Rainer Maria Rilke
Von Kunst-Dingen
Rainer Maria Rilke

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Detlev von Liliencron ›Poggfred

Anfang Januar 1897; ersch. in: Deutsches Abendblatt, XII. Jg., Nr. 7, Prag, 11. Januar 1897

Das ist ein Wunderbuch. Wenn Du's Abend vor dem Schlafengehen müd und mürrisch für einen Augenblick in die Hand nimmst, gar nicht um seiner selbst willen, sondern nur um jenen Übergang vom Tag zum Traum leichter zu finden, so umkrallt es Dich in süßer Rache, und Du schließest es gewiß ungern mit glühender Wange und wachem, klarem Auge, wenn das fröstelnde Zimmer und die niedergebrannte Kerze und der nahe Morgen zu rascher Ruhe mahnen. – Ja, es ist kein Buch zum Einschlafen. Alles wird wach in Dir. Die große Hünenkraft, die in diese Zeilen gepreßt ist, ringt sich daraus empor und beseelt die tausend Gestalten der Erinnerung und des Traumes, die den holsteinischen Dichterbaron in seinem Schlößchen ›Poggfred‹ (Froschfriede zu deutsch) aufsuchen. Keine schemenblassen, wesenlosen Bilder ziehen an Dir vorüber; Du machst eine Seelenwanderung durch; denn Dein Geist folgt dem gebietenden Dichter durch alle Erlebnisse miterlebend, mitbangend, mitjubelnd. Du wanderst mit ihm durch Holsteins heimatliche Heiden, durch das kommerzfrohe Hamburg, das wimmelnde, flimmernde Paris durch tausend selige, klingende Wunderwelten. – Kichernd und scherzend flattern kleine Liebesgötter aus dem Stanzenfüllhorn, und dort schmettert wieder eine eherne Oktave Kriegsfanfarenton. Und ein Schlachtbild entrollt sich in blutroter Pracht. Er hat's ja erlebt anno 1870; und Lieutenant Detlev Freiherr von Liliencron steht ruhmvoll in der Regimentsgeschichte. Und ebenso ruhmvoll wie in dem kleinen Gedenkhefte des Posenschen Regiments steht der Name Liliencron in einer anderen großen Geschichte, wo weder der Freiherr gilt, noch der Hauptmann, sondern der große Mensch und der große Dichter. Und für diese beiden Eigenschaften enthält gerade ›Poggfred‹ glänzende Beweise. Alle Saiten des Liliencronschen Herzens klingen, und das giebt Akkorde: so rein, so voll, so versöhnend. Auf das wirre Kunterbunt der 12 Cantusse folgt der Schlußgesang, einfach und groß wie ein weißer, sonniger, glockenstimmiger Weltenfeiertag:

Und meine Seele wird so klar und gut,
Unschuldig wie das Gras, worauf ich stehe;
Ruhig bewegt sich meine Herzensflut,
Versunken sind die vielen Ach und Wehe.
Mir wird so froh, so seltsam wohlgemut,
Als ob mir Überirdisches geschehe . . .

und dann:

Neid, Rache, Bosheit läutern sich in Reinheit.
Den Menschen, wie sie schütteln Gift und Speer,
Vergebe ich, vergesse die Gemeinheit.

Ist das nicht groß? An ihn aber, den großen Aristokraten der Seele, ist jetzt das nüchterne Leben mit all seinen kleinlichen Sorgen und Qualen herangeschlichen, und während Tausende in ganz Deutschland an dem berauschenden Gefühl sich erheben, daß sie wieder einen Dichter haben, und jubelnden Herzens die flammenden Verse trinken, nimmt die Not den Griffel aus der immer noch jugendstarken Hand des Fünfzigjährigen. Da darf kein Deutscher zusehen. In dieser Überzeugung habe ich mich an den deutschen Dilettantenverein gewandt, durch dessen liebenswürdiges Entgegenkommen es mir ermöglicht ist, Mittwoch, den 13. d. M. um ½8 Uhr abends einen Liliencron-Vortragsabend zu veranstalten. Möge der gute Zweck für sich selber reden.


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