Auguste Rodin
Die Kunst
Auguste Rodin

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Elftes Kapitel

Der Nutzen der Künstler.

I.

Am Tag vor der Eröffnung der Ausstellung traf ich Rodin im Salon der Société Nationale. Es begleiteten ihn zwei Schüler, die inzwischen auch Meister geworden waren: der vortreffliche Bildhauer Bourdelle, der in diesem Jahre einen leidenschaftlichen Herkules ausgestellt hatte, wie er mit seinen Pfeilen die stymphalischen Vögel erlegt, und Despiau, der sehr geschmackvolle Büsten modelliert.

Alle drei standen vor einem Bildwerk des Gottes Pan, dem Bourdelle in einer Künstlerlaune Ähnlichkeit mit Rodin gegeben hatte. Der Schöpfer des 310 Werkes entschuldigte sich, an der Stirn seines Meisters zwei kleine Hörner angebracht .zu haben, worauf Rodin lachend erklärte:

 

Sie mußten das sogar tun, denn Sie haben ja den Gott Pan dargestellt. Übrigens hat Michelangelo seinem Moses ähnliche Hörner gegeben. Sie sind das Sinnbild der Allmacht und der Allwissenheit, und ich fühle mich aufrichtig geschmeichelt, daß Ihre Liebenswürdigkeit mir diese Attribute beschert hat.

 

Als es Mittag war, lud der Meister uns ein, in irgendeinem benachbarten Restaurant zu frühstücken.

Wir verließen den Salon und befanden uns in der Avenue des Champs-Élysées.

Unter dem jungen und frischen Grün der Kastanien sausten die spiegelblanken Autos und Equipagen in langen Reihen an uns vorüber. Hier funkelte und schillerte der Pariser Luxus in seinem prächtigsten und fesselndsten Rahmen.

Wo wollen wir speisen? fragte Bourdelle mit komischer Angst. In den Restaurants dieser Gegend wird man im allgemeinen von Oberkellnern im Frack bedient, was ich nicht leiden kann; denn diese Leute jagen mir Furcht ein. Ich schlage vor, wir suchen eine Kutscherkneipe auf. 311

Man ißt dort allerdings besser als in den prunkvollen Lokalen, wo fast alles, was man genießt, gefälscht ist, stimmte ihm Despiau zu. Und das ist überhaupt der Hintergedanke Bourdelles, denn die fingierte Bescheidenheit seines Gaumens ist in Wirklichkeit nichts anderes als Feinschmeckerei.

Rodin, liebenswürdig wie immer, ließ sich von ihnen in ein kleines Wirtshaus führen, das versteckt in einer Straße dicht neben den Champs-Élysées lag. Wir suchten uns eine gemütliche Ecke aus, wo wir es uns bequem machten.

Despiau ist ein Mensch von munterer Laune und stets zum Necken aufgelegt. Er reichte Bourdelle eine Platte und sagte:

Bediene dich, Bourdelle, obgleich du nicht einen Bissen verdienst, denn du bist ein Künstler, das heißt, ein ganz unnützes Wesen.

Ich verzeihe dir diese Frechheit, antwortete Bourdelle, denn die Hälfte davon mußt du selbst einstecken.

Zweifellos befand er sich in einer augenblicklichen Anwandlung von Pessimismus, als er noch hinzufügte:

Übrigens will ich dir nicht widersprechen; es ist wohl wahr, daß wir zu nichts taugen. 312

Wenn ich mich meines Vaters erinnere, der Brettschneider war, so sage ich mir, er verrichtete eine für die Gesellschaft unentbehrliche Arbeit. Er rüstete die Materialien zu, woraus die Wohnungen der Menschen gebaut werden. Ich sehe ihn noch, meinen guten Alten, wie er Sommer und Winter auf den Zimmerplätzen in Wind und Wetter seine Planken sägte. Er war ein schlichter, derber Arbeiter, deren es nicht mehr viele gibt.

Aber ich? . . . . Wir? . . . . Was für Dienste leisten wir unseren Mitmenschen? Wir sind Gaukler, Taschenspieler, zweifelhafte Personen, die das Publikum auf den Jahrmärkten amüsieren. Kaum daß man geruht, sich für unsere Bestrebungen zu interessieren. Sehr wenige Leute sind imstande, sie zu verstehen. Und ich weiß nicht einmal, ob wir ihres Wohlwollens wert sind, denn die Welt könnte sehr gut ohne uns auskommen.

 

II.

Hierzu äußerte Rodin:

 

Ich glaube, Bourdelle macht uns hier etwas vor und spricht anders als er denkt. Ich teile seine 313 Ansicht, die er uns soeben auseinandergesetzt hat, keineswegs. Ich bin der Meinung, daß die Künstler die nützlichsten Menschen sind.

 

Bourdelle warf lachend ein:

Die Liebe zu ihrem Beruf macht Sie blind, Meister.

 

Durchaus nicht; meine Meinung stützt sich auf ganz solide Gründe, die ich Ihnen auseinandersetzen werde.

 

Ich bin begierig, sie kennen zu lernen, Meister.

 

Trinken Sie mal zunächst von diesem Burgunder, den der Wirt uns empfiehlt. Sie werden dann heiterer gestimmt werden und mir um so lieber zuhören.

 

Als er eingeschenkt hatte, begann er:

 

Zunächst eine Bemerkung. Ist es Ihnen aufgefallen, daß in der modernen Gesellschaft die Künstler, ich meine natürlich die wirklichen Künstler, die einzigen Menschen sind, die ihren Beruf gern ausüben?

 

Sicher ist die Arbeit unsere ganze Freude, unser ganzer Lebensinhalt, rief Bourdelle aus; aber dies besagt noch keineswegs, daß . . . . .

 

Halt! Nur ruhig! Was unseren Zeitgenossen so gut wie gänzlich fehlt, ist, wie mir scheint, die Liebe zu 314 ihrem Beruf. Sie arbeiten nur mit Widerwillen. Sie pfuschen gern. Dem ist überall so, auf der ganzen sozialen Stufenleiter, von oben bis unten. Die Politiker fassen bei der Erfüllung ihrer Amtspflichten nur die materiellen Vorteile ins Auge, die sie daraus ziehen können, und scheinen die Genugtuung, die die großen Staatsmänner früherer Zeiten empfanden, wenn es ihnen gelungen war, die Angelegenheiten ihres Landes geschickt zu behandeln, gar nicht zu kennen.

Die gebrochene Lilie von A. Rodin.

Die Industriellen suchen nur mit schlechten und gefälschten Erzeugnissen so viel Geld als möglich anzuhäufen, anstatt die Ehre ihres Unternehmens hoch zu halten; die Arbeiter, von einer mehr oder minder berechtigten Feindseligkeit gegen ihre Arbeitgeber erfüllt, erledigen ihre Aufgaben in gewissenloser Weise. Heute scheinen fast alle Menschen die Arbeit als eine abscheuliche Notwendigkeit, als eine fluchwürdige Last zu betrachten, während sie als ein Glück für uns, als unsere Daseinsberechtigung aufgefaßt werden müßte.

Übrigens hüte man sich, zu glauben, es wäre immer so gewesen. Die meisten Dinge, die uns aus früherer Zeit geblieben sind, Möbel, Hausgerät, Stoffe, beweisen eine große Gewissenhaftigkeit derer, die sie herstellten.

Der Mensch arbeitet gut und schlecht; ich glaube 317 sogar, daß die erste Art ihm mehr zusagt, weil sie seiner Natur mehr entspricht. Aber er hört bald auf die guten, bald auf die schlechten Ratschläge, und gegenwärtig gibt er zweifellos den schlechten den Vorzug.

Und doch, wieviel glücklicher würde die Menschheit sein, wenn die Arbeit, anstatt ein Mittel, das Dasein zu fristen, sein innerster Zweck wäre!

Diese wunderbare Veränderung könnte nur eintreten, wenn alle Menschen das Beispiel der Künstler befolgten oder besser, wenn sie sich selbst in Künstler verwandelten. Denn dieses Wort in seiner umfassendsten Bedeutung bezeichnet für mich alle, die an dem, was sie tun, freudigen Anteil nehmen. Es wäre also zu wünschen, daß es in jedem Beruf Künstler gäbe: Zimmerleute, die glücklich sein müßten, selbst ihre einfachsten Arbeiten künstlerisch auszuführen; Maurer, die Gips und Mörtel mit Liebe zubereiteten; Fuhrmänner, die stolz darauf sein müßten, Pferd und Wagen gut zu behandeln und auf die Fußgänger nach Möglichkeit Rücksicht zu nehmen. Das gäbe eine wunderbare Gesellschaft, nicht wahr?

Sie sehen also, daß das Beispiel der Künstler bei allen übrigen Menschen herrliche Früchte tragen könnte. 318

 

Sie haben unsere Sache glänzend geführt, Meister, versetzte Despiau. Ich widerrufe alles, Bourdelle, und, gebe zu, daß du dein Essen verdienst. Bitte, nimm von diesen Spargeln.

 

III.

Hierauf wandte ich mich an Rodin und sagte: Meister, Sie besitzen zweifellos eine große Überredungsgabe.

Womit jedoch wollen Sie schließlich den Nutzen der Künstler einwandfrei beweisen? Sicher kann, wie Sie soeben gezeigt haben, ihre leidenschaftliche Liebe zur Arbeit ein wohltuendes Beispiel sein. Aber ist nicht die Arbeit selbst, die sie leisten, durchaus unnütz, und liegt hierin für uns nicht gerade das Entscheidende?

 

Wie soll ich das auffassen?

 

Ich will damit sagen, daß glücklicherweise die Kunstwerke nicht zu den nützlichen Dingen zählen, das heißt zu denen, die wir zu unserer Ernährung, 319 Kleidung, zu unserem Schutz, kurz zur Befriedigung aller unserer körperlichen Bedürfnisse brauchen. Im Gegenteil, sie entreißen uns der Knechtschaft des Alltagsgetriebes und öffnen uns die Zauberwelt der Vergeistigung und der Phantasie.

 

Mein lieber Freund, man täuscht sich meistens über das, was nützlich und was unnütz ist.

Wenn man das, was den Bedürfnissen unseres materiellen Lebens entspricht, nützlich nennt, so sage ich ja:

Aber heute betrachtet man auch die Reichtümer als nützlich, die einzig zur Befriedigung der Eitelkeit und zur Erregung des Neides zur Schau gestellt werden. Diese Reichtümer sind nicht nur unnütz, sondern geradezu Hindernisse schlimmster Art.

Der Frühling von A. Rodin.

Ich nenne alles nützlich, was uns in einen glücklichen Zustand versetzt. Nun gibt es auf der Welt nichts, was uns glücklicher macht, als Vergeistigung und Phantasie. Das vergißt man heute gar zu sehr. Der Mensch, der, vor aller Not in Sicherheit, wie ein Weiser zahllose Herrlichkeiten genießt, die jeden Augenblick vor seinen Augen und seinem Geiste erscheinen, wandelt auf Erden wie ein Gott. Er berauscht sich an dem wunderbaren Anblick schöner, 320 kraft- und saftstrotzender Geschöpfe, die vor seinen Blicken ihren ungestümen Tatendurst entfalten; beim Anblick stolzer Vertreter des Menschengeschlechts und des Tierreichs, junger Muskulaturen in Bewegung, wundervoller, lebendiger, geschmeidiger, schlanker und feinnerviger Organismen; er führt seine Freude in die Täler und auf die Hügel, wo der Frühling mit reichstem Blätter- und Blütenschmuck, mit den süßesten Wohlgerüchen, dem Summen emsiger Bienen, dem Rauschen breiter Flügelschläge und mit Klängen von Liebesliedern die verschwenderischsten 321 Feste feiert; er ergötzt sich an dem silbernen Gekräusel, das wie ein Lächeln über die Wasserfläche der Flüsse huscht; er gerät in Entzücken, wenn er beobachten kann, wie Apollo, der strahlende Gott, sich bemüht, die Wolken zu zerteilen, die die Erde im Lenz zwischen sich und ihm aufrichtet, einer schamhaften Geliebten gleich, die zögert, sich zu enthüllen.

Welcher Sterbliche ist beglückter als er? Und da die Kunst uns solche Freuden würdigen und genießen lehrt, wer will da noch leugnen, daß sie unendlich nützlich ist?

Aber es handelt sich nicht nur um intellektuelle Genüsse. Es handelt sich um weit mehr. Die Kunst verkündet den Menschen ihre Daseinsberechtigung. Sie enthüllt ihnen den Sinn des Lebens, sie klärt sie über ihre Bestimmung auf und läßt sie in ihrer Existenz sich zurechtfinden.

Der zerrissene Handschuh von Tizian. Paris, Louvre.

Wenn Tizian eine wunderbar aristokratische Gesellschaft malte, in der jedes Mitglied auf seinen Zügen, in seinen Gebärden, an seinem Kostüm den Stolz eines scharfen Verstandes, der Autorität und des Reichtums verriet, stellte er den Patriziern von Venedig als Muster das Ideal hin, das sie zu verwirklichen wünschten.

Wenn Poussin Landschaften komponierte, worin die 322 Vernunft zu herrschen scheint, so klar und majestätisch ist in ihnen die Anordnung, – wenn Puget seine Heldenleiber schuf, – wenn Watteau seine entzückend feinen, wehmütig träumerischen 325 Schäferpaare im verschwiegenen Schatten dichten Laubes, Liebe tauschend, barg, – wenn Houdon Voltaire lächeln ließ und die Göttin der Jagd, Diana, auf flinke Füße stellte, – wenn Rude in seiner »Marseillaise« Greise und Kinder zum Schutze des Vaterlandes herbeirief: so schufen diese großen französischen Meister nacheinander Spiegelbilder unseres nationalen Geistes, die einen den Sinn für schöne Anordnung, Energie und Eleganz, die anderen Verstand und Heroismus, alle Lebenslust und freudige Bereitschaft zu freier, ungezwungener Betätigung. Und so verkörpert uns Franzosen ihr Werk die wesentlichen Merkmale unserer Rasse.

Victor Hugo bietet der Stadt Paris seine Leier dar, von Puvis de Chavannes.

Hat nicht der größte Künstler unserer Zeit, Puvis de Chavannes, sich bemüht, uns die sanfte Heiterkeit nahe zu bringen, die unser aller Sehnsucht ist? Sind seine erhabenen Landschaften, worin die heilige Natur an ihrem Busen eine liebende, fromme, hehre und einfache Menschheit zu wiegen scheint, für uns nicht wunderbare Quellen der Belehrung? Hilfe für die Schwachen, Liebe zur Arbeit, Demut und Ehrfurcht vor dem Höchsten, er hat das alles ausgedrückt, dieses unvergleichliche Genie! Er schwebt als ein herrliches, reines Licht über unserer Zeit. Man braucht nur eines seiner Meisterwerke zu betrachten, seine 326 »Heilige Genovefa«, seinen »Heiligen Hain« in der Sorbonne oder seine Verherrlichung Victor Hugos im Hôtel de Ville, um sich edler Handlungen fähig zu fühlen.

Künstler und Denker gleichen einer Leier, die unendlich zarte und klangreiche Töne hat. Und die Schwingungen, die der Geist einer jeden Zeit ihr entlockt, klingen bei allen anderen Sterblichen nach.

Die junge Mutter von A. Rodin.

Zweifellos sind die Menschen, die hervorragende Kunstwerke auf gediegene Art genießen können, sehr selten, und auch die Zahl der Beschauer, die solche Werke in den Museen oder selbst auf öffentlichen Plätzen betrachten, ist beschränkt. Aber die in den Werken enthaltenen Gefühle dringen schließlich doch in die große Menge. Neben den Genies lehnen sich andere Künstler von geringerem Können an die Schöpfungen 327 der Meister an und machen sie auf ihre Weise der Allgemeinheit verständlich. Die Schriftsteller werden von den Malern beeinflußt, wie diese von den Literaten: unter allen Köpfen einer Generation besteht ein fortwährender Gedankenaustausch. Die Journalisten, die populären Romandichter, die Illustratoren, die Zeichner machen der Menge die Wahrheiten verständlich, die die großen geistigen Potenzen entdeckt haben. Es ist wie ein Rieseln, wie ein Sprudeln intellektueller Kräfte, das in vielfachen Kaskaden herunterfällt, bis es das große stets bewegte Gewässer bildet, das den geistigen Zustand einer Zeit darstellt.

Man muß nicht sagen, wie es gewöhnlich geschieht, daß die Künstler nur die Empfindungen ihres Milieus wiedergeben. Das würde zwar schon nicht wenig sein. Denn es ist stets angebracht, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, mit dessen Hilfe. sie sich selbst erkennen können. Aber sie tun mehr. Sie schöpfen tief aus dem reichen Schatz der Tradition, den auch sie wieder vermehren. Sie sind in Wahrheit Erfinder und Führer.

Um sich davon zu überzeugen, möge man beachten, daß fast alle Meister der Zeit voraufgingen, wo ihre Inspiration sich offenbarte. Poussin malte 328 unter Ludwig XIII. viele Meisterwerke, deren regelmäßiger Adel den Charakter der folgenden Regierung ankündigt. Watteau, dessen lässige Grazie führend über der ganzen Herrschaft Ludwigs XV. geschwebt zu haben scheint, lebte nicht unter diesem Könige, sondern unter Ludwig XIV. und starb unter dem Regenten. Chardin und Greuze, die mit ihren Verherrlichungen des bürgerlichen Heims, scheinbar eine demokratische Gesellschaft ankündigten, lebten unter der Monarchie. Der mystische, sanfte und weiche Prudhon nahm mitten in den brausenden und gellenden kaiserlichen Fanfaren das Recht in Anspruch, still zu lieben, sich zu sammeln, zu träumen, so daß er sich als ein Vorläufer der Romantiker erweist. Und kurz vor uns 329 haben unter dem zweiten Kaiserreich Courbet und Millet in ihre Werke die schwere Arbeit und Würde des Volkes gelegt, das unter der dritten Republik sich eine so einflußreiche Stellung in der Gesellschaft erobert hat.

Geschwister von A. Rodin.

Ich sage nicht, daß diese Künstler die großen Strömungen, worin ihr Geist sich kenntlich macht, bestimmt haben. Ich sage nur, daß sie unbewußt zu ihrer Entstehung beigetragen haben; ich sage, daß sie zu der intellektuellen Elite gehörten, die diese Tendenzen schuf. Wohl verstanden, setzte sich diese Elite nicht allein aus Künstlern, sondern auch aus Schriftstellern, Philosophen, Romandichtern und Publizisten zusammen.

Ich will noch einen Beweis dafür nennen, daß alle Meister ihren Generationen neue Ideen und Neigungen zuführen: es ist ihnen oft schwer gemacht worden, diesem Neuen Aufnahme zu verschaffen. Oft war fast ihr ganzes Leben ein Kampf gegen die Mittelmäßigkeit. Und je größer ihr Genie war, desto mehr liefen sie Gefahr, lange verkannt zu bleiben. Corot, Courbet, Millet, Puvis de Chavannes, um nur diese wenigen zu nennen, sind erst am Ende ihrer Künstlerlaufbahn zu allgemeinem Ansehen gelangt.

Man erweist den Menschen nicht ungestraft Gutes. 330 Das wenigste, das diese Meister für die Hartnäckigkeit, mit der sie die menschliche Seele reicher machen wollten, verdient haben, ist ihres Namens Unsterblichkeit.

Das, meine Freunde, wollte ich Ihnen über den Nutzen der Künstler sagen.

 

IV.

Ich erklärte mich überzeugt.

Ich habe nichts sehnlicher gewünscht, versetzte Bourdelle; denn ich liebe meinen Beruf, und meine Laune von vorhin war mir zweifellos von irgendeiner flüchtigen melancholischen Anwandlung eingeblasen worden; oder vielmehr habe ich, begierig die Verteidigung meines Handwerks zu hören, mich wie kokette Frauen benommen, die sich beklagen, daß sie häßlich sind, um Komplimente herauszufordern.

Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen. Wir dachten darüber nach, was soeben gesagt worden war. Der Appetit kam dabei nicht zu kurz, und die Gabeln verrichteten Wunder während dieses geistigen Waffenstillstandes. 331

Wie ich daran dachte, daß Rodin bescheidenerweise sich vergessen hatte, als er von dem geistigen Einfluß der Meister sprach, sagte ich:

Sie selbst haben auf Ihre Epoche eine Wirkung ausgeübt, die sich auf die nächsten Generationen zweifellos fortsetzen wird.

Mit Ihrer kraftvollen Verherrlichung unseres inneren Wesens haben Sie viel zur Entwicklung des modernen Lebens beigetragen.

Sie haben die ungeheuere Bedeutung gezeigt, die heute jeder von uns seinen Gedanken, seinen Zuneigungen, seinen Einbildungen und oft auch den Verirrungen seiner Leidenschaft beilegt. Sie haben einen Ausdruck gefunden für Liebesrausch und Mädchenträume, wilde Begier und wahnwitziges Grübeln, für aufflammende Hoffnung und seelischen Zusammenbruch.

Unaufhörlich haben Sie das geheimnisvolle Gebiet des individuellen Bewußtseins erforscht und Ihre Entdeckungen darin immer mehr ausgedehnt.

Sie haben beobachtet, daß in der Ära, die sich uns erschlossen, nur unser eigenes innerstes Ich, unsere eigenen Gefühle von Wichtigkeit sind. Sie haben ersehen, daß jeder von uns, ein Mensch des 332 Gedankens, ein Mensch der Tat, eine Mutter, ein junges Mädchen, eine Geliebte, die eigene Seele zum Mittelpunkt des Alls macht. Und diese Neigung, die wir fast unbewußt hegten, haben Sie uns deutlich enthüllt.

Nach Victor Hugo, der in seinen Liedern auf die Leiden und Freuden des intimen Lebens die Mutter an der Wiege ihres Kindes, den Vater am Grabe seiner Tochter, den Geliebten in Erinnerung an sein verschwundenes Glück besungen hat, ist es Ihnen gelungen, die tiefsten und geheimsten Regungen der Seele zum Ausdruck zu bringen.

Und niemand zweifelt, daß diese machtvolle Welle von Individualismus, die über die alte Gesellschaft hinstreicht, sie allmählich umwandelt. Niemand zweifelt, daß, dank den Meisterwerken der großen Künstler und der großen Denker, die jeden von uns auffordern, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und nach seinem eigenen Gefühl zu leben, die Menschheit schließlich alle Tyranneien, die noch das Individuum bedrücken, wegfegen und die sozialen Ungleichheiten abschaffen wird, die die einen den anderen unterjochen, den Armen dem Reichen, das Weib dem Manne, den Schwachen dem Starken.

Sie haben durch die Aufrichtigkeit Ihrer Kunst für 333 die fortschreitende Ausbreitung dieser neuen Ordnung viel geleistet.

Hierauf sagte Bourdelle:

Man hat niemals richtiger darüber geurteilt. Aber Rodin wehrte mit einem Lächeln ab:

 

Ihre große Freundschaft weist mir einen zu bevorzugten Platz unter den Verfechtern des modernen Denkens an.

Allerdings bin ich stets bestrebt gewesen, nützlich zu sein, indem ich so klar als ich nur vermochte meine Anschauung von Wesen und Dingen formulierte.

 

Despiau kostete mit Kennermiene ein kleines Glas alten Cognaks.

Ich werde mir dieses Restaurant merken, sagte er.

Und ich antwortete ihm:

Wahrhaftig, wenn Meister Rodin täglich hierher kommen würde, um sich mit seinen Schülern zu unterhalten, dann möchte ich mich hier gern häuslich niederlassen.

Kurz darauf ergriff Rodin noch einmal das Wort:

 

Wenn ich unsere Nützlichkeit betont habe und auch ferner betone, so geschieht das, weil einzig diese 334 Anschauung in der Welt, worin wir leben, uns die Sympathien zuführen kann, auf die wir ein gutes Anrecht besitzen.

Heute hat man Interesse für alles: ich wünschte, diese so praktisch veranlagte Gesellschaft überzeugte sich, daß es ebenso sehr in ihrem Interesse liegt, die Künstler zu ehren, wie die Fabrikanten und Ingenieure.

 


 


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