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(Fortsetzung.)
Es war der » Schielende« …
Tapfer und dabei wohlbewaffnet, wie Simone Moretto es war, hätte er unter anderen Umständen sich keinen Moment besonnen, auf den schleichenden Strolch Jagd zu machen; hier aber hielt ihn eine zwiefache Erwägung zurück. Eine Verfolgung des Burschen, der so wie so schon im Vorsprung war, bot in diesem Gewirr von Dornen und Ranken keine besondere Aussicht auf Erfolg, andererseits aber ließ sich kaum bezweifeln, daß der Vagabund sich auf eine Reserve von Spießgesellen stützte. Demzufolge erachtete es der Richter als nächstliegende Aufgabe, die bedrohten und wahrscheinlich ahnungslosen Insassen des einsamen Gehöftes unter seinen Schutz zu stellen. Wie erzählt, hatte er durch einen Ruck an dem Glockenstrang seine Ankunft kundgegeben. Seinen Karabiner schußfertig im Arm haltend, ließ er jetzt nochmals durch die geisterhafte Stille des » Schlosses« – so hieß ja im Volksmund der halb ruinenartige Bau – die heisere Torglocke in kräftigem Schwung ertönen. Im Erdgeschoß des Gebäudes öffnete sich langsam eine Pforte, und eine weibliche Gestalt trat zur Hälfte hervor, um den so ungeduldig sich anmeldenden Gast prüfend zu mustern.
»Ich bin's, Petronilla, ich, Simone Moretto!« rief, um alle Zweifel zu verscheuchen, der Richter durch das Eisengitter des Tores der bedächtigen Pförtnerin entgegen. Der Zuruf schien denn auch ihr Mißtrauen zu beseitigen, denn dem unerwarteten Ankömmling zunickend, setzte sie ihre Beine in Bewegung, um, auf einen Krückstock gestützt, den wüst von Unkraut überwucherten Hof zu durchhinken. Für den Richter, der dieses groteske Menschengewächs schon seit Jahr und Tag kannte, hatte die Figur Petronillas nichts auffallendes mehr: einem Neuling dagegen wäre unwillkürlich der Gedanke an eine der Märchenhexen, die im Walde als Kinderfresserinnen hausen, durch den Kopf geschossen. Klein und klapperdürr, präsentierte sich die Alte in der traditionellen Frauentracht des Tavoliere, was Schnitt und Farbenzusammenstellung betrifft: der Schmutz, von dem Mieder und Röcke starrten, war eine Originalzugabe Petronillas. Kleine Triefaugen, ein weitgeschlitztes Froschmaul und wirr ineinander verfilztes graues Haar vervollständigten das Bild einer lebendigen Vogelscheuche. Und mit dem äußeren Futteral schien der innere Mensch in vollem Einklang zu stehen, denn weit entfernt, für den Gast einen freundlichen Willkommsgruß zu haben, beschränkte sie sich, beim Tore angelangt, auf den mürrisch-verdrossenen Ausruf: » Ecco, der kleine Simon!!«
»Mit Haut und Haaren!« lächelte der Richter in einer momentanen Regung des Humors … »Spute dich ein wenig, Petronilla!« mahnte er die Alte, die nicht ohne Mühe die wuchtigen Riegel zurückschob, die den Zugang wehrten. Ein Druck des kräftigen Mannes ließ den Torflügel sich kreischend in seinen rostigen Angeln drehen und sein Pferd am Zügel fassend, überschritt der Gast die unwirtliche Schwelle. Desto herzlicher waren die Honneurs, die ihm der Wolfshund bezeigte, denn gleichsam dankbar für die Unterbrechung seiner täglichen Langeweile sprang der Wächter mit freudigen Gebärden an dem ihm wohlbekannten Besucher in die Höhe.
»Na, na, alter Cerberus, wirf mich nur nicht um!« beschwichtigte der Richter die allzu stürmischen Huldigungen des treuen Tieres, dann reichte er der Alten die Hand.
»Wie geht's bei euch, Petronilla? was macht mein Oheim?«
» La ringrazio,« brummte die Alte mit einem höhnischen Kopfnicken: »seine Knochen halten immer noch soweit zusammen, um seinen Erben einstweilen ein Schnippchen zu schlagen.« Ihre kleinen Krötenaugen funkelten in boshaftem Behagen.
Ohne sich um die hämische Replik zu kümmern, verriegelte der Gast das Tor und führte, des Ortes kundig, sein Pferd in den öden, halbverfallenen Stall, der seitwärts im Hofe lag. Petronilla, unverständliche Worte vor sich hinkeifend, humpelte inzwischen nach dem Hause zurück, dem Ankömmling es überlassend, seinen eigenen Weg zu finden. Rasch zäumte der Richter seine Stute ab, schnallte den kleinen Mantelsack los und steckte die Sattelpistolen zu sich; dann wandte auch er sich der Türe zu, hinter der das alte Brummeisen verschwunden war.
Cerbero – so hatte der launige Neffe schon vor Jahren den Wolfshund getauft – war aus eigenem Pflichtgefühl auf seinem Torposten zurückgeblieben, um mit Nase, Augen und Ohren nochmals das Dickicht zu sondieren, aus dem das Galgengesicht des Schielenden hervorgelugt hatte. Noch eine Weile verfolgte der Richter die kontrollierende Umschau des feinspurigen Wächters, der aber nichts Verdächtiges mehr zu wittern schien, denn gemächlich trabte er nach dem mitten im Hofe stehenden Maulbeerbaum, um sich unter dessen Ästen ein schattiges Plätzchen zu suchen. Vorläufig beruhigt, trat der Gast in das Haus. Kein Laut scholl ihm entgegen, als er auf den abgenützten Stufen einer Steintreppe zu dem oberen Stockwerk emporstieg und in einen weiten Korridor gelangte, dessen hallenartiges Gewölbe sich mitten am Tage in ein dämmerndes Zwielicht verlor. Verräucherte Türen mündeten links und rechts in diesen Korridor, Simone Moretto aber, wie schon erwähnt, war hier kein Neuling, und mit kundiger Hand pochte er an der richtigen Stelle an.
» Entri!« rief eine Stimme, die in ein trockenes Hüsteln ausklang.
Mit einem letzten Schritt stand der Gast vor seinem Wirte – der Neffe vor seinem Oheim … Die altertümlich in Blei gefaßten Scheiben zweier vergitterter, schmaler Fenster erhellten ein geräumiges Gelaß, dessen Decke, wie draußen den Korridor, in Kreuzbögen gesprengt war. Die kahlen, einst weißgetünchten, jetzt graugelben Wände und der mit Ziegelsteinen ausgelegte Fußboden gaben dieser Räumlichkeit das frostig-herbe Gepräge einer Klosterzelle. Ein großes Kruzifix in einer Wandnische akzentuierte noch diesen Eindruck, den allerdings wieder verschiedene Schuß- und Hiebwaffen verwischten, die an einem Hakenbrett hingen. Ein paar altmodische Möbelstücke, ohne jede Symmetrie da und dorthin gerückt, vervollständigten das freudlose Bild. An dem großen, massiven Eichentisch, der sich an den Fensterpfeiler lehnte, saß ein hagerer, nahezu siebenzigjähriger Mann, der Herr und Gebieter dieser ungemütlichen Eulenburg, Signore Lorenzo, wie er im persönlichen Verkehr angeredet – » Il Avarone« (der Geizhals), wie er gemeinhin in der ganzen Umgegend genannt wurde.
Gleich beim ersten Hinblick hätte einem Bilderkundigen die Frage durch den Kopf schießen müssen, welches historische Porträt es wohl sei, an das die Physiognomie dieses Greises in frappantester Weise erinnerte! Hier wie dort eine hohe, schmale Stirne, von Gedanken und Leidenschaften zerfurcht und von ein paar dünnen, weißen Haarlöckchen überschattet; hier wie dort zwei große, dunkle Augen, die unter buschigen Brauen regungslos wie in einem Hinterhalt lagen, um dann im gegebenen Moment mit der Schnelligkeit und der zermalmenden Wucht des Blitzes hervorzubrechen: hier wie dort die schmale, scharfgekrümmte Nase und der kleine Mund mit den einwärts gekniffenen Lippen, was dem bleichen, fleischlosen Gesichte den letzten Pinselstrich finsterer Strenge gab. Nicht einmal das Samtkäppchen fehlte bei diesem bizarren Dacapo der schaffenden Natur. Nur die Farbe war eine verschiedene: bei Signore Lorenzo schwarz, leuchtet in der bildlichen Überlieferung seines Doppelgängers das Käppchen purpurrot, denn dieser historische andere heißt Kardinal Richelieu …
Hier brach die Parallele ab, denn in seiner Tracht gehörte Signore Lorenzo seinem Jahrhundert und seiner Lokalität an. Der Engländer hat einen sehr glücklichen Ausdruck, um eine Toilette zu klassifizieren, die sich nach Qualität und Ansehen zwischen den Wendekreisen »Anständig« und »Fadenscheinig« balanziert. John Bull nennt diesen Äquator: Shabby-genteel – zu Deutsch etwa: »Schäbig-Ehrbar« … Die Kniehose von olivengrünem Samt, die schwarzen Strümpfe, die Schuhe mit silbernen Schnallen, der braune, altmodische Rock, der die lange, hagere Figur des Schloßherrn einhüllte – die ganze Garderobe schillerte eben in dem kritischen Zwielicht des Schäbig-Ehrbaren.
Der Richter hatte seinen Oheim beim Frühstück überrascht, dessen magere Ingredienzen durchaus mit der Frugalität des alten Harpagons harmonierten. Ohne sich aus seinem Sessel zu erheben, beantwortete Signore Lorenzo den kordialen Gruß seines Neffen mit einem kurzen Kopfnicken, dann streckte er den Arm aus, um die dargebotene Hand Simons mit einem kühlen Druck seiner knochigen Finger abzufertigen. Petronilla, die würdige Haushälterin dieses mürrischen Greises, machte sich im Hintergrund des Zimmers zu schaffen; ein Zuruf des Gebieters zitierte sie vor sein Angesicht. Er deutete mit der Spitze seines Tischmessers nach dem Gaste und hüstelte: »Er wird Hunger und Durst mitgebracht haben! Sorge für einen Teller und ein Glas.«
»Besten Dank, Onkel!« erklärte der Richter: »ich habe bereits gefrühstückt.«
»Du hast schon gefrühstückt?« fragte der Alte zurück: »wo? bei wem?«
»Bei Taddeo Martini, dem Hofpächter von Il Prugnolo, wo ich auch infolge eines kleinen Reiseabenteuers übernachten mußte.« Der Richter machte eine bedeutsame Handbewegung gegen die Wirtschafterin hin, die ihm gerade den Rücken zukehrte. Signore Lorenzo verstand den Wink, denn ohne eine weitere Frage zu stellen, sagte er: »Nun, für einen Schluck Wein wirst du immer noch Platz in deinem Magen haben! Petronilla, bring' ein Glas herbei.«
Die Alte humpelte nach einem Wandschrank, um den Befehl zu vollziehen. »Und jetzt, Petronilla, gehe bis auf weiteres in deine Kammer!« gebot der Schloßherr: »ich habe mit Simon ein paar Worte zu reden.« Ein diktatorischer Blick verschärfte die Verbannungsorder. Mit der Miene eines Mopses, der sich nur knurrend aus seiner Ecke wegjagen läßt, hinkte die Alte aus der Stube und schlug die Türe hinter sich zu. Signore Lorenzo und sein Gast waren mit den Launen und Gepflogenheiten der störrigen Kreatur allzu vertraut, um sich noch weiter daran zu kehren; beide wußten auch, was jetzt den alten Drachen speziell pikierte.
Petronilla war nämlich halbtaub, und dadurch entfiel ihr das kostbare Hilfsmittel aller dienstbaren Geister: das Horchen am Schlüsselloch.
Der Richter hatte seinem Oheim gegenüber Platz genommen.
»Zunächst eine Frage!« leitete er seine Eröffnung ein: »Hat in den letzten Tagen irgendeine fremde Person unter irgendeinem Vorwand Einlaß bei euch gesucht? Hast du, oder hat Petronilla überhaupt irgendeine verdächtige Erscheinung in der Nähe wahrgenommen?«
Der hochernste Ton des jungen Beamten machte auf den Greis einen sichtlichen Eindruck, unwillkürlich ließ er die Hand sinken, die soeben nach dem Glase langen wollte. »Sprich, Junge, was bedeutet deine sonderbare Frage?«
»Beantworte sie mir zunächst, Onkel,« gab der Richter zurück.
»Ich habe nichts gesehen oder gehört,« erklärte der Alte: »Petronilla jedenfalls auch nicht, denn sonst hätte sie mir Mitteilung davon gemacht … Aber sprich, Simon, was ist geschehen? was ist dir zugestoßen?«
Der Beamte berichtete dem aufhorchenden Greise den ganzen Hergang; die ebenso unerwartete als unheimliche Begegnung mit dem sogenannten Schielenden schloß das unerquickliche Referat. Ein momentanes Schweigen trat ein. Die Hände ineinander verschränkt, blickte Signore Lorenzo finster vor sich hin. Die Stimme des Richters brach die gedankenvolle Stille. »Du siehst nun, Onkel, wie recht ich hatte, wenn ich dir immer und immer wieder das Ansinnen stellte, diese öde, allen Schutzes ermangelnde Einsiedelei zu verlassen und sie mit einer mehr Sicherheit bietenden Wohnstätte zu vertauschen. Du mußt ohne Säumen einen Entschluß fassen, du mußt unter die Menschen zurückkehren.«
Ein energisches Kopfschütteln war die stumme Antwort des Alten.
»Onkel,« fuhr der Richter in eindringlicherm Tone fort: »du weißt, daß sich die Leute hier von deinem Vermögen die abenteuerlichste Vorstellung machen! Das Volk läßt sich nun einmal den Glauben nicht nehmen, du säßest auf einem Haufen Gold und Silber … Ohne die besondere Obhut, die ich dir als Kommissar der Distriktspolizei zuwenden konnte, wäre dir vielleicht schon ein recht unerwünschter Besuch abgestattet worden.«
»Sie würden nichts gefunden haben und auch heute noch nichts finden! Ich bin ein alter Mann, der sich schlecht und recht durchs Leben hilft! Oder glaubst auch du, ich sei ein verkappter Krösus, der sich die Nase in Banknoten geschneuzt?« Zwei Flecken, die brennend die hohlen Wangen des Greises röteten, verrieten seine innere Erregung.
»Jetzt,« fuhr der Richter fort, ohne den Einwand des alten Mannes zu beachten: »jetzt liegt die Sache anders! Du weißt, das bourbonisch-jesuitische Agitationskomitee zu Rom wirbt jeden Schnapphahn als Streiter für Altar und Thron! Von Tag zu Tag zeigen sich im Tavoliere Individuen, die uns offenbar von Rom her auf den Hals geschickt werden und vor keiner Untat zurückscheuen. Das piemontesische Jägerbataillon, das zur Streife hierher kommandiert war, hat gestern den Befehl erhalten, im Eilmarsch südwärts aufzubrechen; meine Carabinieri, die abgehetzten armen Teufel, sollen überall sein, und so heißt es wahrhaft Gott versuchen, wenn du, Onkel, nur noch eine Stunde länger auf diesem abgelegenen Wohnsitze weilst, denn verlasse dich darauf: der Strolch, den mir soeben Cerberos Wachsamkeit verriet, ist nicht ohne Gesellschaft.«
Noch während der Richter sprach, hatte sich Signore Lorenzo von seinem Sessel erhoben: die Hände auf den Rücken gelegt, durchschritt er langsam die Stube. Simon Moretto dagegen näherte sich behutsam dem Fenster, um einen prüfenden Blick auf den Hof und dessen unmittelbare Umgebung zu werfen. Nirgends aber das geringste Zeichen irgendeiner feindlichen Bewegung. Ruhig lag der Wolfshund noch unter dem Maulbeerbaum, und bei der erprobten Sinnenschärfe des Tieres ließ sich aus seiner jetzigen Haltung der Schluß ziehen, daß der Schielende und seine mutmaßlichen Kumpane die Vorderfront geräumt, überhaupt wohl bis auf weiteres den Rückweg nach dem angrenzenden Walde angetreten hatten. Dennoch wollte sich der Richter nähere Gewißheit darüber verschaffen, und Signore Lorenzo, dem er sein Vorhaben mitteilte, nickte stumm dazu. Für alle Fälle seinen Hirschfänger auf den Stutzen pflanzend, stieg Simon Moretto den Turm empor, der, wie schon geschildert, noch als invalider Stumpf die alte, durch Zeit und Wetter gebrochene Burg flankierte und jetzt trauernd von jenen lustigen Tagen träumte, wo er als trotzige Warte den umliegenden Gau beherrscht hatte. Von den Scharten aus, die in das dicke Mauerwerk eingesprengt waren, bot sich ein voller Rundblick auf das Gehöft und seine Umgebung. Eine wohl zwanzig Fuß hohe, massive Ringmauer umgürtete den Burgfrieden, der nach der Rückseite hin einen halbverwilderten Baum- und Küchengarten in sich schloß. Von drei Himmelsgegenden her zeigte sich dem Auge die endlose Grasfläche des Tavoliere, nordwärts dunkelte der Hochwald des Monte Gargano, der seine Ausläufer bis an den Eulenhorst des alten Sonderlings vorschob und dadurch der Unsicherheit dieses öden Domiziles noch den bedenklichsten Zusatz gab. Das scharfe Auge des Richters durchsuchte den ganzen Umkreis – rings aber, in Steppe wie in Wald, tiefe, feierliche Stille … In der Turmstube, die sich Simone Moretto zu seinem Observatorium erkoren hatte, lag ein Quaderstein, der zu Gott weiß welchem Zweck weiland hierher geschafft worden war. Auf den Stein sich niedersetzend, seinen Karabiner schußfertig im Arm haltend, versank der Richter in ein schwermütiges Sinnen. Drunten dem finstern Greise, den er Oheim nannte, war einmal der Erdkreis zu eng gewesen – – und nun genügte ihm als Welt dieser kahle, verlorene Winkel. Nur bruchstückweise kannte der Neffe das Vorleben des alten Menschenfeindes, aber selbst das wenige gewährte einen Streifblick in eine wildstürmische Odysseusfahrt. In den welken Armen des Einsiedlers hatten einmal Frauen aus allen Erdzonen geruht, weich und geil wie schmeichelnde Katzen, und sein heißes Blut war erst kühler geworden, als er – noch jung an Jahren und doch schon übersättigt – den letzten Freudenbecher bis zur Neige geleert hatte … Und von dem daseinssatten Greise wandte sich der Gedankenzug Simone Morettos seinem eigenen Leben zu. Frühzeitig der Eltern beraubt, war der Knabe in die freudlose Pflegschaft des Oheims gekommen, und jahrelang hatte er hier in diesem kalten, gespenstigen Steinhaufen wie ein gefangener junger Vogel hingeschmachtet, bis ihm endlich die Reife zur Lateinschule die heißersehnte Erlösung brachte. Und so war er nach beendigten Studien durch einflußreiche Verwendung als Richter des gleichen Distriktes angestellt worden, wo schon sein Vater und sein Großvater populären Angedenkens den Hader der Menschennatur geschlichtet hatten. Jetzt stand Simone Moretto einer nicht minder heikeln Aufgabe gegenüber. Schon zu wiederholten Malen hatte er ja seinem Oheim die Entbehrungen und Gefahren vorgestellt, die sich mit diesem unwirtlichen Wohnsitz verknüpften – immer aber war seine wohlgemeinte Zurede fruchtlos geblieben und sogar von dem mißtrauischen Greise als verkappte Erbschleicherei gedeutet worden. Der Biedersinn des Richters hatte sich gegen diese Kränkung empört, und nie wieder wollte er das leidige Thema berühren; das unheimliche Auftauchen des schielenden Strolches jedoch änderte diesen Entschluß, denn nun trat an Simone Moretto die verdoppelte Pflicht heran, den Eigensinn des an Leib und Leben bedrohten Greises um jeden Preis zu brechen. Noch erwog er, wie die Sache am besten anzupacken sei – – – da riß ihn mit einemmal ein leises Geräusch aus seinem Sinnen empor! Flink von seinem Sitze aufschnellend, hob er instinktiv seinen Karabiner zum Schuß: schon in der nächsten Sekunde senkte er lächelnd die Waffe und streckte die Hand aus zur traulichen Begrüßung. Knie und Haupt demütig gebeugt, die Arme über die Brust gekreuzt, stand auf der Schwelle eine Menschengestalt in der Hautfarbe und Gewandung einer fremden Zone …
Und was einmal in einer mitteilsamen Stunde der Oheim dem Neffen erzählt hatte, das sei hier erzählt, denn in diesem Abkömmling eines fremden Erdstriches tritt uns eine Figur entgegen, die in unserm Roman nicht die undankbarste Rolle spielen wird.
* * *
Noch durchschweifte damals im Sturm und Drang seiner ungestümen Seele Signore Lorenzo Länder und Meere, als er, von Persien her die Ostküste Afrikas entlang schiffend, die Kapstadt erreichte. Von hier wollte er nach jahrelanger Abwesenheit einmal wieder Heimat und Familie begrüßen. Ein glücklicher Zufall fügte es, daß ein italienisches Fahrzeug, nach Palermo bestimmt, gerade segelfertig auf der Reede lag. Der Handel zwischen Lorenzo und dem Kapitän war bald abgeschlossen, und noch am gleichen Tage installierte sich der Passagier mit seinem Gepäck an Bord der »Santa Cecilia«. Kaum war Lorenzo mit der Einrichtung seiner Kabine fertig geworden und an Deck gestiegen, um eine Zigarre zu rauchen, als ihm eine eigene Überraschung zuteil werden sollte. Vom Lande her kam nämlich ein Kutter angesteuert, der neben der »Santa Cecilia« beilegte. An Deck des Kutters standen verschiedene größere und kleinere, derb mit Eisen beschlagene Kasten, deren Inhalt sich dem Blicke entzog. Der Kapitän der »Santa Cecilia« hatte jedenfalls den Cargo erwartet, denn schon war die Zurüstung getroffen, um die Kasten an Bord zu hissen und von da in den Frachtraum zu verladen. Mit den Kasten zugleich erschien deren Eigentümer, ein rothaariger Engländer, der den Gruß des Kapitäns in einem Italienisch zurückgab, wie es eben nur John Bull zu malträtieren vermag. Den Englishman begleitete, augenscheinlich in dienender Eigenschaft, ein junger Afrikaner, und seiner speziellen Obhut mochten die Kasten anvertraut sein, denn mit einer auffallenden Sorgsamkeit überwachte er die Verladung derselben. Vom Hinterdeck aus sah Lorenzo der Arbeit zu. Soeben sollte von dem Kutter der nächstfolgende Kasten aufgehißt werden: im selben Moment, als der erste Ruck geschah, erschütterte ein dumpfes, donnerartiges Gebrüll die Luft. Der mächtige Zornlaut entquoll dem Kasten … Mit ein paar Schritten stand schon Lorenzo bei dem Kapitän, um sich nach der Rubrik dieser seltsamen Fracht zu erkundigen.
» Affé di Dio!« lachte der Sizilianer: »die Santa Cecilia wird diesmal eine wahre Arche Noah! In den Kasten stecken Löwen, Tiger, Jaguare, Schlangen, und ich weiß nicht was noch sonstiges Teufelsvieh, das zunächst nach Palermo und von da mit passender Gelegenheit nach London auf den Markt gebracht werden soll.« Um neben dem hohen Frachtsatz, den, dem Risiko entsprechend, der Engländer bezahlen mußte, auch noch das Passagegeld Lorenzos einzustreichen, hatte es der spekulative Patron für rätlich befunden, die liebenswürdige, zoologische Reisegesellschaft bis auf weiteres seinem Landsmann zu verschweigen – in der Voraussetzung, daß derselbe, wenn erst einmal an Bord, sich in Dreiteufelsnamen zufrieden geben werde. Die Löwen, Tiger und sonstigen vierbeinigen Bestien fochten nun Lorenzo wenig an, denn für den Notfall führte er die trefflichsten Schießwaffen bei sich, außerdem aber waren auch die Käfige von der solidesten Konstruktion, und die pflichtgetreue Umsicht, womit der junge Afrikaner die Verladung der gefährlichen Ware überwacht hatte, ließ darauf schließen, daß er auch während der Reise mit gleichem Eifer seinen Posten wahrnehmen werde. Ungleich mehr Unbehagen verursachten Lorenzo die eingeschifften Schlangen, denn von jeher war ihm alles kriechende Getier ein Gegenstand nervösen Abscheus gewesen. Der schlaue Kapitän hatte also insofern ganz richtig kalkuliert. Wäre Lorenzo schon an Land die Reptiliengesellschaft in Aussicht gestellt worden, so würde er unter allen Umständen auf die Mitfahrt verzichtet haben: jetzt aber war er einmal mit Sack und Pack an Bord, die »Santa Cecilia« schien ein wetterfestes Schiff, der Patron ein gemütlicher Kumpan zu sein, und die lange vermißten heimatlichen Sprachlaute, die ihm an Bord entgegentönten, hatten einen weitern Reiz. Auch gab der Engländer, an den sich Lorenzo wandte, die bündige Zusicherung, daß das Gezücht bestens unter Schloß und Riegel liege. » No fear at all, Sir!« tröstete er den alarmierten Passagier: »auch sind infolge der noch ungewohnten Gefangenschaft die Würmer fast alle krank und haben kein anderes Verlangen, als zwischen ihren Wollteppichen ungestört zu bleiben« …
Mit Anbruch des nächsten Morgens lichtete die »Santa Cecilia« den Anker; Wind und Wellen blieben dem Schiffe gewogen, und ereignislos reihte sich Tag an Tag. Gleich von der ersten Stunde an hatte der junge Afrikaner, der als Tierwärter den Engländer begleitete, das besondere Interesse Lorenzos erregt.
Jankal – so hieß dieser Sohn der Wildnis – war ein Eingeborener der Insel Madagaskar. Hoch und schlank gewachsen, fast nackt (wie die Jahreszeit und der Breitegrad es ihm noch erlaubten), konnte in seinen Momenten träumerisch-schwermütiger Ruhe der junge Madagasse an eine Statue von Bronze erinnern, um so mehr, als er keineswegs den Negertypus aufwies, sondern fast europäische Gesichtszüge hatte. Er gehörte dem Stamme der Ovas an, die sich dieses körperlichen Adels wohlbewußt sind und darauf ihre Souveränitätsrechte über die andern Horden begründen. Schon gleich beim Verladen der Tiere war es Lorenzo nicht entgangen, daß sich der junge Wilde nur in Zeichen und Gebärden ausdrückte, während er doch augenscheinlich den Mischmasch von Madagassisch und Englisch verstand, den sein Brotherr an ihn hinredete. Bald löste sich für Lorenzo das Rätsel: Jankal war stumm.
Die »Santa Cecilia« steuerte inzwischen glatt ihren Kurs und schwamm just auf der Höhe des Kap Negro, als mit einemmal das bisherige Stilleben an Bord in die Brüche gehen sollte. Eines Abends war, wie gewöhnlich, Jankal in den Raum hinabgestiegen, um seinen durstigen Katzen noch einen Nachttrunk zu bringen: schon in der nächsten Minute sahen die Matrosen, wie der Madagasse mit allen Zeichen der Bestürzung aus der Luke auftauchte und mit ein paar flinken Sprüngen auf seinen Herrn loseilte, der auf dem Hinterdeck mit dem Kapitän plaudernd hin und her promenierte. Lorenzo befand sich in diesem Moment drunten in seiner Kabine. Die Matrosen hatten sofort begriffen, daß es sich bei Jankal um irgendeinen Unfall handle und waren demzufolge in halb neugieriger, halb bänglicher Hast nach der Luke hingeschlichen, um die Ursache zu erspähen. Die Raubtiere lagen aber alle ruhig in ihren Käfigen, an deren Gitterstäben sich ebensowenig ein Bruch oder sonst eine Regelwidrigkeit wahrnehmen ließ … Und dennoch mußte Jankal etwas Hochwichtiges in seiner stummen Zeichensprache zu berichten haben, denn die Schiffsleute bemerkten, wie der Engländer unwillkürlich zusammenzuckte und dann erregt einige Worte zu dem Kapitän sprach, der nun seinerseits in Miene und Bewegung die gleiche Verblüffung kundgab. Schon aber kam der Engländer, der sich bald gefaßt hatte, herangestürmt. »Kinder,« wandte er sich an die alarmierten Matrosen, »zieht euch zurück, wenn euch euer Leben lieb ist – die Schlangen sind ausgebrochen!«
Im Hui stob der Haufe auseinander, denn alle wußten ja, daß sich unter der Sammlung die giftigsten und grimmigsten Exemplare befanden. Der Engländer war, seinen Löwen und Tigern gegenüber, ein ungemein beherzter Mann, jetzt aber stand er noch zögernd oben an der Luke, als sich Jankal bereits lautlos in den toddrohenden Schlund hinabgeschwungen hatte. Behutsam folgte er endlich dem Beispiel des Madagassen, der inzwischen eine Laterne angezündet hatte. Zunächst galt es, den Umfang der Gefahr genau festzustellen. Die Untersuchung ergab insofern ein unverhofft gnädiges Resultat, als keineswegs alle Schlangen, sondern nur vier derselben entwischt waren; freilich zählten gerade unter diesen vier Flüchtlingen drei zu den berüchtigsten Repräsentanten ihrer Sippe. Es fehlten bei der Revision: eine indische Brillenschlange, deren Biß bekanntlich schon nach wenigen Minuten den Tod zur Folge hat – dann eine arabische Buschotter und eine äußerst seltene, im Handel zu hohen Preisen bezahlte Viper von Madagaskar, die bei den dortigen Eingeborenen »Naga mandala« genannt wird. Auch der Geifer der arabischen Buschotter ist von unmittelbar tödlicher Wirkung – das Gift der Naga dagegen äußert seine zerstörende Kraft in anderer und furchtbarerer Weise: unter qualvollen Eitergeschwüren, die weiter und weiter wuchern, verfault das Opfer dieses teuflischen Wurmes bei lebendigem Leibe. Der vierte Deserteur war eine sogenannte »Howa«, die blaue Kapnatter, die den Hottentottenkindern zum gefahrlosen Spielzeuge dient und höchstens von Vögeln und Eidechsen respektiert wird … Es ließ sich leicht erkennen, wie es den Tieren ermöglicht worden war, aus ihrem Gewahrsam zu entweichen. Ein ungeschickt verstautes Frachtstück hatte durch einen jähen Wellenstoß und die damit verbundene Erschütterung vollends seinen Halt verloren, war herabgerutscht und auf den Schlangenkasten gefallen, den es soweit zertrümmerte, daß den Gefangenen der Weg zur Freiheit offen stand. Die vier hatten von der guten Gelegenheit Gebrauch gemacht und sich Gott weiß wohin verkrochen. Furchtlos durchsuchte Jankal die nächste Umgebung, doch umsonst: die Flüchtlinge waren jedenfalls zwischen die Ballen und Fässer geschlüpft, wohin sich zunächst keine Verfolgung anstellen ließ. Für den Kapitän war die Situation eine mehr als unerquickliche, denn die Verantwortung für die etwaigen Folgen fiel in erster Linie auf ihn zurück. Fluchend und ächzend, alle Engländer und die ganze Naturgeschichte zum Teufel wünschend, trabte der kleine dicke Mann auf dem Hinterdeck hin und her, wobei er sich beständig links und rechts umsah, ob ihn nicht so ein diabolisches Schlangenvieh aufs Korn nehme. Mit einemmal zeigte sich, bleich und verstört aus der Kajüte hervortretend, Lorenzo. Das laute Schimpfen und Rumoren des Kapitäns hatte ihm verraten, um was es sich handle. Der Leser möge sich selber den Nervenaufruhr ausmalen, der durch den jungen Reisenden vibrierte! Schlangen waren ja gerade für ihn die Tiere, die er am meisten verabscheute und fürchtete. Und nun sollte ihm eine Tortur beschieden sein, wie sie sich kaum raffinierter erdenken läßt. Auf den engen Raum eines Schiffes festgebannt und dabei die verzweiflungsvolle Gewißheit, daß der Feind sich irgendwo verborgen halte und zu jeder Sekunde und an jedem Ort wie ein Höllenspuk auftauchen könne. Dazu dämmerte mehr und mehr die Nacht heran und gab der fieberhaft erregten Phantasie Lorenzos einen nur noch weiteren Spielraum, denn jedes vom Wind bewegte Tau, jeder Schatten gaukelte ihm ein züngelndes und ringelndes Reptil vor. Um wenigstens seine allernächste Umgebung überblicken zu können, hatte er sich in den Lichtkreis der Kompaßlampe geflüchtet und von dieser erhellten Oase aus häufte er die bittersten Vorwürfe auf das Haupt des Kapitäns, der als echter Südländer bald den Teufel und dessen Großmutter, bald die Madonna und alle Heiligen des katholischen Himmels anrief. Inzwischen waren unten im Schiffsraum der Engländer und Jankal zu der Überzeugung gelangt, daß ein weiteres Herumsuchen keinen Zweck habe, denn in tausend Ritzen und Winkeln konnten ja die Schlangen jeder Verfolgung spotten.
Mit einem gotteslästerlichen Fluch ließ sich der Engländer auf einen Frachtballen niederfallen und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Die Arme über die Brust gekreuzt, stand der Madagasse daneben; er hatte seine Laterne an einen Deckbalken gehängt, und auf seinem nackten, nach heimischer Sitte mit Kokosöl eingeriebenen Körper spiegelten sich die Reflexe wie in einem matt geschliffenen Metall. Mit einemmal berührte er leicht die Schulter seines Herrn und hob die Hände, um in seiner Zeichensprache einen Gedanken auszudrücken. Der Engländer machte eine unwirsche Bewegung. »Was soll's bei den ungezähmten Bestien helfen?« brummte er in den Bart. Ohne den Zweifel seines Herrn weiter zu beachten, schritt Jankal in seiner elastischen, katzenartigen Weise auf eine Schicht Tabaksballen zu, die seitwärts von den Tierkäfigen lagerte. Um eine Reibung der einzelnen Ballen zu verhindern, waren die Zwischenräume mit dünnen Schilfbüscheln ausgefüllt. Aus diesen Büscheln suchte sich der Madagasse bedächtig eine Anzahl von Rohrstengeln zusammen, mit denen er zu seinem Herrn zurückkehrte. »Probiere es in Teufels Namen!« beantwortete der Engländer die stumme Gebärde Jankals, der, nachdem sein Gebieter sich entfernt hatte, zum Messer griff, um seinen Plan zur Ausführung zu bringen.
Kaum war nach einer peinvoll durchwachten Nacht ostwärts die Sonne aufgegangen, als an Bord der »Santa Cecilia« sich etwas Seltsames vorbereitete, denn in dichtem Kreise umstanden der Engländer, der Kapitän und die Matrosen die große Luke und blickten in den Raum hinab, den im Vordergrunde das Morgenlicht mit Purpur und Gold übergoß, während weiterhin noch tiefes Dunkel lagerte. Mitten in diesem hellen Zentrum stand Jankal in dem vollen bizarren Schmuck eines madagassischen Kriegers. Sein schwarzes Haar von der Länge und Dicke einer Roßmähne war in eine helmartige Frisur zusammengekleistert, von welcher ein Busch bunter Vogelfedern herabnickte; kupferne Ringe und Spangen funkelten in seinen Ohren, an seinen Handgelenken und Fußknöcheln; eine sechsfache Halskette von flimmernden Glasperlen und eine kunstvoll aus Fischschuppen verfertigte kurze Lendenschürze vervollständigten den pittoresken Paradeputz des jungen Afrikaners. An dem mit Muscheln verzierten Gürtel schaukelten sich der wuchtige, mit Eisenzacken gespickte Streitkolben und das krumme, blankgeschliffene Messer, das im Kampfe den Bauch des Feindes mit einem kunstgerechten Ruck aufschlitzt. Quer über den Rücken hingen der aus Büffelhaut geschnittene Schild, der Köcher von Jaguarfell mit den vergifteten Pfeilen und einer jener fast mannshohen Bogen, den die Madagassen mit einer unglaublichen Sicherheit und auf weite Entfernung hin zu handhaben wissen … Mit dem festlichen Schmucke harmonierte der tiefe, feierliche Ernst, der aus der ganzen Handlung Jankals sprach. Soeben hob er den Kopf und blickte mit seinen großen düsterglühenden Augen zu dem Menschenkreise empor, der oben die Luke umdrängte; langsam reckte er den Arm aus, als wolle er selbst dem Herzschlag seiner Zuschauer Halt gebieten und zugleich den Beginn einer weihevollen Handlung proklamieren. Wie ein gespenstischer Zauberbann ging es von Mann zu Mann hin: nur noch an den Masten das leise Knarren und Klatschen der Taue und Segel im Morgenwind – – sonst ringsum regungsloses, erwartungsvolles Schweigen.
Um noch größerem Schaden vorzubeugen, hatte, gleich nachdem die Flucht der Schlangen entdeckt worden war, der Engländer an den Käfigen seiner übrigen Tiere die Schutzläden vorgeschoben. Leicht sich an den Kasten lehnend, der einen riesigen schwarzen Kaplöwen beherbergte, die schlanken, nervigen Beine übereinanderschlagend, griff der Madagasse in seinen Gürtel und zog behutsam eines jener primitiven Musikinstrumente hervor, wie es als sogenannte Pansflöte oder Syrinx schon den Hirten der mythologischen Vorzeit zum Zeitvertreib und Ohrenschmause diente. Aus den Schilfstengeln, die er sich am Abend zuvor zusammensuchte, hatte Jankal das einfache Tonwerk konstruiert: sieben Rohrpfeifen waren es, mit Wachs verklebt und mit Draht zu einem Ganzen verbunden, eine in der Stufenfolge immer kürzer als die andere. Das Pfeifenspiel an seine Lippen setzend, ließ der Madagasse eine wunderliche Melodie erklingen – wenn man ein regelloses Durcheinander von bald langgezogenen, bald kurz abgestoßenen Noten überhaupt eine Melodie nennen kann. Seine Augen waren dabei mit einem geisterhaften Ausdruck nach dem dunkeln Hintergrunde gerichtet, der die improvisierte Bühne abschloß. Schrillender, gleichsam gebieterischer ließ er die Syrinx ertönen – mit einemmal zuckte er leicht zusammen und heftete seinen immer mehr erstarrenden Blick auf einen bestimmten Punkt. Leiser, schmeichelnder strichen seine Lippen über die Pfeifen hin, langsam, Schritt um Schritt schraubte er sich, sozusagen, nach diesem Punkte hin, den nur das Adlerauge des Wilden in dem dunkeln Hintergrunde hatte erspähen können. Und immer leiser und immer träumerischer vibrierte das Decrescendo des Flötenspieles – zu den oben lauschenden Männern klang's hinauf wie ein Säuseln und Wispern von Geisterstimmen – und immer langsamer rückten die Füße des Pfeifers vor, während sein Blick wie ein Nagel auf den für die Matrosen unsichtbaren Punkt festgebohrt blieb. Dann machte der Madagasse Halt: noch eine langgedehnte, weiche Note hauchte er aus dem Rohr – – und jetzt fuhr sein rechter Arm nieder, jäh wie ein Wetterstrahl! Ein scharfer, zischender Ton ließ sich hören. Schon in der nächsten Sekunde schnellte Jankal wieder in die Höhe; über seine ehernen Gesichtszüge flog ein triumphierendes Lächeln, als er den sehnigen Arm emporreckte, um den sich, von eiserner Faust gepackt, die arabische Buschotter in den tollsten Windungen ringelte, ohne doch von ihrer furchtbaren Waffe Gebrauch machen zu können, denn mit sicherm Griff hatte Jankal das Reptil gerade an der Kehle gefaßt, so daß es den Kopf nicht zu drehen vermochte. Eine Weile weidete sich der Sieger an der ohnmächtigen Wut des bezwungenen Feindes, dann griff er nach einem kleinen, dünnen Eisenhaken, den er der Otter trotz allem Widerstreben in den Rachen zwängte: ein leichter Ruck, und die Giftzähne, die bekanntlich ganz locker in der obern Kinnlade sitzen, fielen herausgebrochen zu Boden. Schon harrte der Kerker auf den eingefangenen Flüchtling – ein flinker Schub und blitzschnell klappte hinter der Araberin der Deckel des Kastens zu …
Wiederum begann die Syrinx ihre magische Weise, und diesmal war es die harmlose blaue Kapnatter, die ihre Empfänglichkeit für die Musik mit der kaum errungenen Freiheit bezahlen mußte. Mit einer geringschätzigen Gebärde rollte Jankal das ungefährliche Tier zusammen und warf es in seinen Behälter …
Und zum dritten Male begann die Zauberpfeife zu locken.
Jetzt erst gewahrten die Matrosen, welch nervöse Erregung sich unter der äußerlichen Ruhe des Beschwörers barg. Dicke Schweißtropfen rieselten von seiner Stirne, und seine breite Brust hob und senkte sich in schwerem Atemzug. Wohl eine halbe Stunde lang ließ er in kurzen Pausen seinen Appell ertönen – aber nichts wollte sich rühren und regen. Entweder hatten sich die zwei noch fehlenden Deserteure so tief in das Schiff hinein verkrochen, daß überhaupt die Pfeifenklänge nicht zu ihnen drangen, oder aber sie waren weniger dazu geneigt, der musikalischen Zitation Folge zu leisten. Schon machte oben der Engländer eine ungeduldige Bewegung, als Jankal mit einemmal einen bedeutsamen Wink gab. In fieberhafter Spannung reckten und streckten sich die Hälse der Zuschauer. Noch lockte und schmeichelte die Zauberpfeife in schwermütig-träumerischen Modulationen, der Blick des Beschwörers schien seine ganze magnetische Kraft zusammenzuraffen – – – » Ecco!« rang es sich plötzlich aus der Kehle eines der selber wie gebannten Matrosen hervor. Bei Gott und seinen Heiligen! Dort zwischen den aufgestapelten Frachtballen taucht es auf wie ein breiter, glatter Kopf – er verschwindet – er kommt wieder zum Vorschein – nochmals verschwindet er: dann zeigt sich abermals der Kopf, dann der Hals und unter den tremulierenden Klängen der Syrinx gleitet wie in einem wollüstigen Taumel das Reptil auf den Boden nieder. Es war die Brillenschlange …
Ein Sonnenstrahl, der durch die Luke herabfiel, beleuchtete das Scheusal und ließ jede seiner Bewegungen genau erkennen. Das Flötenspiel des Madagassen war verstummt – nur noch seine Augen fixierten das Ungetüm, daß sich zu einem Klumpen zusammengerollt hatte, während der Kopf mit einer braungezeichneten Brille sich abwechselnd vorstreckte und dann wieder in seine Halsringe zurückzog. Mit einemmal schien es wie ein elektrischer Funke durch die Wirbelsäule des Reptils hinzuzucken: langsam lösten sich die Ringel, und der eben noch schläfrige Blick der kleinen Augen entzündete sich nach und nach zu einem unheimlichen Glanz. Mit einem Wort: durch das Verstummen der Rohrpfeife war der momentane Bann gebrochen, das Tier hatte seine ganze Willenskraft und Bosheit wiedergefunden und rüstete sich jetzt zum jähen, totbringenden Vorstoß. Der Engländer kannte sehr wohl die Taktik der Schlangennatur und hastig sich bückend, rief er seinem bedrohten Gehilfen in madagassischer Sprache ein warnendes Wort zu. Ohne seinen Blick von der Schlange abzuwenden, machte Jankal mit der Hand eine Schweigen gebietende Bewegung und wich behend einen Schritt zurück, denn im gleichen Moment hatte sich mit einem spiralförmigen Schwung das tückische Reptil zu seiner halben Länge emporgebäumt. Die nächste Sekunde mußte die Katastrophe bringen!!
Und nun geschah etwas Wunderliches.
Durch den Schiffsraum schrillte ein gellender Ton der Rohrpfeife – dann modulierten die Lippen des Madagassen eine Weise in eigentümlich hüpfendem Rhythmus, wobei seine linke Hand in pendelartigen Schwingungen den Takt markierte. Den Kopf leicht vorgebeugt, umklammerten gleichsam seine Augen den Schlangenleib wie mit Stahlzangen. Auf sein Schwanzende gestützt, hatte sich das Reptil wie an einem unsichtbaren Stabe emporgerankt: züngelnd und zischelnd, dem bannenden Musiktakte gehorchend, wiegte jetzt das Ungetüm seinen geblähten Oberleib in einem tanzähnlichen Tempo hin und her. Schritt um Schritt folgte die tanzende Schlange ihrem Herrn und Meister, bis ihre grotesken Drehungen und Wendungen matter und immer matter wurden und zuletzt eine durch die schaukelnden Bewegungen hervorgerufene Betäubung ihre Sinne zu umfloren schien. Diesen Moment hatte aber der Madagasse erlauert, und rascher schwirrt kein Pfeil von der Bogensehne, als jetzt seine Hand dem taumelnden Scheusal, wie vorher der Otter und der Natter, an die Kehle fuhr. In einem donnernden Jubelruf löste sich die bisher lautlose Spannung des Zuschauerkreises, während der schlichte Held, ohne sich um diese stürmische Huldigung zu kümmern, dem machtlos zappelnden Reptil die Giftzähne ausriß und es, wie seine beiden Vorgänger, in festen Gewahrsam brachte … Nur noch der letzte der vier Flüchtlinge – die Viper von der heimatlichen Insel Jankals – fehlte, aber gerade hier war ein Erfolg am zweifelhaftesten. Wie Jankal in seiner ausdruckvollen Zeichensprache erklärte, hatte nämlich die Naga mandala nicht nur einen wenig empfänglichen Tonsinn, sondern auch zugleich einen äußerst scheuen Charakter. Mit dieser Scheu glich die Natur gewissermaßen das satanische Unheil aus, das die Naga mandala anzurichten vermag, denn es ist bereits gesagt worden, daß ihr Gift nicht in rascher Folge, sondern in langsamem, unheilbarem Siechtum den Tod bringt: unter Eitergeschwüren fällt das Opfer bei lebendigem Leibe einem grauenhaften Verwesungsprozesse anheim. – – – Was Jankal befürchtet hatte, erwies sich zuletzt als leidige Gewißheit: die schmelzendsten und verführerischsten Töne der Rohrpfeife prallten bei der Naga an tauben Ohren ab, und somit blieb die peinigende Frage: Wo steckt die so hochgefährliche Bestie? – Den Hoffnungsstrahl des Kapitäns, die Viper müsse sich bald ergeben oder verhungern, vernichtete sofort der Engländer mit der lakonischen Erklärung, daß alle Schlangen überhaupt wochen-, ja monatelang fasten können, und daß außerdem in einem Schiffe die fahnenflüchtige Naga an den Ratten und sonstigem Ungeziefer eine überreichliche Jagdbeute finde. Die Situation an Bord der Santa Cecilia war eine geradezu dramatische. Das Fahrzeug segelte mitten auf hoher See, die Reise nach Palermo dauerte noch Wochen und während dieser ganzen Zeit sollten die Nerven der gesamten Schiffsbevölkerung, vom Kapitän bis zum Kajütenjungen herunter, auf die Folter gespannt bleiben, denn bei Tag und Nacht, an jeder Stelle konnte die Naga jählings auftauchen und sich auf ihr Todesopfer losstürzen! Von dem frei liegenden Dache der Kajüte aus hatte Lorenzo in namenloser Erregung den Erfolg der von Jankal ins Werk gesetzten Beschwörungsszene abgewartet, und es wird keiner weitern Ausmalung bedürfen, wie – bei seinem mehrerwähnten, als Idiosynkrasie angeborenen Abscheu gegen alles Gewürm – gerade ihn die Schreckenskunde berühren mußte, daß die Viper nicht eingefangen und zunächst auch kaum die Aussicht vorhanden sei, des flüchtigen Reptils habhaft zu werden … Es folgten nun Tage und Nächte, die an der Phantasie Lorenzos wie Ewigkeiten der Hölle vorüberkrochen. Bis zum Sonnenuntergang kampierte er auf dem Kajütendach, von wo sich wenigstens das Verdeck der »Santa Cecilia« am leichtesten überschauen ließ; mit dem ersten Einbruch der Dämmerung zog er sich in seine Kabine zurück, die er dann verrammelte, als gelte es den Angriff eines Armeekorps abzuschlagen. – – Von Wind und Wetter begünstigt, näherte sich das Fahrzeug dem Äquator, als mitten in einer schwülen Nacht vom Hinterteil des Schiffes her ein gellender Schrei ertönte. »Die Naga! Die Naga!« kreischte es über das Deck hin und dem Alarmruf folgte ein wilder, unbeschreiblicher Tumult. Die einen kletterten in toller Hast an dem Tauwerk empor, – andere rannten dahin und dorthin, denn jeder mochte glauben, das furchtbare Reptil habe sich just an seine Fersen geheftet. Nur ein einziger hatte sich mitten in dieser allgemeinen Panik die Besonnenheit gewahrt: es war Jankal, der keinen Moment säumte, den Kampf mit dem schleichenden Feinde aufzunehmen. Schon stand der heroische Madagasse an der Stelle, von wo der erste Schrei erschollen war. Der Matrose am Steuerruder hatte gleichfalls die Flucht ergriffen und noch überlegte Jankal, was zunächst zu tun sei, als sich eine nervös zitternde Hand auf seine Schulter legte. Blitzschnell fuhr er herum und blickte in das von der Kompaßlampe beleuchtete, angstverzerrte Gesicht des Kapitäns, der mit dem Finger in die Kajüte hinabdeutete. Die Kabinentüre Lorenzos stand sperrweit offen, eine an der Decke sich schaukelnde Sicherheitslampe erhellte den kleinen Raum. Und dahin deutete der Finger des Kapitäns. »Die Naga!« bebte es über seine Lippen. In der nächsten Sekunde schon glitt die geschmeidige Figur des Madagassen die Kajütentreppe hinab. Die Nachtlampe erhellte ein gespenstiges Bild. Mit emporgesträubtem Haar und stieren Augen kauerte Lorenzo auf den Kissen seines Lagers – wie von einem Krampfe gelähmt, waren seine Hände ausgestreckt, als wollten sie im Ausdruck namenlosen Grausens die Annäherung irgendeines Schreckensphantomes abwehren. Aber auch Jankal prallte unwillkürlich einen Schritt zurück … Dort, um einen Stützbalken geringelt, kaum eine Armslänge von Lorenzo entfernt, reckte die entflohene Viper ihren kleinen, runden Kopf mit den boshaft funkelnden Augen hervor! Es war, als ergötze sich das Scheusal an der Todesangst seines Opfers. So leise hatte sich Jankal herangeschlichen, daß ihn die Naga nicht zu bemerken schien, denn ihre ganze Aufmerksamkeit blieb auf Lorenzo konzentriert. Und eben bog das furchtbare Reptil züngelnd den Hals vor, als woll' es einen Schwung ermessen – – da schwirrt es wie ein Blitzstrahl durch die Kabine und der Schlangenleib, in zwei Teile zerschnitten, windet sich sterbend auf dem Boden. Von der sichern Hand Jankals geschleudert, hatte sich das madagassische Krummmesser noch tief in den Balken eingebohrt. Rasch trat der Retter heran, um zu erforschen, ob Lorenzo überhaupt verletzt sei oder nicht: mit einemmal zuckt der Wilde jäh zusammen – in seinen dunkeln Augen malt sich der Ausdruck einer scheuen, abgöttischen Ehrfurcht! Demütig sein Knie beugend, mit der Stirne den Boden berührend, kreuzte er die beiden Hände über seinem Haupte – die Haltung, in welcher der Madagasse seine Fetische und sonstige ihm geheiligte Kräfte und Gebilde der Natur anbetet. Langsam sich erhebend, heftete Jankal seinen Blick wie festgebannt auf eine kleine hellblaue, rotpunktierte Muschel, die, auf einen dünnen Faden von Palmenbast gezogen, am Halse des weißen Mannes hing. Durch eine eigene Fügung war Lorenzo in den Besitz der Muschel gelangt. Auf der Küste von Zanguebar hatte er einen portugiesischen Gummihändler getroffen, der am Fieber todkrank daniederlag. Er pflegte den armen Teufel nach besten Kräften und brachte ihn mühsam nach der portugiesischen Faktorei Melinde, wo der Mann schon am folgenden Tage starb. Kurz vor seinem Ende drückte der Kranke seinem Wohltäter als letzten Dank jene Muschel in die Hand. Dem Unkundigen mußte das Legat wertlos dünken, und dennoch durfte Lorenzo es als ein kostbares Kleinod schätzen, denn diese schlichte Schale war ein Talisman, der bei allen Negerstämmen des südöstlichen Afrika den Inhaber zu einer unverletzlichen Respektsperson stempelt. Nur höchst selten findet sich die Muschel in den dortigen Meeren, aber gerade dieser Seltenheit verdankt sie ihre Bedeutung, und um ihren Besitz entspinnen sich die blutigsten Fehden zwischen den dortigen Häuptlingen. Auch den Eingeborenen Madagaskars ist die Muschel unter dem Namen »Hu-lu-lu« bekannt und hochheilig. Sie glauben, vor Jahrtausenden habe ein Sonnenstrahl eine solche Muschel befruchtet und aus diesem geheimnisvollen Zeugungsprozeß sei das Götterpaar Amboni und Agutik entsprungen. Wer nun die heilige Muschel Hu-lu-lu besitzt, steht in den Augen der Madagassen unter dem direkten Schutzpatronat jener beiden Götter und wird dadurch selber zu einer Art von Halbgott geadelt, dem wiederum seinerseits die Macht verliehen ist, seine nächste Umgebung vor jedem Spuk Wambo-hambos Wörtlich: der »schwarze Schatten«, der afrikanisch zugestutzte Teufel, der auch nach jenen Breitegraden seinen Weg gefunden hat und von den Madagassen heillos respektiert wird. zu schützen und schirmen … Daher die religiöse Scheu, mit der sich Jankal vor der heiligen Muschel und ihrem Besitzer niedergeworfen hatte. Daß Lorenzo, wie sich ergab, von der Naga noch nicht gebissen worden war, schrieb natürlich der Madagasse kurzweg der wundertätigen Wirkung der Hu-lu-lu zu und von seinem Standpunkte aus durfte es ihm wohl als höchstes Ziel erscheinen, in den Dienst des durch die Zaubermuschel gefeiten weißen Mannes zu treten. Gern erfüllte Lorenzo den in Zeichen ausgedrückten Wunsch des Aspiranten; wußte er ja am besten, daß er nicht der Wundermuschel, sondern einzig dem profanen Messer Jankals sein Leben zu verdanken hatte! – –
In leicht erklärlichem Grimm fluchte und wetterte der Engländer los, als er erfuhr, daß er seinen so brauchbaren Gehilfen verlieren sollte, und erst durch eine Abfindungssumme und die gleichzeitige Zusicherung Lorenzos, der Madagasse werde bis nach Palermo unverändert seine Wartestelle versehen, ließ sich der Mann einigermaßen beschwichtigen. Mit der Treue und Demut eines Hundes folgte fortan Jankal seinem Herrn und Gebieter – geduldig vergrub er sich dann mit dem weltsatten Einsiedler in die finstere Waldklause, und in diesem öden Dasein reihte sich Jahr an Jahr. Tiefer und tiefer versenkte sich Lorenzo in seine umdüsterte Seele – lautlos durchschweifte Jankal Tag um Tag die alte, halbverfallene Burg. Und doch durfte sich der arme, stumme Wilde den glücklichern nennen, denn ihm, dem schlichten Sohn der Natur, war ein durch keinen Zweifel getrübtes Ideal geblieben: der traumvolle Glauben an die heilige blaue Göttermuschel Hu-lu-lu …
* * *
Mit dem leichten Tritt seiner unbeschuhten Füße hatte Jankal den Richter droben in der Turmstube überrascht.
Der Madagasse war jetzt ein Mann von etwa fünfzig Jahren, aber seine hohe, schlanke Gestalt zeugte von noch ungebrochener Kraft und Gewandtheit. Dem kühlern Klima und der christlichen Moral Rechnung tragend, hatte er sich mittlerweile dazu verstanden, die paradiesische Toilette des Tropenmenschen aufzugeben, und seitdem schneiderte er sich mit eigener Hand und nach eigenem Modejournal seine Kleidung zusammen, in der er übrigens immer noch so »dekolletiert« einherkam, daß sich anfänglich das Schamgefühl der Jungfer Petronilla gegen die transparente Garderobe dieses »Heiden ohne Gott und ohne Hosen« empört hatte. Mochte er jedoch auch der europäischen Kultur gestattet haben, sein heimatliches Naturkostüm einigermaßen zu belecken, so war er dafür in seinen sonstigen Bräuchen und Gepflogenheiten den Traditionen seines Stammes desto treuer geblieben; nach den Rezepten des madagassischen Kochbuches bereitete er sich seine Speisen und zwar auf einem abgesonderten Feuerherde, denn Eidechsen, in Öl abgesotten, geröstete Würmer und derartige Spezialitäten der afrikanischen Küche wollte Signore Lorenzo, bei all seiner zynischen Philosophie, von seinem eigenen Topfe getrennt wissen. Mit gleicher Pietät hing er an seinen nationalen Waffenstücken, und zu verschiedenen Malen hatte er eine Flinte verschmäht, die ihm der Richter schenken wollte. Seitdem ihn dieser auf die Unsicherheit aufmerksam gemacht hatte, die durch das mehrfache Erscheinen von Räuberbanden im Tavoliere hervorgerufen worden war, ging Jankal immer nur in voller Armatur seinem einförmigen Tagewerk nach … Und so stand er auch jetzt droben im Turme dem Richter in der pittoresken Wehr eines madagassischen Kriegers gegenüber: auf dem Rücken Bogen und Pfeilköcher, im Gürtel den wuchtigen Streithammer und das scharfe Krummmesser. – – Im Verlauf der Jahre hatte sich der intelligente Wilde ein genügendes Verständnis der italienischen Sprache angeeignet; umgekehrt waren die Personen, mit denen er näher verkehrte, dahin gelangt, daß sie mit der gleichen Fertigkeit seine Zeichen und Gebärden zu deuten wußten.
»Sei gegrüßt, Jankal!« redete der Richter den Diener an: »ich habe schon bei Petronilla nach dir gefragt, aber sie konnte mir nicht sagen, wo du stecktest.« Über das dunkle Gesicht des Afrikaners glitt ein gutmütiges Lächeln, dann aber nahmen seine Züge wieder den ihnen eigenen Ausdruck von schwermütigem Ernste an, und in drastischer Mimik begannen seine Hände und Augen zu arbeiten. Aufmerksam folgte Simone Moretto dem Zeichenberichte des Stummen. »Wie viele waren es, die du von dem Baume aus beobachtet hast?« fragte in wachsender Erregung der Richter, als der Madagasse für einen Moment seine gestikulierenden Hände ruhen ließ.
Dreimal hob Jankal seinen Zeigefinger in die Höhe.
»Hast du die drei Kerle schon irgend einmal gesehen?« inquirierte Simone weiter. Jankal schüttelte den Kopf.
»Konntest du die Gesichtszüge des einen oder anderen wahrnehmen?« Eine Weile schien sich der Stumme zu besinnen, dann nickte er mit dem Kopfe eine bejahende Antwort. In seine Gürteltasche greifend, brachte er einen Rötelstein hervor, mit dem er in ungelenken, doch aber einer gewissen Charakteristik nicht entbehrenden Strichen die lebensgroße Figur eines anscheinend jungen Menschen an die graue Wand zeichnete. Mit dem Finger auf die Augen des von ihm entworfenen Konterfeis deutend, verdrehte Jankal seine eigenen Augen zu einem schiefen Blick. »Der Schielende!« murmelte Simone Moretto vor sich hin. »Ha, Strolch!« knirschte er in aufloderndem Zorn und umklammerte das Rohr seines Karabiners: »Befiehl dem Teufel deine verfluchte Seele, wenn du mir in den Schuß gerätst!« Er wandte sich wieder dem Madagassen zu, der regungslos durch eine der Turmscharten spähte. »Welchen Weg, Jankal, haben die drei Bösewichte genommen?« Der Stumme deutete in den angrenzenden Wald hinein. Gedankenvoll blickte der Richter vor sich hin. Was er erwartet hatte, war jetzt zur Gewißheit geworden: der schielende Unhold stützte sich auf ein Gefolge von Spießgesellen, und ebensowenig ließ sich bezweifeln, daß die Bande einen verbrecherischen Anschlag plante, der zunächst der von der Volksphantasie mit unzählbaren Millionen vollgepfropften Schatzkammer Signore Lorenzos galt … Mit einemmal ließ sich ein neues Geräusch hören, aber Simone Moretto und Jankal wußten sich die Ursache zu deuten und blickten ruhig nach der Tür hin. Halb hüpfend, halb wie mit Flügeln wippend, kam es die steinernen Treppenstaffeln herauf – in der nächsten Minute streckte sich ein Vogelkopf mit funkelnden Augen in die Turmstube herein. Erst ein eigentümliches Zungenschnalzen Jankals schien das Mißtrauen des Ankömmlings zu beseitigen: dem Kopfe folgte der Hals und hereinstolzierte gemessenen Schrittes, mit würdevoll geblähtem Gefieder, ein mächtiger Goldadler. Seitdem Jankal mit seinem weltmüden Herrn in der alten Schloßruine hauste, durchpirschte er täglich als Jäger und Vogelsteller das umliegende Waldrevier. Bot ja diese Streife den einzigen Ersatz für die Freiheit, die der schrankenlose Sohn der Natur in frommer Demut seinem Gebieter als Opfer dargebracht hatte! Sein Bogen versorgte die Küche mit Wildbret, in Schlingen und Fallen fing er allerlei Getier, um es, wie er dies in seiner Heimat getan, zu zähmen und zu allerlei Dressurstücken abzurichten. Zu gleichem Zwecke hatte er sich auch den Adler aus seinem Horste herabgeholt und den kaum ein paar Wochen alten Vogel in Pflege und Schulung genommen. Mit leichtgestutzten Schwungfedern bewegte sich seitdem der entthronte König der Lüfte in seinem Exile umher, und der Pfiff, den Jankal aus einer kleinen Rohrpfeife tat, genügte, um den inzwischen zur Vollkraft ausgewachsenen Vogel herbeizulocken. So war er auch jetzt dem Madagassen nachgefolgt. Vertraulich sich an Jankals Bein schmiegend, blickte der mächtige Adler mit seinen kühnen Augen zu dem Meister empor, der ihm zärtlich den Hals streichelte … Noch sann der Richter über die Sicherheitsmaßregeln nach, die zunächst zu treffen waren, als vom Hofe her das Gebell Cerberos eine abermalige, die gewohnte Ruhe störende Erscheinung signalisierte. Mit einem raschen Schritte stand schon Simone Moretto an einer nach dem Tor hingerichteten Turmscharte, um die Veranlassung zu dem Alarmzeichen des Hundes zu erkunden. Draußen vor dem Eisengitter hielten drei Maultiere, von dem einen war ein älterer Mann in einfacher bäuerlicher Tracht abgestiegen, um die Torglocke in Bewegung zu setzen – auf den Sätteln der anderen beiden Reittiere saßen zwei Frauengestalten von augenscheinlich ungleich höherer Rangstellung. Ein Freudenschimmer erhellte das männlich ernste Gesicht des Richters, und mit flinken Füßen eilte er die steile Turmtreppe hinab. Mit gutmütig schlauem Lächeln blickte der Madagasse dem Schnellläufer nach, dann wandte er sich seinem Adler zu. Mit einem Schwung seiner muskulösen Arme hob er den gefiederten Gesellschafter auf seine breite Schulter und offenbar war der gewaltige Vogel an diesen Sitzplatz gewohnt, denn ruhig, mit den halbgeöffneten Fittichen das Gleichgewicht bewahrend, ließ er sich die Treppe hinabtragen, auf welcher jetzt Jankal in minder stürmischem Tempo dem so eilfertigen Richter nachfolgte. Als der Stumme an der Türe Signore Lorenzos vorüberkam, hörte er innen in dem Gemach die von verdoppeltem Hüsteln unterbrochene Stimme seines Herrn, der in erregtem Tone zu Petronilla redete, während die tückische Alte mit giftigem Lachen in der gleichen Weise antwortete.
»Es muß wohl schlimm mit Eurer Gesundheit stehen, Padrone,« zischelte die Haushälterin mit einem Seufzer voll heuchlerischen Bedauerns: » drei Erben, die sich zu gleicher Zeit einfinden, um Euch in ängstlicher Besorgnis den Puls zu fühlen! Dio mio! Drei Erben auf einmal – und trotzdem glaubt Ihr, Padrone, es sei Euch ein ewiges Leben beschert!« Ein grimmiges Räuspern des greisen Misanthropen bezeugte, daß Petronilla, die gleißende Schlange, mit ihrem Stich den rechten Fleck getroffen hatte. »Drei Erben!« hüstelte er: »sie sollen abwarten, was für sie übrigbleibt! Sie spekulieren auf meinen Tod – hi! hi! hi! Sie sollen aber in der Suppe schon noch ein bitteres Kräutlein finden – hi! hi! hi! Der alte Erbonkel wird dafür sorgen, daß sein Testament –« Ein heftiger Hustenanfall schnitt dem kollernden Greise die weitere Rede ab. Petronilla aber – sie, die eigentliche perfide Erbschleicherin – freute sich ihres niederträchtigen Werkes und hinkte zur Türe hinaus, um den neuen Ankömmlingen den gleichen hämischen Willkommsgruß zu bieten, womit sie kurz zuvor den »kleinen« Simon empfangen hat.
* * *
Mit froher Hast war der Richter die Treppe hinabgeeilt, um den unerwarteten Gästen das Tor zu öffnen. Klirrend flogen unter seiner ungeduldigen Hand die schweren Eisenriegel zurück. » Buon giorno, Tante! Buon giorno, Bäschen Ginevra!« Ein Doppelkuß besiegelte den herzlichen Gruß; dann ergriff der Neffe und Vetter zugleich in geschäftigem Eifer die Zügel der beiden Maultiere und führte sie bis zur Haustüre, wo er als galanter Kavalier den zwei Damen aus dem Sattel half. Schon stand auch, auf ihren Krückstock gestützt, Petronilla bereit, um wie eine Kröte den ungebetenen Gästen ihren Geifer entgegenzuspritzen. Der Richter aber vereitelte das Beginnen des kleinen Scheusals, indem er den beiden Damen sofort den Arm bot und sie unter munterm Geplauder ins Haus geleitete. Hinter den Frauen, welche die alte Pförtnerin freundlich begrüßt hatten, nickte Petronilla höhnisch drein, als wolle sie sagen: Es ist schon alles besorgt.
Signora Giuliana Marzabotto – so nannte sich die bejahrtere der beiden Damen – war die jüngste, einzig noch lebende Schwester Signore Lorenzos und somit zugleich die Tante Simon Morettos. An einen neapolitanischen Offizier verheiratet, hatte Signora Giuliana viel Unglück gehabt: ihr Vermögen war in den Händen des ausschweifenden Gatten fast in ein Nichts zerronnen – ein Griff in die Bataillonskasse brachte den Major vollends an den Rand des moralischen Abgrundes und um dem Prozesse aus dem Wege zu gehen, jagte sich der unselige Mann eine Kugel durch den Kopf. Eine kleine Meierei im Tavoliere war alles, was die Witwe noch besaß, der bescheidene Pachtzins reichte gerade zur Bestreitung eines anspruchslosen Haushaltes und so siedelte die Majorin mit ihrer Tochter Ginevra nach dem apulischen Landstädtchen über, wo die Familie Moretto schon seit Generationen ihren Stammsitz hatte.
Einige Meilen davon lag das unwirtliche Eulennest, in welchem Signore Lorenzo, der müde Weltfahrer, jetzt seinen Hypochonder ausbrütete … Gleich von vornherein war die Heirat seiner Schwester mit einem Offizier nicht nach seinem Geschmack gewesen; nun der Verlauf und Ausgang gewissermaßen die Abneigung Lorenzos gerechtfertigt hatten, ließ er die eigenwillige Schwester die Schuld des liederlichen Gatten entgelten. Immerhin wäre es vielleicht der gramgebeugten Witwe und ihrer aufblühenden Tochter gelungen, den verknöcherten Einsiedler doch noch einigermaßen zu erweichen, wenn Petronilla nicht mit wahrhaft diabolischer Diplomatie alle Bemühungen der beiden Damen vereitelt hätte. Ohne daß es sich dem sonst so störrischen Sonderling direkt fühlbar machte, war seine Haushälterin, eine ganz und gar ungebildete Bauerndirne aus dem Tavoliere, mit Kniffen und Pfiffen aller Art dahin gelangt, daß sie tatsächlich über ihren Herrn eine bestimmende Gewalt ausübte. Sie, das zwergenhafte Ungetüm, war es, die in dem finstern Einsiedler die pessimistische Vorstellung erweckt hatte und arglistig nährte, daß seine Schwester und seine Nichte, nicht minder auch der »kleine« Simon, im Herzen nur auf seinen Tod spekulierten, um sich dann als lachende Erben in seine Hinterlassenschaft zu teilen. Während aber die unedle Kreatur dergestalt den letzten Gefühlsnerv des alternden Misanthropen ruckweise zerschnitt, verfolgte sie in ihrem rohen Egoismus selbst das Ziel, durch eine Testamentsverfügung des aufgestachelten Greises dessen Hab und Gut widerrechtlich an sich zu bringen.
So schlau hatte übrigens die alte Vettel bisher zu manövrieren gewußt, daß weder Signora Giuliana, noch Simone Moretto auf den Gedanken gekommen waren, in Petronilla die eigentliche Triebfeder zu der sich immer schroffer abschließenden Haltung Signore Lorenzos zu suchen. Unter solchen Umständen läßt es sich begreifen, daß die Witwe und der Richter nicht allzuhäufig das Verlangen empfanden, den so ungastlichen Bruder und Oheim zu besuchen und sich den Ausflüssen seiner Galle preiszugeben. Seit Wochen geschah es wieder zum ersten Male, daß Signora Giuliana die unwirtliche Klause des alten Einsiedlers betrat. Das schwergeprüfte Weib und die feingebildete Dame vereinigten sich in der Majorswitwe zu einem ungemein sympathischen Ausdruck und die ganze Gemütsverhärtung Lorenzos gehörte dazu, um nicht von dem Blick dieser stilltraurigen Frauenaugen gerührt zu werden. Angesichts der schwermütigen Mutter erinnerte die Tochter an eine schwellende Knospe neben der herbstlich entblätterten Blume. Achtzehn Jahre alt, von Statur eher klein als groß, mit heißglühenden Augen und einer Fülle von rabenschwarzem Haar, flink und graziös, stets heiter und neckisch – so malte sich in Ginevra von Kopf bis zu Fuß das jugendliche, so sinnlich pikante Urbild der Neapolitanerin. Während die drei Gäste die Treppe erstiegen, die zu Signore Lorenzos Gemach leitete, erfuhr der Richter aus dem Munde der Tante, wie es sich gefügt hatte, daß sie hier so zufällig zusammengetroffen waren. Am Tage zuvor hatte sich Signora Giuliana nach der ihr angehörigen Meierei begeben, um dort mit dem Pächter eine geschäftliche Angelegenheit zu ordnen. Noch am gleichen Abend brachte ein Knecht des Pächters die Neuigkeit, der Richter sei als Gast bei Taddeo Martini, den Hofbauern von Il Prugnolo, abgestiegen. Daraufhin habe Ginevra die Mutter sofort daran erinnert, wie sich hier die beste Gelegenheit biete, den gesetzkundigen Vetter Simon über eine die Mutter interessierende Rechtsfrage zu konsultieren, denn gewiß werde er, da ja einmal in der Nähe, nicht verabsäumen, den Oheim zu besuchen. Auf gut Glück hin ließ also Signora Giuliana am nächsten Morgen zwei Maultiere satteln, und unter der Eskorte ihres Pächters waren die Damen herübergeritten. »Wie du siehst, Simon,« bestätigte die Tante: »hat sich Ginevras Schlußfolgerung als richtig erwiesen, und ich bin zugleich dem guten Kinde zu Dank verpflichtet, daß sie mich sofort an die mich beschäftigende Rechtsfrage erinnert hat, die ich dir gleich nachher vorlegen werde« … Bei Erwähnung des löblichen Eifers, womit Ginevra der Mutter die Konsultation des gesetzkundigen Vetters ans Herz gelegt hatte, ließ der Richter einen verstohlenen Seitenblick nach dem Bäschen hinüberschweifen – ihre Augen begegneten sich und flammend wie ein Purpurröschen flog der reizende Mädchenkopf auf seinem schlanken Halse herum, um in jungfräulicher Scham seine holde Verwirrung zu verbergen …
Der Wärmegrad des Empfanges, der die neu eingetroffenen Gäste bei dem Hausherrn erwartete, war unter Null. Für Petronilla war es ein Leichtes gewesen, das Zusammentreffen des verwandtschaftlichen Trios als eine verabredete »Gesundheitsvisitation« hinzustellen, und der mißtrauische, zum lieblosen Mammonsknecht verknöcherte Greis hatte sich grimmig in Positur gesetzt, um die »hungrigen Leichenraben« gebührend zu empfangen. In wahrhaft verhängnisvoller Weise sollte es gerade der Richter sein, der den Zündfunken in die von Petronilla gelegte Mine schleuderte. Durch seine Begegnung mit dem schielenden Strolche und in weiterer Folge durch Jankals schlimmen Bericht war Simone Moretto in eine Aufregung geraten, die der eigensinnige Alte mit seiner Weigerung, die bedrohte Wohnstätte zu verlassen, nur noch gesteigert hatte. Einzig auf die Sicherung des an Leib und Leben gefährdeten Greises bedacht, benützte der Richter einen geeigneten Moment, um die Tante in die Situation einzuweihen und die Bitte daran zu knüpfen, ihm den Starrsinn Signore Lorenzos brechen zu helfen. Es läßt sich begreifen, daß Signora Giuliana und Ginevra, von Teilnahme und Entsetzen zugleich getrieben, ihren Vorstellungen den möglichsten Nachdruck zu verleihen suchten. »Onkelchen,« bestürmte ihn unter Schmeicheleien und Tränen das Mädchen: »Wir wollen dir helfen, dein Bestes zusammenzupacken, damit wir noch am hellen Tage von hier fortkommen. Du wirst von jetzt an bei uns wohnen, wo du wenigstens nicht zu befürchten brauchst, beraubt oder gar getötet zu werden. Onkelchen, pack' ein und komm' mit uns!«
Schweigend blickte der alte Mann vor sich hin; es war ersichtlich, daß ihn ein innerer Kampf bewegte. Langsam hob er den Kopf: sein Auge traf Petronilla, die scheinbar geschäftig im Hintergrund des Gemaches umherkramte. Mit spöttischem Grinsen nickte sie vor sich hin, als wolle sie sagen: »Na, so packe doch geschwind dein Bündel zusammen und lasse dich von deiner zärtlich besorgten Sippe ausplündern.«
Und der wahrhaft dämonische Bann, den die alte Hexe auf den Einsiedler ausübte, feierte auch diesmal seinen Triumph, denn schon spiegelte sich im Gesichte des Greises der jähe Umschlag seiner momentanen Stimmung. Die krankhafte, fixe Idee, daß sich bei seinen drei Erben jeder Schritt und jeder Gedanke einzig und allein um seine Sterbestunde und seinen Mammon drehe, verdunkelte wiederum wie eine Wolke den flüchtigen Lichtstrahl einer besseren Erkenntnis. Mit einer barschen Handbewegung schob er die liebliche Mädchengestalt von sich. Und nun, durch die gelegentlichen Streifblicke Petronillas mehr und mehr aufgestachelt, arbeitete sich der alte Misanthrop in all die Leidenschaftlichkeit hinein, die ja von jeher in ihm loderte wie ein Heklafeuer unter seiner Eisrinde. In Vorwürfen jeder Art entlud sich seine Galle, auch die unglückliche Ehe seiner Schwester machte er zur Zielscheibe seiner giftigen Sarkasmen und mit boshaftem Behagen rekapitulierte er sämtliche Missetaten des seligen – oder richtiger gesagt: unseligen Majors. Schon um ihres anwesenden Kindes willen konnte Signora Giuliana zu diesen unwürdigen Injurien nicht schweigen, und auch Simone Moretto fühlte sich gedrungen, in ernsten Worten das herzlose Benehmen des Alten zu rügen. Gerade dadurch aber erreichte die Erbitterung Signore Lorenzos ihren Gipfel und mit keuchender Stimme gebot er dem Trio, sofort sein Haus zu verlassen. Den nochmaligen Hinweis des Richters auf die im Walde zweifellos lauernden Banditen schnitt der außer Rand und Band geratene Greis mit der höhnischen Bemerkung ab, die Räuber würden wohl nicht habgieriger sein, als andere Erbschaftsspekulanten, die bloß kämen, um zu sehen, ob der alte Pfennigfuchser noch zappele.
Auf diesen letzten Trumpf war von seiten der so gröblich beleidigten Gäste nichts mehr zu erwidern und in edler Würde erhob sich Signora Giuliana mit der Erklärung, daß sie fortan dem Bruder keine Gelegenheit mehr bieten werde, sich ihretwegen zu ereifern; zugleich bat sie den Richter, ihre Maultiere ungesäumt satteln zu lassen. Simone Moretto billigte vollkommen den von der Selbstachtung diktierten Entschluß der Tante – andererseits konnte er unmöglich die beiden Damen den Eventualitäten eines unsichern Weges schutzlos preisgeben, denn der sie begleitende Bauer war schon ein älterer Mann. Demzufolge ging der Richter, um auch sein eigenes Pferd aufzuzäumen. Im Hofe traf er den Madagassen und winkte ihn zu sich heran. Ohne die Ursache seines jähen Aufbruches näher zu berühren, schärfte er dem treuen Diener mit wenigen Worten ein, wohl auf der Hut zu sein, bis weitere Verstärkung komme. Ruhig, ohne mit einer Wimper zu zucken, gab der Stumme in seiner ausdrucksvollen Zeichensprache die Zusicherung, er werde auf seinem Posten stehen oder fallen … Eine Viertelstunde später verließ die kleine Reitertruppe die unwirtliche Klause des greisen Harpagons. In düsterm Brüten sah von seinem Sessel aus Signore Lorenzo die Gäste scheiden. An einem andern Fenster zeigte sich das schadenfroh grinsende Gesicht Petronillas. O, wenn es der elenden Kreatur vergönnt gewesen wäre, nur um wenige Stunden in das Kommende vorauszublicken – – ihr Jubel hätte sich jählings in Todesgrauen verwandelt! …
Der Richter hatte den Weg nach dem Gehöfte Taddeo Martinis eingeschlagen. Tief verschleiert, still vor sich hinweinend, ritt Signora Giuliana an seiner Seite; auch Ginevra zügelte wortlos, in schmerzliches Sinnen verloren, ihr Maultier. Der Pächter deckte als Nachtrab den kleinen Zug.
Draußen in der Ebene blickte der Richter nochmals zurück: droben auf der Höhe lag in finsterer Einsamkeit das öde, wettergraue Gemäuer, in dem ein verfehltes, für die Welt verlorenes Menschenleben in selbstgeschaffener Freudlosigkeit dahinvegetierte. Gewaltsam wandte Simone Moretto seine Gedanken einer näherliegenden Aufgabe zu und im Weiterreiten faßte er seinen Plan.
Die beiden Damen sollten im Gehöfte Taddeos übernachten; von da aus wollte der Richter sogleich bei seiner Ankunft reitende Boten nach den nächstliegenden Gendarmeriestationen entsenden, und da in der Grassteppe des Tavoliere nur berittene Carabinieri fungierten, so ließ sich deren Eintreffen in verhältnismäßig kurzer Zeit erwarten – vorausgesetzt allerdings, daß der Bote die so viel beschäftigten Hüter des Gesetzes gerade auf ihrer Station vorfand oder ihnen unterwegs begegnete. Hier war eben nur auf gut Glück zu rechnen. Gleichzeitig wollte Simone Moretto unter den Knechten Taddeos die zuverlässigsten auswählen und ungesäumt zur einstweiligen Unterstützung Jankals nach dem Schlosse schicken. Es war kaum zu erwarten, daß die Banditen vor Einbruch der Nacht zum Angriff schreiten würden und bis dorthin wollte der Richter entweder mit den inzwischen eingetroffenen Carabinieri, oder aber mit anderweitigem Succurs an Ort und Stelle sein, um den Räubern nötigenfalls einen gebührenden Empfang zu bereiten. Ebenso entschlossen war jedoch auch Simone Moretto, den Trotz Signore Lorenzos unter allen Umständen zu brechen und, wenn es sein müßte, den störrischen Greis, zu seinem eigenen Heil, mit Gewalt nach einem geschütztern Orte zu bringen.
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Unangefochten erreichten die vertriebenen Gäste das wirtlichere Dach des wackern Taddeo Martini, der, die Hände in den Hosentaschen und eine dampfende Zigarette zwischen den Zähnen, an seinem Hoftor lehnte und schon von weitem die herantrabende Kavalkade ins Auge gefaßt hatte.
Vor allem galt es, für die leibliche und seelische Erholung der beiden angegriffenen Damen zu sorgen, und mit ehrerbietigem Willkommsgruß geleitete die Padrona Mutter und Tochter in die »gute« Stube. Wohl hatten sich die drei Ankömmlinge nach Möglichkeit bemüht, ihre erregte Stimmung zu verbergen – Taddeo war aber nicht der Mann, der sich durch die erzwungenen Scherzworte des Richters täuschen ließ, und demzufolge wollte er wissen, was vorgefallen sei. Die Familienszene mit Schweigen übergehend, referierte Simone Moretto in gedrängter Kürze seine Begegnung mit dem Schielenden und die von Jankal gleichzeitig beobachtete Anwesenheit noch zweier weiterer Strolche, die jedenfalls die Platzverhältnisse rekognosziert hatten, um wohl schon in der kommenden Nacht den erhofften Millionen des alten Einsiedlers einen Besuch zu erstatten. Alle himmlischen und irdischen Strafarten auf die Häupter der Schnapphähne herabfluchend, stellte Taddeo sich und sein gesamtes Personal der Justiz vollständig zur Verfügung, und hurtig sprang der kleine Mann davon, um ungesäumt das Nötige anzuordnen. Schon in kürzester Zeit galoppierten drei Boten mit einer versiegelten Order des Richters nach den nächsten Gendarmeriestationen, während zugleich unter dem Kommando des Großknechtes – eines ausgedienten Ulanenunteroffiziers – vier handfeste, wohlbewaffnete Mandriani mit verhängten Zügeln dem Schlosse entgegenjagten, um dem Madagassen die versprochene Hilfe zu bringen …
So mag weiland Noah in seiner Arche hoffend und verzweifelnd nach seiner Taube ausgespäht haben, wie jetzt Simone Moretto in nervöser Spannung sein Auge über die endlose Ebene hinschweifen ließ, ob nicht von Minute zu Minute eine Staubwolke die Rückkehr der ausgeschickten Boten künde, oder gar schon den erlösenden Sturmritt seiner braven Carabinieri.
Schluß des ersten Bandes.
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Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg.