht miteinander verwechseln.
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Die Kunst soll erfreuen und erbauen, heisst es. Aber gerade diejenigen, die diese Forderung am lautesten stellen, wollen sich nicht an der Kunst erfreuen, sondern an deren Rohstoffen. Mit der Bemerkung: »Der ganze Roman enthält nicht einen einzigen liebenswürdigen Charakter« werden bei uns Bücher »abgethan«. So ein Herr Kritiker scheint keine Ahnung davon zu haben, dass die Kunst an sich etwas liebenswürdiges ist.
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Verweiblichung der Litteratur. – So und so oft, wenn ich einen neuen Roman las, als Kritiker lesen musste, hätte ich geschworen, dass er von einem Weibe geschrieben sei. »Kürschner« belehrte mich eines »Bessern«. Alle diese Herren Autoren geben nicht nur den spezifisch weiblichen Eigenschaften und Tugenden (im weitesten Sinn) immer den Vorzug vor den männlichen, sie sehen auch die ganze Welt aus dem Gesichtswinkel der Frau an, der kleinen Frau.
Diese »kleine Käthe«, scheinen alle zu sagen, ist eine grosse Philosophin. Wie sie müsst ihr das Leben erfassen, wenn ihr glücklich werden wollt, was doch eben über alles geht.
Diese Art Schriftsteller wird eines Tages den lieben Gott vor ihren Richterstuhl citieren, dafür, dass er Löwen und Tiger erschaffen und den Lämmergeier. Wenn er lauter Gänse und Schafe und Kamele gemacht hätte, hier und da eine fette Milchkuh, da wäre die Welt doch friedlicher geworden und behaglicher, und heiterer, und glücklicher.
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Marie von Ebner-Eschenbach. – Eine Idee, ein Problem, oder wie man es nennen will, muss jede wahre Dichtung enthalten; wie jeder lebendige Organismus eine Seele! Aber deswegen dürfen beide nicht auseinanderliegen als eine Zweiheit, in der das eine nur des andern wegen da zu sein scheint. Wir werden in der Natur nicht zugeben, dass das Körperliche blosses Mittel ist. Und ebenso wenig dürfen wir es in der Kunst. Es hört im Gegenteil die wahre Kunst auf, wo der Demonstrator anfängt. In der Kunst gerade stört nichts mehr als die Absichtlichkeit. Das so oft ganz falsch in moralischer Anwendung citierte Goethe'sche Wort kann nur in diesem, im ästhetischen Sinne verstanden werden.
Und eine solche Absichtlichkeit trat mir in dieser »Margarethe« der berühmten Marie von Ebner-Eschenbach entgegen. Die Heldin der Novelle hat sich dem Dichter offenbar nicht aus dem Leben heraus in greifbarer Erscheinung aufgedrängt, in Wirkung auf seine Sinne, aber auch nicht in visionärer Weise, in dichterischem Somnambulismus; sie erscheint vielmehr als ein Geschöpf des rechnend zusammensetzenden Verstandes. Der Dichter hat sie sich so gedacht. Und so hat sie etwas Konstruiertes. Warum ich das behaupte? Einfach, weil sie mir nicht durch und durch glaubhaft ist, weil es dem Dichter nicht gelungen ist, mit seinen Zauber-, ich will sagen Darstellungsmitteln, den verneinenden Zweifel zu bannen. Bleibt ein Zweifel bestehen, so gibt es keine befriedigende Wirkung in der Kunst. Nicht genügt es, dass man zugibt, es kann ja wohl so sein. Nein es muss so sein. Bei »Margarethe« bekam ich dieses Gefühl nicht. Das ist die grosse Schwäche dieser Novelle. Ihre Erklärung habe ich angedeutet: der Dichter hat, um ja interessant zu werden, einen Griff über die Welt seiner lebendigen und zusammenhängenden Anschauungen hinausgethan. Zu seinem Schaden.
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Dichter und Publikum. – Ein Kritiker der »Revue des deux mondes« gab einmal, indem er über Gottfried Keller schrieb, seiner Verwunderung Ausdruck über die deutschen Schriftsteller, die nicht, wie die französischen, ein bestimmtes Publikum bei der Arbeit vor Augen haben und dann genau abwägen, was für dasselbe passt und was nicht, sondern die ohne Rücksicht auf ihre Leser schreiben, was ihnen gut dünkt, als ob sie ihre Bücher nicht für jene, sondern nur für sich selber machten, zu ihrem blossen Vergnügen.
Heute ist auch in Deutschland nur noch hie und da einmal einer so dumm.
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Darstellung und Dargestelltes. – Der Dichter darf natürlich auch das Halbe und Unzulängliche darstellen, auch das Verschrobene und Verrückte, alles was er nur mag. Man muss das in Deutschland ausdrücklich betonen, weil es hier genug Esel von Kritikern gibt, die den Autor zur Rede stellen, mit welchem Recht er ihnen einen Hippopotamus vorführe, während sie ein Rhinoceros erwartet hatten. Aber der Autor darf nicht seinen Hippopotamus für einen Elefanten, er darf nicht krumm für grad ausgeben wollen. Es handelt sich mit einem Wort um das »Wie«, nicht um das »Was«.
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Deutsche Litteratur. – Die Franzosen haben unsere Litteratur Jahrhunderte lang ignoriert. Dann haben sie einen Augenblick mit fast bewundernder Neugier zu uns herübergeblickt, recht wie Kinder, die eine neue Naturerscheinung anstaunen. In jüngster Zeit, wo wir ihnen in vielem imponieren, reden sie doch mit der grössten Geringschätzung von unserer Litteratur. Viele Deutsche meinen, dass sie ganz Recht hätten.
Sie haben Recht, wenn sie die Litteratur als aktuellen Faktor des geistigen Gesamtlebens der Nation auffassen. Damit steht es in Deutschland schlimm, schlimmer als in irgend einem Volk des kultur-tragenden Europas. In keiner Nation ist die Tagespresse, die grosse und die kleine, so litteraturfremd, so litteraturfern. In keiner Nation steht der Dichter so auf der Seite, in keiner bedeutet er so wenig als in Deutschland. Und ich rede nicht von seiner Person; ich rede von seinem Schaffen. Nirgendwo wird dieses von den Vertretern der Presse und der Wissenschaft mit grösserer Gleichgiltigkeit und Geringschätzung behandelt. Die Presse redet ja viel von Blumenthal und Kadlenburg, von Sudermann und Hauptmann. Aber das ist Theater. Das ist was anderes. Das Theater freilich spielt eine Rolle. Das Theater kostet schwer Geld. Ins Theater gehen die reichen Leute.
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Heinrich Heine. – Man hat Heine den letzten Romantiker genannt, und das war der jüngere Heine in der That. Später wurde er dafür der erste »moderne« Dichter und ganz besonders der erste Dichter des Sozialismus, der grösste bis auf den heutigen Tag. Wiewohl Poet und also aristokratische Natur durch und durch, musste er dennoch, in seinem Wintermärchen, in den Strophen vom Harfenmädchen, als erster das Losungswort des sozialdemokratischen Begehrens ausgeben, musste er, mit echtem Prophetensinn, sein Lied von den Wanderratten singen, das sich in so gewaltigem Umfang bereits erfüllt hat. Doch gerecht ist es nicht, dem Propheten ein Verbrechen daraus zu machen, dass seine Prophezeihung wahr geworden ist. Die heutige bürgerliche Gesellschaft, die Heine ein Denkmal verweigert, sollte dies bedenken.
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Romantik und »Moderne«. – Das Wesen der Romantik war nichts anderes als die Grundstimmung alles künstlerischen und besonders poetischen Schaffens, nichts anderes als Sehnsucht, unendliche schmerzliche Sehnsucht des Individuums nach Freiheit, Schönheit, Glück, mit einem Wort, nach einem höheren, klaren Zweck dieses verworrenen Lebens. Dass die Dichter in dieser Sehnsucht nicht an die Gegenwart glauben konnten, sondern sich an eine, zurechtgemachte, Vergangenheit wandten, hat man genug getadelt und verschrieen. Nichts ist leichter, besonders wenn man ein grosses Maul hat wie der selige Johannes Scheer, besonders wenn religiös-konfessionelle Beschränktheit Grund zur Empfindlichkeit zu haben glaubt und ihren pfäffischen Eifer in eine Sache mischt, mit der er gar nichts zu thun hat.
Die Romantik enthielt aber jedenfalls ein modernes Element: ihr Postulat der persönlichen Freiheit, vielmehr der souveränen Persönlichkeit, das von Fichte wissenschaftlich aufgegriffen, von Max Stirner in Flammenworten gepredigt wurde, und das endlich in dem kühnen Antidemokraten und Antisozialisten Nietzsche seinen gegenwärtigen und zukünftigen Vertreter gefunden hat.
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Humor. – Wer im Leben die Wahrheit liebt, wird sie auch in der Kunst suchen und lieben. Es gibt gewiss viele unerfreuliche Wahrheiten; aber für den starken männlichen Geist ist die Wahrheit als solche immer eine Freude und Erhebung, in der Kunst noch mehr als im Leben. Denn dort ist sie für ihn nichts anderes als die Bestätigung der Schärfe und Richtigkeit seines eigenen Sehens und Hörens, der Ueberlegenheit seiner Sinne und seines Gehirns, also ein erhebendes, hocherfreuliches Erlebnis. Keine Wahrheit soll deshalb der Künstler umgehen; aber er soll sie in einer liebenswürdigen Art ausdrücken. Wie er das erreichen mag, ist seine Sache. Die Götter versuchen es unter Donner und Blitz, die Hofnarren unter Lachen und Grimassen. Und oft auch stellen sie sich, als ob sie selber keine Ahnung von dem hätten, was sie sagen. Hofnarren aber gibt es verschiedene Arten, und eine Art dient nicht am Hofe eines irdischen Königs, sondern einer himmlischen Königin oder Göttin, der hohen heiligen Weisheit. Das sind die Humoristen.
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F. Th. Vischer. – Vischer dachte bekanntlich nicht nur sehr hoch vom Humor, er hielt sich auch selber für einen grossen Humoristen; er hatte in diesem Stück keine geringe Meinung von sich.
Er hat seine Freude an seinem Machen,
Man sieht ihn zufrieden schmunzeln und lachen,
Ein redliches Auge sieht man rollen,
Wenn er predigen muss und grollen.
Er ist nie pikant, doch auch niemals schief.
Er ist nichts weiter als grundnaiv.
Und dass er geschnitten aus solchem Holz,
Darauf, er gesteht's, ist der Autor stolz.
Ich glaube aber, dass sich mehr als ein litterarisch feingebildeter Leser und Nichtschwabe finden wird, der zu manchen Sachen von Vischer bedenklich den Kopf schüttelt. Und gerade den höheren Humor wird mancher in Vischer ganz vermissen. Vor allem ist Vischers Humor fast nie rein, sondern immer mit Galle vermischt; er ist bald scharf satirisch, bald schulmeisterlich polternd, er muss »predigen und grollen«. Das ist Vischers starke, oder, wenn man will, schwache Seite. Und wo dann sein Humor einmal nicht mit diesen beiden Ingredienzien vermischt auftritt, wie in den ersten Schartenmaiergedichten, überschreitet er bereits das Grenzgebiet des Niedrigkomischen und wird zum parodistischen Spiel. Wenigstens sind die bekannten Faustszenen nichts anderes. Mit dem Bewusstsein
... von dem innern Widerspruch
Von dem Zickzack, dem tiefen Bruch,
Der durch das ganze Weltall dringt,
Dass man immer fürchtet: es zerspringt,
Während die also geborstene Welt
Doch immer noch steht und zusammenhält –
aus welchem Vischer den Humor entspringen lässt, und gewiss nicht mit Unrecht, haben diese seine eigenen Dichtungen wenig zu thun.
Vischers hauptsächlichste Bedeutung liegt aber in seiner scharfen Ausprägung und Klarstellung des schwäbischen Wesens, einmal ungewollt in seiner eigenen Persönlichkeit – (und das ist der Humor davon) – und dann bewusst und beabsichtigt in künstlerischen Darstellungen. In den letztern ist er der eifrige Anwalt des Schwabentums; doch kein blinder, zum mindesten nicht in Bezug auf die Schwäche seines Klienten; schon eher hinsichtlich der Vorzüge der andern Partei. Das Lustspiel »Nicht Ia.« ist dafür ein Beweis. Das Schwabenland und die Schwaben sind darin mit lebendigen Farben überaus fein und wahr gemalt, der einzige auftretende Norddeutsche aber ist eine Karikatur. Alles in allem finde ich in diesem kleinen dramatischen Gemälde und einer Jugend-Novelle »Freuden und Leiden des Skribenten Felix Wagner« den liebenswürdigsten Humor Vischers.
Wie zu den Schwaben im Engern verhält sich Vischer zu seiner Nation im Ganzen. Er hat harte strafende Worte für sie, für ihre Schwächen und Unrühmlichkeiten, aber auch hohe Begriffe von ihren Tugenden und Kräften.
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Martin Salander. – Die Handlung könnte kaum alltäglicher sein: Nichts von verblüffenden Ereignissen, keine Spur einer romantischen Phantasiewelt. Was in dem Buche geschieht, können wir rings um uns her beobachten. Auch die Liebe spielt darin eine geringe Rolle, eigentlich gar keine; denn beide male, wo sie in Betracht kommen könnte, handelt es sich nur um eine fratzenhafte Karikatur von ihr. Die Personen lauter biedere schweizer Geschäftsleute, nirgends eine äusserlich abstechende Figur. Nur einmal, wie wenn in einem Garten von deutschen Apfelbäumen, von Veilchen, Centifolien und Gelbveiglein, und vielen Brenn- und Taubnesseln, plötzlich eine exotische Blume aufschösse und ihren seltsam üppigen Kelch über alles empor trüge, taucht eine Art Feenwesen auf – Myrrha Glawicz, aber nur kurz und nur sehr von fern, wie eine Vision.
Ein sehr demokratisches Buch, rief ich einmal in mir selber aus. Aber nicht im bösen und schlimmen Sinn, sondern im guten und besten ist dieses Urteil richtig, wie man immer deutlicher merkt, je mehr man sich in die Dichtung hineinlebt. »Martin Salander« ist ein demokratisches Buch, zugegeben; aber es ist auch ein sehr feines, ein geistig sehr vornehmes Buch, so vornehm wie nicht viele geschrieben werden.
Die Menschen darin sind wirkliche Menschen, nicht mit klingenden Phrasen ausgestopfte Puppen, sondern mit Leben erfüllt durch und durch, mit eigentümlichem individuellem Leben, aus welchem sogar seltsame, überraschende Rätsel vor uns aufsteigen, trotz der Alltäglichkeit des äusserlichen Geschehens. Denn während wir im Leben an den Menschen meist nur sehen, was sie scheinen, zeigt uns der Dichter, was sie sind, zeigt uns den Kontrast von Sein und Schein, und leuchtet mit der Fackel seines Genius in die geheimsten Winkel der scheu in sich zusammen kauernden, sich zusammen wickelnden Lebensherzblätter. Nichts Gigantisches und Ausserordentliches, weder an Tugend noch an Laster, weder an Genie noch an Wahnwitz. Dafür verleiht der Dichter der Beschränktheit so rührend menschliche Aussenseiten, der gemeinen Schlechtigkeit so drollige Züge und eine so spasshafte Physiognomie, dass wir mit dem besten Vorsatz zum Gegenteil damit endigen, beide ganz interessant zu finden. Und er deckt uns, wo wir echt hausbackene Tugend vermuten, solch unerschöpfliche Sonnenheiterkeit des Gemüts auf, eine so echte und einfache Seelengrösse und eine geradezu bezaubernd liebenswürdige Weiblichkeit unter schlichter Aussenseite, dass wir mit Bewunderung erfüllt werden.
Aber auch wenn die zur Darstellung gebrachten Gestalten materiell für uns gar nichts Anziehendes hätten, so müssten uns allein die Kunst in der Gestaltung, die Art der Beleuchtung, die kleinen aber bedeutungsvollen Feinheiten im Detail ganz entzücken.
Nicht zum wenigsten zeigt sich die Meisterschaft des Verfassers in der grossen Einfachheit und Simplicität seiner Darstellungsmittel, welche diesmal wirklich so weit geht, dass man nur noch die Wirkung sieht, und die Mittel, womit dieselbe hervorgebracht wird, ganz vergisst: eine Sache, die sich auf einem gewissen naiven Standpunkte von selbst versteht und nur von Eingeweihten in ihrem ganzen Wert gewürdigt werden kann.
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