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Am äußersten Ende der langen Rue de l'Université, unmittelbar am Champ de Mars, in provinzialer Stille und in klösterlicher Abgeschiedenheit, liegt das staatliche Marmorlager.
Auf einem großen, von Gras überwucherten Hof schlummern mächtige graue Steinblöcke; nur wenige frische Bruchstellen sind blendend weiß. Diese Marmorblöcke hält der Staat hier in Verwahrung für die Bildhauer, die er mit seinen Aufträgen ehrt.
Auf einer Seite dieses Hofes liegen nebeneinander etwa zehn Ateliers, die verschiedenen Künstlern zur 28 Verfügung gestellt worden sind. Diese kleine wunderbar ruhige Bildhauerkolonie erweckt den Eindruck eines Klosters, mit einer allerdings neuen und eigenartigen Gemeinde.
Rodin hat zwei dieser Zellen inne. Die eine beherbergt das Gipsmodell seines Höllenthors; obgleich noch unvollendet, wirkt es doch ungemein packend; er arbeitet in der anderen. Ich habe ihn hier oft abends besucht, wenn er sein edles Tagewerk beendete. Still abseits sitzend, erwartete ich den Augenblick, wo die Dunkelheit ihn zwang, aufzuhören; so konnte ich ihn bei der Arbeit beobachten. Der Wunsch, das letzte Tageslicht auszunützen, versetzte seine Kräfte in fieberhafte Anspannung.
Ich war oft Zeuge, wie er mit rasender Schnelligkeit kleine Tonskizzen fertigte. Er tat es spielend in den Pausen, die er beim 29 sorgfältigen Ausarbeiten seiner großen Figuren machte. Solche auf den ersten Wurf entstandene Skizzen versetzen sein Genie in die höchste Leidenschaft, weil sie ihm erlauben, wie im Fluge schöne Gebärden oder Gesten festzuhalten, deren flüchtige Wahrheit bei einer gründlicheren und infolgedessen auch zeitraubenderen Studie verloren gehen könnte.
Seine Arbeitsmethode ist ganz eigenartig.
In seinem Atelier bewegen sich oder sitzen stets einige nackte männliche und weibliche Modelle.
Sie stehen in Rodins Diensten, damit er stets das Spiel nackter Formen in ihren von jedem Zwang befreiten Bewegungen vor Augen haben kann. Er betrachtet sie unaufhörlich und ist nun schon seit 30 langer Zeit mit dem Spiel der Muskeln aufs innigste vertraut geworden. Das Nackte, für die heutigen Menschen eine seltene Offenbarung und selbst für die Bildhauer im allgemeinen eine Erscheinung, deren Dauer auf die Sitzung beschränkt bleibt, ist für Rodin ein gewöhnlicher Anblick geworden. Diese herkömmliche Kenntnis des menschlichen Körpers, die die alten Griechen durch Anschauen der Übungen in der Palästra, des Diskuswerfens, der Faustkämpfe, des Ringens und der Wettläufe erwarben und die ihren Künstlern erlaubte, auf ganz natürliche Weise das Nackte anzuwenden, hat der Schöpfer des »Denkers« sich zu eigen gemacht durch die beständige Gegenwart unverhüllter menschlicher Körper, die vor seinen Augen auf- und abwandeln. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, den Gefühlsausdruck aller Körperteile zu entziffern.
Man hält im allgemeinen das Antlitz für den einzigen Spiegel der Seele; die Beweglichkeit der Gesichtszüge scheint uns die einzige Äußerung des geistigen Lebens zu sein. In Wirklichkeit hat der Körper auch nicht einen einzigen Muskel, der nicht auf die inneren Veränderungen reagiert. Alle sprechen sie Freude aus oder Trauer, Enthusiasmus oder Verzweiflung, Heiterkeit oder Zorn. Ein sich 31 hingebender Körper und ausgestreckte Arme lächeln mit der gleichen Anmut wie Augen oder Lippen. Um jedoch alle Erscheinungen des Fleisches deuten zu können, muß man dem Studium des nackten Körpers die unermüdlichste Ausdauer und die angespannteste Aufmerksamkeit widmen. Das taten die antiken Meister, die dabei von den Sitten ihrer Zivilisation unterstützt wurden. Und das hat in unseren Tagen Rodin durch seine Willenskraft wieder zustande gebracht.
Sein Auge verfolgt unablässig seine Modelle; er genießt schweigend die Schönheit des Lebens, das in ihnen spielt; er bewundert die reizvolle Geschmeidigkeit eines jungen Weibes, das sich beugt, um einen Spachtel aufzuheben, die feine Grazie eines anderen, das sein goldenes Haar über dem Kopf in die Höhe hebt, die nervige Kraft eines schreitenden Mannes, und wenn dieser oder jene eine Bewegung machen, die ihm gefällt, so bittet er, in der betreffenden Stellung zu verharren. Dann greift er zum Ton, und im Nu ist eine Skizze fertig; ebenso sicher und bereit geht er zu einer anderen über und formt sie in derselben kurzen Zeit.
Eines Abends, als die Dunkelheit sein Atelier schon fast ganz in Schatten gelegt hatte und die Modelle 32 hinter Wandschirmen sich ankleideten, unterhielt ich mich mit dem Meister über seine künstlerische Methode.
– Ich staune, sagte ich ihm, über den Unterschied in der Arbeitsmethode, der zwischen Ihnen und allen übrigen Bildhauern besteht. Ich kenne viele und habe sie bei der Arbeit gesehen. Sie stellen ihr Modell auf ein Podium und lassen es diese oder jene Pose einnehmen. Sehr häufig biegen oder strecken sie ihm Arme und Beine nach ihrem Geschmack oder rücken an Kopf und Körper, je nachdem es ihnen gefällt, hin und her, ganz als ob es 35 sich um eine Gliederpuppe handelte. Dann fangen sie an zu arbeiten.
Sie dagegen warten, bis Ihre Modelle eine Haltung einnehmen, die Ihnen interessant genug erscheint, sie festzuhalten. Demnach könnte man fast annehmen, daß Sie weit mehr Ihren Modellen gehorchen, als diese Ihnen.
Rodin, der gerade beschäftigt war, seine Tonfiguren mit nassen Leinentüchern zu verhüllen, antwortete ruhig:
Ich gehorche nicht meinen Modellen, sondern der Natur.
Meine Zunftgenossen haben zweifellos ihre Gründe, so zu arbeiten, wie Sie es soeben geschildert haben. Durch diese Vergewaltigung der Natur, indem sie lebendige Menschen wie Puppen behandeln, laufen sie Gefahr, künstliche und tote Werke hervorzubringen.
Ich bei meiner unaufhörlichen Jagd nach Wahrheit und bei meinem beständigen Erforschen aller Regungen des physischen Lebens, werde mich wohl hüten, ihrem Beispiel zu folgen. Ich entnehme alle Bewegungen, die ich beobachte, dem wirklichen Leben, an ihrem Entstehen aber bin ich völlig unbeteiligt.
Selbst wenn der Vorwurf, an dem ich arbeite, mich zwingt, von meinem Modell eine ganz bestimmte Haltung 36 zu fordern, so äußere ich natürlich genau meine Wünsche, vermeide es jedoch sorgfältig, das Modell auf mechanische Weise in diese Stellung zu bringen, denn ich will nur das darstellen, was die Wirklichkeit mir freiwillig zeigt.
Ich gehorche in allem der Natur und würde niemals das Recht in Anspruch nehmen, sie zu meistern. Mein einziger Ehrgeiz ist, ihr unbedingt treu zu sein.
Dennoch, warf ich ein wenig schalkhaft ein, ist es nicht einfach Natur, was Sie in Ihren Werken zum Leben erwecken. 37
Er unterbrach jäh die Beschäftigung mit den feuchten Lappen und sagte, indem er die Augenbrauen runzelte:
Allerdings, einfach Natur!
Aber Sie sind doch gezwungen, sie umzugestalten . . .
Durchaus nicht! Ich würde mich verfluchen, wenn ich es täte.
Aber der Beweis für die Umgestaltung ist, daß ein Abguß nicht im entferntesten den Eindruck Ihrer Arbeit geben würde.
Er überlegte kurz und sagte:
Gewiß, das liegt eben daran, daß der Abguß minder »wahr« ist, als meine Skulptur.
Denn es wäre einem Modell unmöglich, während der Zeit, worin man den Abguß fertigte, eine lebendig wirkende Stellung festzuhalten. Während ich meinem Gedächtnis den Gesamteindruck der Pose eingeprägt habe und unausgesetzt dafür sorge, daß das Modell sich nach meiner Erinnerung richtet.
Mehr noch; der Abguß gibt nur das Äußere wieder; ich arbeite außerdem den Geist heraus, der doch wohl auch einen Teil der Natur ausmacht.
Ich sehe die ganze Wahrheit, nicht nur die der Oberfläche. 38
Ich betone die Linien, die den von mir zu deutenden geistigen Zustand am besten ausdrücken.
Als er das gesagt hatte, zeigte er mir auf einem Schemel in meiner Nähe eine seiner schönsten Statuen, einen knieenden Jüngling, der seine Arme leidenschaftlich bittend zum Himmel hebt. Sein ganzes Wesen ist Angst. Der Leib beugt sich weit zurück, der Brustkasten schwillt an, der Hals 39 spannt sich verzweiflungsvoll, und die Hände strecken sich einem geheimnisvollen Wesen entgegen, an das sie sich festklammern möchten.
Sehen Sie, sagte Rodin, hier habe ich das ganze Spiel der Muskeln, die die höchste Not ausdrücken, herausgearbeitet. Hier besonders habe ich die Verzweigung der Sehnen, die das Ungestüm und die Leidenschaft des Gebets anzeigen, stark unterstrichen.
Bei diesen Worten hob er die nervigsten Teile seines Werkes hervor.
– Trotzdem lasse ich Sie nicht los, Meister, versetzte ich mit leichtem Spott: Sie sagten selbst, daß Sie »unterstrichen«, »betont«, »herausgearbeitet« haben. Das ist doch nichts anderes als eine Umgestaltung der Natur.
Er lachte herzlich über meine Hartnäckigkeit.
Nein und abermals nein! entgegnete er, ich habe sie nicht umgestaltet. Oder vielmehr, wenn ich es getan habe, so geschah es, ohne daß ich mir dessen im Augenblick bewußt geworden wäre. Das Gefühl, das mein Sehen bestimmte, hat mir die Natur so gezeigt, wie ich sie nachgebildet habe.
Wenn ich das, was ich sah, hätte abändern und verschönern wollen, so wäre nichts Gutes dabei herausgekommen. 40
Unmittelbar darauf begann er wieder:
– Ich gebe Ihnen zu, daß der Künstler die Natur ganz anders wahrnimmt, als sie der großen Menge erscheint, weil sein umfassenderes und intensiveres Gefühl ihn von den äußeren Formen zu den inneren Wahrheiten gelangen läßt.
Schließlich bleibt aber das einzige Prinzip in der Kunst, nur das nachzubilden, was man sieht. Allen ästhetischen Kleinigkeitskrämern zum Trotz bleibt jede andere Methode verhängnisvoll. Es gibt kein Mittel, die Natur zu verschönern.
Es handelt sich nur um das »Sehen«.
Zweifellos wird ein Durchschnittsmensch, wenn er die Natur nachbildet, niemals ein Kunstwerk schaffen: denn er betrachtet sie tatsächlich ohne zu »sehen«, und wenn er auch peinlich genau jede Einzelheit wiedergibt, wird das Ergebnis doch schal und ohne Charakter sein. Der Künstlerberuf ist nun einmal nicht für die Durchschnittsmenschen gemacht, und selbst die besten Ratschläge könnten ihnen kein Talent vermitteln.
Der Künstler dagegen »sieht«: sein Auge, in engster Verbindung mit seinem Herzen, dringt tief in den Schoß der Natur.
Deshalb darf der Künstler nur seinen Augen trauen.