Julius Rodenberg
Die Grandidiers
Julius Rodenberg

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Nachricht von Helene

»Es ist gut, daß ihr kommt,« rief Glöcklin den beiden entgegen; »es wäre zuviel für mich allein gewesen.«

»Was hast du?« fragte Grandidier, indem er besorgt in des Freundes Antlitz schaute.

»Nachricht von Helene!« erwiderte dieser und reichte dem Freunde ein Blatt, welches neben ihm auf dem Tisch gelegen hatte. Dann ließ er sich wieder auf seinem Stuhl nieder, und die beiden anderen lasen die folgenden Worte eines aus Wendenheim an Glöcklin gerichteten Telegramms:

»Eduard Grandidier beauftragt mich, als ganz sicher mitzuteilen, daß Helene mit ihrem Knaben sich in Straßburg befindet. Brief mit der nächsten Post.«

Unterzeichnet war das Telegramm mit einem deutschen Namen, welchen Herr Grandidier nicht kannte.

»Wer ist der Absender?« fragte er.

386 »Ein Pfarrer aus der Umgegend von Straßburg; ein braver Mann, bei dem ich manchmal an Sonntagnachmittagen mit den Kindern gewesen bin. Er hat sie heranwachsen sehen und immer sehr liebgehabt. Ich erinnere mich noch wohl, wie er Helenen oft gesagt hat, indem er ihr blondes Haar sanft streichelte: »Nicht so heftig, liebes Kind, nicht so heftig! Man kommt mit Gelindigkeit eher an das Ziel!« – Ach, ihr ist ein anderes Ziel bestimmt gewesen, und ich fürchte, sie hat es erreicht.« Er holte mit einem tiefen Seufzer Atem.

»Aber du solltest dich freuen, Glöcklin; und diese Nachricht sollte dich froh stimmen, nicht kleinmütig! Du hast seit Wochen keinen anderen Wunsch gehabt, als aus der fürchterlichen Ungewißheit erlöst zu werden. Selbst die Kunde von ihrem Tode würde dir vielleicht weniger schrecklich gewesen sein als diese beständige Qual. Nun hörst du, daß sie lebt, und hast kein Wort?«

»Es erstirbt mir auf den Lippen. Wenn ich an das Unsagbare denke, von welchem das unglückliche Straßburg getroffen worden ist, welches Wort der Hoffnung oder der Freude könnte ich dann noch haben? Und sie mitten darin – meine Tochter und mein Enkel! Wenn es mir schon das Herz zerrissen, Tag um Tag von dem Entsetzlichen zu lesen, von den fürchterlichen Geschossen, welche die Bewohner der Stadt getötet oder verstümmelt, von den Feuersbrünsten, welche ihre herrlichsten Gebäude zerstört haben, was soll ich nun sagen, daß mein Kind alles mit erlebt, alles mit erlitten hat? Wahrlich, jetzt verstehe ich sie! Sie hat nicht unsere Sicherheit teilen wollen, sie hat sich dahin begeben, wo jetzt das Herz jedes Straßburgers ist, und sie wird den Fall Straßburgs nicht überleben. Ich kenne sie. Ich habe sie wiedergefunden, aber nur, um sie zu verlieren, und jetzt auf immer. Das Unglück Frankreichs wird sie töten. Nein, Grandidier, du hast nicht recht gehabt; jener Zustand der Ungewißheit, mit deren Qualen ich meine Nächte genährt, war doch besser als diese Gewißheit.«

»Erwarte doch zuvor, was jener Brief bringen wird,« sagte Herr Grandidier.

»Nein, nicht warten,« rief Fritz Scharf, »es gibt keinen schlechteren Trost als warten; setzen Sie sich vielmehr vor, zu handeln. Soll ich Ihnen einen Vorschlag machen? Wir, Herr Grandidier und ich, treten in wenigen Tagen eine Fahrt 387 nach dem Elsaß an. Ich lade Sie ein, uns zu begleiten. Nach allem, was man vernimmt, kann der Zeitpunkt der Übergabe nicht mehr ferne sein, die Stunde der Erlösung muß für Straßburg bald schlagen, und dann sind Sie in der Nähe und können selbst sehen, was Sie zu tun vermögen.«

Ein stummer, dankbarer Blick Glöcklins sagte Herrn Scharf, daß sein Anerbieten angenommen worden sei, und nach mehreren Tagen, während die Vorbereitungen zu der Abreise betrieben wurden, viel zu langsam für die Ungeduld des Herrn Grandidier, kam endlich auch der Brief des Pfarrers, auf seinem Wege mannigfach aufgehalten und auf Umwegen befördert.

Er enthielt folgendes:

Der Pfarrer gab sich zunächst als den Landsmann und Freund zu erkennen, welchen Glöcklin sogleich in ihm vermutet. Unermüdlich tätig in der Krankenpflege seines Sprengels, hatte er auch Eduard Grandidier besucht, sobald dieser, schwer verletzt, in das Dorf gebracht worden war, und ihn alsdann in sein eigenes Haus genommen. Der Kranke phantasierte heftig, und häufig kehrte in seinen Fieberreden ein arabischer Name wieder und der Name eines Ortes, welcher, soviel der Pfarrer ausmachen konnte, auf eine der französischen Niederlassungen in Algerien hinwies. Anderen Tages trat ein lichter Moment ein, welchen der Pfarrer benützte, um vorsichtig nach den Wünschen des Leidenden zu fragen. Dieser teilte ihm mit, daß er in dem Handgemenge jenes Ausfalls auf dem St. Helenen-Kirchhof und kurz bevor er verwundet worden, einen französischen Soldaten in der Uniform eines Turkos wiedererkannt, dem er einst in einem algerischen Dorfe begegnet sei, und welcher nachmals durch eine höchst wunderbare Verkettung von Umständen eine Bedeutung für sein eigenes Leben gewonnen habe. Ihm liege alles daran, Näheres über diesen Mann zu erfahren; es handle sich hier um ein Rätsel, dessen Lösung entscheidend werden könne für das Glück vieler Menschen. Der Pfarrer erwiderte, daß soeben eine Deputation würdiger Männer aus der Schweiz eingetroffen sei, welchen ohne Zweifel seitens des deutschen Höchstkommandierenden die Erlaubnis erteilt werden würde, die schwergeprüfte Stadt unter sicherem Geleit zu besuchen, um ihren Bürgern persönlich die Sympathie der Eidgenossenschaft auszudrücken und 388 ihren Frauen, Greisen und Kindern ein Asyl anzubieten. Einen dieser trefflichen Männer, meinte der Pfarrer, dürfe man wohl bitten, Erkundigungen über den algerischen Soldaten einzuziehen, wenn es zur Beruhigung des Verwundeten diene. Und so geschah es. Aber merkwürdig und unerwartet waren die Nachrichten, welche aus der belagerten Stadt zurückkamen.

Von dem Pfarrer geführt, erschien einer jener freundlichen Herren an dem Lager des Kranken, um diesem, da sein Zustand es gestattete, selber mündlichen Bericht zu geben. Er sei nebst seinen anderen Freunden, die sich mit ihm zu dieser Mission vereinigt, zweimal in der Festung gewesen, sagte er, das eine Mal, um die Botschaft der Eidgenossen zu überbringen, das andere Mal, um die Listen derjenigen in Empfang zu nehmen, für welche freier Auszug erwirkt werden solle. Ein wunderbarer Unterschied in dem Aussehen der Stadt zwischen dem ersten und dem zweiten Besuch sei sogleich zu bemerken gewesen. Sie sah weniger trüb, weniger niedergeschlagen, weniger hoffnungslos aus; es sei gewesen, wie wenn ein Sonnenschein darüber hingegangen wäre. Dreifarbige Fahnen hingen von den Häusern herab – die Botschaft aus Paris vom 4. September war endlich auch hierher gedrungen, und gestern war die Republik erklärt worden. Sogleich sei ein gemeiner Soldat aus den Reihen der von Wörth noch übriggebliebenen und nach Straßburg hereingeflüchteten Turkos hervorgetreten und habe gesagt, er verlange ein Kriegsgericht, er sei ein geflüchteter Sträfling des Kaiserreichs und habe sich jahrelang unter angenommenem Namen verborgen. Die Sehnsucht nach dem Vaterlande habe ihm in der Fremde keine Ruhe gegönnt; er habe wenigstens da sein wollen, wo die französische Fahne wehe, und daher, immer unter fremdem Namen und in fremder Tracht, in einem fernen Winkel Algeriens seine Tage verbracht. Da sei der Ruf des Vaterlandes, beim Beginn des Krieges mit Deutschland, auch zu ihm gedrungen, und da habe er sich, auf jede Gefahr hin, mit vielen Eingeborenen seines Bezirks zum Dienste gegen den Feind gemeldet. Jetzt endlich sei das Kaiserreich erlegen, und der Republik schulde er die Wahrheit. Er heiße nicht Ben Sadun, sein Name sei Alfons Grandidier; er sei kaiserlicher Beamter gewesen und wegen Kassendiebstahls zum Bagno verurteilt 389 worden. Es sei ihm zwar geglückt, nach halbverbüßter Strafzeit zu entkommen und unerkannt zu bleiben; aber er stelle sich jetzt und bitte um Gnade. Ein Kriegsgericht ward berufen, und vor demselben erschien Alfons Grandidier. Er erzählte die ganze Begebenheit, wie sie sich zugetragen, und verschwieg nichts, weder seine Veruntreuung, noch den Beweggrund derselben, noch die Handlungsweise des Mannes, der sich nachmals als kaiserlichen Agenten entlarvte und ihn und seine Freunde verriet. Das Kriegsgericht prüfte den Fall und entschied: in Anbetracht des Umstandes, daß er die veruntreute Summe nicht in eigenem Nutzen verwandt habe, daß er sie zu ersetzen beabsichtigt und daß sie wirklich ersetzt worden sei, in Anbetracht ferner des Umstandes, daß seine Strafzeit zur Hälfte verbüßt, daß er inzwischen dem Vaterlande vor dem Feinde mit Auszeichnung gedient und sich hierauf selber gestellt habe, solle Gnade vor Recht ergehen, der Rest der Strafzeit ihm erlassen und Alfons Grandidier, unter Zuerkennung der Ehrenrechte, wieder frei sein. –

Der Freigesprochene war kein anderer als der Turko, nach welchen auf Eduard Grandidiers Ersuchen der Schweizer Deputierte sich erkundigt hatte. Er wünschte denselben zu sehen, und es war nicht schwer, ihn ausfindig zu machen. Er hatte die Nacht Dienst auf den Wällen gehabt und war eben abgelöst worden. Mit Staub bedeckt und das Gesicht von Pulverrauch geschwärzt, erschien er vor dem wohlwollenden Manne, welcher sich seines Auftrags gegen ihn entledigte. Der Soldat ward sehr bewegt davon und sagte, daß eine Person in Straßburg sei, von welcher zu hören den deutschen Offizier und vielleicht noch manchen anderen sehr erfreuen werde, und wenn der Herr die Güte haben wolle, ihm zu folgen, so werde er ihn dahin führen. Der Schweizer, welchen die näheren Umstände dieser Sache lebhaft interessierten, willigte ein und ging mit dem Turko durch mehrere Gassen und Gäßchen, zuweilen über Schutthaufen fortkletternd, bis zu einem Hause, der Berichterstatter meinte, in der Nähe des zerstörten Temple neuf und dicht an der Münstergasse. –

»Es ist mein Haus!« rief Glöcklin; und eine Pause folgte, bis man weiterlas.

Das Haus war zerschossen, gleich allen in der Nachbarschaft, und die Bewohner desselben hatten sich in den Keller geflüchtet. In diesen traten die beiden, und sogleich erhob 390 sich ein junges Weib, deren Antlitz beim Scheine der Lampe, die vom Kellergewölbe herabhing, geisterhaft bleich aussah. Doch ein Schimmer der Freude glitt über dasselbe, als sie den Soldaten gewahrte. »Liebe Helene,« sagte er, »hier ist ein Herr, welcher Nachrichten aus der Welt bringt, und er wird heute noch Eduard Grandidier wiedersehen.« Die Frau wich zurück, und ihr Gesicht verriet, daß die Nennung dieses Namens keine freudigen Erinnerungen in ihr erweckt habe. – »Wie hat George die Nacht zugebracht?« fragte der Soldat. Sie ergriff seine Hand und führte ihn zu einem Lager, tiefer in den Keller hinein, fast an das äußerste Ende desselben, wohin kein Luftzug von der Straße mehr dringen konnte. Der fremde Herr folgte, und nun zum erstenmal fiel es ihm auf, wie schwül, schlecht und ungesund die Luft in diesem Keller sei. Helene lächelte trüb. »Ach,« sagte sie, »bei Tage, wenn wir die Türe ein wenig geöffnet halten können, dann sind wir ganz zufrieden. Aber bei Nacht, wenn wir eingeschlossen sitzen, wenn der Keller überfüllt ist, wenn die Bomben über uns herniederfahren, krachen und zerplatzen und das Mauerwerk zermalmen, als ob es uns lebendig begraben wolle, wenn Minute nach Minute vorüberschleicht und die Nacht nicht enden will und der Kleine verschmachtend nach einer Labung schreit, die ich ihm nicht reichen kann, dann, mein Herr, sollte einer jener deutschen Helden und Fürsten hier unten sein . . .« Ihr Gemahl verwies es ihr, in einem solchen Tone zu reden; der Herr sei hier in einer Mission, deren Gelingen zum größten Teil von dem guten Willen der deutschen Heerführer abhänge; der Anstand und die Klugheit erfordere, daß man ihm seine schwere Aufgabe nicht noch schwerer mache.

Der Knabe, nach welchem Alfons gefragt, lag in einem fieberhaften Schlummer, und doch leuchteten die Augen des Vaters, als er seiner wieder ansichtig ward. »Ach, mein Herr,« sagte er, »das Gesicht dieses Kindes schwebte mir vor in den Jahren meines Elends und meiner Verbannung; und zu denken, daß ich ihn nun wieder habe! Sei ruhig, Helene, wir werden ihn behalten. Der erste frische Hauch der freien Luft, der erste Strahl der Sonne wird ihn wiederherstellen.«

Die Frau sah mit einem Ausdruck unendlicher Dankbarkeit zu ihm auf.

391 »Wenn du nicht wärest, Alfons, er lebte nicht mehr! Sie müssen wissen, mein Herr,« wandte sie sich an den Fremden, »fast das einzige, was diesen Knaben noch erhalten kann, ist Milch, und Milch in dieser Stadt – wo wäre die noch zu haben? Zwar hat die Munizipalität angeordnet, daß die Bürger Straßburgs sich im Genusse der Milch beschränken und was davon erübrigt werde, in die nächstgelegene Apotheke senden sollen, wo der Vorrat auf ärztliche Vorschrift an die Bedürftigen verabreicht wird. Aber bei der außerordentlichen Sterblichkeit der Kinder ist der Andrang ungeheuer, und dann die unsägliche Gefahr, mit der man unter dem Kugelregen von einer Straße zur anderen gelangt! Es ist jedesmal ein Gang auf Leben und Tod. Man muß sich dicht an den Häusern halten, den Augenblick zwischen einem Geschoß und dem anderen abpassen, sich niederducken, wieder aufspringen, um einen Schritt weiter zu tun, immer ängstlich ausblickend, ob nicht neues Unheil droht. Aber noch niemals, an keinem Morgen, hat es Alfons an einem Trunk Milch für den Knaben fehlen lassen.« Unvermerkt hatte der Soldat, während Helene sprach, ein Fläschchen, nicht viel größer als ein Medizinfläschchen, aus der Brusttasche genommen, in welcher er es bisher mit äußerster Vorsicht verborgen gehalten, und auf den kleinen Tisch neben dem Bette des Knaben gestellt. Die Nähe des ersehnten Getränkes oder der Geruch desselben schien den Knaben zu erwecken; er öffnete die Augen, wandte den Kopf und streckte die Hände verlangend aus. Die Mutter hob ihn ein wenig in die Höhe, seine Lippen brannten, er konnte, von Durst gequält, den Augenblick nicht erwarten und versuchte mit der letzten Kraft, welche die Krankheit ihm gelassen, die Flasche an sich zu ziehen. Aber die Mutter sagte begütigend: »Ruhig, Bübchen,« gab ihm mit äußerster Sparsamkeit zu trinken und zog das Fläschchen wieder fort, als er es etwa zur Hälfte geleert. »Es bricht mir das Herz,« sagte sie, »doch ich muß so tun. Es bliebe sonst nichts für den Rest des Tages und dann die lange, lange Nacht!« Der Knabe weinte, daß es einen Stein hätte erweichen mögen; aber die Mutter blieb unerbittlich – Gott weiß, was es sie gekostet haben mag! Endlich schlief der Knabe wieder ein, und Alfons, dem man es lange schon angemerkt hatte, daß er etwas auf dem Herzen habe, kam nun damit heraus. Er 392 fragte den Schweizer Herrn mit einiger Befangenheit, ob es nicht möglich sei, in die Zahl der Frauen und Kinder, welche aus der Festung entlassen werden sollten, auch seine Frau und sein Kind aufzunehmen. Da jedoch, ehe der Gefragte Zeit zur Überlegung oder zur Antwort finden konnte, erklärte Helene mit Entschiedenheit, daß sie niemals diesen Platz verlassen werde. Das Leben des Kindes sei in Gottes Hand; es müsse wohl sein Wille gewesen sein, diese grausame Heimsuchung über die Stadt und ihre Bewohner zu verhängen. Sein Wille geschehe; aber auch der ihre sei unabänderlich. Nur eines habe sie durch viele Jahre verlangt, wieder vereinigt zu werden mit ihrem Manne. Ein Krieg, der bereits unzählige Leichen aufgetürmt und eine Belagerung, von deren Greueln noch späte Geschlechter reden würden, hätten eintreten müssen, um diesen ihren letzten Wunsch ans Leben erfüllbar zu machen. Sie habe kein Recht, sich zu beklagen. Sie habe mitten im allgemeinen Verderben ihr Glück wiedergefunden, und sie werde sich niemals freiwillig von demselben trennen. »Oh,« sagte sie, und ordentlich ein Glanz ging über ihr abgehärmtes Gesicht, »welch ein Tag, jener Tag der großen Schlacht! Ich war erst vor kurzem in Straßburg angelangt, von einem Strome von Landleuten, welche sich und ihre Habe in die Festung flüchteten, gleichsam mit fortgeführt. Es war nicht mein bestimmter Gedanke gewesen, als ich Berlin verließ, mich nach Straßburg zu begeben. Allein kaum über der französischen Grenze, geriet ich zwischen die militärischen Massen, die von allen Seiten heranrückten; ich wäre vielleicht nach Paris gegangen, wenn die Möglichkeit gewesen; aber die Züge verkehrten nicht mehr regelmäßig, die Wege waren von militärischen Transporten, von Truppen, Pferden und Kanonen versperrt – ich mußte zurück und geriet nach Straßburg. Hier, bei dem gegenwärtigen Besitzer dieses Hauses, welches einst unser Haus gewesen ist, fand ich, trotz der Anzeichen des nahenden Sturmes, freundliche Aufnahme, und wir haben seitdem alle Leiden miteinander ertragen. Damals war der Stab Mac Mahons in dieser Stadt, und es war ein glänzendes, fröhliches Schauspiel in den Straßen, mit Musik und bunten, lustigen Uniformen. Plötzlich aber ward es still, alle Truppen waren fort, die große Schlacht ward geschlagen. Frankreich verhüllte sein Haupt in Trauer, aber für mich – oh, mein Herr, 393 werden Sie mich nicht verdammen, wenn ich es Ihnen sage? – für mich begann mit dieser fürchterlichen Niederlage ein neues Leben. Still war es an jenem Tage, bis zum Abend. Da auf einmal brauste ein Eisenbahnzug heran; er kam von Wörth, er brachte die ersten Flüchtlinge. Voll waren alle Wagen; ja noch auf den Dächern derselben saßen, auf den Trittbrettern standen, an den Griffen hingen sie, als der Zug sausend daherfuhr und unter der Halle hielt. Nicht lange, so kam ein zweiter Zug mit Verwundeten und Sterbenden. Der Generalmarsch wurde geschlagen, die Zugbrücken wurden heraufgezogen, die Häuser geschlossen – man glaubte, der Feind sei vor den Toren. Doch der Anblick, welchen der nächste Morgen uns zeigte, war fast noch schrecklicher als der des Feindes. Strahlend ging die Sommersonne über Straßburg auf. Die Tore wurden geöffnet, die Zugbrücken herabgelassen, und nun, vom frühen Morgen an, begann, um vor der Nacht nicht mehr zu enden, jener Rückzug der aufgelösten Armee. Erst einzeln, dann bandenweis, zu zehn, zu zwanzig, zu dreißig, dazwischen abermals Verwundete auf Bauernwagen, Kürassiere ohne Helm, ohne Sattel, ohne Waffen, herrenlose Pferde mit Schaum und Blut bedeckt, Artilleristen in zerrissenen Uniformen und endlich, in unabsehbarer Masse zusammengedrängt, die Reste aller Truppengattungen, die gestern bei Wörth gekämpft hatten. Alle Bewohner von Straßburg standen schweigend in den Straßen, und zwischen ihnen durch, ein langer Trauerzug, der nicht enden wollte, bewegte sich die Masse der Geschlagenen. Schon war es später Nachmittag geworden, und noch immer war kein Ende. Jetzt kam ein Trupp von ungefähr vierzig Turkos vorüber, und nun, als der eine von ihnen aufblickt, durchzuckt es mich plötzlich wie eine Ahnung, nein, wie eine Gewißheit, die nicht täuschen kann. Außer mir und ohne klar zu wissen, was ich tue, ergreife ich den Knaben, welcher neben mir steht, und halte ihn hoch empor. Der Soldat, der eine zerschossene Fahne in der Rechten hielt, ward mit jauchzendem Zuruf begrüßt; denn es war die einzige Fahne des Regimentes, welche gerettet worden war. Aber teilnahmlos, in pulvergeschwärztem Anzug, mit zerfetzter Schärpe, schritt er daher, zuerst den Knaben, dann mich ansehend. Nun aber erkenne ich, daß mein Herz mich nicht betrogen hatte. »Alfons!« rufe ich und will mich durch 394 das Spalier zu ihm hindurchdrängen. Aber sein Blick, indem er mir sagt, daß er es ist, scheint mir zugleich Schweigen zu gebieten, und so zieht er vorüber. Nun aber leidet es mich nicht länger an dieser Stelle, ich eile ihm nach, und immer der Fahne folgend, komme ich zuletzt auf den Kleberplatz. Hier erneut sich beim Anblick der Fahne der begeisterte Jubel, und tausend Stimmen begrüßen sie mit dem Zuruf: »Vive la France, vivent les Turcos!« Ein Oberst tritt vor, nimmt die Fahne aus der Hand des Turkos und schmückt sie mit einem Lorbeerkranz. Für alle, welche Zeugen dieser Szene gewesen sind, war es ein beseligender Moment unter so vieler Trauer; wie aber könnte ich sagen, was dieser Moment für mich gewesen! Es gelang mir bald, zu Alfons zu gelangen, und ich erfuhr vor allem, was ich wissen mußte: daß er unter dem angenommenen Namen Ben Sadun bei seiner Truppe diene. Nun ist mit dem Sturze des Kaiserreichs auch dieser letzte Rest von Unrecht und Schmach von ihm hinweggenommen worden, nun ist er wieder ganz mein, und mit ihm vereint habe ich wieder mein Vaterland! Nein, mein Herr, diese Stadt zu verlassen, wäre nicht nur Feigheit, es wäre Verrat. Hier will ich bleiben und hier das Ende erwarten.«

Dieses waren die Nachrichten, welche der Abgeordnete der Schweiz aus Straßburg mitbrachte und welche durch den Elsässer Pfarrer dem Freunde in Berlin, dem Vater Helenens, mitgeteilt wurden.

 


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