Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Maintenons!

(Alter Hugenottenruf)

Für den anderen Abend war eine Versammlung von Mitgliedern der französischen Gemeinde zusammenberufen worden. Herr Grandidier, welcher den Tag einsam verbracht, ohne zu einem festen Entschluß über die künftige Führung seines Lebens gelangt zu sein, folgte der Einladung.

Versammlungen waren in jenen Tagen in allen Gegenden der Stadt und von allen Teilen der Bürgerschaft; sie waren im Rathause, dessen herrliche Räume damals eben vollendet worden und des Einzugs der bürgerlichen Gewalt gleichsam harrten, sie waren in den Sälen und Hallen der Vereine und Körperschaften. Vor den Toren und aus den Fenstern herab wehte nun überall die Fahne mit dem roten Kreuz. Große Plakate forderten auf zu Gaben für die Armee im Felde, und wer daheimbleiben mußte, fühlte das Bedürfnis, Zeugnis abzulegen für die Gerechtigkeit dieses Krieges, seine Treue dem Vaterlande, seine Liebe dem Herrscherhaus aufs neue zu verpfänden. Ein solches Gefühl war es, welches vor allen die Mitglieder der französischen Kolonie, die Söhne der alten Hugenotten in Berlin in diesem verhängnisvollen Augenblicke zusammenführte. Da sah man die würdigen Prediger ihrer vier Kirchen, die Ältesten der Gemeinde und die Häupter der Familien. Da sah man die Chefs großer Handelshäuser, Inhaber von Firmen, welche, fast über zwei Jahrhunderte zurückdatierend, Industriezweige vertraten, 352 welche einst in Frankreich geblüht und durch sie nach Preußen verpflanzt worden waren. Da sah man hochachtbare Männer aus allen Gebieten des öffentlichen und bürgerlichen Lebens, Ärzte, Richter, Verwaltungsbeamte, Stadtverordnete, Lehrer der höheren Schulen, Professoren der Universität, Träger von bedeutenden und nicht selten historischen Namen, die auf den älteren Blättern der französischen Geschichte geglänzt, wie sie nun aufs innigste verwebt waren mit dem jüngeren Ruhme der preußischen. Mächtig in allen war die Erinnerung an die Tat des Großen Kurfürsten, an die Segnungen, deren sie unter den Königen Preußens teilhaftig geworden, bis »diese Herde« Heimatloser, dieser »auserlesene Haufen« mit dem Boden des neuen Vaterlandes innig verwachsen und von allen Empfindungen jener schweren Zeit keine andere übriggeblieben war, als die der unerschütterlichen Anhänglichkeit an das Regentenhaus, welches einst die schützende Hand über sie gebreitet; der brüderlichen Liebe für das Volk, mit dessen Schicksalen in Leid und Freud sie das eigene längst unauflöslich verbunden wußten.

Ein Geistlicher der Gemeinde, welcher der Versammlung präsidierte, begründete deren Zusammenberufung mit dem Umstande, daß der französische Ursprung dieser Gemeinde zu mannigfachen Fragen und Zweifeln bezüglich ihrer und ihrer Stammesgenossen Haltung in dem beginnenden Krieg gegen Frankreich Anlaß gegeben habe, und schlug hierauf den Versammelten vor, eine Resolution zu fassen, welche ihren wahren Empfindungen Ausdruck gebe.

Aus der Mitte der Versammlung heraus erhoben sich jedoch von den verschiedensten Seiten Einwände gegen den Erlaß einer solchen Erklärung; sie sei nicht notwendig, meinte der eine, sie sei sogar unpassend; wie sie hier beisammen ständen, so wisse jeder, was er von der Gesinnung der Hugenotten Berlins zu halten habe. Der König habe sie stets in allen Schlachten vorangestellt; und wie an dem Monumente des großen Königs, so glänze auch jetzt wieder unter den Heerführern der Armee mehr als ein berühmter Name französischer Flüchtlingsfamilien. Unter solchen Umständen eine Versicherung der Treue geben zu wollen, heiße den Toten, die für das Vaterland gestorben, und den Lebenden unrecht tun, die für dasselbe zu sterben bereit wären. – »Ja,« meinte ein anderer, »wozu solche Worte in dieser Zeit! 353 Sind wir nicht Preußen wie alle anderen, fordern wir nicht als Deutsche unser Recht zu üben und unsere Pflicht zu tun? Hoffen und erflehen wir nicht Sieg für die preußischen Fahnen, marschieren unsere Söhne nicht gegen Frankreich? Bedarf es noch einer anderen Erklärung außer dieser? Sie käme, nach meiner Empfindung, einer Beleidigung gleich für die preußischen Uniformen, die ich hier im Saale sehe; Uniformen von Freiwilligen, Uniformen von Einberufenen – einer Beleidigung gegen meinen jugendlichen Nachbar, welcher auf den ersten Ruf des Vaterlandes nicht gezögert hat, die Werkzeuge seiner Kunst mit den Waffen zu vertauschen. Aber die Gemeinde, welche sich mit jedem seiner künstlerischen Erfolge gefreut hat, ist nicht weniger stolz auf ihn, nun, wo er den Rock des Königs trägt.«

Herr Grandidier neigte sich, als diese Worte gesprochen wurden, über den Rand des Balkons, auf welchem er in einer Seitenloge Platz genommen. Er hatte die Dunkelheit dieses über dem Saal erhöhten und von Zuschauern, die nicht zur Gemeinde gehörten, erfüllten Raumes aufgesucht, weil ihn in der Stimmung, in der er sich befand, vor jeder Begegnung mit den alten Bekannten bangte. Bei der innigen Gemeinschaft, die zwischen allen Mitgliedern der Kolonie herrscht, war das Zerwürfnis in seiner Familie kein Geheimnis. Ja mehrfach, vor Jahren schon, als es begann, hatte der Geistliche seiner Kirche den Versuch einer Aussöhnung gemacht. Man hatte sich in dem weiteren Kreis der Gemeinde wie in dem engeren des Hauses daran gewöhnt, die Tatsache hinzunehmen als eine solche, an der fremdes Zutun nichts mehr ändern könne; ja man war nach der schweren Krankheit des Herrn Grandidier dahin gekommen, ihn fast mehr noch zu bedauern als zu verurteilen. Auch hier in diesem Kreise, in welchem er sonst seine Stelle mit Ehren ausgefüllt hatte und immer mit Respekt gehört worden, war er nun ein Fremder, der nur aus der Ferne sich getraute, an dessen wichtigsten Angelegenheiten teilzunehmen. Er bog sich jetzt vor und der Handbewegung des letzten Redners folgend, erkannte er in dem nicht allzu hell erleuchteten Saale seinen Sohn.

Eduard Grandidier war Offizier in dem Gardelandwehrregiment, welches, so weit bis jetzt bekannt, zur Verteidigung der Nordküste bestimmt war. Die Augen aller Anwesenden 354 waren auf ihn gelenkt worden, als er sich ernst und bescheiden von seinem Sitze erhob. Man sah es wohl an dem leidenden Ausdruck seines Gesichtes, daß dem großen Kampfe, zu welchem er auszuziehen bereit war, innere Kämpfe vorangegangen waren. Doch wer von allen, deren Blicke jetzt mit Wohlgefallen auf ihm, auf seiner schlanken Gestalt, seiner männlichen Haltung ruhten, hätte sagen können, welcher Art diese Kämpfe gewesen? »Meine Herren,« begann er, »die Ehre, die mir hier soeben erzeigt worden, verpflichtet mich zu einem Worte des Dankes; denn Sie haben recht, wenn Sie meinen, daß die besondere Erklärung der Liebe zum Vaterlande in dem gegenwärtigen Augenblick etwas Beleidigendes für mich gehabt haben würde. Lassen Sie mich es hier laut und freimütig bekennen, daß mein Herz noch frisch ist von den Eindrücken, die es in Frankreich erhalten, daß ich es niemals vergessen kann, und auch jetzt nicht vor dieser würdigen Versammlung verleugnen mag, was ich dem Andenken Frankreichs schulde. Sie waren so freundlich, auf meine künstlerischen Leistungen hinzudeuten und nichts kann mich mehr beglücken, als diese Anerkennung von meinen Stammes- und Gemeindegenossen. Ach – aber die Hand, die sich nach mir ausgestreckt, als ich einsam und freundlos war – die Hand, die mich geführt, die Hand, die mich geleitet, die Hand, der ich alles verdanke – sie war die Hand eines Franzosen. Die Sonne Frankreichs hat mich gewärmt; was er für mich an guten und glücklichen Erinnerungen gibt, das liegt in dem Worte »Frankreich« ausgedrückt, und ach! – gegen dieses Frankreich ruft mein Vaterland mich in Waffen! Aber meinen Schmerz selber rufe ich auf als Zeugen für mein Vaterland. Was sind all die Ideale des Lebens gegen dieses eine, das sie verdunkelt! Wie wird mir plötzlich dieser Erdenfleck, auf dem ich als Kind mich getummelt, dieser Sandhaufen, den ich im Knabenspiele verteidigt, dieses Gewässer, auf welchem unsere Flotte von Papier dahintrieb, dieses Ufer mit Schilf bewachsen, diese Heide mit Kiefern bestanden – wie wird das alles mir so teuer, so teuer! Alle Herrlichkeiten der Kunst versinken vor meinem Blick, und ich fühle, daß wenn sie der Welt, der Künstler doch allein dem Vaterlande gehört! Ich glaube, daß der Genius Frankreichs sein Haupt verhüllt! Nicht er hat diesen Krieg gewollt und nicht gegen ihn führen 355 wir Krieg. Von der Freudigkeit, mit welcher meine Waffenbrüder ihr Leben dem Vaterlande anbieten, ist nichts in meinem Herzen; schmerzlich erfülle ich meine Pflicht; aber ich hoffe, daß sie mir darum nicht weniger heilig sein möge. Niemals hat Chamisso das Schloß seiner Väter vergessen, das in der Champagne stand. Sehnsucht erfüllte sein Herz und Tränen umflorten seinen Blick, wenn ihn die Bilder heimgesucht, die lang er vergessen geglaubt; und dennoch sang er, als dies Berlin gleichsam unter der Abendbeleuchtung seines Lebens vor ihm lag:

»Du, meine liebe deutsche Heimat, hast
Warum ich bat und mehr noch mir gegeben,
Du ließest freundlich dem gebeugten Gast
Die eigne traute Hütte sich erheben.
Und der bescheidne kleine Raum umfaßt
Ein neu erwachtes, heitres, reiches Leben;
Ich habe nicht zu bitten, noch zu klagen,
Dir nur aus frommem Herzen Dank zu sagen.«

Tiefe Stille folgte den Worten des jungen Offiziers. Es war das erstemal seit langer Zeit, daß Herr Grandidier die Stimme seines Sohnes wieder vernommen hatte. Wie jemand, der nicht mehr zu ihm gehört, erschien ihm Eduard, und doch verlangte sein Herz nach ihm in bitterem Weh. Er sah, wie man von allen Seiten herzueilte, um ihm in warmer Zustimmung die Hand zu drücken. Kein Vorwurf war dem unnatürlichen Vater gemacht worden und doch empfand er alle Qualen und Marter mit, die er dem Sohne verursacht. Es war ihm, als ob die Blicke der Versammlung nach ihm suchen und strafend auf ihm ruhen müßten; und weiter, immer weiter zog er sich in das Dunkel der Nische zurück. Durch eigene Kraft gehoben, stand der Sohn hochgeehrt unter den angesehensten Männern der Gemeinde, während er verurteilt war, sich scheu vor ihrer Aufmerksamkeit zu verbergen. Wie anders, wenn er jetzt im Vollgefühl väterlichen Glückes und Stolzes zu ihm hintreten und ihn vor den Augen aller in die Arme hätte schließen können! Aber das war verwirkt und wiederum, durch das Brausen der Stimmen, welches sich jetzt im Saale erhob, vernahm er jenes unselige Wort, welches Helene wie einen Fluch über ihn ausgesprochen. Während begeisterte Hochs auf den König von Preußen, den Nachkommen des Großen 356 Kurfürsten, den auserwählten Führer der deutschen Nation, durch den Saal rauschten, stahl Herr Grandidier sich leise die Treppe hinunter. Denn er wollte von den anderen nicht gesehen sein; aber dem Ausgange des Hauses gegenüber blieb er stehen. Das Haus lag Unter den Linden und es war eine dunkle Sommernacht, und Herr Grandidier stellte sich an einen der Bäume. Von dort aus blickte er unverwandt nach der erleuchteten Türe, aus welcher jetzt, einer nach dem anderen, die Männer der Gemeinde heraustraten. Unter den letzten kam sein Sohn; der Schein der Laterne fiel auf sein Gesicht und deutlicher, als er es im Saale hatte sehen können, sah jetzt Herr Grandidier jenen leidenden Zug in demselben. Dieser Anblick ging ihm sehr zu Herzen; und statt des jungen Mannes, welchen der Ernst des Lebens schon schwer geprüft, erblickte er wieder den sorglosen Knaben, mit dem er oft an genau dieser Stelle gestanden hatte, wenn er ihm auf ihren Spaziergängen das vaterländische Heldendenkmal zeigte. Was hinderte ihn jetzt, zu ihm hinzueilen? Nur der Zwischenraum einer Straßenbreite schied ihn noch von ihm. »Hinüber!« rief es in ihm – aber er vermochte nicht zu folgen, nicht sich zu bewegen; er war wie gefesselt und gebannt an den Ort und mußte sich an den Baum zurücklehnen, um nicht hinzusinken, während drüben Eduard von dem Geistlichen, der vor der Türe noch herzlich mit ihm gesprochen hatte, sich verabschiedete und dann unter dem Schatten der Linden verschwand.

Ein heißer Sommermorgen folgte; es lag in diesen Tagen über Berlin eine Gewitterschwüle, grauer Dunst verschleierte den Himmel, ohne die Glut der Sonne zu dämpfen. Aber unter dem Druck der Temperatur ging die ungeheure Arbeit der Hauptstadt, die sich zum Kriege rüstete, fort. Berlin machte den Eindruck eines Lagers, welches im Aufbruch begriffen ist; unaufhörlich gingen Truppenzüge vorüber aus den östlichen Teilen der Monarchie, die Luft war voll von dem eisernen Gerassel der Züge, welche von Bahnhof zu Bahnhof, damals fast mitten durch die Straßen, gingen, und der Boden zitterte von dem Fußtritt der abmarschierenden Regimenter. Die Straßen wimmelten von Soldaten, welche schon die Feldtracht trugen, die Wachen, die damals noch an allen Toren standen, wurden eingezogen, und das Hotel der französischen Botschaft stand verödet auf dem 357 Pariser Platz, mit geschlossenen Läden und Türen. Der Reichstag, welcher zu einer kurzen Session zusammenberufen worden war, hielt seine letzte Sitzung. Schon stiegen fern von den bayerischen Alpen, von den Hochebenen des württembergischen und den Abhängen des badischen Schwarzwaldes die tapferen Söhne des Vaterlandes hernieder, um unter der Führung des preußischen Thronerben sich zu einem mächtigen Heerhaufen zu sammeln, und die Männer des Norddeutschen Reichstages sagten sich, daß wenn sie wieder zusammenkämen, ganz Deutschland hier tagen werde. Von der gleichen Empfindung war die Zuhörerschaft beseelt, welche dicht gedrängt die Tribünen füllte.

»Wie mich das alles glücklich macht!« sagte ein Mann auf einer der vorderen Bänke zu seinem Nachbar, während unten eine Pause in den Verhandlungen eingetreten war; »ich hatte schon den halben Weg zurückgelegt zu meinem Freunde, dem Türken in Konstantinopel, um zu sehen, was in aller Welt er wieder für Händel hat mit seinen Nachbarn und Vasallen. Aber das Vaterland vor allem! Und da bin ich gerade noch zur rechten Zeit.«

Er sprach so laut, daß jedermann in seiner Umgebung, ja sogar mancher im Raume der Abgeordneten ihn hören konnte, was ihn übrigens nicht sehr genierte. Denn er war daran gewöhnt, gehört zu werden, wo er sprach, und gekannt zu werden, wo er sich zeigte. Heute in der Tat, wenn je zuvor, verdiente er den Namen des Obersten, welchen er einst in friedlicheren Zeiten usurpiert hatte; er war ganz Mars. Solange hatte der alte Revolutionär und Bürgergardist von achtundvierzig gleichsam auf Wartegeld gestanden; jetzt aber war der Tag, an welchem er, mit allen Ehren, wieder in den Dienst treten sollte. »Bei Gott!« rief er, »ich habe das Gefühl, als ob der deutsche Mann künftig nicht mehr auf Reisen zu gehen brauche, wenn er sich in irgendeiner Weise nützlich machen will. Wir sind, Gott sei Dank, so weit, daß das Vaterland selber ein treues Herz und ein Paar gesunder Arme wieder zu schätzen wissen wird. Aber daß alles so nahe sei, wer hätte das geglaubt? Es ist noch nicht länger, als im Frühling dieses Jahres, da bin ich hinter Freiburg den Schwarzwald hinangestiegen und auf einem der Vorhügel machte ich halt. Dunkel unter und vor mir schimmerten die Tannen aus dem jungen Buchengrün, die 358 Obstbäume prangten in Rot und Silber, die spitzen Kirchtürme ragten empor, und die Dörfer lagen so recht mitten im Segen ihrer Gemarkung, in wogenden Kornfeldern und üppigen Wiesen; mir gegenüber, in weiter Ferne, erhoben sich die Vogesen, der Winterschnee lag noch auf ihren Firnen und in der Ebene, zwischen Schwarzwald und Vogesen, sah man, bald hier, bald dort aufblitzend, den Rhein. Ich konnte mich von dem Landschaftsbilde nicht trennen und mein Herz ergriff es wie Heimweh. Da plötzlich rauschte es neben mir über einem Schwarzwaldhäuschen, welches nicht weit von mir unter blühenden Apfelbäumen lag. Es war ein Storch, der sich in die Lüfte hob und langsam am Walde dahinzog. ›Flieg hinüber,‹ rief ich, indem sein Gefieder und seine roten Füße in der Sonne glänzten, ›du brauchst deine alte Heimat nicht zu verleugnen, für dich gibt es keine Grenze zwischen Schwarzwald und Vogesen‹ – und nun, mein Herr, nun werden wir selbst hinüberfliegen!« . . . Aufmerksam hatte der Nachbar zugehört und mehr als ein Ausdruck der Zustimmung hatte sich im Kreise umher vernehmen lassen, denn unser und aller erster Gedanke in jenen Tagen war das verlorene Reichsland, und wie in dem Referendarius a. D. Fritz Scharf auf den Höhen des Schwarzwaldes, erwachte plötzlich in jedem von uns, bis an die äußersten Küsten der Meere, das Heimweh.

Der Oberst hatte vielleicht nicht gesehen, vielleicht auch nicht sehen wollen, daß unter den Gesichtern, die sich bei seinen Worten nach ihm umgewandt, eines war, welches er in nicht allzu ferner Zeit gut genug gekannt. Es war merklich gealtert seitdem und in den Augen, die sonst mit einer jovialen Herzlichkeit in die Welt geblickt hatten, war ein trüber Schein des Mißtrauens und der Menschenscheu geblieben.

Fritz Scharf hatte Herrn Grandidier längst erkannt; allein er vermied es auch jetzt, dem Blicke zu begegnen, welchen dieser zu ihm erhob. Erinnerungen der Jugendzeit waren durch Scharfs Erzählung in jenem erweckt worden und er gedachte auch des Nachmittags im Herbste, wo Bärbel dem Storche wehmütig nachgeschaut, der von dem Bauernhaus an der Spree waldeinwärts flog. Er hätte so gerne gerade jetzt ein Wort mit dem Oberst getauscht; aber es entging ihm nicht, daß dieser geflissentlich vermied, ihm Gelegenheit dazu zu geben.

359 In diesem Augenblick erhob sich der Präsident des Reichstages und forderte mit erhobener Stimme die Mitglieder auf, ihre Sitze wieder einzunehmen, denn der Bundeskanzler habe dem Hause eine Mitteilung zu machen.

Ein allgemeines Gemurmel ließ sich hören und ein Gedränge war auf den Tribünen. Bismarck trat herein! Sein Gesicht in jener Stunde war bleich, und tiefe Furchen waren unter seinen Augen. Breitschulterig, starkknochig stand er einen Augenblick unter der kleinen Tür, dieselbe ganz mit seiner Figur ausfüllend, in der Uniform eines Kavallerieobersten, dunkelblau mit gelb. Das Gelb seines aufrechtstehenden Uniformkragens kontrastierte seltsam mit der vollkommenen Blässe seines Gesichts. Er trat an seinen Platz, links vom Präsidenten. Neben ihm lag eine schwarze Ledermappe; sie barg in sich, noch unausgesprochen, das Schicksal zweier Nationen. Er suchte nach dem Schlüssel, er öffnete das gelbe Messingschloß, er nahm ein paar Blätter Papier heraus. Er blickte flüchtig auf das erste, dann begann er zu sprechen. Totenstille. Seine Worte kamen abgebrochen heraus, er brachte, was er zu sagen hatte, nur in kurzen Sätzen hervor. Er stockte oft; er machte Pausen und stockte wieder. Man machte die ganze Gedankenarbeit mit ihm durch; man meinte zu sehen, wie der Bau seiner Rede sich unter der Herrschaft seines mächtigen Geistes ordnete und Quadern gleich sich Satz auf Satz fügte. Doch war es selbst in diesem entscheidenden Augenblicke nicht die Wucht der Ereignisse, die ihn beherrschte; er vielmehr beherrschte sie. Ein feiner Zug der Ironie lief durch die ganze Reihe seiner Mitteilungen, und er sprach mit gedämpfter Stimme. Keine Linie in seinem Gesichte veränderte sich, indem er ein Blatt nach dem andern nahm und dessen Inhalt referierte. Kein spöttisches Zucken um den Mund begleitete die Pointen, die er vorbrachte; keine Spur einer Billigung oder Mißbilligung verriet sein persönliches Interesse an der Sache, sein Bedauern oder seine Freude. Wie der vollkommene Meister der Weltlage stand er da, in dem furchtbar ernsten Augenblick, als er das letzte Blatt aus der Tasche nahm, das französische Original der Kriegserklärung. Die Hand, die es hielt, zitterte nicht, keine Muskel seines Antlitzes bewegte sich, und nicht die leiseste Schwankung war in seiner Stimme. Kurz und abgestoßen wie vorher sagte er der Versammlung, daß der Krieg zwischen 360 Deutschland und Frankreich mit diesem Augenblicke beginne. Es war das letzte Wort Bismarcks, nüchtern, geschäftsmäßig, ohne Sentimentalität und ohne Pathos; aber es wirkte befreiend auf die Gemüter, der Druck der Unsicherheit war hinweggenommen, und jedermann fühlte sich der unabänderlichen Tatsache gegenüber.

Als Bismarck, vom jubelnden Volkshaufen begrüßt, von der Treppe des Reichstagsgebäudes herabkam, um in seinen Wagen zu steigen, da stand in der vordersten Reihe des Spaliers, welches sich gebildet hatte, der Oberst. »Ich habe gesagt,« sprach er, als ob er der öffentlichen Meinung diese Erklärung schuldig sei, »daß man es wohl noch einmal erleben könne, den alten Achtundvierziger den Hut abnehmen zu sehen vor dem Junker. Was wir damals gewollt, geht jetzt durch ihn in Erfüllung – der Deutsche wird wieder ein Vaterland haben – auf drum in den Krieg für das neue Deutsche Reich und es lebe Bismarck!« Hierauf nahm der Oberst den Hut ab und ein vielstimmiger Hochruf begleitete den Wagen des Kanzlers, als dieser durch die Leipziger Straße sich entfernte.

Für den Obersten aber schienen die schönen Tage des unvergeßlichen Jahres zurückgekehrt. Es gab wieder etwas zu tun. Es war wieder erlaubt, sich für das Vaterland zu begeistern. Er durfte, wenn er wollte, wieder Reden halten und auch sein Patriotismus war nicht länger verpönt. »Sie haben die Sache des Volkes in die Hand genommen,« rief er, »folgen wir ihnen.« Aufs neue zu Ehren gekommen war der Traum seiner Jugend, welcher damals in den Parlamenten zersprengt, in den Freischarenhaufen auseinander getrieben, mit Pulver und Blei zu Boden gestreckt schien – und es war nicht länger ein Traum! Der König von Preußen hatte selber das Banner erhoben, unter dem es keinen Unterschied der Parteien, keine Trennung von Volk und Heer, keinen Gegensatz von Nord und Süd mehr gab. Wie weggewischt war die Mainlinie und wer noch verbittert bisher an fremden Küsten geweilt, eilte selber herbei oder sandte reichliche Gaben zum Kriege für des deutschen Volkes Wiedergeburt. »Und nun, Kinder,« wandte der Oberst sich an die Umstehenden, »jeder in sein Haus und jeder an sein Werk; denn nicht nur der Soldat im Felde, sondern auch der Bürger daheim hat seine Pflicht zu erfüllen.«

361 Es fehlte nicht viel, so hätte der Volkshaufen jetzt den populären Mann leben lassen, wie er zuvor Bismarck leben ließ. Allein auf diesen Teil seiner alten Reminiszenzen leistete der Oberst Verzicht. »Es werden sich jetzt genug vordrängen,« sagte er ablehnend; »wer's ehrlich meint, der tut seine Schuldigkeit und schweigt.« Damit ging er, und auch die Menge begann sich zu zerstreuen.

Herr Grandidier hatte noch einmal den Versuch gemacht, sich dem Obersten zu nähern, aber dieser war ihm abermals ausgewichen. Er wurde jetzt von dem Strome des auseinander gehenden Haufens auf die gegenüberliegende Seite der Straße gedrängt und fand sich hier plötzlich einem Manne gegenüber, der unbeweglich in dem vorüberziehenden Gewühl stand. Er hatte sich unter einen Türbogen gestellt, auf die unterste Stufe einer Haustreppe, und sah teilnahmlos in die wogende Volksmasse hinein. Sein Blick war verstört und in seinem Gesicht ein Ausdruck der Betäubung. Er erkannte nicht einmal gleich Herrn Grandidier und schien sich auf sich selbst besinnen zu müssen, als dieser an ihn die verwunderte Frage richtete: »Du hier, Glöcklin?«

Es war etwas in der Erscheinung des Freundes, in seiner völligen Niedergeschlagenheit, was ihn äußerst besorgt machte, denn Glöcklin war keiner von denen, welche die Herrschaft über sich selbst so bald verlieren.

»Warum auch bist du hierhergekommen?« sagte Grandidier, indem er den andern vorsichtig von der Treppe herabführte. Die Straße war jetzt wieder frei geworden, und langsam gingen die beiden nebeneinander. »Du konntest dir wohl denken, was du hier, am Tage der Kriegserklärung, zu sehen und zu hören bekommen würdest. Du gehörst sozusagen beiden Ländern und beiden Völkern an. Der Sieg und die Niederlage, sie werden dich beide gleichermaßen schmerzen.«

Glöcklin fand noch immer kein Wort; aber er schüttelte traurig mit dem Kopfe.

»Ich verstehe dich wohl,« fuhr Herr Grandidier fort, »Du fühlst den Zwiespalt voraus, in welchen die Dinge dich bringen werden. Berlin in Trauer wird dir ebenso das Herz zerreißen wie Berlin in Jubel.«

»Es ist nicht das,« unterbrach ihn Glöcklin, »leider, leider, nicht das! Wohl ist das Los des Fremden hart in solch einer Zeit. Es ist ein bitterer Kampf, doch ich fürchte nicht, daß ich 362 in demselben schwanken werde; denn mehr als an Frankreich hing mein Herz immerdar am Elsaß, und was ich an Heimatsgefühl in meiner Brust bewahre, widerstreitet in keiner Weise der Empfindung, die ich für Deutschland hege.«

Man sah es dem starken Manne an, wie er mühsam nach Fassung rang und wie er im Reden allmählich ruhiger wurde. »Denke darum nicht geringer von mir,« fuhr er fort, indem er die Hand des Freundes ergriff, »wenn ich dir bekenne, daß nicht die Sorge um den Ausgang dieses Krieges mich so tief bewegt. Ach! – ich fürchte, daß er für mich schon entschieden ist, und daß ich bereits verloren habe, was ich zu verlieren hatte . . .« Ein mit Gewalt zurückgedrängtes Schluchzen erschütterte den kräftigen Körper, so daß er zitterte. »Es ist ja so wenig,« sagte er, immer im Kampfe mit dem heftigen Gefühle, welches ihn zu übermannen drohte, »ein Nichts im Vergleich mit dem Schicksal der Nationen, um welches jetzt auf blutigen Schlachtfeldern gerungen werden wird, aber es war doch mein und ich habe es doch geliebt und . . .«

»Wovon sprichst du denn?« sagte Herr Grandidier, in welchem eine bange Ahnung aufstieg.

Glöcklin setzte mehrmals an, aber es war, als ob der Laut nicht über seine Lippen wolle. »Ich spreche von meiner Tochter,« sagte er zuletzt fast tonlos, und zugleich mit dem Worte brach ein Tränenstrom aus seinen Augen.

»Verzeihe meine Schwäche,« sprach er, indem er mit den Händen über das Gesicht fuhr, »sie hat mich bemeistert wider meinen Willen, das Herz des Vaters war stärker in mir als jede Überlegung.«

»O du Glücklicher,« sagte Herr Grandidier, »der du weinen kannst in deinem Unglück!« Er wollte mehr sagen, aber er hielt an sich. »Und was ist mit deiner Tochter geschehen?«

»Ich weiß es nicht, aber ich sehe voraus, daß dieser Brief mir das Schrecklichste melden wird,« und bei diesen Worten nahm er einen noch versiegelten Brief aus der Tasche. »Ich habe nicht den Mut gehabt, ihn zu erbrechen.«

»Und wann hast du ihn erhalten?«

»Heute morgen, nicht lange, nachdem ich das Haus verlassen hatte. Sogleich stieg ein entsetzlicher Verdacht in mir auf. Helenens unstetes Wesen hatte sich in den letzten Tagen 363 bis zum Äußersten gesteigert. Namenloser Schmerz ergriff mich, wenn ich sie ansah, und einige Male war es mir, als ob sie irre rede. Gott, Gott, im Himmel,« rief er plötzlich, mitten in der Erzählung wieder von der ganzen Größe seines Unglücks ergriffen, »was wird sie getan haben? Was wird aus ihr geworden sein und aus George . . .«

»Auch George?« fragte Herr Grandidier, welchem auf einmal, indem er an das Begegnis auf dem Kirchhof dachte, die ganze Wahrheit zu dämmern begann.

»Sie hat während der letzten Zeit, als der Krieg immer näher kam, sich oft tagelang vom Haus entfernt, und auch heute morgen scheint sie sich mit dem Knaben frühzeitig fortbegeben zu haben. Es konnte nach ihren bisherigen Gewohnheiten nichts Auffallendes für mich haben; denn wenn es mir auch nicht gelungen war, zu erforschen, weshalb und wo sie den Tag außerhalb des Hauses verbringe, so war sie doch immer am Abend zurückgekehrt. Jetzt fange ich an, zu begreifen, daß sie mich nur in Sicherheit hat wiegen oder Vorbereitungen zur Flucht hat treffen wollen, und mein Herz sagt mir, daß sie diesmal nicht wiederkehren wird.« Mit diesen Worten übergab Glöcklin seinem alten Freunde den Brief.

Sie waren, fast ohne es in dem bewegten Gespräch bemerkt zu haben, zu Neu-Kölln am Wasser angelangt und standen in diesem Augenblick vor der Türe des Glöcklinschen Hauses. Eben wollten sie eintreten, als sich ihnen ein Anblick bot, welcher sie auf der Schwelle bannte. An den Pfeiler der Treppe gelehnt, stand Frau Grandidier schluchzend, das Gesicht mit einem Taschentuch verhüllt, und nicht weit von ihr Eduard und Bärbel Hand in Hand. Eduard trug die feldmäßige Uniform seines Regiments und den Degen an seiner Seite. »Mutter, sagte er, »ich danke dir, daß du mir diese Zusammenkunft bewilligt, daß du nicht nur Bärbel erlaubt hast, zu kommen, sondern daß du selber mitgekommen bist und daß wir uns alle noch einmal gesehen haben, hier in dem Hause ihres Vaters; nun aber solltest du dir und mir den Abschied nicht noch schwerer machen. Wir haben uns gesagt, was wir seit vielen Jahren uns nicht sagen durften; ich habe das Wort »Mutter« wieder ausgesprochen, dein Segen begleitet mich und in deinem Schutze laß ich Bärbel zurück.«

»Und an deinen Vater trägst du mir keinen Gruß auf, 364 ihm sagst du kein Wort?« fragte die Mutter unter ihrem Schluchzen.

»Mutter!« sagte der junge Mann. »Ob ich ihn geliebt habe, du weißt es; ob ich mich vor ihm gebeugt, ob ich grausam zurückgestoßen, doch immer wiedergekommen bin – dir brauch' ich es nicht ins Gedächtnis zurückzurufen, denn du hast ebenso darunter gelitten wie ich. Wenn das Gefühl jetzt in mir gestorben ist, so hat er es getötet; er hat mich an jenem Abend aus dem Elternhaus verstoßen, und ein Ehrloser müßte ich sein, wenn ich wiederkommen wollte, bevor er selber mich heimruft. Indem er den Sohn in mir verleugnet, hat er mir auch gesagt, daß ich keinen Vater mehr habe.«

»Eduard,« rief die Mutter und warf sich an seine Brust, »ich beschwöre dich, er ist unglücklicher als du vielleicht glaubst, und ich weiß, daß er dich noch immer liebt. Ein gutes Wort in dieser Stunde und das Unrecht von Jahren wäre gesühnt. Hast du ihm wirklich nichts zu sagen, nichts?«

»Nichts!« erwiderte Eduard, indem er sich aus der Umarmung der Mutter losmachte. »Und nun, mein Bärbel, mein holdes Lieb, leb' auch du wohl – jetzt geht's zum Scheiden!«

Er umschlang sie zärtlich, drückte sie noch einmal fest an sich und wollte sich dann losmachen von dem geliebten Mädchen. Doch sie hielt ihn fest und sah mit den verweinten Augen zu ihm empor.

»Eduard,« sagte sie, »ich habe dir etwas mitgeben wollen – etwas, was mir sehr teuer ist, damit du doch auch in der Ferne mein gedenken mögest . . .«

»Dein gedenken, liebes Mädchen? . . . Du wirst immer in meinen Gedanken sein – immer, immer! Kannst du daran zweifeln?«

»Aber etwas soll dich begleiten – etwas, von dem die Trennung mir schwer wird – oh, so schwer wohl, wie nur von dir selber – aber ich trenne mich davon um deinetwillen und will es dir geben. Denn dann weiß ich, daß das Liebste, was ich habe, bei dir ist und mit dir sein wird wie ein guter Engel . . .«

Sie hatte bei diesen Worten unter ihrem Busentuch ein kleines Etui hervorgeholt – von rotem Samt, aber verblichen, alt, mit den Spuren der Zeit – und jetzt mit einer Träne, die aus Bärbels Augen herniedergerollt.

365 Eduard nahm das Kästchen aus ihren Händen, und ein seliges Erinnern kam herauf aus weiter Vergangenheit – und die Nachmittagssonne schien wieder durch ein kleines Fenster, und im goldenen Strahle zitterten die Spinngewebe und das Grün der Wiesen schimmerte herein – und er öffnete den Deckel und das Bild lag darin . . .

»Das Bild deiner Mutter!« rief er, und er betrachtete mit tiefer Wehmut das bleiche, liebliche Gesicht und küßte es wie das Antlitz einer Toten; dann küßte er das Antlitz seiner Braut und sagte: »Jawohl, sie war mein guter Engel, wie sie der deine war – sie führte mich zur Kunst, sie führte mich zu dir – auch auf dem Wege, den ich jetzt gehe, wird sie mich führen –«

»Und zurückbringen!« rief Bärbel leidenschaftlich, indem sie den Geliebten noch einmal umarmte. Dann barg er das Kästchen – dieses Pfand der Jugend und der Liebe – auf seinem Herzen und wandte sich von den beiden weinenden Frauen ab, der Türe zu, durch welche eben sein Vater eingetreten war.

Als dieser seinen Sohn erblickte, war sein erstes Gefühl, daß dieses Zusammentreffen und in dieser Stunde nicht unbenützt vorübergehen dürfe. Jetzt sah er das Kästchen, und jetzt gedachte auch er der Zeit, wo er den Sohn von sich verstoßen, und er rief in seiner Angst zu Gott, daß er das Herz des Sohnes lenken möge, und gelobte, daß er alles, alles tun wolle – wenn er nur diesmal zu ihm käme!

Doch er kam nicht. Er ging an ihm vorüber. Bärbel konnt' es nicht mit ansehen. Dem Geliebten nacheilend, rief sie: »Eduard! Eduard! Hier ist dein Vater!« . . . Sie ergriff Eduards Hand; dieser wies sie schonungsvoll, aber bestimmt von sich. »Laß mich, Bärbel,« sagte er, »laß mich. Mir ist wie einem, der überwunden hat; warum rufst du mich noch einmal zurück?«

»Bleib, Eduard,« schluchzte sie und suchte nach der Hand des Vaters. Diese war kalt, wie damals in der Nacht, als sie den Sohn zum letzten Male von sich gewiesen. »O Vater,« flehte sie, »lieber Herr Grandidier – hier steht Ihr Sohn – nur die Hand, nur die Hand!« . . .

Aber die Hand regte sich nicht; sie sank wie leblos nieder. »Ich kann nicht, ich kann nicht,« kam es wie Stöhnen aus der Brust des gequälten Mannes, und nun ging Eduard wirklich.

366 Die beiden Frauen stiegen die Treppe hinan; Herr Grandidier aber sank mit dem Haupt auf den Pfosten des Geländers, an welchem er bei seinem Eintreten in das Haus Eduard hatte stehen sehen.

»Fasse dich, Grandidier, fasse dich,« sagte Glöcklin, welcher bei dem Anblick des leidenden Freundes für einen Moment des eigenen Leides vergaß. »Du kannst ihn noch erreichen, wenn du willst – er ist noch in Berlin . . .«

Herr Grandidier, als er sich wieder aufrichtete, verriet durch kein äußeres Zeichen mehr, was in seinem Innern vorgehe.

»Komm,« sagte er, »laß uns zu den anderen gehen.«

Als er hinaufkam, bemerkte er, oder glaubte er zu bemerken, wie Bärbel vor ihm zurückschreckte.

Die dumpfe Schwüle des Tages war in dem Zimmer.

»Und wo ist Helene, wo ist George?« fragte Frau Grandidier, indem sie durch die offene Tür ins anstoßende Zimmer blickte.

»Um Gottes willen, ja,« rief Bärbel, die jetzt erst die beiden zu vermissen anfing, »wo mögen sie sein?«

»Der Brief wird Auskunft geben,« sagte Glöcklin, »ich bitte dich, Grandidier, zu sehen, was er enthält.«

Herr Grandidier erbrach den Brief und blickte hinein. »Er ist an euch beide, Glöcklin und Bärbel, gerichtet,« sagte er und begann dann zu lesen:

»Lebet wohl und verzeiht mir! Ich konnte nicht anders. Wenn der Mann noch lebt, dessen Bild Eduard Grandidier aus der Wüste mitgebracht, so werde ich ihn wiederfinden, und wenn er nicht mehr lebt, was soll mir das Leben? Dem Vaterlande, welches ich bis zum letzten Atemzuge lieben werde, vermache ich den Sohn, und mit diesem die Pflicht, das Andenken seines Vaters wiederherzustellen.

»Beklagt mich nicht, denn ich bin glücklich. Ich bin frei und habe zum erstenmal wieder mein Schicksal in meiner Hand. Forscht mir aber auch nicht nach; die Spur meines Weges hat sich schon verloren, sobald ihr diese Zeilen leset. Teurer Vater, geliebte Schwester! Ihr habt viel um mich gelitten und viele Nachsicht mit mir gehabt, und ich weiß wohl, daß dieser Schritt uns für immer scheidet. Aber dem unabänderlichen Entschluß gegenüber kommt in mein Herz eine Ruhe, wie ich sie seit Jahren nicht mehr empfunden. 367 Ich fühle, daß ich meine Pflicht tue und daß ich sie tun muß gegen euren Willen. Du, mein teurer Vater, bist Bürger des Landes geworden, welches jetzt in Waffen steht gegen Frankreich; Du, geliebte Schwester, hast Dein Herz einem Manne geschenkt, welcher mit den Preußen gegen mein Vaterland zieht! Ich will Euch nicht zürnen; aber Ihr seht wohl, daß jetzt etwas zwischen uns steht, was Wiedervereinigung unmöglich macht. Ich gehe ohne Groll, denn in dieser ernsten Stunde, der letzten, die der Liebe gehört, soll auch allein die Liebe sprechen. Gebe der Himmel, daß wir uns niemals wieder begegnen; denn dann würde der Vater keine Tochter und die Schwester keine Schwester mehr finden. Ich zerdrücke die Träne in meinem Auge, ich presse gewaltsam mein heftig klopfendes Herz. Lebet wohl, lebet wohl! und jetzt ist es vollbracht. Nicht länger vernehm' ich jenen trüben, schweren Flügelschlag wie von etwas Nächtigem, Schauerlichem, das so lange um mein Haupt gerauscht. Ich blicke wieder klar in die Welt, ich habe wieder das volle Bewußtsein meiner Kraft und meines Willens, und zum ersten Male darf ich aus voller Seele rufen: Es lebe Frankreich!«

Eine tiefe Stille folgte diesen Worten; es war so still, daß man das leiseste Geräusch, das Knistern des Papiers hören konnte, indem Herr Grandidier den Brief auf den Tisch legte. Auch draußen war es unheimlich stille geworden, die dunklen Wolken ballten sich zu Haufen, und nur ein ganz fernes Rollen verkündete die Nähe des Gewitters. Plötzlich schrie Bärbel auf: »Der Vogel! der Vogel!« und ehe noch jemand von den Anwesenden ahnte, was sie damit hatte sagen wollen, war sie schon aufgesprungen. »Ich höre den Vogel nicht,« sagte sie, »und er hat doch sonst immer so lustig geschmettert.« Sie tat ein paar Schritte nach dem anderen Zimmer, wo der Vogel auf einem Tischchen, von Blumen umgeben, seine Stelle hatte. »Ich mag nicht allein gehen, mir ist so bang zumute,« sagte sie. Frau Grandidier ging mit ihr. Der Geruch von welkenden Blumen war im Zimmer; es war Verwesungsgeruch.

Als sich die beiden Frauen dem Käfig näherten, da sahen sie, daß der kleine Wasserbehälter trocken und das Futternäpfchen leer war. Traurig auf dem Grunde des Käfigs im Sande zusammengekauert, saß der Vogel. »Er lebt, er lebt!« rief Bärbel, und der Vogel, als er die Stimme des 368 Mädchens hörte, schlug noch einmal die kleinen Augen auf, welche schon halb geschlossen waren. Bärbel, von diesem Blicke getäuscht, öffnete das Gitterchen des Käfigs und streckte die Hand nach ihrem Liebling aus, welcher diese kleine, zarte Hand so gut kannte. Doch er gab ihr kein Zeichen der Liebe mehr; noch bevor sie ihn berührt, sank er um und streckte die kleinen Beine von sich. Er war tot. Es war der letzte, schmerzerfüllte Abschiedsblick gewesen, welchen er Bärbel gegeben. Er war das erste Opfer, welches der Krieg von ihr gefordert, und jetzt erst brach die Tränenflut sich Bahn, welche sie bei dem Abschied von Eduard so standhaft zurückgehalten. Jetzt aber auch entlud sich draußen das Gewitter, welches den Tag über gedroht, und der Regen rauschte hernieder.

Am späten Abend, als eine balsamische Kühle durch die Straßen wehte und aus dem Tiergarten ein wundersamer Duft von Grün und Rosen und Jasmin kam, stand am Brandenburger Tor ein einzelner Mann, nicht weit von der Verbindungsbahn, die damals noch hier vorüberführte. Wagen nach Wagen rollte dahin und verlor sich im Dunkel. Es waren die Militärzüge, welche einander unaufhörlich, in kurzen Zwischenräumen, folgten.

Wohl stundenlang, ohne sich vom Platze zu bewegen, stand der Mann, bis, weit nach Mitternacht, der letzte Zug vorüber war. Nun entfernte er sich. Es war Herr Grandidier und in einem dieser Wagen war Eduard zum Sammelplatz seines Regiments gefahren. 369

 


 


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