Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Das Gewitter steigt herauf

Die ganze Nacht ging Herrn Grandidier der Vorfall im Kopfe herum und ließ ihn nicht schlafen. Es war eine Nacht, fast wie jene, in der sein Elend mit der Flucht Eduards begonnen. Warum sollte er sich's nicht gestehen? Elend war er gewesen während dieser ganzen Zeit; elend und ohnmächtig; was half es ihm, es jetzt noch vor sich selber verbergen zu wollen? Er wußte es, er fühlte es; in dieser Nacht ward es ihm klar. Bis zu den ersten Anfängen des Zwiespalts ging er zurück; er hatte nichts gewonnen, nichts erreicht, nicht einmal so viel, die nagende Pein aus seiner Seele reißen zu können. Den Seinen war er entfremdet, der Welt und den Menschen stand er fast feindlich gegenüber; er – oh, Glöcklin hatte recht, nur zu recht! – er, einst ein so liebevoller Familienvater, ein so rastloser Geschäftsmann, ein so pflichtgetreuer Bürger und ein so guter Patriot! Diese Gedanken ließen ihn nicht schlafen. Es war keine Rettung mehr vor ihnen. Immer und immer wieder waren sie da, und er wälzte sie wie ein Rad, das sich umschwingt. Die Worte des Psalmisten fielen ihm ein, und oftmals, indem er umsonst nach Vergessen und Schlummer rang, murmelte er: »Wo soll ich hingehen vor deinem Geist? Und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht?«

Am anderen Morgen war Herr Grandidier sehr still und in sich gekehrt; aber er bemerkte dennoch im Kreise seiner Hausgenossen eine große Bewegung, die man ihm zu verbergen strebte. Diese guten Leute hielten ihn immer noch für einen Patienten oder Genesenden; aber sie wußten nicht, daß die Heilung nicht mehr von ihnen abhänge, sondern von seinem eigenen Entschluß.

Wirklich war sein Blick an diesem Morgen nicht mehr völlig nach innen gewandt; er sah wieder, was um ihn her vorging, und es beschäftigte ihn, wenn auch auf peinliche Weise. Heimlich nahm er, nachdem er sich überzeugt, daß niemand ihn sehe, die Zeitung, die er seit Monaten nicht mehr berührt. Es kostete ihn einen Kampf; mehrmals legte er das Blatt fort, immer nahm er es wieder. »Ich will es wissen! Ich will erfahren, was vorgeht!« rief er zuletzt. Und nun las er.

Und er las, daß die Welt eine andere geworden, seitdem 330 er in krankhafter Selbstsucht sich von ihr abgewandt. War dies noch derselbe Himmel von gestern, dies noch derselbe Boden der heimatlichen Erde? Gehörte dies alles noch sein, das Haus, der Garten, oder war es Täuschung? Das Blut stieg ihm in heftigen, warmen Wellen gegen den Kopf, ein Flimmern war vor seinen Augen – er wollte noch einmal das Blatt fortlegen. Aber nein, jetzt hielt er es fest.

»Mein Preußen! Mein König!« rief er. Sein Herz klopfte, jeder Puls in ihm war in Bewegung. Seine Rechte ballte sich. Er gedachte daran, was er einst seinen Sohn gelehrt, als er mit ihm durch die Straßen und über die Plätze Berlins ging, ihm die Heldendenkmäler erklärend. Er gedachte daran, wie er ihn in der Pflicht gegen das Vaterland unterrichtet, doppelt das Vaterland derer, die flüchtig und arm und heimatlos von ihm aufgenommen worden waren. Er fühlte, wie er so dasaß, das Blatt in der Hand, mit Grün und Sonnenschein um sich her, wie der alte Geist in ihm erwachte, wie eine langentbehrte Gesundheit ihn durchrieselte, wie eine kräftige Spannung an die Stelle der bisherigen Teilnahmlosigkeit trat. Er rief sich zurück, wie der Knabe bei seiner Erzählung die kleinen Fäuste geballt gegen dieses Frankreich, welches so hart und grausam und ungerecht gewesen gegen die Väter – und immer mächtiger stieg es in ihm empor wie eine Mahnung: »Jetzt ist der Augenblick gekommen! Jetzt wird er fortziehen in den Krieg – und oh! – wenn er ginge und nicht wiederkehrte . . .« Und jetzt erinnerte er sich, und es fiel ihm schwer aufs Herz, was seine Frau in jener Nacht gesagt: »Bedenk, es kann eine Zeit kommen . . . und wie willst du es dann ertragen?« Das Schweigen um ihn her bedrückte ihn; er hielt es nicht mehr aus in der Einsamkeit.

»Mutter! Mutter!« rief er, »was hab' ich gelesen . . .«

Wie auf einer unrechten Handlung ergriffen, kam Frau Luise Dorothea herbei, als ob sie sich einen Vorwurf zu machen habe, daß sie so schlecht verstand, ihren Kummer zu verbergen. Aber ihr Mann umarmte sie und drückte sie an seine Brust, und sie konnte sich nicht länger halten, und ihre Tränen flossen.

»Du weißt es,« schluchzte sie; »Gott sei Dank – so darf ich doch nun mit dir davon sprechen. Ich hätt' es auch nicht länger mehr verschweigen können – das Herz wäre mir zersprungen . . .«

331 Herr Grandidier sah in ihr bekümmertes Gesicht – er sah, wie bleich und verstört und abgehärmt es war; wie verweint die Augen, welche Spuren der Gram und die schlaflosen Nächte in ihre Züge gegraben.

»Du hast viel gelitten, Luise Dorothea,« sagte er in einem Tone, so weich, wie selten zuvor, indem er sie zu einem Gartensessel führte und sich neben ihr niederließ.

Alles das rührte die gute Frau so, daß sie von Dankbarkeit überging. »Ach, Grandidier,« sagte sie, »wer spricht von mir, denke doch nicht an mich! Mir ist ja wohl, wenn ich nur weiß, daß du wieder an deinem Platze bist. Ich werde stark sein, wenn du dich nur kräftig genug fühlst, es ertragen zu können. Mein Gott, mein Gott! Diese doppelte Qual hätte mich zu Boden gedrückt . . .«

»Luise Dorothea,« sprach Herr Grandidier ernst und ergriff ihre Hand, »ich habe mir es selber nicht mehr zugetraut bis zu diesem Augenblick, daß noch Lebenskraft in mir sei. Doch jetzt fühle ich wohl, daß in dieser Brust sich noch etwas regt, daß in diesem Kopf noch etwas ist. Ich bin ein alter Mann. Luise Dorothea – in diesen drei, vier Jahren bin ich alt geworden, so alt . . . Aber dennoch, jetzt, wo die Welt in Bewegung ist, wo die Völker gegeneinander aufstehen, setzt wird mir seltsam zumute, als ob ich selber noch einmal jung werden sollte. Mir ist immer, als ob ich Musik hörte, jenes französische Lied vom deutschen Rhein, welches sie herausfordernd einst in meiner Jugend sangen, und das andere, neue, welches ich gestern zuerst vernommen habe und welches seitdem mir nicht mehr aus dem Sinne will. Oh, Luise Dorothea, ich möchte hin zu meinem König und mit all den tausend anderen rufen: Wir sind dein! Wir sind dein!«

Mit Staunen hörte Frau Grandidier ihren Mann so reden. Sie verstand ihn nur halb. In ihrem Herzen gingen die Verwandlungen nicht so rasch. Sie brauchte Zeit zu allem. Sie sah nicht so weit und nicht so vieles auf einmal. Sie sah nur eines und immer wieder eines – und ach, von diesem einen, so bang sie auch lauschte, sagte ihr Mann nichts.

Sie stiegen die Verandatreppe hernieder und gingen auf den Hof. Da gackerten die Hühner, die Tauben saßen am Dache, der Pfau schlug den Reif und in der warmen Sonne des Julimorgens ausgestreckt lag der Hund. Sie traten 332 auf die Landstraße hinaus. Da war es noch schattig und kühl von dem benachbarten Walde, ferne fuhr ein Wägelchen dahin, und durch die Weiden am Ufer schimmerte das blaue Wasser und ein weißes Segel darauf. Es war still und menschenleer ringsum; erst nachdem sie eine Viertelstunde schweigend nebeneinander hergewandelt, begegnete ihnen jemand. Es war der Briefträger, Friedrich Anton Thielemann, der in diese ländliche Gegend nur zweimal am Tage kam, des Morgens und des Abends. Er ward gern gesehen von allen, ein dicker, gemütlicher Mann, der in den einsamen Häusern am Wege jedesmal, wenn er erschien, wie ein Freund bewillkommt und wie ein Gast bewirtet wurde, und dem es auch wohl anschlug, beides, an Leib und Seele. Immer, wenn er noch weit entfernt war, machte er schon irgendein fröhliches Zeichen, daß er etwas bringe. Heute jedoch kam er still daher. Sein Gesicht, das sonst wie der Vollmond im Kalender glänzte, war ernst, wenn nicht finster, und seine Haltung stramm. Der friedlich pilgernde Bote hatte sich wieder in den alten preußischen Soldaten verwandelt, in welchem das kriegerische Geblüt sich regte, wenn die Drommete von ferne klang, der militärisch grüßte, mit der Hand an der Mütze, indem er näherkam, und in einem tieferen Tone sprach als sonst.

»Herr Grandidier,« sagte er, »es gibt Krieg,« und dabei griff er in die lederne Tasche, um die Zeitung herauszunehmen.

Grandidier hatte es nicht anders erwartet. Und doch – als er das Wort hörte, durchrieselte es ihm Mark und Bein. Ein rötlicher Dunst breitete sich vor ihm aus, verhüllte die Gegend und umschleierte seine Augen, der Boden unter seinen Füßen begann zu schwanken. Alles ging mit ihm rund. Krieg! Krieg! . . . So stand es in schwarzen Lettern und starrte ihn an . . . Die Gewißheit umgab ihn wie mit eisernen Klammern und preßte sein Herz zusammen.

»Krieg!« rief Frau Grandidier und aus ihrer Stimme sprachen die Not und Angst eines Mutterherzens, welches noch immer hofft, an dem ändern zu können, was schon unabänderlich geworden ist. »Sechs Tage lang bin ich an jedem Abend mit Furcht und Hoffnung zu Bett gegangen und sechs Tag lang an jedem Morgen mit Furcht und Hoffnung wieder aufgestanden und nun ist es dennoch dahin gekommen?« Sie sah dabei den Briefträger an mit einem Blicke, so 333 schmerzlich und flehend, als ob es in seiner Hand läge, vielleicht noch einen Schimmer von Trost zu gewähren.

Aber dieser erwiderte: »Madamken, das ist nun einmal nicht anders, und was ein guter preußischer Untertan ist, der sagt: Mit Gott für König und Vaterland! Sehen Sie hier,« und er zeigte auf das schon ziemlich abgetragene Band in seinem Knopfloch, »ich bin bei Düppel mit mang gewesen und bei Königgrätz, und ich habe Frau und Kinder. Das wissen Sie, Herr Grandidier, denn Sie sind ja der Pate meines Mariechens, und Sie auch, Frau Grandidier, denn Sie haben dem Mädchen schon manch hübsches Stück geschenkt, allemal zu seinem Geburtstag. Aber wenn Seine Majestät unser Allergnädigster König und Herr riefe, so würde ich sagen: Hier bin ich, Friedrich Anton Thielemann, entlassen als Sergeant bei den Gardefüsilieren und Briefträger im ländlichen Postbezirk von Treptow, und wenn's sein muß, so mach' ich mit!«

Während er noch sprach, ließ sich von der Waldecke her eine Stimme vernehmen, die so laut und fröhlich klang, daß sie mit den Lerchen in der Luft zu wetteifern schien, und so deutlich war, daß, ehe man die Figur des Sängers selbst unterscheiden konnte, sein Gesang schon weithin verstanden ward. »Aha!« rief Friedrich Anton Thielemann, »der singt's, da hören sie nur: Fest steht und treu die Wacht am Rhein . . . Weiß Gott, es wird einem seltsam zumute, wenn man das Lied hört. Kein Choral in der Kirche kann einen so andächtig stimmen wie dieses Lied . . . Sie sollten nur einmal dabei sein, wenn mein Mariechen es singt mit ihrem feinen, kleinen Stimmchen und einem Gesichte, so ernsthaft, daß einem fast die Tränen in die Augen kommen . . . Aber guten Morgen, meine Herrschaften! Guten Morgen! Ich habe mich schon zu lange verweilt, und die übrigen müssen es auch wissen, daß es losgeht gegen die Franzosen. Guten Morgen!«

Und mit militärischem Gruß, die Hand an der Mütze, wie er gekommen, entfernte sich der Briefträger, während von der anderen Seite der Sänger heranschritt. Er trug einen feinen schwarzen Anzug und einen glänzenden schwarzen Zylinder (eigenes Fabrikat, nach der neuesten Mode) und ein seidenes Halstuch von himmelblauer Farbe, dessen Enden in dem Morgenwinde flatterten, und es war kein anderer, 334 als derjenige von Herrn Grandidiers Gesellen, der unter dem Namen des »fröhlichen Karl« bekannt war.

»Karl,« sagte Herr Grandidier, indem sein erstaunter Blick auf dem sonntäglichen Gewand ruhte, mit welchem jener sich geschmückt. »Was bedeutet denn das? Wollen Sie zu einer Hochzeit oder zu einem Leichenbegängnis?«

»Herr Grandidier,« erwiderte der Gefragte, mit dem funkelnagelneuen Hut in der Hand, »es kann beides daraus werden, wie's der liebe Gott will. Aber zuerst soll's eine Hochzeit bedeuten.«

»Wessen Hochzeit, wenn man fragen darf?«

»Meine eigene, Herr Grandidier!«

»Sie wollen sich verheiraten? Und so rasch, so früh am Morgen, so ganz ohne Vorbereitung?«

»Ja, ja, Herr Grandidier, der Krieg ist auch ganz ohne Vorbereitung gekommen, und der Franzose, der fackelt nicht. Aber wir auch nicht, Herr Grandidier, wir auch nicht! Die Reserven sind einberufen worden. Da steht's, schwarz auf weiß.« Und er nahm aus der Brusttasche seines feinen schwarzen Rocks die Einberufungsorder und zeigte sie Herrn Grandidier. »Alle Mannschaften des Beurlaubtenstandes, der Reserven und der Landwehr aller Waffen- und Truppenteile – die ganze preußische Armee ist mobil gemacht worden. Was die Flinte tragen und den Säbel schwingen kann, muß mit! Gestern abend ist der König in Berlin angekommen – ach, Herr Grandidier, so was werd' ich in meinem Leben nicht wieder sehen, Fahnen und Kränze und wenigstens hunderttausend Menschen, und alle entblößten die Häupter, als der König vorbeifuhr, und alle jubelten und jauchzten. Und als die Laternen angesteckt wurden, da standen auf einmal überall Tische, und wie auf Verabredung trat einer nach dem anderen heran und schrieb seinen Namen unter eine Adresse an den König, die mit den Worten endete: »Hurra, drauf!« Und »Hurra, drauf!« klang es bald die Linden hinauf und herunter und die ganze Menschenmasse drängte nach dem Palais, in welchem der König eben eingetroffen war. Und das Fenster wurde hell. Sie wissen ja, Herr Grandidier, das Fenster, das nach dem Monumente des Alten Fritz hinausgeht – und nun – es mochten unser wohl so an die Zehn- bis Zwanzigtausend gewesen sein – fingen wir an zu singen: »Heil dir im Siegerkranz,« und da tat sich 335 das Fenster auf und der König grüßte heraus. Jedermann konnte ihn sehen, sein gutes, ernstes, sorgenvolles Gesicht, wie das eines Vaters – und »Hurra, drauf!« und »Nieder mit Frankreich!« und »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben!« und alles wirbelte so durcheinander, bis es auf einmal: »Stille,« hieß – »stille, Kinder – Moltke kommt!« . . . Es war elf Uhr nachts, und allein kam er daher – und die dichten Haufen öffneten sich und alle grüßten ihn ehrerbietig, und es fehlte nicht viel, so hätten wir ihn auf unseren Schultern zum König ins Palais getragen. Jetzt aber schloß sich das Fenster, und ein paar Schutzmänner, so höflich und sanft, wie ich Schutzmänner auch noch niemals gesehen habe, traten unter uns und sagten: »Seine Majestät läßt um Ruhe bitten; Sie halten Kriegsrat im Palais und haben heute nacht noch eine schwere Arbeit vor sich.« Alsbald erscholl wie aus einem Munde der Ruf: »Nach Hause!« – und in weniger als fünf Minuten war der Platz leer. Aber heute morgen schon sind wir einberufen worden, von Montag ab werden wir eingekleidet werden, und wer weiß, wo wir in acht Tagen marschieren? Sie werden mir recht geben, daß da nicht viel Zeit zu verlieren ist; zwischen heut und übermorgen muß ich verheiratet sein.«

»Aber mit wem denn, mit wem denn?« fragte Herr Grandidier.

Der fröhliche Karl drehte den Hut, welchen er abgenommen, nachdem er die Hände wieder frei hatte, verlegen hin und her. »Mit . . . mit . . .« stotterte er, »nun mit wem anders denn als mit Friederike!«

»Mit meiner Friedrike?« sagte Frau Grandidier, wie aus den Wolken gefallen. »Mit unserer Köchin? Davon weiß ich ja bis jetzt kein Wort.«

»Sie weiß auch noch kein Wort davon, Frau Meisterin, und deswegen bin ich ja jetzt gekommen. Ich will ihr meinen Antrag machen.«

»Sind Sie denn aber auch so ganz sicher, daß er angenommen wird?«

Der fröhliche Karl lächelte. »Da müßt' ich die Frauenzimmer nicht kennen,« sagte er.

»Und das dreimalige Aufgebot?«

Der fröhliche Karl klopfte sich auf die Brusttasche. »Da sitzt der Dispens,« sagte er, »dicht neben der 336 Einberufungsorder. Wer das eine bekommen hat, kann auch das andere haben.«

»Und das Brautkleid?« forschte die besorgte Hausfrau weiter.

Der fröhliche Karl errötete, indem er aus der Hintertasche seines Rockes ein Paket hervorzog, welches den besagten Artikel enthielt.

»Ja, ja, Madame,« sprach er, »Sie würden sich wundern, wenn Sie jetzt nach Berlin kämen. Alles macht noch rasch Hochzeit. Spröde Schönheiten geben ihr Jawort, hartherzige Eltern ihre Einwilligung, und die Pastöre stehen fix und fertig in den Kirchen, um ihren Segen zu geben. Eine so gute Gelegenheit kommt nicht wieder, hab' ich mir gesagt –« und dabei fing er an das Lied von den Blücherschen Husaren: »Was blasen die Trompeten«, zuerst zu pfeifen, dann zu summen und endlich in einem bescheidenen Tone zu singen:

»Juheirassassa und die Preußen sind da!
Die Preußen sind lustig,
Sie rufen Hurra!«

Frau Grandidier, obwohl ihr das Herz schwer genug war, mußte dennoch lächeln, als sie den glücklichen Bräutigam ansah, dem außer der Braut nichts mehr fehlte! Er aber, obwohl noch in Zivil, war doch schon der preußische Füsilier voller Siegeszuversicht, als er hinter seiner Herrschaft in den Hof der Villa trat.

Da stand Schnellpfeffer vor dem Pferdestall, das alte Pfeifchen mit dem Symbol der Freundschaft im Munde, und putzte das Geschirr. Herr Grandidier rief ihm zu, daß er sich bereithalten solle, sie würden wohl noch heute nach Berlin hineinfahren. Es gebe Krieg. Bei dem Worte »Krieg« ging eine Miene des Triumphes und der Überlegenheit über Karls Gesicht, welche dem ehemaligen Mitbewerber um Friederikens Gunst zu sagen schien: »Du bist höchstens nur noch für den Landsturm gut; aber der Linie gehört das Feld!« Auf den Kutscher jedoch machte das Wort einen ganz anderen Eindruck. Er steckte das Pfeifchen in die Tasche, ging geradeswegs auf Karl zu und bot ihm die Rechte. »Du,« sagte er, »wir haben es oft genug miteinander gehabt; wenn's aber gegen die Franzosen geht, dann schließen wir allemal Frieden. Allemal,« wiederholte er, indem er einen besonderen 337 Nachdruck auf das Wort »alle« legte; »und,« fügte er hinzu, als ob gar kein Zweifel darüber sein könne, was den fröhlichen Karl hierher geführt habe, »im übrigen wünsche ich dir viel Glück.« Hierauf, nach einem kräftigen Händedruck, ging er an seinen Platz zurück, nahm die Pfeife wieder in den Mund und setzte seine Arbeit fort.

Herr Grandidier führte seinen Besuch in das »gute Zimmer« – denn ein solches mit denselben steifen Möbeln, Überzügen und Leinenstreifen war auch in der Villa – während Frau Grandidier in das Souterrain hinabstieg, um Friederike mit der großen, sie betreffenden Neuigkeit bekannt zu machen, und Friederike zeigte sich derselben vollkommen gewachsen. Friederike war eine gesunde Thüringer Natur. Weder erschrak sie besonders, noch vergoß sie Tränen. Das einzige, was sie wunderte, war, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß er es so ernsthaft meine. Sie habe schon zu viel Erfahrungen in diesem Punkte gemacht. Aber freilich, Karl sei besser als die anderen, das habe sie stets gesagt »Und so bescheiden, Madame, so bescheiden . . . Meinen Sie, daß er sich jemals etwas gegen mich herausgenommen hätte? Nein, Madame, niemals.« Im übrigen war sie bereit, und erbat sich nur so viel Zeit, um eine weiße Schürze vorzubinden.

Als sie, den Zipfel der weißen Schürze in der Hand, vor den beiden Herren im guten Zimmer erschien, blieb sie mit niedergeschlagenem Blick dicht an der Türe stehen, denn sie wußte wohl, was sich schickte; und die einzige Bewegung, welche Karl machte, war – nicht ihr entgegen, sondern nach dem neuen, schönen Hute, der auf dem Tische stand. Denn auch er wußte, was sich schickte. Diese beiden Menschen waren wirklich füreinander wie geschaffen. Hinter Frau Grandidier war Bärbel eingetreten; sie legte ihren Arm in den der mütterlichen Freundin und betrachtete unausgesetzt Friederike, für welche sie immer eine große Sympathie gehabt, in diesem Augenblick aber mehr als je zuvor.

Herr Grandidier nahm jetzt das Wort mit einer gewissen patriarchalischen Umständlichkeit, an welche seine Leute bei feierlichen Anlässen gewöhnt waren. Denn selbst in seinen schlimmsten Zeiten war er gegen die Dienstboten in seinem Hause und die Arbeiter in seiner Fabrik sich immer gleich geblieben.

338 Er sagte, daß er nichts gegen die beabsichtigte Verbindung einzuwenden habe. Sie seien beide brav, ehrenhaft und treu; sie würden gewiß zusammen einen guten Hausstand bilden und glücklich sein, wenn . . . wenn . . .

Das Schluchzen Friederikens unterbrach ihn. Auch Bärbel konnte nicht länger an sich halten. Sie fing laut an zu weinen, und Frau Grandidier, die in einen Sessel gesunken war, bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sie wußten alle nur zu gut, wovon Herr Grandidier sprechen wollte.

Der einzige, der die Geistesgegenwart nicht verlor, war Karl. »Ach, wegen dessen,« sagte er, »beunruhigen Sie sich nicht. Ich weiß wohl, was es heißt, in den Krieg gehen. und ich weiß auch, daß mancher Mann nicht wiederkommt, oder, wenn er wiederkommt, als Krüppel, der zu nichts mehr taugt. Aber darum mach' ich mir keine Sorge, wenn ich nur erst mit ihr getraut bin. Das übrige steht in Gottes Hand.«

»Das heiß' ich gesprochen wie ein guter Bürger und wackerer Soldat,« sagte Herr Grandidier, und sich Friederiken nähernd, redete er ihr zu, sie solle sich fassen und der Zukunft mit Vertrauen entgegensehen. Wenn das Vaterland in Gefahr, sei kein Opfer zu groß; ja, jeder solle sich glücklich preisen, wenn ein Opfer von ihm verlangt würde und er imstande sei, dasselbe zu bringen. Niemand dürfe sich weigern, dem Vaterland das liebste hinzugeben, die Gattin den Gatten die Braut den Bräutigam, die Mutter den Sohn –

»Grandidier! Grandidier!« schrie hier seine Frau mit von Tränen erstickter Stimme auf, »unser Sohn! . . . unser Sohn . . .«

Herr Grandidier wurde wieder ganz weiß; so wie Karl ihn vor einigen Tagen im Walde gesehen. Aber er erwiderte nichts und fuhr – nur mit einem leisen Beben im Tone – fort, daß, solange er etwas habe, auch Friederike nicht verlassen sein sollte. Sie habe schon ein hübsches Sümmchen in der Sparkasse liegen; er, Grandidier, werde dasselbe morgen, zu ihrem Hochzeitstage, um das Doppelte vermehren. Nach der Trauung werde sie wieder in sein Haus zurückkehren und darin bleiben, bis sie – hoffentlich in nicht zu ferner Frist – das eigene Haus beziehen könne. Er übernehme hiermit feierlich und für alle Fälle die Pflicht des Vaterlandes gegen sie, worauf er ihre Hand ergriff, um sie zu Karl zu führen. Dieser machte, mit all der Bescheidenheit, welche seine 339 nunmehr verlobte Braut an ihm gerühmt, von seinem Rechte Gebrauch, und Hand in Hand, unter herzlichen Danksagungen, entfernten sich die beiden, um zunächst ungestört die Vorkehrungen für den morgigen Tag zu besprechen. Später setzten sie sich, auf Veranstaltung des Herrn Grandidier, zu einem einfachen Liebesmahle nieder, welches im weiteren Verlauf auch zu einem Freundschaftsmahle wurde, indem Schnellpfeffer in seiner Livree und Friedrich Anton Thielemann auf seinem Rückwege sich gleichfalls hinzugesellten. Zuletzt kam der alte Knüppel mit zwei Flaschen Rheinwein, die der Herr schicke; und als der edle Trank in den Gläsern funkelte, noch goldiger erglühend in dem Mittagsstrahl, der durch das niedere Fenster quer über den Tisch fiel, da hub Karl an zu singen, die anderen stimmten ein, und jetzt, in seinem stillen Zimmer oben, erkannte auch Herr Grandidier das Lied, Melodie und Worte wieder: »Fest steht und treu die Wacht am Rhein.«

Indessen saßen in ihrem Kämmerlein zusammen Bärbel und Frau Grandidier.

»O Mutter,« schluchzte Bärbel, »wie kann man so voll Liebe gegen andere und so grausam gegen seine eigenen sein?«

»Das fragst du mich, Bärbel, mich? Denn was ist jede andere Liebe, jeder andere Schmerz, verglichen mit dem meinigen? Ich habe geglaubt, daß ich es überwinden und still in mir durchmachen würde. Doch ich kann es nicht, ich kann es nicht . . .«

»Mutter,« rief Bärbel stürmisch, indem sie die gute, unglückliche Frau mit beiden Armen umschlang, »wir lieben zusammen und wir leiden zusammen, hier lies.« Und sie zog ein Blättchen hervor, welches sie auf dem Herzen verwahrt hatte. Es war ein Brief von Eduard. Er schrieb:

»Geliebtes Mädchen! Soeben erhalte ich den Befehl, der mich zur Fahne ruft. Schon am Mittwoch oder spätestens am Donnerstag muß ich Berlin verlassen, um mit meines Königs Truppen gegen Frankreich zu marschieren. Gegen Frankreich, welches ich so sehr liebe, welchem ich so viel verdanke! Doch was ist dieser Schmerz gegen den anderen, der mir die Seele zerreißt – fortziehen in unversöhntem Hader mit dem Elternhaus – fortziehen ohne den Segen des Vaters, ohne sie noch einmal gesehen zu haben, die teure Mutter . . .«

340 »Nein, bei Gott! Das soll er nicht. Das wenigstens nicht,« rief Frau Grandidier. »Du, Bärbel, lies weiter – lies laut – ich kann nicht sehen vor Tränen.«

Sie las: »Darf ich Dich noch einmal sehen? – Dir den Treuschwur erneuern, von Dir Abschied nehmen? . . . Bedenke, Bärbel, vielleicht auf Nimmerwiedersehen! Ich habe Dir versprochen, nichts gegen Deinen und der Mutter Willen zu tun, und ich will mein Versprechen halten, wenn's sein muß, bis in den Tod. Schreibe mir, ob ich darf; und ich werde dann zu der Zeit, die Du bestimmst, und an dem Ort, den Du bestimmst, mich einfinden, zum letzten, langen Lebewohl . . .«

»Darf er?« schloß Bärbel, ängstlich aufblickend.

»Ja, Kind, er darf – du wirst ihn sehen und ich werde dich begleiten, und Gott der Allgütige wird mir verzeihen, wenn ich für meinen Sohn tue, was – er für einen seiner Arbeiter getan hat.«

 


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