Rainer Maria Rilke
Von Kunst-Dingen
Rainer Maria Rilke

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Friedrich Huch Peter Michel (Dritte Besprechung)

März 1902; ersch. in: Bremer Tageblatt und General-Anzeiger, VI. Jg., Nr. 66, 19. März 1902

Aus dem naturalistischen Roman ist im Laufe der letzten Jahre der psychologische geworden. Es ist leicht zu sagen, wie das kam. Die genaue Betrachtung der Begebenheiten auf ihr Äußeres hin mußte bald an einer Grenze angelangt sein, an dem Punkte, wo sie nicht mehr übertroffen werden konnte. Hingegen mußte der aufmerksame Beobachter der Dinge bald das Bedürfnis fühlen, hinter den Erscheinungen die Zusammenhänge und Übergänge zu entdecken, welche diese erklären und rechtfertigen sollten. Da zeigte es sich aber sofort, daß das ungeheure Gebiet dieser inneren Welt, in welcher alle Ursachen der äußeren zu suchen waren, so neu und vielfältig und unübersehbar war, daß der einzelne, der es mit der gründlichen Methode, die der Naturalismus gelehrt hat, erforschen wollte, sich, wollte er überhaupt etwas leisten, auf einen kleinen Teil dieses Gebietes beschränken und diesen wie eine Fachwissenschaft erobern mußte.

Der psychologische Roman, der aus solchen Bestrebungen entstand, erwies sich demgemäß immer als die Arbeit eines mehr oder weniger erfahrenen Spezialisten; er war einseitig, und nicht selten wirkte er gerade mit seiner eigensinnigen Einseitigkeit überraschend und blendend, etwa wie auch die Enthüllungen eines Augenarztes auf Leser, die nicht Fachleute sind, unter Umständen blendend wirken können. Indessen, die Verwirrung, die durch diese Schreibweise entstand, wuchs, und wenn dieser also geartete psychologische Roman unter den einen allerhand Schaden gestiftet hat, so haben andere sich bald von ihm gelangweilt abgewandt; es zeigte sich, daß die Seele kein ›Fach‹ ist, das man von verschiedenen Seiten angreifen und studieren konnte, und daß die ganze Richtung, die sich dem Naturalismus gegenüber so sehr viel zugute tat, nichts anderes war als eben diese naturalistische Anschauungsweise, die nun nicht mehr auf äußere, sondern auf innere seelische Vorgänge angewendet wurde.

Diesen Zuständen konnte nur ein Dichter ein Ende machen, der, weniger bewußt und weniger analytisch, Seele und Außenwelt wieder ungesondert sah und der, weit davon entfernt, trennen zu wollen, was des einen oder des anderen ist, seine Aufgabe darin fand, diese beiden sich ergänzenden Elemente des Lebens gerade in ihrem fortwährenden Verflochtensein möglichst gewissenhaft und einfach darzustellen.

Dieser Dichter, auf den viele gewartet haben, ist erschienen. Er heißt Friedrich Huch, und das Buch, welches bestätigt, daß er der ist, als den ich ihn begrüße, hat er ›Peter Michel‹ genannt. Es ist kürzlich bei Alfred Janßen in Hamburg (wo der Dichter lebt) erschienen. Ich habe es schon an mehreren Stellen angemeldet, und ich möchte es immer wieder tun, denn man kann gar nicht oft und gar nicht eindringlich genug von diesem Buche reden, das einen Fortschritt bedeutet über alles hinaus, was in den letzten Jahren geschrieben worden ist. Worin dieser Fortschritt liegt, das habe ich bereits oben anzudeuten versucht.

Nach den tausend Büchern voll Analyse und Vivisektion, die wir gelesen haben, kommt da endlich ein Werk, das das Leben wieder als Ganzes sieht, und zwar nicht nur an seinen Höhepunkten; auch in seinen Einfältigkeiten und Alltagen ist diese Einheit, ist das ganze Leben, und das macht, daß auch diese irgendwie reich und wichtig und rührend werden. Um keinen großen Stoff sind hier die Ereignisse gruppiert, eines löst das andere ab, fast zufällig scheint dies und jenes zusammenzutreffen. Aber dieser Zufall, der das Geschehene beherrscht, ist nichts anderes als ein Gesetz, das nirgends ausgesprochen ist, weil der Dichter fühlte, daß man es nicht aussprechen kann, ohne ihm zugleich Unrecht zu tun. Da ist nichts von einer Überlegenheit des Schriftstellers zu merken. Er giebt sich vielmehr als ein gewissenhafter Chronist, der aufzeichnet, was er sah, der gleichsam mit dem Datum des Tages die Begebenheiten aneinanderreiht, ohne von sich etwas hinzuzufügen, als was von selbst hineinkommt durch die ungewöhnlich sichere Art seines Schauens und die seltene Gabe, das Geschaute einfach und unvergeßlich zu sagen.

Es erübrigte nun, etwas näher auf den Stoff einzugehen. Ich muß es mir versagen; denn dieser Stoff ist an sich weder interessant noch bedeutend. Er enthält keine Katastrophen, keine spannenden Verwicklungen und keine tödlichen Konflikte, die man mit einem Namen bezeichnen kann. Seine Tragik scheint an allen Stellen gleich stark zu sein; er ist durchdrungen von ihr wie von dem Blute, das ihn lebendig macht. Man kann sie nirgends fassen, und doch ist sie überall nah unter der Oberfläche und leuchtet da und dort hindurch. Und auch die Darstellung ist so. Man könnte von ihr sagen, daß sie keine Höhepunkte hat, weil sie nur Höhepunkte enthält.


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