Joseph Roth
Das Spinnennetz
Joseph Roth

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XXVIII

Zu Hause wurde er sich seiner Bedeutung bewußt. Hier geschah, was er befahl, hier geschah auch, was er im stillen nur wünschte. Er aß immer Speisen, die er ersehnte, ohne von ihnen zu sprechen. Er fand seine Kleider gebürstet, seine Hose gebügelt, alle Knöpfe an den Hemden; kein Papier vermißte er, seine Waffen lagen geordnet – er liebte die Waffen –, und seine Pistole putzte Elsa. Auch sie liebte Schießwaffen.

Er war nirgends so mächtig wie zu Hause. Fiel ihm die Lust an zu herrschen – er konnte es. Ergriff ihn Verlangen nach Wärme – sie wurde ihm. Hier zweifelte niemand an seiner Vollkommenheit. Er klagte am Abend über allzuviel Arbeit. Elsa sagte: »Du bist überlastet.« Er hob seine Verdienste hervor. »Du hast ein gutes Auge«, sagte Elsa, und er hielt sich für einen Menschenkenner. »Ich liebe den Lenz«, sagte Theodor. »Er ist ein treuer Freund«, erwiderte Elsa. Und er glaubte an Benjamins Treue. Er hörte das Lied vom schwarzbraunen Mägdlein gern, Elsa spielte es, unaufgefordert, vor dem Schlafengehen.

Sie liebte weder das Lied noch Benjamin Lenz, noch glaubte sie an Theodors Vollkommenheit. Aber es war nötig, in kleinen Dingen nachzugeben, um in großen recht zu behalten. Eine v. Schlieffen heiratete einen Bürgerlichen nur, weil sie hofft, daß er es zu den höchsten Stellen im Staate bringen kann. Dazu gehörte vor allem Beredsamkeit. Und sie brachte Theodor zum Sprechen.

Er vergaß fast seine Frau. Er fing leise an und steigerte die Kraft seiner Stimme. Er sprach nicht in seinem Zimmer. Er sprach im großen Saale. Von tausend Menschen schlug ihm achtungsvolles Lauschen entgegen, wie etwas Körperliches. Er sprach gut, wenn er eifrig sprach. Ein fremdes Licht entzündete sich in seinen Augen. Er glaubte an seine Worte. Seine Überzeugung war die Folge seiner eigenen Rede und wuchs mit dem Schall der Laute. Seine Stimme überzeugte ihn.

Er sprach von der Notwendigkeit, das Vaterland zu retten, und er gewann den Glauben seiner Jugend wieder. Alle Erfahrungen waren ausgelöscht. Er haßte ehrlich den inneren Feind, den Juden, den Pazifisten, den Plebejer. Er haßte sie wie damals, als er den Prinzen und Trebitsch, den Detektiv Klitsche und den Major Seyfarth noch nicht gekannt hatte. Auch Elsa haßte die inneren Feinde. Elsa war national. Sie sprach von dem schlechten Duft der Juden. Und Theodor glaubte, sich erinnern zu können, daß Trebitsch jüdisch gesprochen hatte. Benjamin Lenz allein nahm Theodor aus. Er wußte nichts Genaues über Lenz. Aber er wollte auch nichts wissen. Er ordnete Benjamin Lenz unter seine Freunde, wie den jüdischen Journalisten Pisk.

Und immer, wenn er so vor seiner Frau gesprochen hatte, schwoll am nächsten Morgen sein Zorn gegen die inneren Feinde, und er griff nach seiner blutigen Arbeit mit fleißiger Wollust. Die Verhafteten, die vor ihm standen, was wollten sie eigentlich in Deutschland? Gefielen ihnen die Zustände nicht, weshalb blieben sie? Wanderten sie nicht aus? Nach Frankreich, Rußland, Palästina? Er stellte diese Fragen an die Verhafteten. Einige sagten: »Weil Deutschland meine Heimat ist.« – »Sind Sie deshalb ein Verräter?« fragte Theodor. »Sie sind es selbst!« erwiderten sie. Sie waren froh, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzen wollte. Und sie büßten für ihre ungebührliche Antwort auf der Stelle. Der Agent an ihrer Seite zerrieb die Knochen ihrer Handgelenke.

Manchmal brachte man vor Theodor Blutiggeschlagene, rotes Blut rann über ihre Gesichter. In Theodor flammte das alte rauschende Rot auf, rote Sonnenräder kreisten vor seinem Auge, ein Jubel sang in ihm, Jubel hob ihn hoch, er freute sich, war leicht und beschwingt.

Einer lebte, dessen Blut er sehen wollte, jener Mann, der ihn verfolgt hatte. Noch sah Theodor das flackernde Haar des Mannes, sein weißes, hassendes Angesicht, den hochgeschwungenen Arm; den Sang des niedersausenden Stockes hörte er und fühlte Schmerz in der geschlagenen Hand. Noch lebte der Mann, der Theodor feige gesehen hatte, ihn, Theodor Lohse, als flüchtigen Feigling. Nach diesem Mann fahndeten alle Spitzel vergebens, sein Versteck suchte man von allen Verhafteten zu erfahren. Bei jeder Meldung, daß ein neuer Häftling angekommen, hoffte Theodor, auf die Spur seines Feindes zu kommen. Die meisten folterte man vergeblich. Sie wußten nichts oder verrieten nichts. Einige teilten Falsches mit. Und hielt man ihnen dann ihre Lügen vor, so lachten sie. Oder sie hatten sich geirrt.

Nur von einem konnte Hoffnung kommen, von Lenz. Lenz kannte den Mann.

»Es ist sozusagen Günthers Schwager«, erzählte Lenz. »Eine Art Familienrache. Er will Sie umbringen. Aber ich glaube, ich bin auf seiner Spur.«

Und immer wieder war es eine falsche Spur. Jeder Morgen brachte Benjamins Besuch und neue Hoffnungen. Jeder Abend enttäuschende, schmerzhafte Kunde.

Lenz beschrieb ihn genau. Er war der Bruder jenes Mädchens, das Günther geheiratet hätte. Lenz sagte »geheiratet hätte«. Manchmal sagte Benjamin »für das Günther gestorben ist«. Und, wenn er sich vergaß, »für das Sie ihn getötet haben«.

Und dieses Wort war unangenehm. Theodor sah die aufwärtsgekrampfte Oberlippe, weißes Zahnfleisch, einen schielenden Blick.

Aber Lenz beschrieb auch jenes Mannes Kleidung und seine Gewohnheiten. Er hatte ihn schon fast gefangen. Nur eine Lücke blieb immer offen, durch die der Gesuchte floh.

»Wir werden ihn finden«, versicherte Benjamin Lenz.

Aber er fand nicht den Mann, den Todfeind Theodors.

»Du hast einen Kummer«, sagte Elsa, »und erzählst mir nichts.«

»Es ist die Arbeit«, sagte Theodor. Und begann eine Rede über die Ziele der vaterländischen Politik.


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