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Der Fürstin Tola Meschtscherski nacherzählt
Die Doppelpyramide des Ari-Dagh stach in den durchsichtig-grünen Himmel. Langsam schwammen leichte Wolken heran und zerflossen zu Nebelstreifen. Phönix, der Sonnenball stieg herab, um auf seinem riesigen Scheiterhaufen zu verbrennen.
Nur im Halbdunkel, im Nebel, der Himmel und Erde einte, wand sich ein silberheller Faden ostwärts, niedrig am Horizont. Was wars? Man konnte es nicht erkennen – bis sich der Faden zu einem Band verbreiterte, einer metallnen, klirrenden Kette – und ein Sturzbach wurde, ein lichter Strom, der sich tosend über die Schattenrisse der Gipfel ergoß; der Lärm von hunderttausend frohlockenden Stimmen, der Schrei des Siegestaumels, der unermeßliche Jubel einer triumphierenden Armee:
»La Illahu il-le-lah! – Ruhm und Ehre sei Allah!«
Zehntausend Lanzenspitzen, ein Ährenfeld von Stahl, ein Wald von Picken, Schwertern, hohen, messingenen Sattelbogen. Die Kupferschilde funkeln, die Reiherbüsche leuchten von schneeweißen Turbanscharen. Und die Standarten flattern hart, die Säbel klappern. Wiehernde Pferde – schmetternde Trompeten – der dumpfe Gong mischt sich in die Tschinellenschläge, ins wüste Kreischen der Karamanier.
Es ist die barbarische Musik von Legionen, die freudetrunken ihren Sieg über Israel in alle vier Winde heulen, und das Echo der Berge rollt von Schlucht zu Schlucht: »La Illahu il-le-lah!«
Drüben auf den Hängen ist der Boden wild durchlöchert von alten Wunden, aus denen Naphtha blutete, gefurcht von brandroten Narben, besät mit Schlacken und Asche. Ein paar dürre Palmen einsam rundum, wie hingespießt. Abseits, auf dem kurzen, trockenen Gras liegt ein bleicher Haufe von Leichen, ein erschütterndes, unwahrscheinliches, unlösbares Durcheinander, nackt und schön, vom Tod gemeißelt – stumme Körper Israels – die ungeheure Ernte, niedergemäht bis auf den letzten Mann in der letzten Schanze – und Jehovah hatte ihnen grenzenlose Dauer verbürgt … In den stummen, offenen Augen blitzt tausendmal der Vorwurf zu den Sternen – aus dem Elfenbein der kalten Glieder sickert reiches, schwarzes, geronnenes Blut.
Am Zugafluß sind die Grabhügel vorweltlicher Riesen hingestreut – Basaltblöcke, die sich zu Wällen formen. Da sammeln sich Wolken von Geiern. Ihre Augen glühen in der Tiefe der schweigsamen Nacht.
Das ist das Totenfeld. Diese stumme Menge schreit lauter als das Leben. Das ist das Feld der Niederlage – ruhig liegt es unter dem Hohngelächter des trunkenen Islams.
Der Ruf des Muesins schrillt durch den duftenden Nebel und mahnt die Gläubigen zum Gebet. Wellen gleich schwillt es durch die prunkvollen, in kriegerischer Symmetrie gereihten Völker.
Auf einem Fuchs mit langer, wehender Mähne thront an der Spitze seiner Reiter Sultan Muhammed Akbar – jung, schlank, ein priesterlicher Ephebe. Sein Turban sternbesät, ein Halbmond darauf von Edelsteinen.
Der Sultan macht plötzlich kehrt – dem Heer zu – da wird es still. Staunend und zitternd sehen sie das grade Profil, die regungslosen Züge des Bassuriden, die braunsamtige Haut, die kirschroten, vollen Lippen und den bläulichen Schattenbogen darüber; die langgeschlitzten Augen mit dem magnetischen Blick, der aus den dichtesten Wimpern kommt, wie hervorgepreßt von zwei antimonverbundenen Brauen. Das Kinn mit dem Grübchen, die übermenschliche Ruhe auf dem Hurigesicht – sie heben noch die unbewegte Grausamkeit des Ausdruckes.
Und der Träger dieses unbewegten Götzen, der Hengst aus Karabasch, schlägt den Boden mit seinen silberbeschlagenen Hufen in hoheitsvollem Rhythmus. Er senkt den stolz gezäumten Kopf – Sklave der feinen, weiblichen Hand im Stahlhandschuh, die da, glänzend von Ringen, lässig auf dem goldnen Sattelbogen liegt – und die Mähne, wie eine Harfe, breitet sich über ein edelsteingeschmücktes Hauptgestell.
Das Heer und der Sultan stehen einander genüber in stummer Erwartung.
Muhammed der Große, der Junge, zückt den Säbel. Blaue Funken schießen durch die Dunkelheit.
Er hebt die Klinge langsam.
Der Sultan wird sprechen.
Da hört man wirres Gemurmel, als fiele Regen aufs Heidegras. Das Heidegras knistert von tausend leichten Schritten. Scharen von Frauen eilen herbei.
Sie sind mit weißem Musselin verschleiert, die Schleier wehen über schwarzen Kleidern, offenen Hemden.
Tausend flatternde Schleier, schwarze Gewänder wimmeln um den Hengst von Karabasch – tausend Frauen werfen sich zu Boden, und ihre Klagen umgeben den Sultan, ein Horizont der Qual.
Immer neue strömen herbei, immer neue klagende Frauen. Zu den Füßen des goldnen Götzen staut sich ein gespenstisches Volk von Witwen, Müttern, Bräuten, von einem bösen Geist besessen – vom Sturm des Leids wie Blätter hergeweht.
Die Menge heult um die Flanken des Hengstes. Muhammed Akbars Augen sind durchsichtig wie Glas, schrankenlos mächtig, unbewegt – ohne Erstaunen, ohne Mitleid, ohne Widerwillen.
Dieses eine Heulen ist das Seufzen von Tausenden, ein fernes Echo jenes Brüllens sieghafter Löwen.
Der Sultan fragt:
»Was wollt ihr von mir?«
Und die Frauen rufen:
»Laß uns die Toten begraben!«
»Geier wetzen die Schnäbel, Wölfe blecken die Zähne.«
Die Frauen schreien:
»Laß uns die Toten begraben!«
Und der Sultan:
»Ich habe gesprochen.«
Da tritt eine Greisin vor. Siebzig Jahre haben ihre königliche Haltung nicht gebeugt.
»Herr, der Gott Jakobs hat unserm Geschlecht Dauer gelobt bis zum Ende der Erde. Hier liegen unsre Männer hingemetzelt. Und ich weiß das Schicksal der Gefangenen: unsre Töchter sind schön – morgen wird jede ihren Herrn kennen. Ihre Reinheit wird beschimpft sein. Das Wort des lebendigen Gottes sinkt heute nacht ins Grab. Muhammed Akbar, laß uns die Toten bestatten – oder sei dreimal verflucht und mit dir die Frauen, die deine Liebe befruchtet – verflucht die Kinder ins zehnte Geschlecht, bis zur Vertilgung des Islams!«
Der Sultan hat den Redeschwall gehört, und keine Miene bebt in seinem reinen, hoheitsvollen Antlitz.
Da richtet sich langsam eine Frau empor, die mit den andern auf dem Boden gelegen hat. Schlägt den Schleier zurück von ihren schönen, runden Armen – von ihrer Stirn fallen dicke, perldurchflochtne Zöpfe auf ein goldgesticktes, schwellendes Hemd.
Sie blickt den Sultan an; mit ernsten, sichern Augen. Ein wortloser Zweikampf zweier Herrscherwillen.
Seine Lippen zucken nicht. Doch die Seele der Jüdin tritt in die Seele Muhammed Akbars ein und zwingt sie nieder.
Der Sultan wendet sich ab und murmelt zu den leidenschaftlich wartenden, gedrängten Frauen:
»Im Namen Allahs, des Allgewaltigen, Allerbarmers! Geht! Die Morgensonne soll nicht durch den Anblick der Leichname beleidigt werden.«‹
Es ist wie gesprengter Druck – ein Hasten, Rennen und Stoßen – und die Sandalen trappeln auf dem Felsboden, als hüpften Herden von Ziegen davon – dahin, wo die Leichen der Männer in schrecklichem Schlummer ruhen.
Der Sultan sieht den Weibern nach – mürrisch, vom Haschisch einer unheimlichen Macht betäubt – steigt langsam vom Pferd und wendet sich nach seinem Zelt.
Die Hörner blasen zur Ruh; die stumme Meute der Krieger löst sich rasselnd und kläffend. Und es verkriechen sich Männer und Geräusche das Klirren der Waffen verhallt – das Wiehern der Pferde die zitternde Erde erstarrt.
Drüben aber auf dem Hang, im Mondlicht, flattern irre, helle Nachtfalter um gemähte Garben.
Die Nachtfalter huschen reihauf, reihab – bis ein wilder Jubelruf den toten Gatten findet, den Bräutigam, den Liebsten. Es schwindet und schrumpft diese unwiderruflich letzte Nacht –- und keine der Weinenden hat noch mit ihren schwachen Fingern das Werk begonnen der Barmherzigkeit gegen ihren armen Toten.
Plötzlich erhebt sich ein Wind – leise, groß und lau. Er weht die blutfeuchten Haare von den wächsernen Stirnen. Und wächst und schwillt und füllt mit Leben die todesstarren Glieder. Die Wangen röten sich – die Blicke glimmen, fangen an zu leuchten – es öffnen sich Arme, gierige Arme, stark von erwachter Kraft.
Zebaoth hat Erbarmen mit Israel gehabt. Seine Söhne kamen aus unbekannten Regionen wieder, aus dem Jenseits der Planetenkreise, den gähnenden Abgründen des Alls, kamen wieder – auferstanden zu entsetzlicher, erhabener Umarmung der Lust, um die Eide Jehovas zu erfüllen.
Da unter den mitleidigen Sternen ging ein Seufzen der Glückseligkeit, ein Schluchzen der Liebe übers Totenfeld,
Nur zwei Gestalten standen aufrecht, steinern, in diesem einzigen, weiten, heiligen Pfuhl: eine Greisin – sie hatte alles verloren,- und eine Frau, die lächelnd einem purpurroten Schicksal entgegenblickte – treulos und kühn, während sich ein zerschmetterter, wacher Mann in sehnsüchtigen Krämpfen zu ihren Füßen wand.
Die Morgenröte segnete Berg und Tal, und die Leichen lagen bleiern schwer in den Armen der weinenden Frauen.
Für eine Stunde nur, o Tod, war dir die Sense von Stahl entrissen, damit Israel das goldne Szepter des Lebens trage.