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Die Nacht vor dem 2. November verbrachte Theodor mit Kameraden in einem Nachtlokal. Man hielt verschieden gefärbte Mädchen auf den Knien. Es galt, vom Leben Abschied zu nehmen. Das sagten die Offiziere den Mädchen. Der Gedanke an einen frühen Tod machte alle Mädchen wehmütig. Die Musik spielte »Die Wacht am Rhein«. Ein Gast saß da. Zwei Offiziere zerrten ihn in die Höhe. Er war dick und schwer und betrunken. Sie hielten ihn an den Schultern. Dann ließen sie ihn fallen. Er fiel unter den Tisch und blieb sitzen. Er spielte mit dem Sektkübel.
Der Morgen brach grau an. Es regnete. Theodor wartete am Bahnhof auf seine Kompanie. Sie sollte um acht Uhr in der Stadt gestellt sein. Es war ein Sonntag. Die Stadt sah schläfrig aus. Es regnete.
Um neun Uhr demonstrierten Arbeiter Unter den Linden. Die nationalen Jugendgruppen in Charlottenburg. Zwischen beiden waren Straßen, Häuser, Polizei. Dennoch wartete die Stadt auf einen Zusammenstoß.
Um neun Uhr regnete es immer noch. Die Arbeiter gingen mitten im grauen Regen. Grau waren sie wie er. Unendlich waren sie wie er. Aus grauen Quartieren kamen sie wie er aus grauen Wolken. Sie waren wie ein Herbstregen. Unaufhörlich, unerbittlich, leise. Wehmut verbreiteten sie. Sie kamen, die Bäcker mit den blutlosen Gesichtern, die wie aus Teig waren, ohne Muskel und Kraft; die Menschen von der Drehbank mit den harten Händen und den schiefen Schultern; die Glasbläser, die nicht älter werden sollten als dreißig Jahre: kostbarer, tödlicher, glitzernder Glasstaub stach in ihren Lungen. Es kamen die Bürstenbinder mit den tiefen Augenhöhlen, den Staub der Borsten und Haare in den Poren der Haut. Es kamen die jungen Arbeiterinnen, von der Arbeit gezeichnet, mit jungen Bewegungen, verbrauchten Gesichtern. Es gingen die Tischler. Sie rochen nach Holz und Hobelspänen. Und die riesenhaften Möbelpacker, groß und überwältigend wie eichene Schränke. Es kamen die schweren Arbeiter aus den Brauereien, sie stampften wie große Baumstämme, die gehen gelernt haben; die Graveure kamen, in den Falten ihrer Gesichter den kaum sichtbaren Metallstaub; die Zeitungssetzer, die übernächtigen, die zehn Jahre und länger nicht eine ganze Nacht geschlafen hatten; sie haben gerötete Augen und blasse Wangen und sind nicht vertraut mit dem Licht des Tages. Es kommen die Pflasterer, die Straße tretend, die sie selbst gebaut haben, dennoch fremd in ihr und betäubt von ihrem Glanz, ihrer Weite, ihrer Herrschaftlichkeit; es folgen Motorführer und Eisenbahner. Noch rollen in ihrem Bewußtsein schwarze Züge, wechseln Signale ihre Farben, schrillen Pfeifen, schlagen erzene Glocken.
Aber ihnen entgegen marschieren, Sonne auf jungen Gesichtern und Gesang im Herzen, Studenten mit bunten Mützen und goldgesäumten Fahnen, gut genährt und glattwangig, Knüppel in den Händen, Pistolen in den weit abstehenden Hosentaschen. Ihre Väter sind Studienräte, ihre Brüder Richter und Offiziere, ihre Vettern Polizeikommissare, ihre Schwäger Fabrikanten, ihre Freunde Minister. Ihrer ist die Macht, sie dürfen schlagen, wer straft sie dafür?
Der Zug der Arbeiter singt die Internationale. Sie singen falsch, die Arbeiter, aus vertrockneten Kehlen. Sie singen falsch, aber mit rührender Kraft. Es singt eine Kraft, die weint, eine schluchzende Gewalt.
Anders singen die jungen Studenten. Aus gepflegten Kehlen tönende Gesänge, volle runde Klänge, siegreiche Lieder, blutige Lieder, satte Lieder, ohne Bruch, ohne Qual, kein Schluchzen ist in ihren Kehlen, nur Jubel, nur Jubel.
Ein Schuß knallt.
In diesem Augenblick sprengen Polizisten zu Pferd, blanke Säbel schwingend, aus den Querstraßen, Polizei zu Fuß sperrt hinter ihnen die Straßen, Pferde stürzen, Reiter schwanken, aufgerissen ist das Pflaster, gierige Finger wühlen darin, Steine hageln gegen die trennenden Wände der Polizei. Es wollen zwei Gewalten zueinander, die Masse der Mächtigen gegen die Masse der Machtlosen, zersprengt sind die Ketten der Polizei, es dringt der Hunger gegen die Sattheit vor, über das Rauschen der Menschen erhebt sich Gesang anderer, nachfolgender, noch singen jene, schon bluten diese, manchmal zerreißt ein Knall Geräusch und Gesang, dann ist es für den Bruchteil einer Sekunde still geworden, und man hört den herbstlichen Regen säuseln, und man hört sein Trommeln an Dächer und Fensterscheiben, und es ist, als fiele er in eine friedliche Welt, die sich anschickt, in Winterschlaf zu sinken.
Aber dann wehklagt, wie ein verwundetes Tier, eine Autohupe, verzweifelt klingen von fernher Straßenbahnen, Pfeifen schrillen, Trompeten weinen wie Kinder. Ein Hund heult auf, zertreten, mit menschlichem Ruf, menschlich geworden in der Stunde seines elenden Todes, Ketten und Türbalken rasseln, und noch ein Schuß knallt.
Aus der Universität kommt Marinelli mit fünfzig jungen Leuten, die Karabiner tragen, den Studenten als Verstärkung. Feuerwehr rückt an. Die Spritzen schießen kalte Wasserstrahlen. Sie fallen mit schmerzhafter zischender Wucht auf die Menschen. Für ein paar Augenblicke zerstreut sich die Menge. Dann rotten sich die Menschen wieder. Kleine Knäuel schwellen an. Gruppen schließen sich zusammen. Ein Schuß traf den Schlauch. Auf dem Pflaster liegen die Helme der Feuerwehr. Der Schlauch ist zerrissen.
Polizei rattert in Lastautomobilen. Das Pflaster dröhnt. Die Scheiben zittern. Schon sind sie heruntergezerrt, zertreten, blutend, zersprengt, entwaffnet. Arbeiter zerbrechen Karabiner über dem Knie. Frauen schwingen Säbel, Pistolen, Gewehre.
Aus den grauen Vierteln des Nordens strömen neue Scharen, Hausgeräte tragen sie, Schürhaken, Spaten, Axt und Schaufel. Hoch oben tackt ein Maschinengewehr. Einer hat den Schrei ausgestoßen. Schon sind tausend zur Flucht gewendet. Tausend Hände ziellos weisend erhoben. Von allen Dächern starren Läufe. Von allen Dächern tackt es. Hinter jedem Mauervorsprung hocken grüne Uniformen. An allen Fenstern glotzen schwarze Mündungen.
Jemand ruft: »Soldaten!«
Es hallt der Trott genagelter Stiefel auf dem Asphalt. Besetzt sind die Häuser. Die Fenster Schießscharten, Pferde wiehern herrenlos in Hausfluren, Kommandorufe knallen. Rüstungen rasseln.
Theodor wartet am Alexanderplatz. Seine Kompanie wartet. Er drückt sich an ein geschlossenes Haustor. Seine Kompanie hockt auf dem Bürgersteig.
Ein berittener Polizist meldet ihm Sturm auf Rathaus und Polizei. Theodor marschiert ab.
Es wird ein harter Kampf sein. Er wird fallen. Er möchte weinen. An der Spitze marschiert er. Der gleichmäßige Schritt seiner Leute erfüllt sein Ohr. Jetzt wird er sterben. Noch fühlt er den lieblichen Druck eines weichen Frauenkörpers von gestern nacht.
Um Rathaus und Polizei kämpft eine Arbeiterwehr. Ihr Anführer ist ein Mann mit wehendem Haar, mit einem Knotenstock in der Faust. Jetzt reißt er einem Arbeiter das Gewehr aus der Hand und legt an. Theodor wirft sich zu Boden. In eine Kotlache fällt er. Schmutziges Wasser spritzt auf. Er schießt liegend, aufs Geratewohl. Seine Leute rennen vor. Er sieht nichts mehr, vor sich nur die Schwelle des Trottoirs, darüber die Fläche eines quadratischen Steines. Eine Detonation erschreckt ihn. Menschenknochen wirbeln durch die Luft. Ein Beinstumpf fällt blutend aus der Höhe. Ein Stiefel mit einem Fuß darin.
Es brennt. Man riecht den Brand. Sieht eine Rauchwolke, gegen den Regen kämpfend, aufsteigen. Theodor springt auf. Rennt. Es brennt im Judenviertel. Hausgeräte fliegen aus Fenstern schmutziger Häuser. Menschen fliegen mit. Eine Jüdin keucht unter der Last eines Soldaten. Sie liegt quer über dem Bürgersteig. Eine alte Dame hinkt über die Straße. Lächerlich ihre Hast. Allzu gering ihrer lahmen Füße Kraft. Sie hat das Gesicht einer Laufenden. Und ihre Bewegung ist schleppend. Kinder kriechen im Schlamm. Sie tragen gelbe Hemdchen, Blut sammelt sich an den Rändern. Fließt weiter mit dem Regenwasser. Mit Pferdekot, Flaumfedern, Strohhalmen. Fließt den gierig trinkenden Kanalgittern zu.
Weißbärtige Männer eilen mit wehenden Rockschößen. Jemand umklammert Theodors Knie. Gnade winselt ein Mensch. Theodor schlenkert mit dem Fuß. Der Flehende fliegt in einen Blutbach. Rot spritzt auf. Flammen züngeln aus Fenstern. Rauch bricht aus berstenden Dächern. Männer mit Eisenstangen rufen:
Alle schlagen, alle werden geschlagen. Theodor zwischen allen steht. Er sieht im Schlamm einen Kopf. Ein sterbendes Angesicht. Das Angesicht Günthers. Theodor starrte darauf. Erhielt plötzlich einen schweren Schlag auf den Kopf. Blut rann über seine Schläfe. Rote Räder kreisten. Er taumelte. Er sah den Anführer. Sein wehendes Haar. Den fliegenden Stock. Theodor riß die Pistole heraus. Der Mann sprang seitwärts. Er schwang seinen Stock. Theodor sah sein weißes Angesicht. Noch hat er den Hahn nicht abgedrückt. Schon fliegt ihm die Waffe aus der schmerzhaft getroffenen Hand. Nahe an ihn tritt der Mann. Er sieht das Weiße der feindlichen Augen. Der Mann schreit: »Du hast Günther getötet!«
Theodor flieht. Hinter sich hört er den heißen Atem seines Verfolgers. Auf den Schultern lastet der Hauch des feindlichen Mundes. Hinter sich hört er des Feindes eiligen Schritt. Auf lautlosen Sohlen läuft Theodor. Er läuft durch stille, ausgebrannte, gestorbene Straßen. Er läuft durch eine fremde Welt. Er läuft durch einen langen Traum. Er hört Schüsse, Trommeln, Wehgeschrei. Alle Geräusche sind in die Schicht eines weichen, dämpfenden Stoffes gebettet. Da kommt eine Biegung! Ist drüben die Rettung? Verdoppelt die Hast! Verstärkt den Galopp, beflügelt den Fuß! Jetzt sieht er zurück. Kein Verfolger ist hinter ihm. Er fällt auf eine Schwelle. Vor ihm liegt ein verlorenes Gewehr. Er hebt es auf. Er rennt weiter. Die Toten leben! Er haßt die Toten. Er gerät zwischen Soldaten. Jetzt erkennt er seine Leute. Fröhlicher Zuruf begrüßt ihn. Den Gewehrkolben stößt er gegen Leichen. Er schmettert die Waffe gegen tote Schädel. Sie bersten. Verwundete tritt er mit den Absätzen. Er tritt die Gesichter, die Bäuche, die schlaff hängenden Hände. Er nimmt Rache an den Toten, sie wollen nicht sterben.
Es wurde Abend. Feuchte Finsternis hockte in den Straßen. Es ist ein Sieg der Ordnung.