Jean Jaques Rousseau
Der Gesellschaftsvertrag
Jean Jaques Rousseau

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9. Kapitel

Vom Gemeingut

Jedes Glied des Gemeinwesens übergibt sich demselben in dem Augenblicke seines Entstehens, so wie es sich gerade vorfindet, sich und alle seine Kräfte, von denen die Güter, die es besitzt, einen Teil bilden. Dadurch, daß der Besitz hierbei in andere Hände übergeht, ändert er zwar nicht seine Natur und wird nicht Eigentum des Staatsoberhauptes; da jedoch die Kräfte des Gemeinwesens weit größer sind als die jedes einzelnen, so ist der Staatsbesitz in der Tat auch fester und gesicherter, ohne dadurch, wenigstens den Fremden gegenüber, rechtmäßiger zu sein; denn in bezug auf seine Glieder ist der Staat durch den Gesellschaftsvertrag, der im Staate als Grundlage aller Rechte dient, Herr über alle ihre Güter; was aber die übrigen Mächte anlangt, so ist er es ihnen gegenüber nur durch das ihm von den einzelnen übertragene Recht des ersten Besitzergreifers.

Obgleich das Recht des ersten Besitzergreifers berechtigter ist als das Recht des Stärkeren, so wird es doch erst nach Einführung des Eigentumsrechtes ein wirkliches Recht. Von Natur hat jeder Mensch ein Recht auf alles, was er notwendig braucht; aber gerade der Vertrag, der ihn zum Eigentümer irgendeines Gutes macht, schließt ihn von allem übrigen aus. Nach Festsetzung seines Anteils muß er sich auf ihn beschränken und hat kein Anrecht mehr auf das Gemeingut. Deshalb ist das im Naturzustande so schwache Recht des ersten Besitzergreifers jedem Staatsbürger so achtungswert. Man achtet in diesem Rechte nicht sowohl das Eigentum eines anderen als das, was einem selbst nicht gehört.

Um das Recht des ersten Besitzergreifers auf irgendein Stück Land zu begründen, bedarf es im allgemeinen folgender Bedingungen: erstens, daß dieses Stück Land noch von niemandem bewohnt werde; zweitens, daß man davon nur soviel in Anspruch nehme, wie man zum Unterhalte nötig hat; drittens endlich, daß man davon nicht durch eine leere Förmlichkeit Besitz ergreife, sondern durch Arbeit und Anbau, das einzige Zeichen des Eigentums, das in Ermangelung gesetzlicher Rechtsansprüche von anderen geachtet werden muß.

Gibt man dem Rechte des ersten Besitzergreifers nicht in der Tat dadurch die weiteste Ausdehnung, daß man es mit dem Bedürfnis und der Arbeit vereinigt? Kann man dieses Recht nicht einschränken? Soll es schon genügen, den Fuß auf ein gemeinschaftliches Stück Land zu setzen, um sich sofort für den Herrn desselben auszugeben? Soll die Stärke, die anderen Menschen einen Augenblick lang davon zu verjagen, schon genügen, um ihnen das Recht der Rückkehr zu nehmen? Wie kann sich ein Mensch oder ein Volk anders als durch eine widerrechtliche Besitzergreifung eines unermeßlichen Landstriches bemächtigen und es dem ganzen Menschengeschlechte entziehen, da er den übrigen Menschen den Raum und die Nahrungsmittel raubt, die die Natur ihnen gemeinschaftlich gibt? Als Nunnez Balbao im Namen der Krone von Castilien die Südsee und ganz Südamerika vom Ufer aus in Besitz nahm, war dies schon ausreichend, um allen seinen Bewohnern ihr Eigentumsrecht auf das Land zu entreißen und alle Fürsten der Welt davon auszuschließen? Bei solcher Sachlage vervielfältigen sich diese Förmlichkeiten höchst nutzloserweise, und der katholische König brauchte nur mit einem Male von dem ganzen Weltall Besitz zu ergreifen, sobald er nur hinterher von seinem Reiche alles ausschlösse, was schon vorher von anderen Fürsten in Besitz genommen war.

Es ist leicht begreiflich, wie die vereinigten und aneinandergrenzenden Ländereien der einzelnen Staatsgebiet werden, und wie das Recht der Oberherrlichkeit, indem es sich auf das von den Untertanen besetzte Gebiet ausdehnt, zugleich dinglich und persönlich wird, was die Besitzer in eine größere Abhängigkeit versetzt und ihre Kräfte selbst zu Bürgen ihrer Treue macht. Hierin liegt ein Vorteil, für den die Monarchen in früheren Zeiten kein Verständnis gehabt zu haben scheinen. Sie nannten sich nur Könige der Perser, der Skythen, der Mazedonier und schienen sich deshalb weit mehr für Oberhäupter der Menschen als für Herren des Landes zu halten. Heutigentags nennen sie sich viel geschickter Könige von Frankreich, von Spanien, von England usw., und indem sie auf solche Weise das Land in Besitz nehmen, haben sie auch die vollkommene Sicherheit, die Bewohner in Besitz zu behalten.

Das Sonderbare bei dieser Veräußerung liegt darin, daß das Gemeinwesen durch Übernahme der Güter der einzelnen diese nicht etwa ihrer Besitzungen beraubt, sondern ihnen gerade erst den rechtmäßigen Besitz dieser Güter in Wahrheit sichert, die Usurpation in ein wahres Recht und den Genuß in Eigentum verwandelt. Da die Besitzer jetzt als Verwahrer des Staatsgutes betrachtet, ihre Rechte von allen Gliedern des Staates geachtet und durch seine ganze Macht dem Fremden gegenüber behauptet werden: so haben sie durch eine Abtretung, die dem Gemeinwesen und in einem noch weit höheren Grade ihnen selbst vorteilhaft ist, alles, was sie hingaben, gleichsam wiedergenommen, ein Paradoxon, das sich durch die Unterscheidung der Rechte, die das Staatsoberhaupt und der Eigentümer auf das gleiche Grundstück haben, wie man später sehen wird, leicht erklärt.

Möglich ist auch, daß sich die Menschen zu vereinigen beginnen, ehe sie etwas besitzen, und dann, wenn sie sich später eines für alle ausreichenden Gebietes bemächtigen, es gemeinschaftlich benutzen oder unter sich teilen, sei es zu gleichen Teilen oder nach bestimmten, vom Staatsoberhaupte festgesetzten Verhältnissen. Auf welche Weise sich jedoch die Erwerbung vollziehen möge, stets ist das Recht, welches jeder einzelne auf sein besonderes Grundstück besitzt, dem Rechte, das dem Gemeinwesen auf alle zusteht, untergeordnet, sonst würde es der gesellschaftlichen Vereinigung an Festigkeit und der oberherrlichen Wirksamkeit an wahrer Kraft fehlen.

Ich schließe dieses Kapitel und dieses Buch mit einer Bemerkung, die jedem gesellschaftlichen Plane als Grundlage dienen muß: der Grundvertrag hebt nicht etwa die natürliche Gleichheit auf, sondern setzt im Gegenteil an die Stelle der physischen Ungleichheit, die die Natur unter den Menschen hätte hervorrufen können, eine sittliche und gesetzliche Gleichheit, so daß die Menschen, wenn sie auch an körperlicher und geistiger Kraft ungleich sein können, durch Übereinkunft und Recht alle gleich werdenUnter schlechten Regierungen ist diese Gleichheit nur scheinbar und trügerisch; sie dient nur dazu, den Armen in seinem Elend und den Reichen in seinem widerrechtlich erlangten Besitz zu erhalten. In Wahrheit sind die Gesetze immer nur für diejenigen wohltätig, die etwas besitzen, und den Besitzlosen schädlich, woraus folgt, daß den Menschen der gesellschaftliche Zustand nur solange vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zuviel hat.


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