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Am 29. August 1862 hatte auf der Hochebene des Aspromonte Garibaldi mit seiner Legion die Waffen gestreckt.
Durch Vermittelung des Kardinal-Erzbischofs von Neapel war die Kunde dieses bedeutsamen Ereignisses in einer chiffrierten Depesche am nächsten Morgen zu Rom eingetroffen. Im Vatikan und Polizeipräsidium aber hatte man blutwenig Ursache, sich mit der Publizierung dieser Post zu beeilen, die voraussichtlich höchst unliebsame Demonstrationen des mit Garibaldi sympathisierenden geheimen Nationalkomitees hervorrufen mußte. Und dieses, den Sturz des weltlichen Papsttums und die Einheit Italiens anstrebende Revolutionskomitee hatte die ganze intelligente und freisinnige Bevölkerung der Stadt und des Kirchenstaates hinter sich. Ein merkwürdiges Ding um dieses Komitee! Es hatte seinen Sitz in Rom. Das wußte der Papst und seine ganze Polizei. Aber wo, in welchem Winkel der heiligen Stadt, hielt das Komitee seine Sitzungen ab? Wie war es eigentlich organisiert? Unlösliche Fragen! Unlösbar trotz der tausendfachen, von schlauen Pfaffen gelegten Schlingen und Fallen. Die feinspurigsten Spione des Vatikans konnten niemals den Mittelpunkt dieses mazzinistischen Verschwörungsringes fassen.
Am 30. August war die Kapitulation Garibaldis für die Römer immer noch ein von Regierung und Polizei sorgsam gehütetes Geheimnis und demzufolge die Ruhe der Bevölkerung zunächst ungestört geblieben. So verging der Tag und eine traumvolle Sommernacht breitete schmeichelnd ihren tiefblauen Sternenmantel über die müde Siebenhügelstadt.
Das Rom von heute ist nicht mehr das Rom Goethes und der Madame de Staël – nicht einmal mehr das Rom Lamartines. Vieles ist seitdem anders, manches nicht besser geworden. Besonders hat der revolutionäre Aufstand von 1848/49 im dortigen gesellschaftlichen und lokalcharakteristischen Leben einen großen Umwälzungsprozeß hervorgerufen, der durch die mittlerweile erfolgte Erhebung Roms zur Reichshauptstadt abermals in eine neue Phase getreten ist. An Stelle des weggefegten intriganten Pfaffenregiments schaltet und waltet heutzutage die steif abgezirkelte, glatt gebürstete piemontesische Bureaukratie. In seinem nüchternen, formalen Wesen ist, wie schon einmal bemerkt, der Piemontese ganz und gar ein ins Italienische übersetzter Preuße und auch in seiner Brust wohnen zwei Seelen: Soldat und Kanzleimensch … Im Jahre 1862 dagegen spielte zu Rom immer noch der Priester die erste Geige, und vom Beichtstuhl aus, von der Kanzel herunter empfing die alte Metropole der Cäsaren und Päpste ihren modus vivendi. Das spezifisch römisch-katholische Volkstum hatte sich damals in Trachten und Sitten noch viele originale und originelle Überlieferungen bewahrt, die jetzt unter der piemontesischen Herrschaft mehr und mehr den altgewohnten Halt verlieren. Ungleich häufiger als heute begegneten damals dem Auge jene charakteristischen Typen, die der Pinsel des Malers mit unersättlicher Lust auf die Leinwand bannt. Bettler in pittoresken Lumpen, Mönche in Kutten jeder Farbe, vierschrötige Schweizer von der päpstlichen Leibwache und schmächtige, leisetretende Seminaristen. Daneben und dazwischen noch andere Figuren, die teilweise bis zur heutigen Stunde dem Straßenleben der modernisierten Tiberstadt ein so eigenartiges Kolorit geben: glutäugige Weiber und Dirnen von Trastevere mit grellfarbigem Mieder und Busentuch, Schnitter und Holzhauer aus der Maremma – hagere, knochige Gesellen in braunen Jacken, Kniehosen und Ledersandalen; dort der Fuhrmann mit seinen bunt aufgeputzten Maultieren, hier die »Balia« (Amme) in grünem, rotbebändertem Mieder und grauem, rotgestreiftem Rock, um den braunen vollen Hals die doppelte und dreifache Korallenkette und hinten im schwarzen Zopf die Silbernadel mit Blumenkrone und Blätterwerk. Dort wiederum mit schelmischem Lächeln und kokettem Trippelschritt die »Lavandara« (Wäscherin) in gepufften kurzen Hemdärmeln, Mieder, Brusttuch und Schürze blendend weiß, der Rock dagegen grell scharlachrot. Ein seltsames Quieken und Knurren berührt unser Ohr; es sind die »Pifferari« – aus den Abruzzen herkommende Hirten, die vor den Marienbildern an den Straßenecken ihre wunderlichen, uralten Weisen leiern. Dort steht die Gruppe in Spitzhut und dunklem Kragenmantel; der Alte bläht mit feierlichem Ernst und kräftigem Pusten die Zampogna (Dudelsack), seine braunen, von Wind und Wetter zerzausten Buben traktieren mit dem gleichen Urbehagen die Piffera (Sackpfeife), die sekundierend mit schrillem Triller einfällt. Hier mit seinen zottigen, halbwilden Hunden der »Giunciatore« (Schäfer und Käser), in grobem Filzhut, blaugrauem Wams, roter Weste und abgeschabtem Beinkleid von Ziegenfell; dort endlich der wohlgenährte, humorvolle »Fattore« – der in die Campagna di Roma verpflanzte Inspektor Bräsig – in braungrauem Mantel und bockslederner Reithose, den Karabiner über den Rücken gehängt, die wuchtige Stachellanze in der Faust und auf magerm, zähem Klepper gemächlich seines Weges trabend …
Aus solchen, hier nur flüchtig skizzierten Elementen und Ingredienzien zog das Straßenleben des vormaligen Rom seinen hauptsächlichen Reiz.
Der Monat August war und ist noch für die Tiberstadt die unerquicklichste Zeit im ganzen Jahre. Die sogenannte » Aria cattiva« – ein alljährlich sich einstellender, mit Fiebermiasmen geschwängerter Windstrich – erreicht, im Juli beginnend, zu Ende August ihren Höhepunkt. In diese sonndurchglühten, fieberbrütenden Tage fällt die Saison morte Roms und jedes Reisehandbuch warnt den unkundigen Touristen, während dieser Jahreszeit den klassischen Boden der ewigen Stadt zu betreten. Schon mit den ersten Junitagen beginnt die Flucht nach den nahen Gebirgen und zurück bleibt nur, wen ein absolutes Muß an seine vier Pfähle festnagelt. In den Stadtvierteln, wo das eigentliche Volk haust, wie z. B. in Trastevere und in der Regione di Monti, geht allerdings auch während der Hundstage das Leben seinen ebenen Trott fort, die aristokratischen und Fremdenquartiere dagegen werden von Tag zu Tag öder, die fashionablen Hotels in der Umgegend des »Spanischen Platzes« schließen hinter dem letzten Gaste Tür und Tor. In der ganzen Stadt sind die Fensterläden und Jalousien bis zur Abendstunde hermetisch verriegelt und niemand, den nicht dringender Anlaß aus dem Hause treibt, setzt vor der vierten Nachmittagsstunde einen Fuß auf das glühende Trottoir. Gegen Mittag besonders brütet über den lautlosen Straßen und Plätzen eine geradezu geisterhafte Lethargie, und die Menschenleere zwischen den hohen Häusern, die kaum einen schmalen Streifen von Schatten neben sich herwerfen, hat dann in dieser Stunde etwas maßlos Bedrückendes. Erst die Abenddämmerung und die um diese Zeit sich regelmäßig einstellende Nordbrise lösen den Bann, unter dem Mensch und Tier den Tag über schmachteten …
Auch jetzt, am 30. August 1862, war nach verzehrendem Sonnenbrand der so ersehnte Moment der Erlösung herbeigekommen; die hundert Glocken der ewigen Stadt hatten mit dem melancholischen Geistergruß des Ave Maria dem westwärts verbleichenden Tage ein letztes Lebewohl nachgerufen und von Haus zu Haus öffneten sich Tür und Fenster, um die Nacht mit ihrer erquickenden Kühle willkommen zu heißen. Es war, als würden die Kulissen einer Theaterbühne verschoben, um einem neuen Aufzug Platz zu machen. Die weite Ellipse der Piazza del Popolo, noch kurz zuvor ein Bild des Schweigens, war, wie auf den Wink eines Regisseurs hin, zum Tummelplatz eines echt südländischen Lebens und Webens geworden. Um die beiden antiken Brunnen, die die Piazza rechts und links flankieren, um den ägyptischen Obelisken, der vor Jahrtausenden am Tor des Sonnentempels zu Heliopolis stand, schon zu Christi Zeiten aber als Siegesbeute nach Rom wanderte, lagerten und spazierten jetzt in buntem Durcheinander Gruppen von Menschen. Bei Mann, Weib und Kind das Recken und Strecken eines frohen Urbehagens und dennoch bei allen im Maß gehalten durch jenen natürlichen, würdevollen Anstand, der von jeher die Romulusenkel charakterisiert und besonders dem nordischen Touristen, der die ungeschlachtern Formen seines heimatlichen Volkslebens damit vergleicht, so anmutend in die Augen fällt. Von der Piazza del Popolo aus zieht sich in schnurgerader südlicher Richtung die Hauptstraße Roms, die vielgefeierte Via del Corso, die unweit von der Stätte des antiken Kapitols ihren Abschluß findet. Der Corso kann sich bis zum heutigen Tage weder an Pracht noch an Breite mit den Zentralstraßen der andern modernen Weltstädte messen; die hohen Fassaden der durchschnittlich nur zwölf Meter auseinander gerückten Häuser geben, namentlich bei trübem Wetter oder in der Dämmerung, dieser Verkehrsader etwas Ernstes, fast Düsteres: eine Reihe gewaltiger Paläste in echt römischem Baustil bewahrt dafür aber dem Corso den Charakter grandioser Originalität. Jetzt – auf den benachbarten Kirchtürmen hatte es bereits un' oca di notte, nach italienischer Zeitrechnung die erste Nachtstunde nach dem Ave Maria, geschlagen – jetzt entfaltete sich, von Gasflammen und Lichtern erhellt, auf dem Corso jenes reizende Sommernachtsleben, wie es, damals nur noch reichgestaltiger und ursprünglicher, Goethe geschaut und beschrieben hat. Dort dem Palazzo Rondonini gerade gegenüber steht ja heute noch die »Casa di Goethe«, die damals den liederreichen Romapilger beherbergte; noch heute betritt in weihevoller Stimmung der deutsche Tourist die beiden historisch gewordenen Eckzimmer, von denen das eine zwei Fenster nach dem Corso, das andere zwei Fenster nach der Via Fontanella hin hat. Letzteres Gemach ist der von Goethe so bezeichnete »Saal«, dem gerade gegenüber Angelica Kaufmann, die berühmte Malerin, »herübergrüßte« – um des Dichterfürsten eigenes Wort zu zitieren …
Die lustwandelnde Menge konnte in jener Sommernacht sagen: Wir sind unter uns. Die Malaria hatte ja die Fremden in die Berge und Bäder getrieben und was in der Stadt zurückgeblieben war, konnte mit nur wenigen Ausnahmen seinen gut römischen Taufschein aufweisen. Durch den Ausschluß aller fremdländischen Elemente aber gewann gerade dieses nächtliche Straßenleben seinen lokalen Reiz. Die Karossen der Diplomatie und der sonstigen haute volée waren verschwunden, an ihrer Stelle figurierte jetzt der Vetturino mit seinem Klapperkasten, auf dessen steinharten Sitzkissen der Pfahlbürger mit Weib und Kinderrudel der jedem Römer angeborenen Fahrlust frönte. Fort waren die steifgestärkten Engländerinnen mit ihren zolllangen Kaninchenzähnen und kalbsblonden Schmachtlocken! Auf dem Trottoir regierten zur Stunde die einheimischen Töchter des klassischen Bodens – nicht alle von gleicher zaubervoller Schönheit, aber alle von gleicher antik-naiver Grazie, selbst noch im Silberhaar der Matrone …
Liebenswürdiges, harmloses Volksleben, das in jener Hochsommernacht den Corso entlangflutete und sich dann in einzelnen Wellen dahin und dorthin ergoß! Neckisches, glockenhelles Mädchenlachen in den luftigen Rebenlauben der Osteria, wo eine einzige Foglietta römischen Landweines eine Heiterkeit hervorruft, die im grämlichen Norden mit einem Faß erst erkauft werden kann. Tiefer in den Büschen und Hecken zitternde Mandolinenklänge, die an kein italienisches Herz appellieren, ohne es in Freud' oder Schmerz zu bewegen. O, Leser im kühlen Norden – ein alter, stillgewordener Mann schreibt diese Zeilen, für einen Moment ist er aber wieder jung geworden, denn aus fernen, für immer entschwundenen Sommernächten erklingen ihm mit einem Male wieder die schmelzenden Akkorde der Mandolinata wie ein Geisterecho – längst schon im Tode geschlossene Frauen- und Mädchenaugen lächeln aus einer andern Welt zu ihm herüber und winken mit schlanker, weißer Hand, wie damals – – –
Was vergangen, kehrt nicht wieder,
Aber ging es leuchtend nieder,
Leuchtets lange noch zurück!
* * *
Der Corso erstreckt sich von der Piazza del Popolo bis nahe zum Kapitol hin. Von dieser Pulsader des städtischen Verkehrs zweigen sich zahlreiche Straßen, Gassen und Gäßchen nach rechts und links ab – u. a. auch die Via del Plebiscito. Geht man diese Straße entlang, so erreicht man nach kurzer Wanderung einen offenen Platz, auf dem sich ein gewaltiges Bauwerk in etwas verschnörkeltem Stil erhebt: es ist die Chiesa al Gesù – der Römer sagt kurzhin » Il Gesù« – die im Jahr 1568 von Vignola entworfene und von seinem Schüler Giacomo della Porta vollendete Jesuitenkirche. Gleich gegenüber liegt das Kloster des ominösen Ordens, der seit seiner Stiftung schon so viele dunkle Blätter im Buch der Weltgeschichte gefüllt hat und – auch noch ferner füllen wird, denn der Jesuitismus stützt sich mit dämonischer Klugheit auf die angeborenen, unwandelbaren Schwächen, Gelüste und Leidenschaften der Menschennatur, und wie ein Polarstern, den die Sturmwolken nur momentan verhüllen können, leuchtet den geschmeidigen Loyolajüngern die tröstliche Weissagung, die ihnen auf seinem Sterbebett Franz von Borgia, ihr dritter Ordensgeneral, hinterließ: »Wie Lämmer haben wir uns eingeschlichen, wie Wölfe werden wir regieren, wie Hunde wird man uns vertreiben, aber wie Adler werden wir uns verjüngen!« Mögen Dichter und Zeitungsschreiber in geharnischten Sonetten und mit polternden Schlagworten den nahen Bankrott des Jesuitismus proklamieren und damit schwärmerische Gymnasiasten und liberalisierende Bierphilister ergötzen; der nüchterne Menschenkenner und Geschichtsdenker hat ein anderes, minder rosenfarbiges Urteil und für ihn steht es fest, daß Lamm, Wolf, Hund und Adler leider noch lange nicht ihre historische Rolle ausgespielt haben, denn die schwarze Bande weiß sich viel zu nützlich zu machen. Wo und bei wem? Davon wird noch die Rede sein. – – An der Ostseite des Klosters zieht sich die Via del Gesù hin – die Jesusgasse.
Damals, im Jahre 1862, wo das piemontesische Ketzerregiment noch nicht in Rom schaltete und waltete, gehörte die ganze Jesusgasse gewissermaßen zum Klostergut, und Mann, Weib und Kind, die in der düstern, unheimlichen Via del Gesù hausten, standen, je nach Bedürfnis und Qualifikation, im offenen oder verborgenen Dienste des Ordens …
Drüben auf dem Corso herrschte, trotz der späten Nachtstunde, noch immer ein heiteres Gewimmel; desto stiller war es hier in der Klostergasse, durch die nur zeitweise vereinzelte Schatten hinhuschten, um ebenso geräuschlos in dem einen oder andern der altertümlichen Häuser zu verschwinden. Einer dieser Schatten tauchte soeben zwischen den Gasflammen auf, die in weitem Abstand – für die lichtscheuen Patres freilich noch immer nahe genug! – die Gasse spärlich erhellten. Noch bevor sich die Figur bestimmter erkennen ließ, verrieten der leichte Schritt und das leise Knistern eines Seidengewandes das Geschlecht dieses nächtlichen Schattenbildes, das im nächsten Moment unter einer der Gaslaternen Halt machte, um sich mit einem prüfenden Blicke zu orientieren. Ein schwarzer Schleier verhüllte das Gesicht; der flüchtige Schritt aber und die ganze Haltung des Körpers, dessen schlanke Formen selbst noch unter der Mantille sich abzeichneten, ließen darauf schließen, daß die Dame noch in einer jüngeren Lebensperiode stand. Der Richtung ihres Blickes nach zu urteilen, schien sie eine bestimmte Hausnummer zu suchen – das unstete Spiel von Licht und Dunkel vereitelte aber das Bemühen und zwang die Dame, sich nach anderweitiger Hilfe umzusehen. Sie wandte sich an einen des Weges kommenden Mann.
» Di grazia, non saprebbe dirmi, dove allogia il signore Gozzoli?« Grammatikalisch war die Frage ganz richtig gestellt, der Wortklang dagegen hatte gleich bei den ersten Silben die Ausländerin verraten: die Nordländerin – dem eigentümlich breitdehnenden Zungendruck nach zu urteilen – die Tochter Albions. Mit der dem Italiener aller Stände angeborenen Höflichkeit lud der Mann, anscheinend ein Handwerker, durch eine zierliche Bewegung die Fremde ein, ihm zu folgen. Quer die Gasse durchschneidend, blieb er nach einigen Schritten stehen. » Ecco ci, signora!« Er deutete nach einem hohen, verräucherten Hause, in dessen Parterreräumen sich, wie dies die Schaufenster verrieten, ein Geschäftsladen befand. Um diese späte Nachtstunde war natürlich das Magazin geschlossen, überhaupt das ganze Haus wie ausgestorben. Die Eingangstür lag, halb versteckt, zwischen zwei dicken Steinsäulen, auf die sich oben in der Bel-Etage ein Balkon stützte. An eine der Säulen war ein ovales Blechschild befestigt, das in ziemlich verblichenen Goldlettern die Inschrift trug:
Vergilio Gozzoli,
Librajo – Antiquario –
Venditore di rami e di pitture.
Ein freundliches » La ringrazio« verabschiedete den Führer, der mit einem » felicissima notte, signora« quittierte und dann seines Weges weitertrollte. Nochmals heftete sich der Blick der Dame auf das Blechschild, als wolle es jedem Irrtum vorbeugen. Aber es war ganz richtig; hier hauste unzweifelhaft der ehrsame Signore Virgil Gozzoli in seinem dreifachen Lebensberuf als Buchhändler, Antiquar und Auktionator von Kupferstichen und Gemälden.
Die Eingangstür, so schwarz und verräuchert wie das ganze Haus, war geschlossen, doch daneben am Pfeiler zeigte sich der Leitungsdraht einer Klingel und die Dame setzte den primitiven Apparat in Bewegung. Einige Minuten verflossen, ohne daß sich im Innern etwas rührte oder regte, dann mit einem Mal öffnete sich lautlos die Türe zu einem schmalen Spalt, zwischen dem sich ein Kopf hervorschob.
Im Hausflur brannte wohl eine Lampe, denn ein gedämpfter Lichtschein fiel von dort her auf die draußen stehende Dame. Die Augen, die zu dem Kopfe gehörten, hatten mittlerweile den nächtlichen Besuch mißtrauisch gemustert, und im Einklang damit stand die grämliche Stimme, die soeben die Frage stellte: »Was wünschen Sie, Signora?«
» Sint ut sunt!« antwortete halblaut das verschleierte Weib.
Mit leisem Klirren fiel innen die Sperrkette, und mit einer stummen Verbeugung trat der vorsichtige Türhüter einen Schritt seitwärts, um die Frauengestalt passieren zu lassen. Dann schloß er behutsam wieder die Pforte. Der Türwächter, ein älterer, schwarzgekleideter Mann, ergriff seine Ampel, um dem späten und dennoch offenbar erwarteten Besuch vorauszuleuchten. Ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, durchschritten die beiden den feuchten, gewölbten Hausflur und erstiegen alsdann eine steinerne, durch langjährige Benützung ausgetretene Treppe. Oben im ersten Stockwerk erschloß der Pförtner mit drei verschiedenen Schlüsseln eine schwer mit Eisen beschlagene Türe, die er hinter sich und seiner Begleiterin sofort wieder verriegelte. Durch eine Reihe von finstern, kahlen Gemächern gelangten die beiden vor eine weitere Tür, an die der Alte in eigentümlicher Reihenfolge drei leise Schläge tat. Einen Moment darauf klang durch die unheimliche Stille ein kurzer, knarrender Ton, wie das Zurückschnellen einer stählernen Schlagfeder. » Entri!« erscholl von innen her eine Stimme.
Der Alte wandte sich nach der Dame um und deutete mit einem stummen Wink auf die Tür hin; dann erlosch wie durch einen Geisterhauch seine Ampel und fort war er, als hab' ihn die Versenkung eines Theaters verschlungen. Mit einem nervösen Druck hatte sich die Hand der Dame auf die Türklinke gelegt – – im nächsten Moment schon blendete ein greller Lichtglanz ihre Augen. Sie befand sich in einem geräumigen, saalartigen Gemach, dessen Wände in altertümlicher Weise ein schwarzer Wollstoff bekleidete, woraus in mattem Silber Sterne und Kreuze reihenweise eingewirkt waren.
Ein gleicher mit Sternen und Kreuzen durchwirkter Teppich bedeckte den großen, mit Büchern und Aktenbündeln belasteten Tisch, der ganz im Hintergrund des Gemachs stand und mit einigen altmodischen Polstersesseln das Mobiliar bildete. Über dem Tisch war in einer Wandnische ein Kruzifix aus köstlichem Siena-Alabaster angebracht. Ein mitten von der Saaldecke herabschwebender Kronleuchter übergoß mit seinem Flammenschein diese Stätte gespenstischer Ruhe. Zögernd, wie von dumpfer Angst gelähmt, stand das verschleierte Weib immer noch auf der Schwelle, ihr unstet irrendes Auge hatte aber inzwischen einen Haltepunkt gefunden, denn vom Tische her näherte sich langsam und schweigend der Bewohner dieses unheimlichen Raumes. Die über den Boden hingebreiteten indischen Binsenmatten dämpften den Tritt seiner Schuhe und machten seinen Gang zu einem schattenhaften Dahingleiten. Es war die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes von etwa fünfundvierzig Jahren; eine lange schwarze Soutane – das Alltagsgewand der katholischen Geistlichen in Italien, Spanien und Frankreich – umschloß knapp und bis unter das Kinn zugeknöpft den Hagern, knochigen Gliederbau, der selbst in seinen gemessensten Bewegungen eine zähe, katzenartige Sehnenkraft verriet. Zu diesem Torso paßte der magere, längliche Kopf mit der scharfgeschnittenen Geiernase, die, von zwei kleinen stechenden Augen flankiert, steil und schroff wie eine Granitklippe über den schmalgespaltenen Mund vorsprang. Im Schein des Kronleuchters gewann die gelbe Hautfarbe dieses Charakterkopfes den matten Glanz eines altflorentinischen Bronzegusses.
Langsam, schweigend, die Hände auf den Rücken gekreuzt, hatte sich der Schwarze genähert: etwa drei Schritte vor dem nächtlichen Gaste machte er Halt, und als läge in seinem Blick ein herrischer Befehl, so streifte im selben Moment das Weib den Schleier zurück. Noch eine Sekunde lang fixierte der Schwarze regungslos die vor ihm stehende Frauengestalt – dann öffneten sich seine Lippen zu der lakonischen Begrüßung: » Well?!«
Er streckte die Hand aus, als woll' er etwas in Empfang nehmen; demütig das Knie beugend, hauchte das junge Weib einen scheuen Kuß auf die gelbe Knochenhand. Kalt akzeptierte der Schwarze den Tribut des reizenden Mundes, dann wandte er sich dem Tische zu, um in seinem Armsessel Platz zu nehmen. Leichthin deutete er mit dem Zeigefinger nach einem Fauteuil, der seitwärts vom Tische und im vollen Strahlenkreis des Kronleuchters stand.
» Take place, Harriet!«
Es waren nur drei Worte, aber schon der bloße Klang in seinem Munde verriet, daß er die englische Sprache vollkommen beherrsche. Der Schwarze beherrschte sämtliche Sprachen Europas und nebenbei noch ein halbes Dutzend afrikanischer und asiatischer Mundarten …
Der Einladung Folge leistend, hatte sich die junge Dame in den Fauteuil niedergelassen. Ihr Gesellschafter saß so, daß er sie direkt im Auge hatte; die Helle des Kronleuchters, die, wie bereits erwähnt, voll auf den Fauteuil herabfiel, gestattete dem Schwarzen, den flüchtigsten Gesichtsausdruck, das feinste Mienenspiel seines vis-a-vis zu beobachten. Er hatte unter den vor ihm liegenden Aktenstücken einen mit Chiffern beschriebenen Papierbogen hervorgelangt, über dessen Zeilenreihen er jetzt seinen scharfen Geierblick hinfliegen ließ. Nichts störte die geisterhafte Ruhe, als manchmal das Rascheln des Papierbogens, oder das leise Knistern des seidenen Frauengewandes.
In wahrhaft klassischer Formensymmetrie war der Körper dieses sechsundzwanzigjährigen Weibes aufgebaut, der, ohne mager zu sein, jeder üppigen Fülle entbehrte; das Strumpfband einer regelrechten Schlächter- oder Bäckerfrau hätte sich bequem als Gürtel um diese schlanken Hüften spannen lassen. Rotblondes Haar, wie es seinerzeit bei Athenaïs von Montespan Die gefeiertste unter den Maitressen Ludwig des Vierzehnten. einen ihrer pikantesten Reize bildete, quoll in schweren Flechten unter dem Hute hervor. Mit rotem Haar paart sich meistens, um die vulgäre Redensart zu gebrauchen, »ein Gesicht wie Milch und Blut«. Auch die feine Haut der Engländerin hatte den in diesem Gleichnis angedeuteten bläulichen Milchschimmer, aber fern von jedem krankhaften Zuge, gewann das blutlose Antlitz die bleiche Geisterruhe eines Marmorbildes, nur belebt durch ein Augenpaar von dunklem Blau. Gewiß konnten in diesem schönen Weibe mächtige Leidenschaften pulsieren, aber die Zeichen solcher Regungen wollten im Flug erhascht sein, denn ein Vorhang von echt englischem Phlegma verhüllte für gewöhnlich das seelische Räderwerk, das diesen Sphinxleib in Bewegung setzte …
Wohl nur, um sich irgend eine Beschäftigung zu machen, hatte sie unterdessen ihre Handschuhe ausgezogen und dadurch einen weitern Reiz ihrer Erscheinung ins Licht gerückt. Halb in ihren Sessel zurückgelehnt, regungslos, nur in den großen Augen das verräterische Zucken innerer Erregung – so saß sie dem Schwarzen gegenüber, der immer noch in unheimlichem Schweigen und scheinbarem Selbstvergessen seine Lektüre verfolgte.
* * *
Mit einemmal gab er seinem Sessel einen kurzen Ruck. Seine Faust wie einen Briefbeschwerer auf das Schriftstück legend, richtete er kalt und langsam seine kleinen Augen auf den nächtlichen Gast.
»Sie wissen, Harriet,« begann er in fließendem Englisch, »warum ich Sie hierher berufen habe.«
»Ich weiß es, Pater Mariano,« antwortete die Engländerin in einem eigenen Ton voll Trotz und Scheu zugleich.
»Sie sehen, Harriet,« fuhr er gelassen fort, »die Gesellschaft Jesu wacht über all ihre Angehörigen und beansprucht das Recht, von ihnen zu jeder Stunde vollste Rechenschaft zu fordern. Harriet, Sie haben sich schon zu wiederholten Malen Eigenwilligkeiten erlaubt, und wenn ich auch zugeben mag, daß sie an und für sich keine besondere Bedeutung hatten, so offenbarte sich doch immerhin darin das Gelüste, eigene Wege zu gehen. Meine Tochter, Sie kennen die eiserne Disziplin, die unsern Orden mitsamt seinen weltlichen Mitgliedern umklammert! Ich sage: hüten Sie sich, Harriet, diese Disziplin nur noch ein einziges Mal zu mißachten – die Mühle Jesu hat schon härtere Körner zermalmt!« Wie ein gespenstisches Wetterleuchten zuckte es durch die kleinen Augen des Paters hin – im nächsten Moment war sein gelbes Gesicht wieder zur Unbeweglichkeit einer Wachsmaske erstarrt. Er deutete leicht nach dem vor ihm liegenden chiffrierten Aktenstück. »Was wir schon längst vermuteten, wird durch diesen Kontrolle-Rapport vollauf bestätigt; in leichtfertigster Weise haben Harriet, Ihre kostbare Zeit and die von der Ordenskanzlei Ihnen bewilligten Geldmittel vertrödelt.«
Die Lippen der Engländerin öffneten sich mit einer Entgegnung – doch der Jesuit schnitt ihr mit einer brutalen Handbewegung das Wort ab. »Seit nahezu vier Wochen gaukeln Sie in Biarritz herum, und was ist das ganze Resultat Ihrer Sirenenkünste? … Hätten Sie sich an die Instruktionen gehalten, die ich Ihnen so klar und ausführlich erteilte, dann wären wir jetzt im Besitz der Abschriften und könnten dem kaiserlichen Kabinett das nötige Paroli bieten!« Es war, als wolle das leidenschaftliche Naturell des Südländers jählings die Schranken der priesterlichen Schulung durchbrechen, denn mit unheimlich funkelnden Augen schnellte der Pater von seinem Sessel empor. In seiner dumpfen Wut lag etwas so Grauenhaftes, daß die Engländerin unwillkürlich erbleichte.
» Hell and damnation!« grollte er wie ein gereizter Tiger. »Die Spanierin Rosita, die wir vor zwei Jahren nach St. Petersburg schickten, hat sich dort kaum gröbere Fahrlässigkeit zuschulden kommen lassen, und dennoch wurde sie schnurstracks nach Rom zurückberufen und in den Gewölben der Engelsburg zu Tode gepeitscht.« Er bog sich über den auf dem Tische liegenden Rapport hin, um in dem Gewirr von Zeichen und Zahlen eine bestimmte Stelle zu suchen. Als er den Kopf hob, hatte er seine ganze Selbstbeherrschung wiedergefunden; kalt und düster wie zuvor lauerten unter den buschigen Brauen die kleinen Schlangenaugen und seine Stimme hatte ganz wieder ihren gewohnten ehernen Klang, als er sagte: »Ihr grenzenloser Leichtsinn, Harriet, hat uns einen schlimmen Streich gespielt, der sich zunächst wird kaum reparieren lassen, denn die Dokumente, deren Abschrift wir brauchen, sind inzwischen von Biarritz nach Paris gewandert, und das dortige Staatsarchiv ist besser gehütet, als eine Sommervilla, deren Türen sich vor einem Paar hübscher Weiberaugen willig erschließen.« Ein kühles Lachen der Engländerin unterbrach den Jesuiten. » Oh yes«, sagte sie; »die Herren vom kaiserlichen Hofstaat zu Biarritz halten ihre Türen keineswegs streng verschlossen, und auch gegen mich waren sie galante Schäfer, so lange ich die Politik aus dem Spiele ließ. Jeder Versuch, dieses Thema zu berühren, blieb fruchtlos und ließ mich mehr und mehr die Überzeugung gewinnen, daß man von meiner Mission irgendwie Wind bekommen hatte und demzufolge mich mit Argusaugen überwachte. Was halfen da all Ihre Instruktionen, Pater Mariano?« sprach sie lebhafter weiter, während der Jesuit sinnend vor sich hinblickte; »in meinen Berichten, die ich hierher schickte, habe ich die Sachlage genau und wahrheitsgemäß mitgeteilt und wenn ich eine kostbare Zeit und ein Reisestipendium von zwanzigtausend Franks nutzlos vertrödelte, wie Sie es nennen, so ist dies nicht meine Schuld gewesen und« – sie zeigte schnippisch ihre kleinen weißen Zähne – »die Rute, womit die arme Rosita zu Tod gepeitscht wurde, wäre also ein herzlich schlechter Dank.« Sie griff in ihre Tasche und zog ein Päckchen Papiere hervor, die mit einer Schnur zusammengebunden waren.
»Ganz umsonst bin ich doch nicht in Biarritz gewesen,« lächelte sie und löste den Knoten; »diese Briefe hier sind vielleicht eine kleine Entschädigung für meine verunglückte Expedition.«
Erwartungsvoll beobachtete der Jesuit die Bewegung der zierlichen Frauenhände. »Von wem sind die Papiere?« unterbrach er das momentane Schweigen.
»Es sind sechs Originalbriefe des französischen Gesandten in Turin an den Minister des Auswärtigen,« erklärte kaltblütig die Engländerin.
»Von Benedetti an Thouvenel?« Mit funkelnden Augen war Pater Mariano aus seinem Sessel emporgeschnellt, schon im nächsten Moment riß er mit einem ungestümen Griff die wertvollen Dokumente an sich. Offenbar war ihm die Handschrift Benedettis bekannt, denn nach flüchtiger Prüfung nickte er vor sich hin. Ein Lächeln der Zufriedenheit erhellte sein düsteres Antlitz, als er sich der jungen Engländerin zuwandte. »Die Beute scheint mir in der Tat eine Entschädigung für das Fiasko zu bieten, das Sie, Harriet, in Biarritz gemacht haben. Warum taten Sie in Ihrem letzten Berichte mit keiner Silbe dieser Briefe Erwähnung?«
»Weil ich sie damals noch nicht hatte,« antwortete sie im Ton trockenen Humors; »erst in der Nacht vor meiner Abreise hierher gelang mir die Annexion – um mich diplomatisch auszudrücken.«
Ein zynisches Grinsen zuckte über das gelbe Gesicht des Jesuiten hin.
» Well, my girl, eine Annexion mit mildernden Umständen!« Mit der salbungsvollen Miene eines absolvierenden Beichtvaters legte er seine Hand auf die Schulter der reizenden Räuberin, die aber im selben Moment erschrocken zusammenfuhr, denn dicht hinter ihr im Getäfel vibrierte der helle Ton einer Klingel. »Was ist das?« flüsterte sie mit zitternder Stimme.
» Nothing at all,« antwortete der Pater, dessen Stirne sich bei dem Glockenzeichen leicht gerunzelt hatte; »ein Besuch, den ich um diese Stunde gar nicht mehr erwartete … Man hat Ihnen doch« lenkte er ab, »im Hotel die Appartements angewiesen, die ich schon gestern für Sie reservieren ließ?« Harriet nickte bejahend.
»Und in das Fremdenbuch haben Sie sich eingeschrieben als Mistreß Campbell aus Philadelphia?« examinierte er weiter.
»Mary Campbell, Witwe und Rentiere.«
» All right,« sagte er. »Wir werden uns morgen wiedersehen! Bis dahin empfehle ich Ihnen die strengste Zurückhaltung gegen jedermann, denn Rom wimmelt eben von Mouchards und Spitzeln aus aller Herren Länder, ganz abgesehen von den Agenten des mazzinistischen Nationalkomitees, die gerade besonders und unter den wechselndsten Formen in den hiesigen Gasthöfen herumschnüffeln … Also nochmals, Harriet, seien Sie auf der Hut, und mißtrauen Sie jedem fremden Gesicht, das Ihnen in den Weg kommt! Und jetzt gute Nacht, sonst wird am Ende der Gast, der sich mir durch die Klingel angemeldet hat, ungeduldig.«
Noch ein flüchtiger Händedruck zwischen den beiden – dann war die Sirene verschwunden. Mit einem unheimlichen Lächeln blickte der Jesuit vor sich hin, drohend hob er seinen knochigen Zeigefinger. »Wehe dir, eigensinnige Katze, wenn es dich nur noch einmal gelüsten sollte, andern Mäusen nachzujagen, als dein Auftrag es verlangt! Auch Rosita, die störrische Kreatur, glaubte ihrem eigenen Kopfe folgen zu dürfen, sie wollte sich nicht biegen lassen – darum ward sie gebrochen, denn auf dem blinden, starren Gehorsam beruht unsre ganze Macht …« Langsam schritt er nach der Stelle hin, wo in der Wand die Klingel ertönt war; seine Hand drückte auf einen kleinen, kaum sichtbaren Metallknopf und das Getäfel schob sich zu einem schmalen Spalt auseinander, in den der Jesuit geschmeidig wie eine Schlange hineinschlüpfte. Tief im Mauerwerk klirrte es wie das Zurückschieben schwerer Eisenriegel, halblaut redeten zwei Stimmen miteinander und dann erschien wieder Pater Mariano: hinter ihm tauchte eine zweite Figur aus dem Dunkel auf und der geheimnisvolle Spalt schloß sich wieder, glatt und spukhaft wie die Höhle Sesam in dem Märchen von Ali Baba und den vierzig Räubern.
* * *
War kurz zuvor die Engländerin halb scheu, halb trotzig vor den Jesuitenpater hingetreten, so beseelte offenbar den neuen Gast weder die eine noch die andere dieser beiden Gemütsstimmungen. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, versenkte er sich gemächlich in den Fauteuil, den noch vor wenigen Minuten Harriet eingenommen hatte. Nicht oft mögen der Aristokrat und der Lebemann zu einem solch charakteristischen Typus zusammenschmelzen, wie er sich hier in dem spätnächtlichen Ankömmling präsentierte. In seiner hochgewachsenen Gestalt vereinigten sich Kraft und Gewandtheit zu einem harmonischen Doppelspiel, das in dem kühnen, sarkastischen Gesichtsausdruck seine geistige Ergänzung fand. Dem Anschein nach hatte er kaum das vierzigste Lebensjahr überschritten, aber auch bei ihm, wie bei Harriet, ließ sich jedenfalls das Leben weniger nach dem Kalender als nach der stürmischen Gangart bemessen, denn sein braunes, leichtgelocktes Haar und der sorgfältig gepflegte Bart waren schon hier und da von verräterischen Silberfäden durchzogen. Seine graublauen Augen, ein wenig vorstehend und durch die Lider halb verschleiert, zeigten für gewöhnlich eine gewisse Apathie und sinnliche Übersättigung, wozu die schwarzbläulichen »Venusringe«, die das Augenpaar umzirkelten, nur noch mehr beitrugen. In blitzschnellem Übergang aber konnte sich in diesen trägen Augen ein rätselhafter Strahl entzünden und dann gewann der Blick, einem jäh aus der Scheide gezückten Dolch vergleichbar, den funkelnden Reflex blank polierten Stahles. Ein dunkelbrauner Gehrock von leichtem, feinem Tuch, der in einem seiner Knopflöcher als einzigen dekorativen Schmuck eine weißgelbe Ordensrosette trug, hob in wohlberechnetem Effekt die weit ausgeschnittene weiße Pikeeweste und den zierlich gefalteten Hemdeinsatz, auf dem drei Rubine in dunklem Feuer glühten.
Behaglich in das Polster des Fauteuils zurückgelehnt, zwanglos das eine Bein über das andere geschlagen, ließ der Angekommene seine schmalen Hände mechanisch mit dem dünnen Spazierstöckchen spielen, das oben in eine kleine Metallkugel auslief. So harmlos übrigens das Stöckchen aussah, eine ebenso respektable Waffe konnte es erforderlichen Falles sein, denn es bestand aus einem Streifen Rhinozeroshaut, woraus bekanntlich die afrikanischen Sklavenhändler ihre fruchtbaren Peitschen verfertigen, die mit einem einzigen Streich das Fleisch bis auf die Knochen durchschneiden.
Mit einem Mal sandte der Gast dem am Tisch sitzenden und in seinen Papieren kramenden Jesuiten einen sardonischen Blick zu, gleichzeitig machte seine Nase eine schnuppernde Bewegung. »Liebster Pater,« sagte er trocken: »hier riecht es nach dem ewig Weiblichen.« Er hatte die Äußerung in französischer Sprache gemacht, der gutturale Akzent verriet den Provenzalen.
»Wie so, Marquis?« gab, gleichfalls französisch, der Jesuit kurz zurück.
» Jarnidieu!« erklärte der Andere: »ich wittre hier das tropische Parfüm des Opoponax, und da ich mir nicht denken kann, daß ein ehrwürdiger Vater der Gesellschaft Jesu seine Kutte mit solch sündhaften Teufelsessenzen besprengt, so muß ich wohl oder übel diesen Geruch mit der Anwesenheit einer Evatochter in Zusammenhang bringen.«
»Der Schluß, lieber Marquis,« lachte der Pater kühl, »zeigt mir, daß Ihre gascognische Phantasie glücklicherweise noch nicht die alte Flugkraft verloren hat.«
» Eh non,« bestätigte gelassen der Marquis; »aber die Opoponax-Dame hat jedenfalls etwas verloren.« Mit seinem Stock zog er aus dem Schatten, den der Tisch auf den Boden warf, einen Gegenstand an sich heran, den er schon in der nächsten Sekunde dem Pater mit einer feierlichen Verbeugung überreichte; es war ein Damenhandschuh, der selbst der stumpfsten Nase das verräterische Parfüm nicht hätte verbergen können.
» Eh bien, ehrwürdiger Vater?« inquirierte der Marquis, das Corpus delicti emporhaltend. Ein joviales Lächeln umspielte die Mundwinkel des ungebetenen Finders und schelmisch drohend winkte er mit dem Finger. »Paterchen! Paterchen! Man ist wohl einmal wieder mehr arkadischer Schäfer, als apostolischer Hirte gewesen – wie?!? … Mein Hofmeister, der ein verkappter Voltairianer und Freigeist war, o! wie recht hatte er, wenn er mich in der lateinischen Unterrichtsstunde neben andern klassischen Zitaten auch das ketzerische Sprüchlein lehrte:
»
Monachus in cella
Gaudet veniente puella!«
Der Mönch in seiner Zelle wird höchst munter,
Wenn ihn ein Mägdelein besucht mitunter.
In Ton und Gesicht des Marquis lag etwas so Urdrolliges, daß für einen Moment selbst der mürrische Jesuit seinen Ernst nicht zu behaupten vermochte. Ohne seinen Sieg weiter auszubeuten, griff der Gascogner in die Brusttasche und zog ein elegantes Etui hervor, das er mit einer graziös-nonchalanten Bewegung dem Pater entgegenhielt. »Ein extrafeines Kraut, mon Père, das Ihnen gewiß schmecken wird.«
Mit seinen langen gelben Fingern pickte sich der Jesuit aus dem wohlgefüllten Etui eine Zigarette heraus, die er mit prüfendem Blick musterte.
»Es ist kein Fabrikat unsrer Regie,« bemerkte er.
Der Marquis zeigte lachend seine hübschen Zähne. » Jarnidieu, daß ich so naiv wäre, den Regiekneller des heiligen Vaters zu konsumieren!« Aus der Zigarette, die er inzwischen in Brand gesetzt hatte, hauchte er in zierlicher Ringelgirlande eine aromatische Rauchwolke gegen seinen Gesellschafter hin. »Echtes Smyrna-Gewächs,« erklärte er; »importiert durch einen wackern Schmuggler, der sich die löbliche Aufgabe gestellt hat, der römisch-apostolischen Regie-Pestilenz entgegenzuwirken.«
Behaglich sog der Jesuit an dem verpönten Glimmstengel, während auch der Marquis, gemächlich in seinen Fauteuil zurückgelehnt, mit halbgeschlossenen Augen die Rauchschnörkel verfolgte, die er seinem Tabaksröllchen entquellen ließ. »Lieber Pater,« begann er mit einemmal: »wie lange glauben Sie wohl, daß die sogenannte Gefangennahme Garribaldis sich noch vor den hiesigen Freiheitseseln verheimlichen läßt?«
Der Jesuit zuckte die Achseln. »Kaum mehr morgen! Ein längeres Zuwarten kann uns übrigens auch gar keinen Nutzen bringen, wie ich dies schon heute morgen im Konsilium offen erklärt habe; tausendmal besser, die Bekanntmachung geschieht auf offiziellem Wege durch die päpstliche Regierung, als durch die Gift und Galle speienden Plakate des Nationalkomitees, das, wie ich vermute, von der Kapitulation Garibaldis bereits ganz genau unterrichtet ist, trotz der verdoppelten Polizeikontrolle, die in allen Post- und Telegraphenbureaus des Kirchenstaates besteht.«
»Sie müssen mir zugeben, lieber Pater,« bemerkte der Marquis; »die Wirksamkeit der päpstlichen Polizei zeigt sich in keinem allzu imposanten Lichte; auch macht sich die Presse des Auslandes weidlich darüber lustig und im spöttischen Hinweis auf das geheime Nationalkomitee, das, sozusagen, im Schatten des Vatikans wühlt und agitiert, meinte neulich der Londoner Observer, man hätte einer so schlauen Priesterregierung, als welche die römische traditionell doch gelte, wohl eine feinere Spürnase zutrauen dürfen.«
Gelassen schnellte der Jesuit mit einer Fingerbewegung die Asche von seiner Zigarette weg. »Wenn ich zu befehlen hätte, wäre allerdings unser Polizeidirektor Marchese Capranica längst pensioniert, aber Sie wissen ja selber, Marquis, welche Hand den Mann auf seinem Posten hält! Wer es in Rom versteht, sich in die Falten eines Weiberrockes zu verkriechen, der sitzt warm wie in Abrahams Schoß.«
»Und dennoch,« lachte der Marquis, »hat der heilige Bernhard von Clairvaux in flammendem Eifer gepoltert: mulier taceat in ecclesia!« Das Weib schweige in der Gemeinde, d. h. soll sich nicht in Kirchensachen mischen. Ohne die sarkastische Einschaltung zu beachten, sprach der Pater weiter: »Zum Lachen ist dagegen, was jener Londoner Zeitungsdummkopf über die Fragwürdigkeit des priesterlichen Scharfsinns in die Welt hinausschreibt. Als ob nicht tausend und abermals tausend Blätter der Geschichte für uns Zeugnis ablegen könnten! Wir haben es aber diesem geheimen Nationalkomitee gegenüber mit einer ganz eigenen Erscheinung zu tun, und ich lege einen großen Wert darauf, Ihnen, Marquis, dies begreiflich zu machen, denn ich weiß recht wohl, daß in der Umgebung des Königs Franz von Neapel neuerdings Anschauungen auftauchen, die mit denen jenes Londoner Penny-a-liners so ziemlich harmonieren.«
Der Franzose hatte eine Entgegnung auf den Lippen, doch mit einer leichten Handbewegung schnitt ihm der Jesuit das Wort ab. »Ich weiß ja, Marquis, daß Sie bei den neapolitanischen Exmajestäten unsere Interessen bestens vertreten, und der direkteste Beweis meines Zutrauens liegt darin, daß ich offen und rückhaltlos mit Ihnen über die Sachlage spreche … Sehen Sie, mein Freund, Sie sind längere Zeit von Rom fortgewesen und können also nicht aus eigener Anschauung urteilen! Wie Sie wohl wissen, spielt in unserer Hand die österliche Beichte die Rolle eines Haupthebels, denn die Leidensgeschichte Christi, die mit Beginn der Karwoche in Messe und Predigt gefeiert wird, ist besonders dazu angetan, lenkbare Gemüter zu zerknirschen und den Intentionen des Beichtvaters willfährig zu stimmen. Ebbene, zur diesjährigen Osterbeichte hatte die Sacra Consulta alles aufgeboten, um endlich einmal in die geheime Werkstätte des hiesigen Nationalkomitees einzudringen. An jeden Beichtenden ward durch den Priester die Frage gestellt, was er von diesem teuflischen Bunde wisse, wen er als etwaiges Mitglied im Verdacht habe, und was er selber über die weltliche Herrschaft des Papstes denke. Lautete auf diese direkten Fragen die Antwort irgendwie ausweichend, so wurde dem Beichtenden zunächst die Absolution verweigert und er entweder unter polizeiliche Observanz gestellt, oder auch kurzweg in Untersuchungshaft genommen. Jeder Hausbesitzer in Rom erhielt von Polizei wegen einen Zettel, den er, unter Androhung schwerer Geldbußen, genau mit den Namen seiner sämtlichen Mietsleute ausfüllen mußte. Um die Richtigkeit dieser Angaben zu kontrollieren, gingen unter dem Vorwand, das Haus mit Weihwasser zu segnen, die Priester jeder Parochie durch sämtliche Gemächer. Wer nicht Fremder war und keinen österlichen Beichtzettel vorweisen konnte, wurde behufs weiterer Maßnahme aufnotiert; neben dieser minutiösen Kontrolle wurde noch jedes beichtende Weib besonders ins Gebet genommen und dem strengsten Kreuzverhör unterzogen mit dem gleichzeitigen Hinweis auf Geldprämien, die nach dem Wert der Denunziation tarifiert waren« …
» Parbleu!« unterbrach im Ton unwillkürlichen Staunens der Marquis den Pater: »Und dieser ganze terroristische Apparat, der den Neid eines russischen Polizeiministers erregen könnte, hat kein Resultat erzielt?!«
»So gut wie keines,« antwortete der Jesuit; »von all den Verhaftungen und Verhören, Denunziationen und Recherchen blieb als einziges greifbares Ergebnis die Entdeckung eines Pakets revolutionärer Flugschriften. Am folgenden Tag empfing die Sacra Consulta durch die Stadtpost ein zweites Paket, dem von seiten des Nationalkomitees ein höfliches Begleitschreiben beigefügt war mit der Erklärung, die Hetzjagd nach den Brochüren sei ganz unnötig gewesen, denn es werde stets dem Komitee zum besonderen Vergnügen gereichen, bezüglich seiner Literatur die päpstliche Regierung auf dem Laufenden zu halten.«
»Die Kerle haben Humor im Leib!« lachte der Marquis.
» Ma molto!« nickte der Pater; »neben ihrer sonstigen Tätigkeit finden sie noch Zeit und Gelegenheit, dem Marchese Capranica und seinen Polizisten allen möglichen Schabernack zu spielen – natürlich zum Ergötzen von ganz Rom. Erst vor ein paar Tagen stieg gerade über der Polizeidirektion ein Schwarm Tauben auf, die an ihren Füßen kleine piemontesische Flaggen trugen; gleich darauf gab's einen andern Auflauf: über den Corso rannte ein räudiger Hund, dem eine große Schelle an den Schwanz gebunden, und der mit den päpstlichen Farben angepinselt war.«
Mit hellem Gelächter warf sich der Marquis in seinen Fauteuil zurück und auch der Jesuit gab sich keine Mühe, seine flüchtige Heiterkeit zu unterdrücken. »Der arme, dicke Capranica!« kicherte der ausgelassene Franzose; »ich seh' ihn, bis auf den Bauch hinab mit Orden bepflastert, ächzend und pustend mit seinen kurzen Säbelbeinen dem verpönten Köter nachtrippeln! Nach dieser Steeple chase wird wohl Dame Lauretta, seine nicht minder dicke Freundin, zwei Dutzend Taschentücher gebraucht haben, um die echauffierte Heldenstirn ihres Adonis abzutrocknen!«
Im nächsten Moment schon legte sich ein tiefer Ernst auf das eben noch lachende Gesicht des Marquis. »Es ist ganz so, lieber Pater, wie Sie mir in Ihrem letzten Briefe schrieben! Dieses revolutionäre Nationalkomitee gebietet zunächst über flotte Geldmittel, und solange die vorhalten, wird es wohl auch aller Verfolgungen spotten können. Die Beobachtungen, die ich während meines Aufenthaltes in Rußland gemacht habe, lassen sich in diesem Punkte durchaus auch auf den Kirchenstaat anwenden. Hier wie dort finden Geheimbündler, so lange sie Geld haben, jederzeit Beamte, große und kleine, die sich skrupellos bestechen lassen. Nur bankerotte Verschwörer werden festgepackt, zu Petersburg akkurat wie hier zu Rom. Und um die Parallele noch weiter zu ziehen: so lange die nötigen Rubel und Scudi in der Tasche klimpern, wird der Nihilist wie der Mazzinist nirgends sicherer und ungestörter hausen, als dicht neben einer Polizeistation.«
Die Arme über die Brust gekreuzt, blickte der Jesuit sinnend vor sich hin; mit einem Mal hob er das Haupt und fixierte seinen Gast. »Marquis, auf meine offene Frage eine ebenso offene Antwort! Über die detektive Fähigkeit unsres Polizeidirektors, des Marchese Capranica, haben wir beide die ganz gleiche Meinung: er ist ein Dummkopf, der seinen mangelnden Witz durch Brutalität zu ersetzen sucht und längst schon abgewirtschaftet hätte, wenn nicht seine Freundin und Schutzpatronin hinter ihm stände.«
»Als vormalige Herzensflamme Antonellis glaubt eben Signora Lauretta immer noch ein Plätzchen auf dem Kutscherbock des heiligen römischen Staatskarrens beanspruchen zu dürfen,« bemerkte der sarkastische Franzose.
Das gelbe Gesicht des Paters verzog sich für einen Moment zu einem giftigen Grinsen. »Der Karren dürfte nächstens von verschiedenen blinden Passagieren gesäubert werden – – doch darüber ein andermal, Marquis! Für heute möcht' ich nur wissen, ob Sie Capranica im Verdacht haben – –«
»Daß er sich etwa durch das Nationalkomitee ködern lassen könnte?« griff der Marquis die Frage auf. Der Jesuit nickte.
»Nein!« erklärte entschiedenen Tones der Franzose; »auch in dieser Beziehung gleichen sich die Zustände von Rom und Petersburg auf ein Haar! Da wie dort sind gerade die höchsten Spitzen der Polizei noch am zuverlässigsten, die Korruptionsschraube arbeitet nach unten hin. An der Tiber wie an der Newa herrscht, wenigstens dem Wortlaut des Gesetzes nach, der strengste Paßzwang und unser Freund Capranica reitet ebenso besessen wie sein russischer Kollege auf diesem staats- und gesellschaftsrettenden Dogma herum. Und was geschieht trotzdem? Tausende von Personen beiderlei Geschlechts und allen möglichen Ständen angehörig, hausen Jahr aus, Jahr ein in der Stadt und bewegen sich frank und frei, ohne einen Paß zu besitzen. Der russische Staatsrat Nelikow sagte mir eines Tages selber, er wolle, wenn es eine Wette gälte, jahrelang zu Petersburg oder Moskau ohne die geringste Legitimation existieren, obgleich von Gesetzeswegen bei jedem Wohnungswechsel die Papiere des neuen Mieters verlangt und abgestempelt werden und obgleich Hauswirte, Dworniks Dwornik = Portier, Hausmeister. und Polizeioffiziere sich den größten Unannehmlichkeiten aussetzen, wenn in ihrem Funktionskreise eine paßlose Person angetroffen wird.«
»Ganz wie hier in Rom,« sprach der Pater gedankenvoll vor sich hin.
»Ja,« nickte der Marquis ruhig; »ganz wie hier in Rom – und auch mit dem ganz gleichen Resultat! Man sucht, was sehr leicht ist, die Bekanntschaft des Revierkommissars zu machen, man ladet, was noch viel leichter ist, den Herrn zum Frühstück ein, man schiebt ihm, je nach Umständen und Verhältnissen, eine größere oder kleinere Banknote unter die Serviette und – dieses buntfarbige Stückchen Papier tut dieselben Dienste wie der regelrechteste kaiserliche Reichspaß. Der Dwornik bezieht natürlich auch seine Prozente vom Geschäft, und damit klappt alles.«
»Jawohl,« warf der Jesuit ein, den die drastische Schilderung sichtlich interessierte; »aber doch immer nur unter der Voraussetzung, daß der Frühstücksspender nichts eigentlich Gravierendes auf dem Kerbholz hat, z. B. kein nihilistischer Attentäter ist.«
Der Marquis blies gleichmütig ein Rauchwölkchen von sich. » Bien, in einem solchen Falle kann er es – namentlich wenn sein Signalement bekannt ist – allerdings nicht wagen, sich unmittelbar nach seinem Coup irgendeinem Polizeioffizier in den Weg zu stellen, denn er würde ohne weiteres festgepackt werden, was ihm ja übrigens auch hier in Rom passieren dürfte. Aber auch selbst dafür gibt es allerlei praktische Rezepte. Sowie jeder mazzinistische Putsch unsern Freund Capranica in ein nervöses Gezappel versetzt, so entwickelt auch nach jedem nihilistischen Alarm die russische und in erster Linie die Petersburger Polizei eine ganz furiose Tätigkeit, die aber durchschnittlich nach vier Wochen wieder einzuschlafen pflegt.«
»Unserm Argus fallen glücklicherweise die Augen noch früher zu,« bestätigte ironisch der Pater.
»Während dieser Zeit nun,« fuhr der Marquis fort, »wird zu Petersburg kein Hotelwirt einen Gast beherbergen, der sich nicht zuvor durch seinen Paß vollauf legitimiert hat; die Zimmervermieter handeln ebenso. Die einzigen Wirte, die von ihren Kunden keinen Ausweis verlangen, sind die der öffentlichen Häuser, deren es in der nordischen Metropole mehrere hundert gibt, und dorthin lenkt der ›Attentäter‹ auch meistens seine Schritte. Den Tag verbringt er bei Gesinnungsgenossen, die Nächte in jenen Venusgrotten. Bevor er all seine Nachtquartiere absolviert hat, ist fast ein Jahr darüber hingegangen, und dann kann er getrost mit einem feierlichen Gabelfrühstück wieder einen neuen Adam anziehen. Der Vatikan und der Winterpalast laborieren an dem gleichen Grund- und Erbübel: die Bestechlichkeit und die Spitzbüberei lassen sich einmal nicht ausrotten, sie sind durch Generationen hindurch viel zu tief eingewurzelt. Wer hier – um meinen Schlußsatz speziell auf Rom und den Kirchenstaat anzuwenden – etwas erreichen will, der kann es erreichen, sobald er tief genug in die Tasche greift. Sonst ist freilich all seine Mühe umsonst!«
Mit Lachen warf er seine ausgebrannte Zigarette von sich. »Nur wer die Wurst nach der Speckseite zu werfen versteht, wer mit dem nötigen Geld im Beutel klimpern kann, der ist seiner Sache sicher – der ehrliche Tölpel kommt unter die Räder. Die Mazzinisten und ihre Hinterleute kennen nur allzu gut den Brauch und die Sitte im Patrimonium Petri und deshalb sind in der Hand des Nationalkomitees die Dukatenrollen eine gefährlichere Waffe als ein ganzes Arsenal von Dolchen und Revolvern. Ist das Kapital des Geheimbundes erschöpft, dann hat sofort auch die Trommel ein Loch. Ich werde morgen in der Konferenz diesen Punkt näher erörtern, weil es ja unter uns immer noch Leute gibt, die der naiven Meinung sind, der ganze Betriebsfonds des Nationalkomitees bestehe in einem blutroten Lappen, der vor den Augen der römischen Einheitsochsen hin und hergeschwenkt wird …«
Der Marquis zog seine Uhr und warf einen Blick darauf. » Fichtre!« rief er und erhob sich von seinem Fauteuil; »wissen Sie auch, Paterchen, wie spät es ist?« Er hielt dem Jesuiten die Uhr entgegen. » Cospetto di Bacco!« sagte dieser; »schon die zweite Morgenstunde vorüber, und ich habe noch eine dringende Arbeit zu erledigen!«
»Sie begleiten mich armes Kind also nicht ein Stückchen Weges?« fragte der Marquis, indem er eine klägliche Grimasse schnitt.
» Non possumus!« lachte der Pater: »Das arme Kind wird übrigens seinen Weg schon allein finden … Im Ernst gesprochen, lieber Marquis, ich habe für unsere Konferenz noch verschiedene hochwichtige Papiere zu ordnen und außerdem eine längere Depesche zu chiffrieren, die heute noch mit unserer südamerikanischen Post abgehen muß.«
» Enfin,« sagte der Marquis und griff nach seinem Hute; »unter solchen Umständen will ich Sie nicht länger quälen.«
»In wenigen Stunden sehen wir uns ja so wie so wieder,« bemerkte der Jesuit und drückte an der Wand auf den kleinen Metallknopf; das Getäfel schob sich auseinander, und die beiden Männer verschwanden in dem geheimen Spalt. Wiederum, wie beim Kommen des Marquis, klirrten tief im Mauerwerk schwere Eisenriegel – gleich darauf erschien Pater Mariano wieder. Das Kinn in die Hand gestützt, blieb er in tiefem Sinnen einen Moment stehen, dann aber hatte er offenbar seinen Entschluß gefaßt. Wie schon erwähnt, war hinter dem Schreibtisch in einer Wandnische ein Kruzifix angebracht. Der Jesuit berührte den Nagel, der die Füße des Gekreuzigten durchbohrte, ein leises Knarren, wie das Spiel eines verborgenen Mechanismus, ließ sich hören und schon in der nächsten Sekunde klaffte die Nische zu einem tiefen Wandschrank auseinander: flink schob Pater Mariano sämtliche Bücher und Schriftstücke, die den Tisch bedeckten, in das Versteck, das sich ebenso gehorsam wieder schloß. Elastisch wandte er sich nach einem Spinde hin, das im Hintergrunde des Saales stand; mit ein paar raschen Griffen war der lange Priesterrock abgestreift und mit einer dunkelbraunen Joppe vertauscht, die verräterischen Schnallenschuhe flogen von den Füßen, um bürgerlichen Stiefeln Platz zu machen. Der Pater trat vor einen Spiegel hin, um seine Metamorphose zu vollenden. Um den Hals schlang er einen roten Foulard, dann – eins – zwei – drei – und schon überwucherte ein Vollbart, der einen Garde-Sappeur hätte zieren können, das glatt rasierte Pfaffengesicht. Jetzt noch einen zerknitterten Kalabreser verwegen aufs Ohr gestülpt, einen kurzen Mantel von grobem, braunem Tuch leicht über die Schultern geworfen und – die Figur des untergeordneten revolutionären Wühlhubers war fix und fertig. Als letzte Toilettenstücke ließ Pater Mariano ein Stilett und einen Revolver in die Brusttasche seiner Giubba gleiten. Noch ein prüfender Blick in den Spiegel, und der Komödiant schien mit seiner Arbeit zufrieden zu sein, denn schon in der nächsten Sekunde ließ er durch eine Drehung des Gashahnes die Flammen des Kronleuchters erlöschen.
Ein leises Rascheln durch die Wand hin, wie das Huschen einer Ratte, das behutsame Öffnen und Schließen eines, dem Klang nach zu urteilen, eisernen Pförtchens und dann nichts mehr! Schwarze Nacht und gespenstische Stille …