Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Für immer vereinigt

Die Sonne eines Oktobernachmittages schien sanft herab auf den Wald, welcher in der zwiefachen Schönheit dieses Lichtes und der eigenen Herbstfärbung stand. Die Kiefern – die heimatlichen Kiefern – waren ernst und grün wie das ganze Jahr, aber ihre Kronen leuchteten golden und feierlich im Strahle des Himmels, und an sie geschmiegt schimmerte der Purpur und das Braun der Laubbäume. Gelbe Blätter lösten sich von den Zweigen ab und sanken, eins nach dem anderen, lautlos auf den Moosboden. Lautlos auch zog der Fluß dahin – der heimatliche Fluß, dessen Bläue man zuweilen zwischen den Lichtungen heraufblinken sah.

Ein solcher Tag war es, als Eduard Grandidier an der Seite seines Vaters dahinschritt – auf dem Wege, den dieser oft, in entfernten Zeiten, als Knabe gewandelt, mit den Bildern einstiger Größe vor sich. Auch Eduard kannte diese Gegend. Oftmals hatte sein Blick sehnsuchtsvoll auf diesem Streifen Waldesgrün geruht, wenn er mit dem Porträt der Unbekannten, deren Geschichte er nun kannte, dort am Rande des Horizontes das Unbekannte suchte. Etwas Geheimnisvolles schwebte für ihn um diese Wald-, Wasser- und Heidegegend; und auch heute war er unter dem Zauber einer solchen Empfindung.

»Mon Dieu, mon Dieu!« sprach der alte Grandidier, indem er die Hand des Sohnes ergriff, »wer hätte mir damals gesagt, daß wir diesen Weg selbander gehen würden – so glücklich, und unser Glück, damit wir daran glauben können, doch gedämpft und berührt von dem Schatten der Vergänglichkeit, wie dieser Herbstnachmittag! Es ist mir noch immer wie ein Traum!«

428 Dann ward es wieder still zwischen den beiden Wanderern. Man hörte nur von der Landstraße her das Geräusch von Rädern – es war der Wagen, in welchem Glöcklin und sein Enkel – jetzt eine Waise! – nach der Villa des Herrn Grandidier fuhren, während dieser und sein Sohn einen Seitenpfad durch das Gehölz vorgezogen hatten.

»Ein Traum, mein Vater!« nahm Eduard nach längerem Schweigen den Faden des Gespräches wieder auf, »dorten, weit hinter uns, rollt die Woge des Krieges weiter, und heute –« seine Stimme stockte, »heute sind es acht Tage, daß wir Helene Grandidier neben Alfons zur ewigen Ruhe gebracht haben. – Welch ein Weib war sie! Wie königlich ausgestattet mit allen Gaben der Natur und des Geistes! Wie ganz gemacht schien sie, bewundert, geliebt zu werden und zu beglücken . . . Und nun dahin . . . Weißt du, Vater, daß mich die Vorstellung nicht mehr verläßt, unter ihrem Bilde Frankreich zu sehen? Wenn auch Frankreich so fallen könnte – sterbend unter einem Trümmerhaufen und erschlagen von einem Geschick, das es doch nicht ganz und nicht allein verschuldet! Ich ertrüg' es nicht, Vater. Ich habe keinen Haß gegen das verirrte Volk gefühlt, als ich die Waffe für mein Vaterland ergriff; und nun sie meiner Hand entsunken ist, fühl' ich nur noch Mitleid! . . .«

»Erinnerst du dich, mein Sohn, wie du einst in deinen Knabenjahren auffuhrest, als ich dir von dem Unrecht erzählte, welches Frankreich unsern Vätern zugefügt? Ich mußte dir damals deinen Eifer verweisen, indem ich dich darauf aufmerksam machte, wie das Böse, welches sie uns zu tun gedachten, sich in eine Quelle des Guten für uns verwandelt hat! Das Unrecht der Völker dauert nicht ewig; auch für sie gibt es eine Versöhnung. Laß uns hoffen, mein Sohn, laß uns hoffen, daß Frankreich von diesem tiefen Sturz sich erhebe, weiser und gerechter. Und wer könnt' es dann mit größerer Liebe wieder umfassen als wir, die wir beide wohl wissen, was wir ihm verdanken und welche Bande uns einst mit ihm verknüpft haben! Laß uns aber auch niemals vergessen, mein Sohn, um welchen Preis man einen Sieg erringt! Ach, wenn man diese Erfahrung immer festhalten könnte, wie sicher wäre man dann, einzelne Menschen und ganze Völker, vor den Fehlern, die zur Niederlage führen! . . .«

429 Sie waren nun aus dem Walde getreten, und vor ihnen am Wasser lag die Villa. Die Wände waren von rötlichem Weinlaub umsponnen, und ihre Säulen glänzten im Sonnenschein. Es war das Haus, welches einst, lange bevor es gebaut worden, Eduard in seinen Träumen hier gesehen hatte – und dort, dort stand auch die Mädchengestalt, die er damals unter der Türe erblickt . . . nicht in Weiß, wie seine Phantasie sie ihm gezeigt . . . ach, die Wirklichkeit war herber; sie hatte die Gestalt in Schwarz gehüllt. Bärbel war in tiefer Trauer.

Aber dennoch, als sie den Geliebten sah, stieß sie einen Schrei aus, zugleich des Schmerzes und der Freude, und schluchzend warf sie sich an seine Brust – als ob sie hier einen Ersatz suche für alles, was sie rings um sich her verloren und als ob sie sonst nichts mehr von der Welt verlange.

Sie war die erste, welche die Heimkehrenden begrüßte, und niemand bestritt ihr dieses Recht. Die Mutter stand daneben; ihr war es genug, den Sohn zu sehen, und als er sich endlich losriß, um sie in seine Arme zu schließen, da rief sie, den Teuren an sich pressend: »Es ist zuviel, es ist zuviel!«

Später am Nachmittage kamen Süchiers und dann auch Kanzleirats mit den Kindern heraus. Das Wiedersehen war herzlich. Kein Schatten der Vergangenheit mehr trübte die Stimmung. Der Ernst der Zeit, die große und heilige Sorge für das Vaterland hatte gleichsam die Herzen gereinigt, so daß keine Nichtigkeit mehr Platz darin fand. Jeder hatte nach Kräften seine Pflicht getan und jeder seine Befriedigung gefunden. Man hatte wieder neidlos bewundern und hingebend lieben gelernt, und darin steckt eine läuternde Kraft. Mit aufrichtiger Inbrunst bewillkommte Lottchen den Bruder, an dem sie vieles wieder gutzumachen hatte. Doch er erleichterte ihr das Wiedersehen, indem er ihr freundlich und gütig entgegenkam. Und Berta! – die gute Berta! Wie sie durcheinander weinte und lachte und ihren Bruder um Verzeihung bat!

»Was hast du mir denn getan, liebe Schwester?« sagte Eduard, indem sie immer wieder aufs neue ihn umarmte.

»Nichts, nichts,« erwiderte sie unter Tränen; »ich nicht – wahrlich nicht! Aber ich hätte nicht leiden sollen, daß andere dir etwas getan. Du lieber Bruder! . . .«

Und der alte Diener und der Kutscher und des Kriegsmanns 430 Karl errötende Gattin Friederike! Wie die dem jungen Herrn die Hand schüttelten, und wie ehrlich die's mit ihrer Freude meinten! Und als nun gar mit der untergehenden Sonne Fritz Scharf einrückte, von allen, sogar von dem Herrn Kanzleirat, freundschaftlich begrüßt, und als er Frau Süchier wieder »Berta« nannte, so daß Herr Süchier die größte Mühe hatte, einen Anfall verfrühter Laune zu unterdrücken – da wich allmählich der Druck, der auf diesem Kreise bisher gelastet, und eine gewisse ruhige Heiterkeit kehrte zurück.

Nur Glöcklin nahm keinen Teil daran. Er konnte nicht vergessen, was er während der letzten Wochen erlebt, es blieb ihm immer gegenwärtig. Ein Gefühl, kalt und grau wie jene Morgenfrühe, war in ihm, und das bleiche Gesicht seiner Tochter wich nicht. Er ließ den kleinen George nicht von sich; er wachte über ihn bei Tag, und oftmals in der Nacht erhob er sich, um nach ihm zu sehen. Er hatte ihn auch jetzt an der Hand, als sie zusammen in der Dämmerung saßen, an dem großen Fenster, welches weit über den Garten die Spree sieht. Der Knabe war still geworden. Er sah blaß und leidend aus. Der Druck dessen, was er in so frühem Alter durchgemacht, lastete schwer auf ihm. Doch wenn man die beiden miteinander verglich, den starken Mann und das zarte Kind, so mochte man wohl des Gleichnisses vom Sturme gedenken, der die Bäume bricht und den Nachwuchs nur streift.

»Sprich nicht mehr von mir,« wehrte Glöcklin sanft dem Zureden des Freundes. »Mein Werk ist getan, meine Zeit gegangen. Oh, daß auch ich von ihrem Einsturz begraben worden wäre! . . . Niemand würde mich dann einen Abtrünnigen nennen, niemand an der Treue meiner Gesinnungen zweifeln können.«

»Wer wagt es? Wer nennt dich so? Wer zweifelt an dir?«

»Still, Grandidier – still! Daß man uns nicht höre! Denn ich selber bin es – ich selber! . . .«

»Du!« versetzte Grandidier, »und doch bist du, sind es Leute wie du gewesen, welche, handelnd oder leidend, die neue Zeit vorbereiten halfen.«

»Die neue Zeit!« wiederholte Glöcklin mit wehmütiger Betonung . . . »Sie bedarf neuer, freudiger Menschen; und ich bin alt und traurig. Ich bereue nichts, aber ich hoffe für mich auch nichts mehr. Und das ist es, was ich beinahe wie einen Verrat empfinde. Öfter als je zuvor erscheint mir 431 die Vergangenheit, erscheinen mir die heimgegangen Lieben. Ich bin ein Mensch und fühle, was ich verloren – meine Heimat, meine Freunde, meine Tochter, mein alles . . . Sprich mir nicht von dem, was mir geblieben; von dem, was ich gewonnen. Die Zukunft! Oh, sie war dieser und aller Opfer wert. Aber für mich ist kein Platz mehr in ihr. Ich kann mich nicht mehr freuen.«

»Und deine Kinder?« sagte Grandidier vorwurfsvoll, »Bärbel, der kleine George? Du warst nie selbstsüchtig. Glöcklin!«

»Ich verdiene das Wort auch jetzt nicht,« erwiderte dieser. – »Ja – die Kinder! Ihnen gehört die Zukunft. Ihnen, welche noch verschmerzen und erwerben können. Ihnen, welche die Leichen und die Schutthaufen nicht gesehen haben; und wenn sie sie gesehen haben, doch vergessen werden. Dem neuen Geschlecht, welches dereinst in neuen Häusern auf den Stätten des zerstörten Straßburgs wohnen und welchem, was wir geschaut, nur noch wie eine Sage klingen wird – den Söhnen derer, welche mit Zorn im Herzen und mit Tränen im Auge das Elsaß zur alten deutschen Heimat zurückkehren sahen! . . .«

»Das sagst du – du, der sich von Frankreich losgesagt, lange noch bevor Menschen ahnen konnten, was sich vor unseren Augen begeben hat?«

»Ich traure nicht um Frankreich. Ich traure um meine Heimat und die Toten.«

»Und der Lebenden vergissest du? War das nicht abermals selbstsüchtig von dir gedacht und empfunden? Verzeih mir, mein alter Freund; ich habe wohl ein Recht, mit dir so zu sprechen. Denn vor wenigen Monaten – mir ist, als seien viele Jahre seitdem vergangen – hast du selber so mit mir gesprochen. In langen, bitteren Jahren, die am Marke meines Lebens gezehrt, habe ich gekämpft, dieses Gefühl der Selbstsucht zu überwinden. Das Dasein wird erst schön, wenn man weniger an sich und mehr an die anderen denkt. In der Jugend wird man des nicht inne; da bedecken ihr eigener Glanz und Schimmer die Leere. Doch wenn dahingezogen, was flüchtig und vergänglich ist, wenn, eine nach der anderen, die Flittern der Welt abfallen, wenn man alt wird und nichts mehr über das Ende täuscht: dann, dann fühlt man sie! Wenn man für sich selbst nicht mehr hofft, 432 glücklich dann, wer für andere hoffen kann! Haben wir nicht unsere Kinder und unsere Enkel? Unseren Toten ein treues, liebendes Angedenken; aber den Lebenden unsere helfende Hand, solange noch Kraft in ihr ist!«

In diesem Augenblick trat der alte Bediente mit zwei schweren silbernen Armleuchtern herein, deren brennende Kerzen plötzlich Helligkeit in dem immer dunkler gewordenen Raum verbreiteten.

»Meine Lieben,« wandte sich der Herr des Hauses an den versammelten Familienkreis, indem er zugleich seine Rechte auf das Haupt des kleinen George legte, »die Firma George Grandidier wird nicht untergehen! Als ich an dem Grabe stand, welches sich über den Eltern dieses Kindes geschlossen – als ich diesen Kleinen dastehen sah, mutterlos, vaterlos – da wie vom Himmel kam mir in meinem Schmerze der Gedanke . . . wenn dieses Kind dazu bestimmt wäre, den Wunsch deines Lebens dennoch zu verwirklichen? Ihr wißt es, meine Lieben, daß ich bereits Verzicht geleistet, daß ich mich schon gewöhnt hatte, das von den Vätern ererbte Geschäft – das Geschäft, welches mich und euch alle groß gemacht hat, in fremde Hände übergehen zu sehen. Aber Gott hat nicht gewollt, daß ein Name verschwinden sollte, der so lange schon in Berlin floriert, als der Große Kurfürst die flüchtigen Hugenotten hierselbst aufgenommen. Gott hat es nicht gewollt, sag' ich – und hier, meine Lieben, neben dem alten George Grandidier steht der junge, der George Grandidier der Zukunft. Mit dieser Erklärung adoptiere ich ihn zu meinem einstigen Nachfolger!«

Kein Widerspruch von seiten der Familie erfolgte. Kein Widerspruch, selbst wenn sie gewollt, wäre möglich gewesen; denn hier stand der alte Herr Grandidier wieder vor den Seinen, wie er jemals vor ihnen gestanden: fest, aufrecht und nicht auf Widerrede gefaßt. Auch beabsichtigte niemand dergleichen in dieser Stimmung und dieser Stunde; sogar die Frau Kanzleirat fand es ganz in der Ordnung, um so mehr, als ihre Söhne »ja doch studieren sollten!« Sie hatte gleichfalls ihre Lektion gelernt . . . daß nämlich das Leben nur sehr wenigen alles gewähre, und daß die übrigen, so gut es gehen wolle, sich begnügen müßten mit ihrem Teil. Sie hatte demnach endgültig Verzicht geleistet auf die Güter dieser Welt und sich zufrieden erklärt mit der Ehre, zumal 433 seitdem ihren Mann für seine patriotischen Leistungen das blaue Bändchen zierte.

»Nun kann der Osmanie auch nicht lange mehr ausbleiben,« sagte Fritz Scharf; »lassen Sie meinen Freund, den Türken, nur erst wieder ein bißchen zur Besinnung kommen.« Worauf der Herr Kanzleirat erwiderte: »Bitte, zu bemerken, hat gar keine Eile!«

Solange der Krieg dauerte, vermochte Eduard des Glückes, das ihm geworden, nicht recht froh zu werden; und es zuckte ihm jedesmal schmerzlich in dem wunden, nur langsam heilenden Arme, so oft er von neuen Schlachten und neuen Siegen hörte. Doch war er darum nicht untätig. Während seine Kameraden da draußen in hartem Ringen den Gegner vollends zu Boden drückten – welcher, je mehr es auf das Ende ging, um so heldenmütiger ward –, hatte Eduard die Staffelei aufgestellt, die Leinwand gespannt und die Ausführung jenes Gemäldes begonnen, dessen Entwurf er aus dem Elsaß mitgebracht. Er duldete nicht, daß irgend jemand aus dem Hause sein Werk im Entstehen sehen solle; selbst Bärbel durfte nicht in das Zimmer eintreten, wenn sie aus der Stadt kam. Sie war nämlich, seit der Rückkehr des Vaters, mit diesem wieder in das kleine Haus zu Neu-Kölln am Wasser gezogen, um ihn in seinem Schmerze nicht allein zu lassen, für ihn und George zu sorgen und beiden noch einmal ihre ganze Liebe zu widmen. –

Da kam ein Tag, ein wunderschöner Tag, so frühlingshaft im März, so sonnig-feucht, so duft- und glanzumflossen . . . An diesem Tage läuteten alle Glocken in Berlin, und durch die lieblichen Lüfte klang ein schwacher Nachhall weit über das Wasser und ward in der Stille ringsum selbst hier gehört, in der Villa bei Treptow. Auf der Altane derselben stand Eduard in der Uniform seines Regimentes, und an ihn gelehnt Bärbel. Sie hielt ein Blatt in der Hand, welches sie aus der Stadt mitgebracht hatte, und das Blatt war von einem grünen Lorbeerkranz eingerahmt, und darin stand die Depesche. welche die Friedensnachricht brachte . . . »Die von Frankreich abgetretenen Gebiete Elsaß und Lothringen werden mit dem Deutschen Reiche für immer vereinigt! . . .«

»Für immer vereinigt!« rief Eduard, indem er das geliebte Mädchen an sich zog und einen innigen Kuß auf ihre blühenden Lippen drückte.

434 Der Nachmittag fand alle Glieder der Familie in der Villa versammelt; auch Glöcklin mit dem Knaben war gekommen.

»Nun sollt ihr mein neues Bild sehen,« sagte Eduard; »es ist zwar noch immer nicht ganz fertig, aber doch schon so weit, daß ich es zeigen kann.«

Alle traten in das Zimmer, in welchem auf einer Staffelei das Bild stand, aber verhüllt. Die Frühlingssonne schien über den Kiefernwald, in welchem die ersten Spuren des wiedererwachenden Lebens sich regten. Eine feierliche Stille war in dem Gemach, und eine fast ängstliche Spannung ließ alle Herzen, die hier klopften, noch einmal den ganzen Druck der Vergangenheit empfinden, bevor er, mit der Hülle des Bildes gleichsam, auf immer von ihnen genommen werden sollte. Jetzt leuchtete der helle Farbenglanz ihnen entgegen – und jetzt sahen sie den Großen Kurfürsten mit seinen Dragonern, und seinen Feldmarschall und seinen Generalquartiermeister, und die gute alte Stadt Straßburg und das Münster, und auf den Wällen die Bürgerwehr und die Fahnen . . . und jetzt! . . . Ein Schrei ging durch die kleine Versammlung . . . und bald hörte man lautes Schluchzen und Ausrufe der Verwunderung und der Freude. Die Figuren der Straßburger waren Porträte, und jeder der Anwesenden erkannte sich auf dem Bilde. Der Städtmeister Zorn, welcher den Großen Kurfürsten im Namen der freien und reichsunmittelbaren Stadt Straßburg willkommen hieß, war Herr Grandidier in der altväterischen Tracht des siebzehnten Jahrhunderts. Die beiden Ratsherren waren Glöcklin und der Maler, über dessen Schulter eine junge, liebreizende Bäuerin das Hälschen reckt – es war Bärbel, im kurzen Röckchen, im goldgestickten Häubchen mit langen Bändern und das Mieder mit Schleifen besetzt – ganz so, wie die hübschen Elsässerinnen in den Dörfern um Straßburg sich noch heute tragen. Eine prächtige Alte zupft das neugierige Kind aus dem Gedränge zurück; und wer hätte in dieser behäbigen, auf ihr Töchterlein stolzen Matrone nicht sogleich die gute Frau Luise Dorothea wiedererkannt? Das Herz lachte einem im Leibe, sie zu sehen; aber sie selber weinte. Sie war zu glücklich und zu dankbar. Auch der Oberst war nicht vergessen; er hatte genau die Stelle, die ihm zukam: er führte die Kavalkade der jungen Patrizier 435 an, saß hoch zu Roß und trug die Uniform, welche er zwar für das Leben abgelegt hatte, aber um so mehr berechtigt war, in der Kunst zu behalten: nämlich die eines Obersten der Bürgerwehr. Nicht weit von dem Ratsherrn Glöcklin stand ein Knabe, der die Züge des kleinen George hatte, und weiter zurück, auf einem Hügel, saß eine Gruppe, welche, nach allem Heiteren, was das Bild bot, die gegenwärtigen Beschauer tief und wehmütig bewegen mußte. Dort, von einer Trauerweide verschleiert, erkannten Herr Grandidier und Glöcklin in ihren weißen Gewändern Rose; und dort erkannten die übrigen Helene, wie sie, verklärt lächelnd, mit der rechten Hand Alfons hält und mit der linken hinausdeutet auf die Gruppe im Vordergrund.

»Eduard,« rief Bärbel, zuerst das Schweigen brechend, »o du mein Lieber, wie soll ich dir jemals danken? Du hast den Traum jener Nacht wahrgemacht, als die Mutter zu mir kam und, mich anrufend, sagte: »O Bärbel, liebes Kind – wenn die Getrennten wieder beisammen wären, wie ruhig wollt' ich dann schlafen in meinem Grabe!« . . . Nun sind sie wieder beisammen – die Toten und die Lebenden – durch dich!«

»Und wie wir sie dort auf dem Hügel sehen,« sagte Herr Grandidier und ergriff die Hand Glöcklins, der die Tränen nicht länger zurückhielt, »so sollen auch sie für immer vereinigt in unserem Gedächtnis leben.«

Eduard sagte, daß er das Bild fertigzustellen gedenke bis zum Tage des Einzugs – »und unserer Hochzeit,« flüsterte er der errötenden Bärbel ins Ohr.

»Ja,« sagte der Vater, »und ein Schild lasse ich unten in den Rahmen schnitzen, darauf soll stehen: »Der Große Kurfürst im Elsaß«, und zwei Täfelchen oben, auf dem einen soll stehen: »30. September 1681« – das ist der Tag, an welchem Straßburg verloren ging; und auf dem anderen: »27. September 1870« – das ist der Tag, an welchem Straßburg wieder deutsch ward.«

»Es ist zwar nicht durchaus stilvoll,« sagte mit einem Lächeln Eduard; »aber da das Bild dir gehört, so kannst du ja damit machen, was du willst.«

»Das will ich auch,« versetzte der Vater in fröhlicher Laune. »Denn ihr kennt ja meinen alten Spruch: ›Durch, immer gerade durch, sagt Grandidier!‹«

436 »Gott sei Dank!« sagte Frau Luise Dorothea, »daß ich das Wort wieder höre!«

»Ja, ja, jetzt hat es wieder einen Sinn,« versetzte Papa Grandidier, der im Besitze seines Juniors fast selbst wieder ein junger Mann geworden war an Rüstigkeit und Lebensplänen.

Er hatte sich's nicht nehmen lassen, in dem Hause, welches er für den Sohn gekauft, nach seiner eigenen Idee (doch unter strenger Kontrolle des bewußten Baumeisters) ein Atelier mit dem allerschönsten Oberlicht herzustellen. Das Haus lag in jener Gegend des Tiergartens, welche damals eben gelichtet ward, und wo jetzt um die Siegessäule die schönen und vornehmen Straßen sich gruppieren, welche nach Bismarck, Moltke und den anderen Helden des Jahres 1870 genannt sind. Tag für Tag, wie einst in seiner Villa, war Herr Grandidier jetzt dort, um nach dem Bau zu sehen und die Arbeiter zu treiben, daß alles rechtzeitig zum Empfange des jungen Paares fertig werde. Denn bei Samuel Fränkel in der Heiligengeiststraße wäre kein Quartier mehr für sie gewesen: dieser hatte die Wohnung jetzt selbst nötig für seinen eigenen Sohn, Joseph Fränkel. Dieser junge Mann hatte sich nämlich im Kriege nicht nur ein hübsches Vermögen gemacht, sondern auch in Speier in ein hübsches Mädchen verliebt, so daß es hier im Hause gleichfalls eine Heirat gab. Zwar das Atelier, wie Eduard es innegehabt und zuletzt eingerichtet, konnte Joseph für sein Geschäft nicht brauchen; aber »der liebe Gott wird helfen,« sagte der alte Fränkel, als er zusammen mit Herrn Stork – der noch immer der Mann seines besonderen Vertrauens war – die Räume besichtigte – der alte Fränkel mit zufriedenem Schmunzeln berichtend, wie gestern der Herr Grandidier ihn vor seinem Laden angeredet und freundlich die Hand gedrückt habe; Herr Stork aber, seine großen Augen noch größer vor Vergnügen, immer darauf zurückkommend, was für ein herrlicher und berühmter Mann aus seinem Schüler Eduard geworden sei.

Als nun der 16. Juni kam, der Tag des Einzugs der Truppen in Berlin, welcher, außer allen anderen, auch den fröhlichen Karl gesund und munter wieder in die Heimat zurückbrachte, da war große Freude und viel Leben im Grandidierschen Hause zu Neu-Kölln am Wasser. Denn 437 morgen sollten Eduard und Bärbel ein Paar werden, und Herr Grandidier tat es nicht anders, die Hochzeit mußte im alten Familienhause gefeiert werden. Ach, die gute Frau Luise Dorothea, wie sie sich nun belohnt fühlte für alles, was sie in den Jahren durchgemacht hatte! Und die Vorbereitungen zum Fest zu überwachen – denn das tat sie wieder nicht anders! – und alle die frohen Gesichter um sich her zu sehen, keines froher als das des gewesenen Obersten, welcher, nachdem er am Morgen Unter den Linden drei Stunden lang unaufhörlich Hurra gerufen, die Nachmittagsstunden in dem befreundeten Kreise verbrachte und für morgen sich Frau Berta Süchier als Tischnachbarin engagiert hatte.

Bevor der schöne Junimorgen aber erschien, am Abend vorher und tief in die Nacht hinein, strahlte die ganze Stadt in einem Meere von Lichtern und Flammen zur Feier des Friedens und den Heimgekehrten zum Gruße. Da war kein Turm so hoch, daß er die Friedensbotschaft nicht gleichsam hinaustrug in das weite Land. Da war kein Fenster so klein, daß es nicht schimmernd verkündete, was die Bewohner dahinter an diesem Abend empfanden. Und spät erst – lange nach Mitternacht – verlor sich die Menge, die bis dahin durch die Straßen gewogt – und langsam erlosch ein Licht nach dem anderen . . . und zuletzt ward es ganz still und leer auf den Plätzen, wo noch eben so viel Glanz und so viel Jubel gewesen . . . und da kam ein Mann, der sich zuvor lange umgesehen, ob er auch von niemand beobachtet werde, von dem Schloßplatz daher und schritt nach der Brücke hin, unter welcher die Spree fließt und über welcher der Große Kurfürst steht – und sah sich noch einmal um und holte dann unter seinem Rocke hervor einen Kranz aus frischen Lorbeerblättern und beugte sich über das Gitter und legte den Kranz auf das Postament zu den Füßen des Großen Kürfürsten nieder.

»Heut,« murmelte der Mann vor sich hin, »haben sie alles erleuchtet und alles bekränzt in Berlin, nur an dich hat niemand gedacht. Aber du sollst darum nicht leer ausgehen, du sollst sehen, daß einer nicht vergessen hat, was du für ihn und für uns alle getan hast – daß einer dein Angedenken in Ehren hält und dich heute nennt und immer nennen wird den Wohltäter der Grandidiers!«

438 Dann entfernte sich der Mann langsam und bedächtig, wie er gekommen, die Königsstraße hinab bis zur Klosterstraße, durch welche er seinen Weg nahm nach Neu-Kölln am Wasser. Hier aber, bevor er sein Haus erreicht, blieb er noch einmal stehen. Denn nun begann von der Parochialkirche, erst in einzelnen Tönen, dann immer voller das Glockenspiel, und feierlich, während Herr Grandidier die Hände faltete, scholl es in wunderbarer Deutlichkeit durch die stille Nacht hin: »Nun danket alle Gott!«

 


 


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