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Das Hotel Biron, vor kurzem noch die Behausung des Klosters Sacré-Coeur, wird jetzt bekanntlich von mehreren Mietern bewohnt, unter denen sich auch der Bildhauer Rodin befindet. Der Meister besitzt Ateliers in Meudon und Paris, im Depôt des Marbres; aber er arbeitet mit Vorliebe hier im Hotel Biron.
Es ist wirklich der schönste Aufenthalt, den ein Künstler sich wünschen kann. Der Schöpfer des »Denkers« verfügt hier über mehrere geräumige und sehr hohe Säle mit wunderschönen, leicht und geschmackvoll vergoldeten Stuckdecken. 158
Sein Arbeitsraum ist rund und gewährt durch hohe Glastüren Ausblicke auf einen prächtigen Garten.
Seit einer Reihe von Jahren ist diese Anlage vernachlässigt worden. Aber man unterscheidet noch unter den üppig wuchernden Kräutern die alten Buchsbaumreihen, die einst die Wege einfaßten, man bemerkt noch unter phantastisch geformten Weinstöcken Lauben mit grün gestrichenen Gittern, und alljährlich erscheinen im Frühjahr auf dem Rasen die bunten Blumen. Es hat einen eigenartig melancholischen Reiz, zu beobachten, wie die Arbeit von Menschenhand durch die ungehindert sich entfaltende Natur nach und nach verwischt wird.
Im Hotel Biron verbringt Rodin fast seine ganze Zeit mit Zeichnen.
In dieser klösterlichen Abgeschiedenheit überläßt er sich, fern von aller Welt, mit inniger Freude dem Studium junger, schöner Frauenkörper. Unermüdlich zeichnet er zahllose Skizzen nach den geschmeidigen Formen, die sich seinem Auge darbieten.
Hier, wo junge Mädchen unter der Obhut ehrwürdiger Nonnen ihre Erziehung genossen haben, widmet sich der große Bildhauer mit Inbrunst der Verehrung physischer Schönheit, und seine Liebe zur Kunst ist sicher nicht minder rein und aufrichtig, 159 als die Gottesfurcht, die den Schülerinnen von Sacré-Coeur ins Herz gepflanzt wurde.
Eines Abends betrachtete ich mit Rodin eine Reihe seiner Studien und bewunderte die Harmonie der Linien, womit er auf dem Papier die verschiedenen Rhythmen des menschlichen Körpers wiedergegeben hatte.
Die flüchtig hingeworfenen Umrisse verrieten den Schwung oder die Lässigkeit der Bewegungen; leichte graue Wolken, die ihr Dasein einem Verwischen der Striche mit dem Daumen verdankten, erhöhten den Reiz der Modellierung.
Während er mir seine Studienblätter zeigte, sah er im Geiste wieder die Modelle, nach denen sie entstanden waren:
Sehen Sie diese entzückenden Schultern! rief er aus. Das ist eine Linie von vollendeter Schönheit . . . Meine Zeichnung ist viel zu schwerfällig . . . . Ich habe mich nach Kräften bemüht, aber . . . . da, hier ist ein zweiter Versuch nach demselben Modell . . . . er ist entschieden besser . . . . und dennoch!
Betrachten Sie diesen Busen: die wunderbar schwellende Rundung ist von fast unwirklicher Grazie! 160
Hier haben Sie ein anderes Modell! Beachten Sie die unvergleichlich schöne Wellenlinie der Hüften. Wie auserlesen zart die Muskeln in die sammetweiche Haut gebettet sind! Das ist so schön, daß man sich in Anbetung davor beugen möchte.
Sein Blick verlor sich in Erinnerungen: man hätte ihn jetzt für einen Morgenländer im Garten Mohammeds halten können. Schließlich fragte ich ihn:
Finden Sie leicht schöne Modelle?
Ja.
Die Schönheit ist also nicht sehr selten in unserer Gegend.
O nein. 161
Und ist sie auch von langer Dauer?
Sie wechselt sehr schnell. Ich will nicht sagen, daß das Weib wie eine Landschaft ist, die die sinkende Sonne unaufhörlich verändert, aber der Vergleich ist bis zu einem gewissen Grade doch richtig.
Die wirkliche Jugend, die Zeit der jungfräulichen Pubertät, wo der von Kraft und Saft strotzende Körper mit freiem, natürlichem Stolz alle seine Reize konzentriert und die Liebe gleichzeitig zu fürchten und sehnsüchtig zu rufen scheint, dieses Stadium dauert kaum ein paar Monate.
Ohne von den durch die Mutterschaft bedingten Entstellungen zu sprechen, 162 rauben die dem Verlangen folgende Mattigkeit und das Fieber der Leidenschaft dem Gewebe die Spannkraft und machen die Linien schlaff. Das junge Mädchen wird Frau und zeigt nun eine ganz andere Schönheit, die zwar immer noch bewundernswert, aber doch schon minder rein ist.
Aber sagen Sie, Meister, glauben Sie nicht, daß die antike Schönheit die unserer Zeit bei weitem übertroffen hat und daß die modernen Frauen nicht im entferntesten den Modellen eines Phidias gleichen?
Keineswegs!
Aber die Vollendung der griechischen Venusstatuen ist der beste Beweis . . . . . .
Die damaligen Künstler hatten Augen, sie zu sehen, während die von heute blind sind, das ist der ganze Unterschied. Die griechischen Frauen waren schön, aber ihre Schönheit wohnte vor allen Dingen im Geiste der Bildhauer, die sie darstellten.
Es gibt heute Frauen, die genau so schön sind. Man findet sie hauptsächlich unter den Europäerinnen des Südens. Die modernen Italienerinnen zum Beispiel gehören demselben Mittelmeer-Typus an, wie die Modelle des Phidias. Das Hauptmerkmal 163 dieses Typus ist gleiche Breite an Schultern und Becken.
Aber haben denn nicht die Einfälle der Barbaren in das römische Reich durch Kreuzungen die antike Schönheit verdorben?
O nein. Angenommen jedoch, daß die Barbaren minder schön, minder ebenmäßig gebaut gewesen wären als die Mittelmeer-Rassen, was wohl möglich ist, so hat die Zeit es übernommen, die durch die Blutmischungen erzeugten Fehler zu tilgen und die Harmonie des alten Typus wieder hervortreten zu lassen.
Bei einer Vereinigung des Schönen mit dem Häßlichen triumphiert am Ende immer das Schöne: die Natur kommt, auf Grund eines göttlichen Gesetzes, beständig auf das Bessere zurück, strebt unaufhörlich nach Vollkommenheit.
Neben diesem Typus des Südens gibt es noch einen Typus des Nordens, dem außer den germanischen und slavischen Rassen auch sehr viele Französinnen angehören.
Bei diesem Typus ist das Becken ungemein stark entwickelt und die Schultern sind viel schmäler: diesen Körperbau kann man zum Beispiel an den Nymphen 164 des Jean Goujon, an der Venus im Urteil des Paris von Watteau und an der Diana des Houdon beobachten.
Ferner senkt sich bei diesem Typus im allgemeinen die Brust im Gegensatz zu dem antiken und dem des Südens, wo sie sich in die Höhe richtet.
Offen gestanden, alle menschlichen Typen, alle Rassen haben ihre Schönheit. Man muß sie nur finden.
Ich habe mit einem unendlichen Vergnügen die kleinen Tänzerinnen aus Kambodscha gezeichnet, die jüngst mit ihrem Fürsten nach Paris kamen. Die feinen Bewegungen ihrer schlanken Glieder übten einen seltsamen und wunderbaren Reiz auf mich aus.
Ich habe auch nach der japanischen Schauspielerin Hanako Studien gemacht. Sie hat nicht eine Spur von Fett am Körper. Ihre Muskeln sind so ausgebildet und so schön geformt wie die eines echten Foxterriers. Ihre Sehnen sind so stark, daß die Gelenke, an denen sie befestigt sind, denselben Umfang haben, wie die Glieder selbst. Sie ist so robust, daß sie, solange sie will, auf einem Bein stehen und das andere im rechten Winkel dazu heben kann. Es sieht dann aus, als ob sie wie ein Baum im Boden wurzelte. Ihr anatomischer Bau ist demnach ein völlig andrer, 165 als der der Europäerinnen, in seiner einzigen Kraft jedoch außerordentlich schön.
Nach einer kleinen Pause kam er wieder auf einen Lieblingsgedanken zurück:
Mit einem Wort, Schönheit ist überall. Nicht sie fehlt unseren Augen, sondern unsere Augen sehen oft daran vorbei.
Schönheit ist Charakter und Ausdruck.
Und nichts in der Natur hat wohl mehr Charakter als der menschliche Körper. Er bietet mit seiner Kraft oder mit seiner Anmut die verschiedensten Bilder. Manchmal gleicht er einer Blume: die Biegungen des Rumpfes erinnern an das Schwanken des Stengels, der blühende Busen, das Lächeln des Antlitzes und der Glanz des Haares gleichen der entfalteten Blüte. Manchmal gemahnt er an eine geschmeidige Liane, an eine fein und kühn geschwungene Staude. Der aus dem Dickicht vor Nausikaa tretende Odysseus sagte:
. . . . ich sah noch nie solch einen sterblichen Menschen,
Weder Mann noch Weib! Mit Staunen füllt mich der Anblick!
Ehmals sah ich in Delos, am Altar Phöbus Apollons,
Einen Sprößling der Palme von so erhabenem Wuchse.
(Deutsch von J. H. Voß.) 166
In rückwärts gebogener Stellung gleicht der menschliche Körper einer Feder, einem schönen Bogen, auf dem Eros seine unsichtbaren Pfeile anlegt.
Und dann wieder ist er wie eine Urne. Ich habe oft ein Modell sich auf die Erde setzen und Arme und Beine vorwärts strecken lassen, so, daß es mir den Rücken zuwandte. In dieser Stellung war nur die an der Taille sich verschmälernde, an den Hüften sich wieder verbreiternde Silhouette des Rückens sichtbar. Sie machte dann den Eindruck einer schön geformten Vase, einer Amphora, die in ihrem Schoße das Leben der Zukunft birgt
Der menschliche Körper ist vor allem der Spiegel der Seele, und daher rührt seine größte Schönheit:
O Frauenleib, du bist ein hohes Wunder,
eine herrliche Hülle, ein Meisterwerk
aus den Händen des höchsten Geistes,
der unerforschlich die Gestalt des Menschen formt.
In dir glänzt hell die wundersamste Seele,
du schlammige Erde, die der Finger
des göttlichen Bildners geknetet hat.
Unwiderstehlich reizender Stoff,
untrennbar hehr und schmutzig, der Herz und Sinne lockt,
du zeigst dich in so heiliger Gestalt,
daß ich, da bald die sinnliche Begierde
und bald die keusche Seele in dir siegt, 169
nie inne werden kann, ob diese Wollust,
die auf verschwiegenem Lager mich berauscht,
nicht nur ein nüchtern Denken ist;
auch daß man nicht, wenn hell die Sinne lodern,
der Schönheit sich hingeben kann,
ohne zu ahnen, daß man Gott umarmt.
Ja, Viktor Hugo hat das vollkommen verstanden. Wir verehren am menschlichen Körper mehr noch als seine schöne Form die innere Flamme, die ihm Durchsichtigkeit zu verleihen scheint.