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Ich will damit beginnen, meinen verehrten Freund, den Leser, und meinen nicht minder verehrten Freund, Herrn George Grandidier, einander vorzustellen. Wenn es dem Verfasser eines Romans erlaubt wäre, seinen Helden bei dem rechten Namen zu nennen, so würde jeder gleich ausrufen: »Ah, Herr George Grandidier – habe schon das Vergnügen!« – und mit einer gewissen demonstrativen Bewegung seinen Hut schwenken oder darauf hindeuten, wie um zu sagen: »Wer sollte Herrn George Grandidier nicht kennen?«
Wirklich war Herr George Grandidier zu seiner Zeit – die zum Teil noch die unsere ist – einer der bekanntesten Männer in Berlin; alle Leute, die einigermaßen auf sich hielten, trugen seinen Namen wenn nicht im Kopfe, so doch in einer je nach der Mode wechselnden Entfernung über dem Kopfe: Herr George Grandidier war nämlich Hutmacher. Aber ich bitte zu bemerken: im großen Stile.
Herr George Grandidier gehörte zu der französischen Kolonie, welche, wie man weiß, zur Zeit ihrer Entstehung ihre eignen Gerichte und ihre eigne Sprache hatte, jetzt aber nur noch ihre Kirchen, Kirchhöfe und Almosenpflege für sich hat, so daß sie unter ihrem selbstgewählten Konsistorium eine Gemeinde bildet, welche friedlich und gedeihlich zwischen all den anderen Gemeinden von Berlin lebt. Vor fast zweihundert Jahren war der Vorfahr der Grandidiers, ein hugenottischer Flüchtling, aus Paris nach Berlin gekommen, und da er, wie die meisten Refugiers, wenn nicht Reichtümer, so doch den Rest eines hübschen Vermögens und vor allem seine Kunstfertigkeit mitbrachte, so ging es ihm wohl in der neuen Heimat, und die Grandidiers florierten seitdem unter den ersten Hutmachern von Berlin. Ein katholischer oder vielmehr ein wieder zum Katholizismus zurückgekehrter Teil der Familie war in Paris geblieben, aber jeder Verkehr zwischen dem einen und dem anderen war eingestellt worden. 12 Anderthalbhundert Jahre war keine Kunde hinüber oder herüber gedrungen; in der Tat war der Vater unseres Herrn George Grandidier der erste gewesen, welcher nach der Auswanderung seines Ahnherrn Paris wieder betrat – aber unter der preußischen Fahne, als freiwilliger Jäger, im März 1814, da nach der glorreichen Niederwerfung der französischen Zwingherrschaft die Heere der Alliierten in das »Babel an der Seine« einzogen. Er hatte dort, in der Cité von Paris, fast noch an derselben Stelle, welche sie vor Jahrhunderten innegehabt, die Nachkommen der Grandidiers gefunden; aber obwohl sie noch den gemeinsamen Namen trugen, waren sie doch durch die lange Zeit und die weit auseinander gehenden Schicksale gänzlich entfremdet. Leider hatte der Krieg für den Berliner Grandidier üble Folgen im Geleite. Wacker hatte er sich für sein neues Vaterland geschlagen, aber das Geschäft lag danieder, und er war nicht der Mann, es wieder in die Höhe zu bringen. Er war dann früh gestorben, eine Witwe zurücklassend, die das Geschäft mit höchst beschränkten Mitteln fortsetzte, und einen Sohn von sechzehn Jahren, der kaum die Lehrzeit hinter sich hatte. Doch dieser Sohn, George Grandidier, sollte der Mann werden!
Schon als Knabe hatte diesem das Bild der ehemaligen Größe der Grandidiers vorgeschwebt, und sie wieder zu erreichen, ja womöglich noch zu übertreffen, ward, je mehr er heranwuchs, desto mehr das Ziel seines Ehrgeizes. Als er in seinem achtzehnten oder neunzehnten Jahre seine Mutter, die er über alles liebte und ehrte, so weit gesichert sah, daß sie mit Hilfe eines treuen Gesellen vom Ertrage des allerdings sehr herabgekommenen Geschäftes leben konnte, ging er auf die Wanderschaft nach Paris; denn er sah wohl ein, daß Berlin ein goldener Boden sei für denjenigen, der seine Sache verstand, aber nicht der Ort, um sie zu lernen. »Wenn ich zurückkehre,« hatte er damals beim Abschied gesagt, »dann sollst du es gut haben, Mutter!« Und er hielt sein Wort. Zwar sollte sie es nicht mehr erleben, ihn auf der Höhe seines Glückes zu sehen, aber sie hatte noch gute Tage bis an ihr Ende, und sie starb, nicht ohne zuvor gesehen zu haben, daß der Stern der Grandidiers im Steigen sei.
Klein hatte Herr George Grandidier angefangen, in dem kleinen Laden der Kleinen Mauerstraße, dem Erbteil seines Vaters, mit einem Schild, auf welchem Hüte von einer 13 lächerlich altmodischen Form und große Filzschuhe abgemalt waren. Doch mit jeder Veränderung der Mode machte Herr George Grandidier Fortschritte. Die Hüte vom Ende der vierziger Jahre, welche oben breit und unten schmal waren, fanden ihn schon in der Großen Mauerstraße; diejenigen, welche unten breit und oben schmal waren, begleiteten ihn auf seiner Wanderung in die Friedrichstraße; die Leipziger Straße bewunderte vor seinem Schaufenster die zylinderförmigen Hüte von englischer Fasson, welche sowohl oben als unten schmal waren, und als Frankreich wieder den Ton angab mit Hüten, die oben so breit waren als unten und wie ein Topf mit gewundenen Rädern aussahen, da hatte Herr George Grandidier die Linden erreicht, gerade der kleinen Mauerstraße gegenüber. Sein prachtvolles Magazin, welches am Abend von zahlreichen Gasflammen funkelte, konnte nun direkt hinübersehen zu der kleinen, dunklen, einfenstrigen Butike, welche noch immer das Schild der alten Hüte und der Filzschuhe zeigte. Dieses Ladenschild hatte beinahe schon den Wert eines historischen Gemäldes, auf welchem der Freund der Kulturgeschichte Studien über die Moden und Trachten einer vergangenen Zeit anstellen kann. Allein für Herrn George Grandidier war es mehr: ihm bedeutete es die Vergangenheit selber, den Anfang einer mühseligen, aber gesegneten Laufbahn, und er würde um keinen Preis geduldet haben, daß man es von dem Platz entferne, den es nun schon seit dreißig Jahren in Ehren behauptet hatte. Denn wenn Herr George Grandidier auch Unter den Linden angelangt war, so verleugnete er darum doch die Mauerstraße nicht, ebensowenig als die Friedrichstraße, die Leipziger Straße und noch ein halbes Dutzend anderer Straßen, welche gleichsam die Etappen zu seiner gegenwärtigen Position in der Hutmanufaktur von Berlin gewesen waren.
Im Gegenteil, nicht weniger von einem Gefühl der Pietät als einer ganz richtigen Berechnung seines kaufmännischen Vorteils geleitet, behielt er die verschiedenen Läden in den verschiedenen Vierteln von Berlin bei, legte neue dazu an und verwandelte sie alle miteinander in Filialen des Hauptgeschäftes Unter den Linden, so daß der Name George Grandidier an allen Ecken und Enden von Berlin leuchtete, der kleinen roten Wagen gar nicht zu gedenken, welche denselben, von einer wahren Glorie von Ehrenzeichen, 14 Wappen und heraldischen Figuren umstrahlt, beständig in den Straßen herumfuhren. Denn wenn man Herrn Grandidiers Versicherungen glauben durfte – woran kein Zweifel – so wurden seine Hüte von fast allen gekrönten Häuptern der Christenheit getragen, wenn diese sich's nämlich bequem machen und den Helm oder die Krone gegen eine leichtere Kopfbedeckung vertauschen wollten.
Allein alles dies machte Herrn George Grandidier nicht übermütig; er freute sich, aber er prahlte nicht damit, oft nur sagte er: »Wenn das die Mutter erlebt hätte!« Mit seinem zunehmenden Reichtum zeigte er sich einer soliden Entfaltung desselben nicht abgeneigt; aber für seine Person blieb er der einfache, nüchterne kleine Mann, der er immer gewesen, mit sehr wenig Bedürfnissen, außer demjenigen, rastlos tätig zu sein.
Wenn man ihn in seinem Reiche sehen wollte, so mußte man sich in ein weitläufiges, altes, dunkles Gebäude begeben, welches zwischen einem anderen weitläufigen, alten und dunklen Gebäude in Neu-Kölln am Wasser stand, einer Gegend von Berlin, welche dem eleganten Leser wohl nur vom Hörensagen bekannt sein dürfte, wenngleich es in diesem ziemlich modernen Berlin eine höchst altertümlich-pittoreske und ganz abgesehen davon auch eine sehr gute Gegend ist, mit Wasser, Schiffen und Brücken, mit Drogenfabriken, Lohgerbereien, Dampf-, Wasch- und chemischen Bleichanstalten, mit allem möglichen Lärm von Walzen und Haspeln, und allen möglichen Gerüchen, die solchen Etablissements entströmen.
Hier nun, in der besten Nachbarschaft, war die Fabrik des Herrn George Grandidier, ein Labyrinth von kleinen Höfen, schmalen Durchgängen, Treppen, numerierten Türen, vor denen fast überall »Verbotener Eingang« stand, und zahllosen Fenstern, aus denen man nichts weiter sehen konnte als andere numerierte Türen und andere zahllose Fenster.
Mit dem Wachstum des Geschäftes gleichen Schritt haltend, war auch dies Etablissement gewachsen, hatte gleichsam einen Zweig an den anderen gesetzt, ein Stockwerk auf das andere und einen Flügel hinter den anderen, bis es zuletzt einer kleinen winkeligen Stadt glich mit einem großen Schornstein und einer Bevölkerung von etwa zweihundert Arbeitern.
Den eigentlichen Kern des ganzen Komplexes, seinen ursprünglichen und ältesten Teil indessen bildete das 15 Wohnhaus; es war in der Tat schon alt gewesen, als Herr Grandidier, noch ein junger Mann, in der Kleinen Mauerstraße war. Es stammte aus dem vorigen Jahrhundert, und ein Edelmann hatte darin gewohnt, mit einem schönen Garten und alten Bäumen, da wo jetzt der Fabrikschornstein rauchte. Denn die vornehmen Leute hatten es seitdem aufgegeben, in dieser Gegend zu wohnen, und an ihrer Stelle begann die Industrie von Berlin sich anzusiedeln. Das Haus war in einem Zustande kläglichen Verfalls gewesen, als Herr Grandidier es kaufte; auch blieb, nachdem er die notwendigen baulichen Veränderungen vorgenommen, von der ehemaligen Pracht wenig übrig, außer den Wandpfeilern des ersten Stocks, den runden Fenstern oder »Ochsenaugen« des zweiten und einigen Bildsäulen und Vasen auf dem Brustgeländer des Dachs. Aber inwendig war alles von einer festen und soliden Bauart, wie man sie jetzt in den neuen Häusern nicht mehr antrifft, und hier, mitten in seiner Welt – ein angesehenes Mitglied der Kolonie, bei den Reichen wohlgelitten, von den Armen geliebt und von niemand beneidet –, lebte Herr Grandidier glücklich und zufrieden.
Weniger glücklich und zufrieden war Frau George Grandidier, oder wie sie mit ihrem vollen christlichen Namen hieß: Frau Luise Dorothea Grandidier, geborene Schnockel. Aus einer alten, guten Familie des Berliner Bürgerstandes, in welcher das Mützengeschäft vom Vater auf den Sohn ging, war sie von Herrn George Grandidier zur Eheliebsten erkoren worden zu einer Zeit, wo dieser noch ein kleiner Mann war. Nichtsdestoweniger hatte sie es als eine Art von Standeserhöhung betrachtet, als die Neigung ihres Erwählten sie von den Mützen zu den Hüten erhob, und sie blieb ihm in Treuen dafür dankbar ihr Leben lang. Der Grund ihres Mißvergnügens lag daher nicht darin, daß sie dem Manne, den Gott ihr gegeben, den legitimen Erfolg oder den Hüten, die er fabrizierte, den weiten Absatz nicht gönnte. Nein! – undankbar oder eifersüchtig auf den Ruhm ihres Eheherrn war Frau Luise Dorothea Grandidier nicht; sie war überhaupt nicht eifersüchtig. Sie war das mildeste, bescheidenste Wesen, auf welches Gottes Sonne in Berlin herabschien, und sie war dabei so korpulent, daß ihr schon aus diesem Grunde niemand etwas Böses zugetraut hätte. Neid, Eifersucht, Bosheit – alle diese kleinen und berechtigten 16 Eigentümlichkeiten anderer Frauen – waren ihr fremd; sie war so tugendhaft, daß man ihr kaum irgendeinen Fehler, und wäre es auch nur der geringste, vorwerfen konnte. Aber der Laden, der fehlte ihr. Sie war darin gleichsam aufgewachsen, als junges Mädchen hatte sie in dem Mützenladen ihres Vaters und nachmals treu, wie das brave Weib soll, in dem Hutladen ihres Gatten in der Kleinen Mauerstraße gestanden; ohne Murren war sie ihm nach der Friedrich-, nach der Leipziger Straße gefolgt, und unterstützt von zwei blühenden Töchtern, die sich nachmals verheiratet, hatte sie sich sogar Unter den Linden, wiewohl nicht ohne Schwierigkeit, zurechtgefunden. Sie war nur ein schwaches Weib, ein Berliner Kind, geboren in Berlin, aufgewachsen in Berlin und mit dem Berliner Leben im allgemeinen gut genug bekannt; aber »für dem Höheren«, wie sie sagte, hatte sie keinen Sinn. Eines Mützenmachers Tochter, war sie eines Hutmachers Frau geworden, und das, wiewohl es ein Grund beständiger Dankbarkeit gegen Gott und ihren Gatten blieb, widersprach doch nicht ganz der Ordnung der Dinge, wie sie sich dieselbe dachte; aber vor den kühneren Flügen ihres Mannes versagte ihr das Herz. Sie ging mit, aber nur widerwillig. Das jedoch war der bitterste Tag ihres bis dahin so harmlos glücklichen Lebens, als sie nicht nur mit-, sondern auch fortgehen mußte – fort aus ihrem Laden!
»Es paßt mir nicht mehr,« sagte ihr Mann; »die Frau eines Fabrikanten kann doch wahrhaftig nicht selber hinterm Ladentisch stehen, und dann ist es auch von wegen unserer Töchter.«
Sie schwieg; sie hatte viel zu viel Respekt vor ihrem Mann, um ihm zu sagen, daß zu hoch hinaus selten gut tut. Sie dachte das auch nicht einmal, sie war vielmehr überzeugt, daß, was ihr Mann ergreifen, ihm auch gelingen werde. Doch ihr war weh dabei, und leise, zaghaft fragte sie: »Wat soll ick denn nu aber den janzen Tag über dun?«
»Mon dieu!« sagte der Mann, »davor ist mir nicht bange. Du mußt dich jetzt mehr dem Häuslichen und der Erziehung deiner Töchter widmen, kannst meinetwegen auch etwas für deine Bildung tun. Die Mittel sind ja da, und wenn du dir Vergnügen machen willst, mir soll es recht sein. Unserem Rollkutscher Schnellpfeffer dem schaff' ich eine Livree an, mit einem großen Pelzkragen für den Winter, und unser alter 17 Knecht Knüppel, der fürs Geschäft doch nichts mehr taugt, der soll es jetzt auf seine alten Tage gut haben und Bedienter werden. Einen hübschen Zweispänner, inwendig mit roter Seide ausgeschlagen, habe ich auch schon bestellt; und nun kann es ja losgehen. Du kannst zu Liebichen in die Konzerte fahren, oder zu Renzen oder ins Opernhaus . . . Und, da wir doch einmal dabei sind –« und mit diesen Worten trat er näher an seine Frau heran, hob sich ein wenig auf den Zehen, denn sie war größer als er, und flüsterte ihr ins Ohr: »Luise, tu' mir den einzigen Gefallen und gewöhne dir ein besseres Deutsch an. Wir sind es unseren Töchtern schuldig! Man sagt nicht »ick«, man sagt »ich«; und man sagt nicht »dun«, sondern man sagt »tun«. Ich habe dir schon öfters bemerkt, daß die Portiersfrauen in Berlin so sprechen; für eine Fabrikantenfrau, die etwas vorstellen soll, macht es sich aber nicht. Und wenn es dir schwer wird – leicht ist es auch mir nicht geworden. Aber nimm dir ein Muster an mir, denn gerade durch, immer gerade durch, sagt Grandidier!«
Der guten Frau Luise Dorothea wäre wohl, was den korrekten Gebrauch ihrer Muttersprache betraf, ein besseres Muster zu wünschen gewesen, als ihr sonst so tüchtiger Gemahl. Er konnte sich noch der Zeit erinnern, wo die älteren Mitglieder der Kolonie Französisch untereinander sprachen, und er selber sprach es nicht schlecht, besonders da er es in der Zeit seines Pariser Aufenthalts wieder aufgefrischt hatte. Doch in der deutschen Sprache war er nicht besser als die Berliner derjenigen Klasse, unter der er seine Kindheit und erste Jugend verlebt; und obwohl er in späteren Jahren es an Mühe nicht hatte fehlen lassen, so war er doch nur zu einer Art von Grammatik »eigener Fabrik« gekommen. Er war auch in diesem Stück ein selbstgemachter Mann, und wenn er in Zorn geriet, was ihm bei seinem Temperament sehr leicht passierte, so gingen ihm alle seine guten Vorsätze durch.
So kam es, daß Frau Grandidier, je mehr ihr Mann ins Weite strebte, sich immer beengter fühlte. Sie lebte in einem fortwährenden Zustande des Zitterns. Sie konnte sich weder an den Bedienten, noch an den Livreekutscher, noch an die Equipage gewöhnen, am allerwenigsten aber an die Grammatik und das Haus. Wenig trösteten sie die Genüsse, welche ihr Gemahl ihr zur Verfügung gestellt hatte. Das Opernhaus und Renz – ach, das war kein Ersatz für den Laden! Mit dem 18 Laden hatte ihre goldene Zeit abgeschlossen, die Zeit, wo man noch wünscht und hofft. Damals hatte jeder Tag ihr etwas Neues gebracht, oder wenigstens etwas, was sie in ihrem bescheidenen Sinne dafür nahm; und selbst das Alte hatte einen unerschöpflichen, sich immer erneuenden Reiz. Mit ihren Kunden zu schwatzen, sich nach dem Befinden ihrer Hüte aus der vorigen Saison zu erkundigen, sie zu versichern, daß es unmöglich sei, denselben eine neue, zeitgemäße Fasson zu geben, um so mehr, als diese Operation schon einmal im vorigen Jahre an ihnen vorgenommen worden, oder über die Neuigkeiten der Stadt zu plaudern – von dem großen Hoffest oder dem Ball beim Minister, zu welchem der spanische Gesandte sich, zehn Minuten vor Beginn desselben, noch einen neuen Klapphut hatte holen lassen: »Ick wußt' et wohl – der olle war, ick sag et Ihnen unter vier Augen, nich mehr für 'nen Kanzlisten jut jenug, jeschweige denn für 'nen Jesandten. Aber die Jesandten, die Jesandten – an die Hüte wollen se't sparen!« – Ja, das waren noch Zeiten! Oder die Geschichte von dem Kavalier – »Ick will ihm nich weiter nennen, aber die Jeschichte is janz publik bei Hofe –« der immer mit einem alten Hut ankam und immer mit einem neuen wegging.
Das war ihre Welt, ihr Paradies gewesen; aber Herr George Grandidier hatte sie aus demselben vertrieben. Nun, wie Gott es will. Aber leicht war es nicht; sie kam sich vereinsamt vor und fühlte sich älter. Sie fing an Strümpfe zu stricken – merkwürdige Strümpfe, Strümpfe von allen Größen und von allen Gattungen; aber die Sehnsucht ihres Gemütes ward nicht gestillt. Manchmal noch in den Nächten träumte sie von Hüten und alten Herren, welche wie sonst in den Laden kamen und aus dem Schlafe heraus rief sie dann: »Müller der Zweite, hier mal 'ne Bürste für den Herrn Geheimrat!« – Oder: »Ist der Hut für Schöneberger Straße Nr. 3, zwei Treppen hoch, schon fertig?« Zum Glück hatte Herr George Grandidier einen festen Schlaf und hörte sie nicht, aber um so elender fühlte sie sich beim Erwachen. Zuweilen auch, wenn sie sich einen guten Tag machen wollte, ging sie heimlich, hinter dem Rücken ihres Mannes, in den Laden Unter den Linden, um dort ein Stündchen zu hospitieren. Aber es war kein reiner Genuß, er war mit Furcht gemischt. Sie zitterte vor der Möglichkeit, daß ihr Gemahl plötzlich 19 eintreten und sie sehen, oder daß einer von den alten Bekannten es ihm verraten könnte.
Doch Gott ist gerecht. Wenn Frau Grandidier ihren Kummer hatte, so sollte Herr Grandidier bald auch den seinen haben; und dieser Kummer, oder vielmehr derjenige, der ihm denselben bereitete, war sein Sohn Eduard – »Grandidier junior« wie sein Vater ihn schon nannte, als er noch im Kinderwägelchen umhergefahren wurde.
Grandidier junior war der Spätling der Ehe gewesen, fast noch ein Kind, als seine beiden Schwestern sich rasch nacheinander verheirateten; die ältere, Charlotte, vulgo Lottchen, an einen Geheimen Kanzlisten, der inzwischen Kanzleirat geworden war, und die jüngere, Berta, an einen großen Industriellen, gleichfalls von der französischen Kolonie, namens Süchier, Fabrikant von wollenen Stoffen und Teppichen in der Stralauer Straße. Die gute und ehrenhafte Stellung seiner Töchter machte den Vater glücklich; aber sein Stolz war Grandidier junior. Gar nicht zu reden von der besonderen Zärtlichkeit, die ihn zu diesem, seinem Jüngsten, hinzog, hatte er auf ihn alle seine Hoffnungen in betreff der Hüte gesetzt. Die Grandidiers hatten vor zweihundert Jahren das Hutgeschäft mit sich nach Berlin gebracht, und es hatte sich seitdem vererbt von Geschlecht zu Geschlecht, aber noch niemals in solcher Größe, wie er es seinem Sohn hinterlassen würde. Wie beneidenswert war dieser Knabe, der sein Nachfolger werden sollte, der Erbe all seiner Ehren und Reichtümer, der künftige Träger seiner Firma, der Stammhalter des Hauses Grandidier! Wie gut würde er es einst haben! Er kam sozusagen in ein gemachtes Bett. Er brauchte nur fortzusetzen, was der Vater begonnen; dem Alten lachte das Herz im Leibe, wenn er an die Zukunft seines Sohnes dachte.
Allein schon in seinen jungen Jahren zeigte derselbe gewisse Neigungen, die mit denen seines Vaters nicht ganz übereinstimmten. Er war ein hübscher Junge, mit langem, weichem nußbraunem Haar und dunklen Augen, die träumerisch und doch wieder auch teilnehmend in die Welt blickten. Es war ein schwermütiger Ausdruck in ihnen, der zuzeiten ganz plötzlich bei irgendwelchem Anlaß einem schalkhaften, voll Humor und lachender Heiterkeit Platz machte. Dabei war er still für seine Jahre; früh schon mehr nach innen gewandt als nach außen – aber darum kein Kopfhänger. Unter seinen 20 Spielkameraden konnte er sehr fröhlich sein; aber diese selbst, die Genossen seiner jugendlichen Spiele, waren von seiner eigenen Wahl. Sie waren, zum großen Verdruß seines Vaters – und das war eigentlich der erste Kummer, den er ihm machte – ganz »unter seinem Stande«, wie dieser sich ausdrückte. Dagegen half kein Verbot; immer wieder zog Eduards Neigung ihn zu diesem kleinen Straßenpöbel, der in Berlin nicht viel besser aussieht als in anderen großen Städten, aber so viel Mutterwitz, so viel gute Laune und einen so kernigen Ausdruck dafür besitzt. Unter diesen jungen Plebejern fühlte sich Eduard wohl, und mit ihnen verstand er sich. An den Aufgängen zu den Brücken, an den Geländern derselben, auf den Treppen, die nach der Straße hinunterführen, auf den Sandhaufen, die dort immer, Gott weiß warum, bald auf der einen, bald auf der anderen Seite des Ufers liegen, in den Schlupfwinkeln und Sackgassen der Nachbarschaft, in den düsteren Höfen mit den baufälligen Häusern, in den schmalen Durchgängen, die sich nach dem Wasser öffnen: da war er zu finden. Diese seltsam gewundenen engen Seitenstraßen, um die sich sonst kein Mensch bekümmerte, außer denen, die darin wohnten, die waren nach seinem Geschmack; sie hatten weit mehr Anziehendes für ihn als die steife Pracht in den Prunkgemächern seines elterlichen Hauses. Wenn sie belebt waren von dem Geschrei seiner Busenfreunde, so leuchtete sein Gesicht, und seine Mutter behauptete, daß sie dann, aus allen anderen heraus, über das Wasser und die Brücken hin seine Stimme hören könne.
Doch zu Hause war er still. Mit den Schularbeiten ging es nicht anders als zwangsweise.
»Wenn er sich nur bessere Gesellschaft anschaffen wollte,« bemerkte der Vater. »Diese Straßenbanditen, Schreihälse und Strolche – paßt das für den Sohn eines guten Hauses? Mon dieu, warum sucht er sich seine Freunde nicht unter den Schülern des Collège? Das wenigste, was ein Mensch für sich tun kann, ist doch, sich zu seinesgleichen zu halten. Von sich selbst kommt nichts als Schmutz und lange Nägel, wie das Sprichwort sagt.«
»Na, Grandidier, was das betrifft, brauchst du dir keine Gedanken zu machen,« antwortete ihm etwas gereizt seine Gemahlin. »Für die Propretät will ich schon einstehen, sorg du nur fürs andere.«
21 »Das will ich,« sagte Herr Grandidier, indem er seinen Rohrstock, den mit dem goldenen Knopf, durch die Luft fahren ließ, als ob es für den Sohn eines solchen Hauses, wenn er denn einmal gezüchtigt werden solle, sich nicht anders schicke als mit einem Stock, der einen goldenen Knopf hat.
Frau Luise Dorothea schüttelte den Kopf.
Damit wirst du wenig ausrichten, dachte sie. Sie hütete sich, es zu sagen. Denn sie wußte wohl, daß ihr Mann immer das letzte Wort haben müsse.
Doch es schien, als solle sie recht behalten. Wenn Eduard zu Hause war und nicht zu den Exerzitien der Grammatik und der Rechentafel getrieben ward, so saß er über den Märchenbüchern. In diesen zu lesen war ein ebenso großes und unwiderstehliches Vergnügen für ihn, als draußen herumzulungern. Das Märchen und die Straße, die bunte Zauberwelt und die alltäglichste Wirklichkeit: zwischen ihnen lebte der Knabe, das eine hineintragend in das andere und heimisch in beidem.
»Er ist ein so geschickter Junge,« klagte der Vater oft; »alles kommt ihm wie angeflogen. Was er anfaßt, gelingt ihm. Wenn er sich nur entschließen wollte!«
Das aber war es just. Selten entschloß er sich, aus freien Stücken etwas anzufassen; es hätte denn ein Blatt Papier sein müssen, welches er mit den abenteuerlichsten und drolligsten Figuren bekritzelte – Prinzessinnen aus Tausendundeiner Nacht, Kobolde aus Grimms Märchen und alte Marktweiber von dem Platze vor der Petrikirche – alles durcheinander.
»Unnützer Junge, du,« schalt dann der Vater, »ist es erlaubt, das gute Papier so zu verderben! Wenn du noch Modelle von Hüten zeichnen wolltest! Das würde mir Freude machen; ich sähe dann doch, daß du an deinen künftigen Beruf dächtest. Als ich so alt war wie du, da ging ich meinem Vater schon zur Hand. Aber solche Fratzen! Solchen Unsinn!«
Dabei zerriß er das Blatt und sah nach dem Rohrstock, der voll altväterlicher Würde ruhig in der Ecke stand und, um die Wahrheit zu sagen, auch in derselben stehenblieb.
Freilich ward es Herrn Grandidier senior von Tag zu Tag klarer, daß Grandidier junior auf dem besten Wege sei, ein Taugenichts zu werden; wenigstens was er so nannte. Ein Taugenichts war nach seiner Meinung ein Junge, den seines Herzens Neigung nicht in die Fabrik führte, wo er doch die merkwürdigsten Maschinen hätte bewundern können, sondern 22 gerade im Gegenteil, nach den Hinterhäusern und Hofwohnungen, in denen nichts zu sehen war als altes Gerümpel und arme Leute. Ja, das war es, was ihm den größten Kummer machte; das Gegenteil, immer das Gegenteil! Er, der Vater, hoch hinauf, jener, der Sohn, tief hinunter; er, praktisch, frisch zugreifend und rastlos tätig – jener ein Träumer, unschlüssig, eines Antriebs bedürftig und nur dem Zwange gehorchend – versteht sich in den Dingen, die ihm zuwider waren. Leider waren ihm viele Dinge zuwider, die dem Vater zumeist am Herzen lagen. Besonders die Hüte. Schon der Geruch der Fabrik, wenn er nur in die Nähe kam, war ihm ein Greuel. Nach wie vor blieb es seine Passion, sich mit der zerlumpten Mobilgarde seines Quartiers herumzutreiben, sein Frühstück und sein Taschengeld mit ihnen zu teilen, und seine Mutter für beständig in Angst und Zittern an das Eckfenster zu bannen, weil sie immer meinte, wenn sie ihn schreien hörte, daß er ins Wasser gefallen sei oder doch ins Wasser fallen werde. Mit einem Wort: eine jener zusammengesetzten Naturen, die zu erziehen nicht leicht ist; die man nur erziehen kann, wenn man ein Verständnis für sie besitzt, und im anderen Falle besser sich selbst überläßt. Aber dazu wäre Herr Grandidier eben der rechte Mann gewesen – er und sein Rohrstock in der Ecke. »Er muß heraus, er muß heraus!« rief er nun. Aber er erreichte damit kaum etwas anderes, als daß es dem Knaben im Hause noch unleidlicher und auf der Straße noch wohler ward. Da suchte er Trost und Verständnis. Und da fand er auch beides. Die ganze Gegend am Wasser hatte ihn gern; er war mit allen bekannt und bei allen beliebt, sowohl bei den Schiffern, die mit ihren Kähnen dort bei den Schleusen vor Anker liegen, als bei den Trödlern am Mühlendamm, die mit alten Kleidern handeln. Allein das mißbilligte der Vater noch mehr. Es machte ihn zugleich verdrießlich und nachdenklich. »Ich muß jetzt wirklich ernsthaft daran gehen, etwas für die Erziehung meines Sohnes zu tun, bevor es zu spät wird;« und dann, nachdem er ihn in den Keller gesperrt – gewöhnlich denjenigen, in welchem die grün angelaufenen Fässer waren mit dem unausstehlichen Geruch – und nach verbüßter Strafzeit sich hatte Besserung von ihm geloben lassen, nahm er ihn an die Hand und sagte: »Nun komm, jetzt will ich dich auf den rechten Weg führen!« 23