Joseph Roth
Das Spinnennetz
Joseph Roth

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XVII

Seit jenem Abend kam Benjamin Lenz täglich ins Berliner Büro in der Potsdamer Kaserne. Wieviel Gewehre hatte Theodor an seinen Bismarck-Bund verteilt? Ob Marinellis Flucht schon vorbereitet war? Wie oft gingen die Kuriere von Leipzig nach München?

Alles wußte Benjamin; wußte mehr, als man ihm sagte. Dafür brachte er Theodor zu den anderen. Bekannte Gesichter aus München glaubte Theodor wiederzufinden: den Invaliden Klatko aus den oberschlesischen Abstimmungskämpfen; den Deserteur Conti aus Triest; den Vizefeldwebel Fritsche aus Breslau; den gewesenen Polizeiwachtmeister Glawacki; den Buchbinder Falbe aus Schleswig-Holstein.

Eine Woche lang ging er in die Versammlungen. Sah die verräucherten, schlecht beleuchteten Lokale, die wie Bierkeller rochen; hörte Stimmen der Redner, hohe Kopfstimmen, tiefe, wie aus Gräbern kommende, heisere, rasselnde, das tausendfache Rufen der Zuhörer, stand hart neben ihnen, roch ihren Schweiß und ihre Armut, sah in flackernde Pupillen, sah dürre Gesichter auf knochigen Hälsen, eckige Fäuste an dünnen, wie ausgesogenen Handgelenken; sah Schnurrbärte, willkürlich gekämmte über zahnlosen Mündern, zwischen geöffneten Lippen schwarze Zahnlücken, Bandagen, von Jodoform durchtränkte, über entblößten Armen. Sah Frauen mit spärlichem, straffgekämmtem, wasserblondem Haar, die Armseligkeit der Trägerin, ihren gedörrten Hals, sah durchsichtige, dünne, gelbliche Haut, in schlaffen Fetzen hängende. Sah Mütter mit großköpfigen Kindern an welkender Brust, sah Jünglinge mit verwegenen Locken über mutigen Stirnen, dennoch schon von Arbeit und Krankheit gezeichnete, mit unnatürlich großen Augenhöhlen; sah junge Mädchen in derben Schuhen, mit bleichen Gesichtern, männersuchenden Augen, gefärbten Lippen, hörte ihre hemmungslos kreischenden Stimmen. Er sah sie trinken, roch den Schnaps, verstand den Dialekt nicht, lächelte ein leeres Lächeln, wenn jemand an ihn stieß. Fremd waren ihm die Menschen, fremde Gesichter trugen sie, nicht von seiner Welt waren sie, nicht von dieser Welt. Er bedauerte sie nicht, er sah, daß sie leiden mußten, aber welcher Art ihr Leid war, konnte er sich nicht vorstellen. Den einzelnen hätte er vielleicht verstanden, in der Menge aber gab es keine Kontur, keinen bleibenden Punkt. Alles schwankte und schwamm. Wie sie liebten, wußte er nicht, und nicht, wie sie weinten. Er sah, wie sie aßen, Brot, das in den Rocktaschen lag, rissen sie mit Daumen und Zeigefinger heraus, zerpflückten es gleichsam und stopften es mit vorgehaltener Hand in den lechzenden Mund. Aber wie waren ihre Zungen beschaffen, ihre Gaumen? Wie schmeckten sie? Manchmal, wenn sie jubelten, war es eine Drohung, und nicht anders klang ein Zuruf der Erbitterung.

Er liebte sie nicht. Er fürchtete sich vor ihnen, Theodor Lohse. Seine eigene Furcht haßte er. »Herr Leutnant Lohse«, sagte Benjamin Lenz, »das ist das deutsche Volk, für das Sie zu arbeiten glauben. Die Offiziere in den Kasinos sind nicht das Volk.« Und Benjamin Lenz freute sich. So war es in Europa, wo man nicht sprach, was man tat, und umgekehrt. Wo einer Offiziere und Studenten für das Volk hielt. Europa, in dem es Nationen gibt, die keine Völker sind.

Und dann begab sich Benjamin Lenz zu Trebitsch und erzählte von Theodor Lohses Entwicklung und Verrat. Er hatte selbst längst schon verraten, was er durch Theodor erfahren, der Benjamin Lenz. Und Trebitsch warnte er: noch einige Tage, und Lohse verrät Waffenlager, Marinellis Befreiung, Beziehungen der Reichswehr; Gewehre des Bismarck-Bundes.

Benjamin Lenz war sehr froh. An diesem Abend legte er Geldscheine in einen Umschlag und schickte sie seinem Bruder.


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