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Am Abend des 13. Februar 1861 hatte, nach einer hunderttägigen Belagerung, die Felsenfeste Gaëta, der letzte Zufluchtswinkel der bourbonisch-neapolitanischen Königsfamilie, unter dem Bomben- und Granatenhagel der piemontesischen Kriegsschiffe und Landbatterien kapitulierend die Flagge gestrichen und dadurch den Werdeprozeß des neuen, geeinigten Königreiches Italien tatsächlich besiegelt. Der entthronte König Franz war von den galanten Piemontesen mit allen gebührenden Ehren zum Tor hinauskomplimentiert worden und hatte sich mit seiner Familie zunächst nach Rom gewandt, um hier das bittere Brot der Verbannung zu kosten.
Franz, von jeher ein kraftloser Charakter, war durchaus entschlossen, sich in die gegebene Tatsache zu fügen; anders dagegen dachte seine energische Gemahlin, die schon zu Gaëta die Seele des heroischen Widerstandes gewesen war und auch jetzt noch darauf bestand, den verlorenen Kampf mit allen Mitteln weiterzuführen. Die römische Kurie hatte alle Ursache, die fehdelustige Stimmung der jungen Landesmutter a. D. wach zu erhalten, denn gerade mit dem Bourbonenregiment zu Neapel war zugleich für den Papst die zuverlässigste Stütze seiner weltlichen Herrschaft im Kirchenstaate zusammengekracht. Von jeher betrachtete man im Vatikan den nächsten Weg als den besten, und so ward im Handumdrehen der Schattenkönig Franz zum nominellen Mittelpunkt der klerikal-feudalen Contre-Revolution, die den triumphierenden Wiedereinzug der Bourbonen-Dynastie in Neapel anbahnen sollte. Wetteifernd gingen Merode und Antonelli, die Oberregisseure dieser Haupt- und Staatsaktion, ins Zeug. Schon im Spätherbst 1860 hatten sie einen Teil des auf päpstliches Gebiet übergetretenen und aufgelösten bourbonischen Heeres für den Brigantenkrieg angeworben, oder über die Grenze in die Abruzzen geleitet. Die blutarme kirchenstaatliche Bevölkerung in den kahlen Gebirgen, die jedes Frühjahr in die öde römische Campagna herabsteigt, um sich hier einen Bissen Brot und, als herbe Zugabe, das Sumpffieber zu holen, war zu allen Zeiten die Pflanzschule und der Hauptrekrutierungsbezirk des Brigantentums. Jetzt wurden durch Agenten und im Beichtstuhl diese Banditen geworben, um wie ein Rudel Wölfe auf die Piemontesen und die »liberalen Ketzer«, d. h. Anhänger eines einigen Italiens, losgelassen zu werden. Die Instruktion, welche die Strolche mit sich auf den Weg nahmen, lautete kurzweg: »Mordet, plündert, sengt und brennt nach Herzenslust! Fallt ihr, so wird die heilige Kirche für euch beten und euern Seelen die Glorie des Himmels erschließen!« Nicht bloß draußen in den Bergen, in der Stadt Rom selber waren die Werbebureaus eröffnet zu diesem blutigen Freibeuterzug; bei einem Apotheker auf dem Platze Campo di fiore, auf der Piazza Montanara und noch an andern Stellen wurden täglich Deserteure und Konskriptionsflüchtige aus den Abruzzen, brotlose Landstreicher und Gesindel aus allen Nationen enroliert. Die Mamelucken der Reaktion erhielten Handgeld und im Depot einige Tage oder Wochen Beköstigung. War eine genügende Anzahl beisammen, so wurde in kleinen Truppen bei Nacht abmarschiert, man konzentrierte sich an einer bestimmten Stelle, und hier wurden die Kerle armiert und uniformiert. Die Waffen kamen aus Marseille oder aus den päpstlichen Zeughäusern.
Die Klöster im Gebirge unweit der neapolitanischen Grenze boten bequeme Sammelpunkte und Ausfalltore. Als Generalissimus dieser Banden figurierte Chiavone, ein früherer Waldhüter; er hatte häufige Audienzen bei dem Exkönig Franz und wußte diesem viel Geld abzuschwindeln. Dabei suchte sich Chiavone zu einem legitimistischen Garibaldi aufzuspielen. Es nahm mit ihm ein schlimmes Ende, denn ein eifersüchtiger Bandenchef jagte ihm eines Tages eine Kugel durch den Kopf. Keiner dieser Mordbrenner für Altar und Thron wollte ja den andern zu sehr aufkommen lassen, oder sich gar ihm unterordnen …
Daß die Briganten bei ihren Raubzügen keinen ängstlichen Unterschied zwischen Freund und Feind machten, wird kaum einer besondern Erwähnung bedürfen. Und wehe dem, der einem piemontesischen Streifkorps auf die Spur der Briganten half! Unter kannibalischen Martern mußte der Unglückliche seinen Verrat büßen. Darum gab es auch unter den ländlichen Beamten so viele Zuhälter der Räuber, weil die Strafen der Gerichte minder furchtbar waren, als die teuflische Rache jener Bluthunde in Menschengestalt. Der Dienst der im Neapolitanischen stationierten piemontesischen Truppen war, wie sich denken läßt, ein geradezu aufreibender. Sollten sie ja die reifenden Ernten gegen Brand, die Herden, die Fruchtbäume, die Gehöfte bei Tag und Nacht beschützen! Oftmals waren bei einem Regiment zwei Dritteile der Mannschaft durch Fieber und ruhelose Hetzmärsche krank. Ein Jägerbataillon hatte im Sommer 1862 in einer einzigen Woche 86 Tote – 4 Offiziere, 82 Soldaten – die alle der Sonnenglut und der Erschöpfung zum Opfer gefallen waren. Die Soldaten, die verwundet oder gefangen in die Gewalt der Briganten gerieten, wurden erbarmungslos mit indianischer Grausamkeit abgeschlachtet; unter solchen Umständen konnten auch die Truppen keine Schonung mehr üben, und auf beiden Seiten ward der Kampf zu einer wilden Blutrache. – –
Rohe Banditenfäuste sollten den zusammengekrachten Thron der neapolitanischen Bourbonen wieder aufrichten, und die sogenannte heilige Kirche segnete die Dolche und Messer, die im Gürtel jener Schnapphähne funkelten!!! Durfte sich da der Brigant nicht ebensowohl wie Louis Napoleon, der Dezembermann, als ein von Gott gesandter »Gesellschaftsretter« vorkommen? Durfte sich da der famose Cipriano la Gala, der wegen Totschlag und Straßenraub zwanzig Jahre Galeere absolviert hatte, nicht stolz in die Brust werfen? Arbeitete doch jetzt der Biedermann mit Dolch und Feuerbrand für Altar und Thron, für »den Gesalbten des Herrn« – für Franz, den »Sohn der Heiligen«! Und wenn einer dieser Mordbrenner im Kampfe gegen die piemontesischen Ketzer fallen sollte, so blieb immer noch der Teufel geprellt, denn – jeder Mönch gab dem Buschklepper diese tröstliche Versicherung – die Seele flog dann als weiße Taube direkt gen Himmel. Bezeichnete doch damals zu Rom ein Priester auf offener Kanzel diese Briganten als seine Brüder! In der Provinz ließen natürlich die Pfaffen ihrer Zunge noch ungleich freiern Lauf; in den Kirchen wurden Gemälde aufgehängt, die, oft von schwungvoller Künstlerhand gemalt, die Heldentaten einzelner Briganten veranschaulichten und dadurch immer wieder neue Rekruten anlockten. Am eifrigsten und wirksamsten betrieben die Bettelmönche das Werbegeschäft, ihre Klöster dienten den Banditen als Schlupfwinkel und Lazarette. Über Stock und Stein den Räuberbanden nachkletternd, versorgte auch der Bettelmönch als Zwischenhändler diese Mordgesellen mit all den zu Rom geweihten Münzen, Amuletten und Madonnenbildern, die zu Schutz und Trutz an Hals und Hut getragen und von den Käufern mit schwerem Geld bezahlt wurden. So mancher blutbesudelte Bandit tröstete sich noch auf dem Richtplatze mit dem Gedanken, daß er den Segen des Papstes zum heiligen Kampfe empfangen habe; lange genug sei ihm die Madonna schirmend zur Seite geblieben und hätte er damals, als er aus dem Kasten des glatzköpfigen Kolporteurs ihr benedeites Bild als Hutschmuck erwählte, nicht schnöde um den Preis gefeilscht und dadurch die Himmelskönigin beleidigt, so stände er jetzt nicht vor den Flintenläufen des piemontesischen Exekutions-Peletons.
Das war die alte Banditenreligion …
* * *
Wie ein Granitkeil bohrt sich die Nordostküste von Apulien in die blauen Fluten des adriatischen Meeres und bildet in dieser Gestalt eine Halbinsel, die der Monte Gargano mit seinen schroffen Höhenzügen nach allen Richtungen hin zerklüftet. Ein Bild gespenstigster Waldeinsamkeit, das nur hier und da durch ein Gehöfte oder einen kleinen Weiler einen mildernden Pinselstrich erhält. Auch im Hochsommer beleben sich die Schluchten und Hänge des Monte Gargano: aus den von der Sonnenglut versengten Niederungen des sogenannten Tavoliere di Puglia treiben dann die Hirten ihre Herden nach den kühlen und saftigen Bergtriften, um erst im Herbste wieder zu Tal zu steigen. Der Tavoliere di Puglia weitet sich mitten in einem Rahmen von Bergwällen so eben und flach wie eine Tischplatte. Man denkt dabei an die südamerikanischen Pampas oder ungarischen Pußten, denn soweit das Auge schweift, erblickt es nichts als Gras – Gras – Gras, aus dem wirr zerstreut einzelne Razze (Stutereien), Cascinas (Käsereien) und Ovilia (Schäfereien) wie Inseln in einem grünen Ozean auftauchen. Diese fast baumlose Grasfläche, die sich über eine Strecke von mehr als hundert Quadratmeilen hinzieht, ist ein Vermächtnis der vormaligen spanischen Herrschaft; um für seine Viehzucht Raum zu gewinnen, rottete damals der Usurpator auf der Ebene jeden Acker- und Gartenbau aus und besäte das Land mit Gras.
So ist es seitdem geblieben. – – –
Aus wolkenlosem, tiefblauem Himmel brannte die Septembersonne auf die holprige Landstraße herab, die sich, quer durch die Mulde des Tavoliere hin, von Foggia nordostwärts nach Manfredonia, der kleinen Seestadt am Golfe gleichen Namens, schlängelt. Ein einsamer Reiter und hoch über ihm im Azur einige kreisende Geier waren, sozusagen, der einzige lebende Pulsschlag, der ringsum die geisterhafte Öde erfüllte. Seinem Alter nach ein Mann von einigen dreißig Jahren, gehörte der Reiter augenscheinlich einem höhern und gebildeten Stande an, als er gemeinhin in den Ansiedelungen des Tavoliere zu finden ist. Ein feiner, breitkrempiger Hut aus Reisstroh beschattete das intelligente, energische Gesicht, das ein wohlgepflegter schwarzer Vollbart umkränzte. Er trug die in der Gegend übliche Camiciuola – eine braune, bis zum halben Schenkel abfallende Jacke – aber Tuch und Schnitt waren feiner und gefälliger, als dies bei den dortigen Pächtern und Viehzüchtern Brauch und Bedürfnis ist. Auch sein zierlich gefältetes Hemd von blau und weiß gestreiftem Kaliko, das aus der offenen Jacke hervorsah, deutete auf die Anregungen eines höhern Kulturgrades. Eine bauschige schwarze Samthose, die von den Waden ab in hirschledernen Gamaschen stak, vervollständigte den Anzug des Reiters. Die Isabellstute, auf der er dahintrabte, trug das Sattel- und Zaumzeug, das in Form und Ausputz noch sehr daran erinnert, daß im Tavoliere sich weiland der Spanier tummelte. Ein kleiner Mantelsack, der hinten am Sattel festgeschnallt war, ließ darauf schließen, daß es sich bei dem Kavalier um keinen bloßen Spazierritt handelte.
Von jeher ist es in jener Gegend Brauch, bewaffnet zu reisen, und auch hier der Reiter hatte nicht versäumt, der alten klugen Regel Folge zu leisten. Die Koppel eines Hirschfängers umgürtete den schlanken, aber kräftigen Leib des Reiters, vorn aus den Halftern drohten die silberbeschlagenen Kolben zweier schwerer Sattelpistolen, und über den Rücken des Reisenden hing ein wertvoller Karabiner … Über eine rohgezimmerte Brücke hatte der Reiter den durch die Hitze halb eingetrockneten Triolo passiert und näher traten die Ausläufe des Monte Gargano heran, die den nördlichen Saum der Ebene begrenzten. Die Sonne stand auf dem Scheidepunkt zwischen Nachmittag und Abend, und von der Meeresküste her strich erquickend eine leichte Brise über die weite Grasfläche. Ein Gewirr von Dornen, Ginster und wilden Kapernsträuchern wucherte dicht am Rand der Straße; in den Steigbügeln sich aufrichtend, suchte der Reiter mit scharfem Blick dieses zu einem Überfall so geeignete Versteck zu durchspähen und mechanisch langte dabei seine rechte Hand nach dem Kolben der Pistole. Nichts aber rührte und regte sich und mit einem leichten Sporenstreich trieb er seine Stute vorwärts. Zehn oder zwölf Schritte von dem Busch entfernt, stutzte plötzlich das Tier und den Hals vorbiegend, schnupperte es mit offenen Nüstern in die Luft hinein. Im Nu hatte der Reiter die Pistole hervorgerissen und den Hahn gespannt.
» Chi va là?« rief er in das Dickicht hinein. Keine Antwort.
» Chi va là?« wiederholte er seinen Anruf. Stille wie zuvor – und doch fühlte er, unter dem Sattel durch, die nervöse Aufregung seines Pferdes. »Heraus, wer dort steckt, oder ich gebe Feuer!« Mit fester Hand hob er die Pistole zum Anschlag. In den Hecken raschelte es! Blitzschnell visierte der Reiter nach der Richtung des Geräusches – die Blätter und Ranken teilten sich und herausstürzte ein – – Hase, der mit ein paar tollen Sätzen über den Weg flog und drüben im Grase verschwand. Hell auflachend ließ der Schütze die Pistole sinken. »Oh, oh, Mammolina!« redete er seine Stute an und klopfte ihr dabei jovial auf den fleischigen Hals: »also ein Hase hat deine Tapferkeit auf die Probe gestellt?!« Und nochmals brach er in ein herzliches Lachen aus. »Nun, tröste dich, alte Heldin! der Weg ist jetzt sauber – also mutig vorwärts, daß wir noch vor Nacht an unser Ziel kommen.« Der Sporn kitzelte das gelbe Fell der Stute, die sträubend einen Schritt machte und dann mit einemmal wieder stehen blieb, während ihr scheuer Blick unverwandt auf das Gebüsch gerichtet war.
Die muntere Laune des Reiters wich jetzt einem aufsteigenden Ärger.
» Figlia di vacca!« rief er erbost: »du mißbrauchest meine Geduld.« Mit einem derben Ruck bohrte er beide Sporen in die Weichen der Stute, die sich auf den Hinterfüßen emporbäumte, dann aber trotz wiederholter Spornstreiche mehr und mehr rückwärts drängte. Mit einem halblauten Fluch sprang der Reiter aus dem Sattel. Die gespannte Pistole in der Faust, die Zügel um den linken Arm geschlungen, schritt er auf das Gebüsch los, indem er mit aller Gewalt das sträubende Pferd hinter sich dreinzerrte. Kein Lebenszeichen rührte sich hinter der grünen Wand. Behutsam – denn jedenfalls ließ die Unruhe der Stute auf irgend eine ungewöhnliche Ursache schließen – schob der Reiter die Ranken und Zweige auseinander, die sich zu einem dichten Schirm zusammenballten – – plötzlich prallte er in jähem Schreck einen Schritt zurück … » Misericordia di Dio!« entfuhr es seinen Lippen. Lang hingestreckt, mit dem Gesicht zu Boden gekehrt, lag mitten in dem Gestrüpp die Gestalt eines Mannes, den seine Kleidung als einen Viehhändler kennzeichnete, wie deren Dutzende die Ansiedelungen des Tavoliere durchstreifen. Seitwärts von dem Manne lag sein Spitzhut von grobem schwarzem Filz und daneben sein eisenbeschlagener Knüttel aus dem zähen Holze der Abbruzzen-Esche. Eine Lache von geronnenem Blut deutete auf Selbstmord oder ein Verbrechen. Mit der ihm eigenen Energie hatte der Reiter sofort seinen Entschluß gefaßt. Rasch schlang er die Zügel seiner Stute um das Gezweig eines Dornbusches, beruhigte das geängstete Tier mit freundlichem Streicheln und kehrte dann zu dem Verunglückten zurück, um zu sehen, ob sich für dessen Rettung noch etwas tun lasse. Über den regunglosen Körper sich hinbeugend, wendete er denselben um: er blickte in ein von Wind und Wetter gebräuntes, bärtiges Gesicht, das – soweit es sich unter der Decke von geronnenem Blut erkennen ließ – selbst jetzt noch den Ausdruck eines wilddüstern Trotzes trug. Der Unbekannte mochte ein Mann von etwa dreißig Jahren sein, und sein Gliederbau, ein Gewebe von Knochen und Sehnen, sprach dafür, daß in diesem starren Organismus eine athletische Kraft pulsiert haben mußte. Rabenschwarzes Kraushaar, mit Blut verklebt, hing wirr über die Stirn herein und hier zeigte sich zugleich die Lösung der ersten Vorfrage: mitten in dem massiven Schädel klaffte eine breite Wunde, die augenscheinlich durch einen wuchtigen Schlag hervorgebracht worden war. Noch hatten die Arme und Beine des Mannes ihre Biegsamkeit nicht verloren und demzufolge konnte es immerhin möglich sein, die halb entschwundenen Lebensgeister zurückzurufen. Der Reiter trug an seiner Seite eine mit Wein und Wasser gefüllte Feldflasche; er begoß sein Taschentuch mit der kühlenden Mischung und suchte zunächst die Wunde einigermaßen zu reinigen, dann verband er sie, so gut es ging, mit dem Tuche. Jacke und Hemd des Verunglückten aufknöpfend, richtete er ihn vom Boden auf und begann die Glieder kräftig zu reiben. Kein Erfolg wollte aber die Arbeit lohnen, und entmutigt ließ der barmherzige Samariter den Körper ins Gras zurücksinken. Dabei entfiel der Jacke des Mannes eine ziemlich zerknitterte Brieftasche von braunem Leder. Einer hier gewiß gerechtfertigten Neugierde gehorchend, öffnete der Reiter die Brieftasche, die zunächst einige Schriftstücke aufwies, aus denen sich keine bestimmten Anhaltspunkte ergaben. Dann folgten in der Tasche drei abgesonderte Fächer, von denen jedes einen zusammengefalteten Papierbogen barg. Der Reiter entfaltete die drei Bogen, in den er ebenso viele Reisepässe erkannte. Von drei verschiedenen Amtsbehörden ausgestellt und auf drei verschiedene Namen und Beschäftigungen lautend, stimmten nichtsdestoweniger die Pässe in der Personalbeschreibung genau überein. Ein Blick auf den Verunglückten ließ leicht erkennen, daß es sein Signalement war.
Der Mann verfügte also über drei regelrechte Legitimationen, von denen er je nach Bedürfnis oder Laune die eine oder andere präsentieren konnte. Mit Lächeln faltete der Reiter die drei Pässe wieder zusammen und ließ sie in die Brieftasche zurückwandern; die Brieftasche selber steckte er zu sich. Noch überlegte er, was er weiter tun wolle, als mit einem Mal der anscheinend Tote eine leise, zuckende Bewegung machte. Im nächsten Moment kniete schon wieder der Reiter zu Häupten des Unbekannten, um seine Belebungsversuche mit frischer Kraft zu erneuern. Ein zitternder Seufzer entrang sich der Brust des Patienten – nach einer Weile öffneten sich auch die Augen und stierten matt und blöde den fremden Retter an.
»Nun, Freund,« sagte der Helfer in der Not: »wie geht's mit Euch?«
» Tizzone d'inferno!« röchelte der Geselle und strich sich mit der Hand über die Stirne: »mir ist's, als hätt' ich einen Bleiklotz im Gehirn.«
» Ecco,« sagte der Reiter: »nehmt einen Schluck, der wird Euch stärken.«
» Tante grazie, signore!« Gierig griff der Unbekannte nach der dargebotenen Korbflasche und trank; dann sank er erschöpft ins Gras zurück. Der Reiter deutete nach einer Richtung hin. »Ich sehe dort einen heimkehrenden Ochsenwagen, der soll Euch aufnehmen und unter Obdach bringen.«
Die Zügel seiner Stute losnestelnd, schwang er sich in den Sattel und galoppierte davon … Nach kurzer Zeit schon ließen sich die knarrenden Räder einer Carretta hören. Von dem Fuhrknecht unterstützt, hob der Reiter seinen Pflegling bedachtsam auf den Wagen, dessen Grasladung die derben Stöße des holperigen Weges milderte.
Der Reiter folgte zur Seite des Fuhrwerkes, und so lenkte der Zug in langsamem Tempo der nächstliegenden Cascina entgegen.
* * *
Der Meierhof, dem der Reiter einen durch seine drei Reisepässe so fragwürdig gewordenen Gast zuführte, trug den Namen Il Prugnolo – der »Schlehenbusch«. Ein Gestrüpp von Schwarzdorn, das unweit des Gehöftes wucherte, erklärte die Bezeichnung, unter der die Cascina in der Umgegend bekannt war. Wie alle Meiereien des Tavoliere, bestand auch diese aus einem regellosen Klumpen von niedern, wettergrauen Baulichkeiten, denen die halbvermoderten Schilfdächer kaum ein wirtlicheres Aussehen zu geben vermochten. Ganz wie der Haziendero der südamerikanischen Pampas verschmäht auch der Viehzüchter des Tavoliere jede wohnliche Behaglichkeit, und sein ganzer Sinn und Stolz konzentriert sich auf die Herden, die seine Weidegründe durchschweiften. Nur selten ist übrigens der dortige Viehzüchter Eigentümer des von ihm bewirtschafteten Grundes und Bodens; in den meisten Fällen sitzt er als Pächter auf seiner Scholle, die dann allerdings, wie in England, als traditionelles Lehen von Vater auf Sohn und Enkel übergeht …
Noch hundert Schritte mochte der Reiter mit seiner Begleitung von dem Gehöfte entfernt sein, als ihm bereits mit heiserm Gebell ein ganzes Rudel jener magern, grauweißen Abruzzenhunde entgegenstürzte, die nicht nur der Todfeind des strolchenden Wolfes, sondern auch der Schrecken des fremden Reisenden sind: verliert er den Bestien gegenüber seine Besonnenheit, reizt er sie durch irgendeine unkluge Bewegung, so wirft sich die halbwilde Meute auf ihn und zerreißt, wenn nicht noch rechtzeitige Hilfe naht, den Unglücklichen erbarmungslos in Fetzen. Das war nun diesmal nicht zu befürchten, denn die Hunde kannten den Knecht des Ochsenwagens, auf dem der Verwundete lag; aber auch von anderer Seite gebot es den treuen Hütern des Hauses Halt: von der Türschwelle her ertönte ein schriller Pfiff, der wie ein Bannstrahl zwischen den lärmenden Haufen fuhr. Ein kleiner, stämmiger Mann war es, der mit in den Mund gesteckten Fingern diesen ohrenzerreißenden Naturlaut von sich gegeben hatte. Sein ganzes Auftreten ließ in ihm den Regenten des Gehöftes erraten, und in der Tat war Taddeo Martini – so hieß der kleine muskulöse Mann – der wohlbestallte Fittajuolo (Pächter) der Meierei Il Prugnolo. Nach dem im Tavoliere gebräuchlichen Wertmesser durfte Taddeo als ein sehr vermögender Mann bezeichnet werden, was man ihm allerdings äußerlich nicht ansah, denn seine Tracht unterschied ihn in nichts von einem gewöhnlichen Boaro (Ochsenhirten). Der Hitze wegen hatte er seine Jacke ausgezogen und die Ärmel seines Hemdes von grober Leinwand halb aufgestülpt. Auf seinem, von der Sonnenglut bronzierten Kopfe, trug er eine rote Beutelmütze, ein Leibgurt von gleicher Farbe umspannte in breitem Faltenwurf seine Hüften. Eine Kniehose von Ziegenleder, leinene Gamaschen und derbe Schuhe ergänzten sein landesübliches Kostüm. Seine scharfen Augen hatten schon von weitem den Reiter erkannt, der jetzt in kurzem Trabe seine Stute dem Hause entgegenlenkte.
» Saluto, signore giudice, come sta?« Halb ehrerbietig, halb kordial reichte der Pächter dem Ankömmling die Hand zum Gruße dar.
» Molto bene, Taddeo,« dankte der als »Richter« angeredete Gast, indem er sich leicht aus dem Sattel schwang und die Zügel in den eisernen Ring eines neben der Türe eingerammten Pfostens schlang.
»Was führt Euch, Herr Richter, zu uns her?« wollte der Pächter wissen.
»Ein Zufall, Taddeo! Ich wäre wohl heut abend an Euerm Gehöfte vorbeigeritten, ohne Halt zu machen, aber – –« zur Ergänzung des Satzes deutete der Richter nach dem langsam sich nähernden Ochsenkarren, auf dem Taddeo jetzt erst die regungslose Gestalt seines zweiten Gastes bemerkte. » Corno di diavolo!« rief er verwundert: » chi è colui? Was bringt Ihr mir denn da?«
Mit kurzen Worten berichtete der Beamte den uns bekannten Hergang; er schloß mit den Worten: »Betrachtet, Taddeo, den Mann einmal genau, ob er Euch vielleicht schon irgendwo begegnet ist.« Die Ochsen waren inzwischen mit ihrer Last vor der Türe angelangt, und der Richter trat mit dem Pächter herbei, um dem verwundeten Menschen auf den Boden zu helfen. Mit kritischem Blick musterte Taddeo den Fremdling, dann schüttelte er leicht den Kopf. Er wandte sich an den unerwarteten Gast. » Cospetto! Freund, wer hat Euch so zugerichtet?« Der Angeredete lallte einige unverständliche Worte, die er mit einer ebenso unbestimmten Handbewegung begleitete. Der Richter gab dem Pächter einen Wink, den Mann vorläufig mit keinen Fragen zu behelligen und so hoben sie ihn bedachtsam von dem Fuhrwerk herunter, um ihn ins Haus zu bringen. Auf der Schwelle stand die Padrona (Hofbäuerin), die gleichfalls das Hundegebell neugierig gemacht hatte. Auch sie trug die übliche Tracht der Pächterfrauen: einen kurzen, faltenreichen Rock von grasgrüner Farbe, den unten eine zitronengelbe Borte umsäumte – Strümpfe von schwarzer Schafwolle und Nestelschuhe; den Oberleib umschloß, knapp über die Brust hinaufreichend, ein grellrotes Mieder, das mit dünnen Silberketten verschnürt war, an denen verschiedene geweihte Münzen und Medaillen funkelten. Auch den von Sonne und Wind gebräunten Hals umschlang in mehrfachen Windungen eine Granatenkette, die in einem Kreuz von schwarzer Lava zusammenlief. Der kleine, feingezeichnete Kopf schloß mit einem roten Tuche ab, das in seinen kunstvollen Schlingungen an einen morgenländischen Turban erinnerte. Fast um Haupteslänge überragte die Padrona ihren kurzbeinigen Eheherrn, zu dessen derbem Wesen auch ihre sonstige Erscheinung einen scharfen Gegensatz bildete. Wie der Padrone, stand auch sie im Alter von nahezu fünfzig Jahren, aber noch immer zeigte ihr sanftes, schwermütiges Gesicht die Spuren einstiger reizvoller Schönheit. Die Stellung der Frauen im Tavoliere ist, wie überhaupt in allen primitiven Landstrichen, keine dem Manne irgendwie ebenbürtige, und unsre modernen städtischen Amazonen und Blaustrümpfe, die auf der Tribüne und in bombastischen Flugblättern ihrem verkürzten Geschlechte Zigarre und politisches Wahlrecht zusprechen, würden über die Existenz ihrer dortigen Schwestern Zeter und Mordio schreien und über den »Tyrannen in Hosen« die vollste Schale ihres Grimmes ausschütten.
Auch die Hofbäuerin von Il Prugnolo zeigte in ihrer ganzen Haltung jene Subordination, die, wie bei den Weibern des Orients, unbewußt und unbedingt der Autorität des Mannes sich beugt. Sie hätte es für ungeziemend erachtet, sich in das Gespräch ihres Eheherrn und des Richters einzumischen, und demzufolge blieb sie bescheiden im Hintergrunde stehen. Nur als der verwundete Mann vom Karren herabgehoben wurde, entschlüpfte ihren Lippen der mitleidige Ausruf: » Dio mio, il poveretto!«
» Presto, padrona!« herrschte der Gatte sie an: »besorge ein Lager und sieh dann zu, wieweit diesem Straniero hier der Gedankenkasten aus dem Leim gegangen ist.«
Wortlos verschwand die Bäuerin im Innern des Hauses, um die Zurüstungen zu treffen. Die Frauen des Tavoliere, um es gleich zu bemerken, sind, durch die örtlichen Verhältnisse veranlaßt, Arzt und Apotheker zugleich und zeigen oft ein geradezu überraschendes Verständnis für die verschiedenen Erscheinungen des kranken Lebens … Mit dem schwer auf ihre Arme gestützten Patienten betraten der Pächter und der Richter die Wohnstube – einen weiten niedern Raum, der mit seinem Balkenwerk an eine Schiffskajüte erinnerte und den, um das Bild noch ähnlicher zu machen, eine große von der Decke herabhängende Laterne mit ihrem trüben Lichte erhellte. Ein pittoresker Anblick bot sich dem Auge dar. Um einen mitten in der Stube aufgepflanzten massiven Eichentisch gruppierten sich, eng aneinander gedrückt, etwa dreißig Männer und Weiber, von denen jede einzelne Figur in ihrer Art einem Maler hätte als Modell dienen können. Focaccias (Brotkuchen aus Gerstenmehl), Schüsseln mit gebratenem Speck und Ziegenkäse, Krüge voll herben, dunkelroten Landweines deuteten genugsam den Zweck der Versammlung an, die sich durch die Ankunft des Richters und des verwundeten Fremdlings in ihrem Vertilgungswerk nicht hatte stören lassen.
Hagere, sonnenbraune Gestalten in bunten Lumpen und Lappen bildeten die malerische Tafelrunde: es war eine Gruppe von Schnittern und Schnitterinnen, wie sie zweimal im Jahr aus der Basilicata – dem armen Landstrich, der sich südlich vom Tavoliere bis zum Golf von Tarent erstreckt – herüberkommen, um für mäßigen Lohn die Heuernte der Viehzüchter in der Niederung einzubringen. Im Tavoliere bezeichnet man die Leute mit dem Namen »Braccianti«. Es ist ein kräftiger, dabei aber auf der niedrigsten Kulturstufe stehender Menschenschlag, rebellisch gegen die Polizei des Staates, voll blinden Gehorsams aber gegen seine Pfaffen, die ihr Interesse dabei finden, jeden Lichtfunken der Aufklärung von ihrer wollspendenden Herde fernzuhalten. Unter der piemontesischen Herrschaft ist es seitdem etwas besser geworden, doch es wird noch eine gute Weile währen, bis auch nach dieser Richtung hin die letzten Spuren des unseligen Bourbonenregimentes verwischt sind. Jetzt war das Leben des Bracciante in zwei Rubriken eingeteilt: solange die Heu- und Fruchternte in den umliegenden reichern Provinzen dauerte, arbeitete er mit Sense und Sichel ganz wacker darauf los; war der letzte Halm abgemäht, die letzte Garbe unter Dach und Fach gebracht, so sagte der Bracciante seinem bisherigen Brotherrn » Addio a rivederci«, trug sein Arbeitsgeräte fein säuberlich heim, blies von seiner alten Flinte den Staub herunter und verwandelte sich im Handumdrehen in einen regelrechten Briganten, der den Rest des Jahres mit Raub und Mord ausfüllte. Auch der Bauer, bei dem er den Sommer über gearbeitet hatte, durfte dann keine Schonung erwarten und ward so gut ausgeplündert wie jeder andere. Der Bracciante kannte in diesem Punkte keine Parteilichkeit. War der Schnee auf den Bergen geschmolzen, so hängte der Bracciante auch wieder seine Flinte an den Nagel und langte nach der eingerosteten Sense, um sie für die nahende Friedensära in Stand zu setzen. Aber noch etwas blieb ihm zu tun übrig! Die Mord- und Raubtaten, die er mittlerweile begangen hatte, versperrten seiner Seele den Weg ins Paradies, wenn Gott sie etwa jählings vor sein Gericht laden sollte; andererseits schuldete er der Madonna und seinem Schutzheiligen gebührenden Dank für den Beistand, den sie ihm bei seinen Raubexpeditionen geleistet hatten. Um nun das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden, d. h. Sühne und Dank auf einmal abzumachen, gab es für den Bracciante einen höchst bequemen Ausweg. Er ging zu dem nächsten Dorf- oder Klosterpfaffen und zählte, je nach dem Gewinn seiner Briganten-Campagne, so und soviel blanke Carlini auf den Tisch des frommen Gottesmannes, der dafür ebenso prompt in seiner Kapelle eine feierliche »Räubermesse« ( messa di malandrini) zelebrierte. In tiefster Zerknirschung kniete der Pönitent mit Weib und Kind vor dem Altar und schlug sich auf die Brust, daß die Knochen krachten. Mit dem väterlichen » Absolvo te« des Pfaffen war die Seele des Banditen wieder so spiegelhell wie ein neu gegossener Zinnteller und munter, den bebänderten Spitzhut keck aufs Ohr gedrückt, verließ der desinfizierte Sünder die kirchliche Waschanstalt. Die Sense auf der Schulter, wanderte er am nächsten Morgen gottgetrost dem Arbeitsmarkte entgegen, um womöglich bei demselben Bauer, den er erst kurz zuvor ausgesäckelt hatte, Beschäftigung zu suchen und zu – finden.
Zu solch grotesken Formen war dort der Rechtsbegriff ausgewachsen! Wie gesagt, es hat sich seitdem gebessert, aber noch vieles, vieles muß geschehen, bis jene abgestumpfte Bevölkerung befähigt ist, in den Kreis moderner Gesittung einzutreten …
Von dem Pächter unterstützt, hatte der Richter den verwundeten Mann nach einem Stuhle geleitet, auf den sich der Fremdling matt niedersinken ließ. Der Schein der Laterne fiel gerade auf seine Gestalt und ließ sein düsteres Gesicht mit der weißen Stirnbinde fast gespenstisch aus dem dunkeln Hintergründe hervortreten. Ziemlich teilnahmlos blickten die schmausenden Braccianti nach dem leidenden Menschen herüber; keinem von ihnen schien er irgendwie bekannt zu sein, und ein blutiger Schädel will bei diesen wilden Gesellen überhaupt nicht viel besagen.
Ja, keinem von der Tafelrunde schien der Fremdling bekannt zu sein – so schien es, bei schärferer Beobachtung aber hätte sich entdecken lassen, daß diese Annahme eine irrige war. Unter den Schnittern saß ein kaum zwanzigjähriger, zerlumpter Bursche, dem man ansehen konnte, daß er sich bei der Gesellschaft nicht so recht heimisch fühlte. Auch war er kein Eingeborener der Basilicata oder des Tavoliere, sondern er hatte, wie es schon seine Mundart verriet, seine Heimat droben in den Abruzzen. Seit einer Woche stand er bei dem Padrone in Diensten, der nur widerwillig und durch die Ernte gedrängt den schmächtigen Burschen gedungen hatte. Die Schnitter, die sich aus dem neuen Kameraden auch nicht viel machten, nannten ihn kurzweg »Il Bieco« – den Schielenden – und die derben Hofmägde, denen er abends verliebte Blicke zuwarf, meinten lachend, man wisse niemals, an welche unter ihnen er eigentlich seine Huldigungen richte, denn er liebäugele gleichzeitig nach rechts und nach links. Die spöttischen Dirnen hätten sich aber beruhigen dürfen, denn der Schielende verstand es trefflich seine Leute haarscharf aufs Korn zu nehmen. Auch er hatte, mit beiden Backen kauend, beim Eintritt des verwundeten Mannes ziemlich gleichgültig aufgeschaut – mit einemmal zuckte er leicht zusammen! In seinem prüfenden Blick malte sich für einen Moment ein Ausdruck von Staunen und Unruhe! Aber nur wie das Aufflammen eines Pulverblitzes war dieses Augenspiel gewesen: schon in der nächsten Sekunde hatte der Schielende seine Fassung wieder gewonnen und sich zugleich überzeugt, daß seine jähe Bewegung bei der übrigen Gesellschaft unbemerkt geblieben war. Die Köpfe der Schnitter und Schnitterinnen waren der Türe zugewandt, wo die Padrona soeben ihrem Gatten mitteilte, daß für den Patienten ein Lager hergerichtet sei. Der Richter und der Pächter hoben den Mann von seinem Sitze auf, um ihn zu weiterer Pflege in eine Nebenkammer zu bringen. Gleich darauf verließen auch die gesättigten Braccianti die Stube: die ältern, um noch eine Weile zu rauchen und zu plaudern – der jüngere Teil aber sammelte sich, um, trotz der ermüdenden Tagesarbeit, den Abend mit einem Saltarello oder mit der heimischen Tarantella draußen auf dem Rasen zu beschließen. Bald rasselte das Tamburin und klapperten die Kastagnetten; mit glühenden Wangen und blitzenden Augen, mit neckischem Lachen und hellem Jubelruf gruppierten sich im Mondschein Burschen und Dirnen zu einem jener wild üppigen Tänze, aus denen südliche Leidenschaft und stürmische Sinnlichkeit emporlodern wie die Feuerflammen eines Vulkanes. Der Schielende, der sonst nie zu fehlen pflegte, ließ sich diesmal in dem tollen Kreise nicht blicken, niemand aber dachte daran, sich um die Abwesenheit des wenig beliebten Kumpans weiter zu kümmern …
In der »guten Stube« war mittlerweile für den Richter ein Mahl aufgetragen worden, das sich durch einige Zutaten von dem derben Abendbrot der Braccianti unterschied. Für einen Gourmet ist der Tavoliere di Puglia nicht die beste Gegend! Um seinen Gast zu ehren, hatte auch der Pächter an dem Tische Platz genommen, während, dem Brauche des Landes getreu, die Padrona mit der Demut einer Magd die beiden Männer bediente. Der junge Richter war ziemlich zerstreut und einsilbig; außer andern Gedanken, die durch seinen Kopf gingen, beschäftigte ihn der Mann mit den drei Reisepässen, der ihm auf eine so unerwartete Weise in den Weg gekommen war. Zu verschiedenen Malen hatten sich in letzterer Zeit im Tavoliere größere und kleinere Banden gezeigt, die offenbar aus dem Kirchenstaate herübergekommen waren und im Dienste des Reaktionskomitees zu Rom standen. Als Zivilkommissar des Distriktes war der ebenso mutvolle als pflichtgetreue Richter mit seinen Karabinieri zur Verfolgung der Briganten ausgezogen, aber ohne sonderliches Glück, denn die Räuber hatten augenscheinlich unter der Bevölkerung – wohl noch mehr unter den sinnverwandten Braccianti auf den verschiedenen Pachthöfen – ihre Spione und geheimen Helfershelfer. Nahe genug lag daher der Verdacht, daß auch der Fremdling, der unter drei Namen und Standesbezeichnungen reiste, in irgendwelcher Verbindung mit den Briganten stehe, und ebenso fest war der Richter demzufolge entschlossen, den Mann bis auf weitere Aufklärung in sichern Gewahrsam zu nehmen. Wie er sich selber überzeugt hatte, lag der Unbekannte – denn das war er ja trotz oder vielmehr gerade wegen seiner überreichlichen Legitimation – tief erschöpft in seinem Bette und wenn auch, der Aussage der heilkundigen Padrona nach, die Verletzung sich nicht so gefährlich erwiesen hatte, als es anfänglich schien, so ließ der Zustand des Patienten doch immerhin kaum die Annahme eines etwaigen Fluchtversuches in der Nacht zu. Nichtsdestoweniger gedachte der Richter für alle Fälle auf der Hut zu sein. Das eigentliche Ziel seines Rittes hatte er, durch die Sorge um den hilflosen Menschen verspätet, nicht mehr erreichen können, und so sah er sich gezwungen, zunächst die Nacht unter dem gastfreundlichen Dache des ihm wohlbekannten Pächters zu verbringen, denn es wäre geradezu eine Mißachtung des eigenen Lebens gewesen, sich ohne zuverlässige und genügende Begleitung in die Nachts doppelt unsichere Gegend hinauszuwagen. Am folgenden Morgen wollte der Richter womöglich seinen Mann in ein scharfes Verhör nehmen und das Nötige in der höchst dunkeln Sache bestimmen. Ohne sich dem Padrone gegenüber weiter zu äußern, ließ sich der Richter in einem, an die Kammer des Patienten grenzenden Gemach sein Lager bereiten. Gleich darauf erloschen in dem Gehöfte die Lichter; die Braccianti und das Gesinde hatten schon früher ihre Schlafstellen aufgesucht, und nur noch der Nachtwind, der über die mondhelle Ebene strich, das schrille Krächzen einer Eule und ein zeitweiser Laut der Hofhunde unterbrachen die feierliche Stille der Natur … Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Der Richter hatte sich vorgenommen, die Nacht über wach zu bleiben, und dennoch drückte ihm der Schlaf die müden Augen zu. Mit Anbruch des Tages fuhr er aus seinem Halbschlummer empor; mit leisen Schritten schlich er nach der Kammer hinüber, die den fragwürdigen Gast beherbergte – ebenso behutsam öffnete er die Türe, die nach Landesart weder Schloß noch Riegel, sondern nur einen einfachen hölzernen Schnapper hatte. Verblüfft schaute der Richter drein: das Bett war leer, der Gast verschwunden! Das offen stehende Fenster erklärte den Rest. Als die Braccianti zum Frühstück antraten, zeigte sich, daß mit dem Flüchtling zugleich auch der Schielende entwichen war.
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Simone Moretto – so hieß der Richter – war ein echtes und rechtes Kind des Tavoliere; seine Studienjahre und eine größere Reise ins Ausland abgerechnet, hatte er sein ganzes übriges Leben in dieser öden und ihm doch so teuern Steppe verbracht. Der einstige Tummelplatz des Knaben war jetzt zum Wirkungskreise des Mannes geworden, und der nördliche Saum der weiten Tiefebene gehörte zu dem Bezirke seiner Jurisdiktion. Schon sein Vater und Großvater hatten hier das Richteramt bekleidet.
Obwohl neapolitanischer Staatsbürger und Beamter, war Simone Moretto durchaus kein Freund des verrotteten, jetzt gestürzten Bourbonen-Regimentes gewesen; bereits als Student, wo er mehrere Semester die Universität zu Florenz besuchte, hatte er im Verkehr mit freisinnigen Kommilitonen und im Hause eines seiner demokratischen Prinzipien wegen aus Modena vertriebenen Professors die ersten Strömungen einer revolutionären Luft eingeatmet: die spätere Reise durch verschiedene konstitutionell regierte Länder des europäischen Nordens war dazu angetan, den politischen Horizont des intelligenten, scharf beobachtenden jungen Mannes noch mehr zu erweitern und ihm klar zu machen, daß nur im Zeichen des Kreuzes von Savoyen – d. h. von einem unter der Führung Piemonts geeinigten, freien Italien ein Aufschwung aus nationaler Zerrissenheit und Ohnmacht zu erhoffen sei. Demgemäß trat er in den Staatsdienst – nicht um als feiler Handlanger des bourbonischen Despotismus Recht in Unrecht zu verwandeln,, sondern um nach Kräften das Zukunftsprogramm der patriotisch-liberalen Partei verwirklichen zu helfen. Es läßt sich also begreifen, mit welchem Gefühl des Triumphes er den Kanonendonner der piemontesischen Batterien begrüßte, die vor Gaëta der unseligen Bourbonen- und Pfaffenwirtschaft zum eisernen Kehraus aufspielten. Die neue Regierung wollte die Sympathie, die ihr der junge Richter entgegentrug, mit einem höhern und einträglichern Posten lohnen; der uneigennützige Patriot zog es aber vor, in seinem heimischen Amtskreise zu verbleiben und hier mit verdoppeltem Eifer für die Befestigung des neuen Reiches zu wirken.
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Der von dem Richter und dem Gutspächter geleitete Streifzug in die Umgegend des Gehöftes war fruchtlos ausgefallen, und auch von einer weitern Verfolgung ließ sie nichts erhoffen, denn, wie es sich herausstellte, hatten sich die beiden Flüchtlinge der zwei besten Pferde aus dem Gehege bemächtigt und somit einen Vorsprung gewonnen, der jede Möglichkeit des Einholens ausschloß. Die Hofhunde hatten zu dem heimlichen Aufbruch geschwiegen, weil ihnen der Schielende bekannt gewesen war. Keinem Zweifel unterlag es, daß die beiden Ausreißer ihren Weg nach den Vorbergen des Monte Gargano genommen hatten …
Mißmutig verabschiedete sich der Richter von seinem Wirte. Ließ es sich doch jetzt als gewiß annehmen, daß der Justiz in dem Unbekannten ein wichtiger Fang entwischt war! Mit dem Gedanken beschäftigt, welche weiteren Erscheinungen wohl das Auftauchen dieses Individuums im Gefolge haben werde, ritt der Richter seines Weges, der gleichfalls nach den südlichen Ausläufern des Gebirges führte. Seinen Karabiner schußfertig zur Hand, ließ er seine Augen rechts und links schweifen, denn schon begann der bisher ebene Boden wellenförmig gegen die Berge hin anzusteigen. Nichts Verdächtiges aber zeigte sich. Von einem Hügel herab winkte ihm sein Ziel entgegen. Seine Stute zu einem scharfen Trab anspornend, erreichte er bald den Fuß des Hügels, den ein altes, wettergraues Bauwerk krönte. Der plumpe Steinhaufen hieß in der Umgegend »II Castello« – das Schloß – und der efeuumsponnene Stumpf eines massiven Turmes, der den halb ruinenartigen Bau flankierte, ließ erkennen, daß man hier wirklich die Überreste einer feudalen Burg vor sich hatte. Ein Kranz von knorrigen Steineichen umsäumte diese öde, unwirtliche Wohnstätte, die, selbst am hellen Tage, dem Auge wie eine wahre Gespensterherberge entgegentrat.
Der Richter freilich kannte das alte Eulennest und seine Insassen – auch er selber war dem Wolfshunde, der sich knurrend hinter dem verrosteten Eisengitter des Hoftores zeigte, kein Fremder, denn ein freundlicher Zuruf besänftigte das mächtige Tier. Von seinem Pferde absteigend und den zottigen Kopf des Hundes streichelnd, der seine Schnauze durch das Eisengitter streckte, ließ der Ankömmling seinen Blick über Haus und Hof hinschweifen. Überall die ungastlichen Spuren des Verfalls und der Verwahrlosung! Außer dem Hunde kein Pulsschlag von Leben – die lethargische Stille einer Leichenhalle! …
Mitten auf dem Hofe, den ein Teppich von Moos und Unkraut überwucherte, stand ein Maulbeerbaum, den die Raupen halb kahl gefressen hatten, und der jetzt über sich selber und seine Umgebung zu trauern schien. Der Efeu, der an dem Turme herumkletterte, hatte seine Ranken auch über die anstoßende Mauerfläche hingeklammert und zwischen seinem schwarzgrünen Blätterwerk verschwanden teilweise die festgeschlossenen Läden der kleinen Fenster, die schießschartenähnlich und in regelloser Reihenfolge in die verwitterte Mauer eingesprengt waren.
Wahrlich – nur ein grollender Menschenfeind, oder ein absonderlicher Kauz konnte auf den Gedanken gekommen sein, sich in dieser düstern Klause einzunisten, die nicht einmal die Gewährleistung persönlicher Sicherheit bot, denn die nächsten Gehöfte lagen mindestens eine halbe Lega entfernt, und nach der Rückseite hin standen schon die ersten Vorposten des Waldes, der, an den Kuppen des Monte Gargano in die Höhe steigend, sich mehr und mehr zu einer meilenweiten Urwildnis verdichtet, die zuletzt nur noch das jagende Raubtier und der scheue Flüchtling der Justiz durchschweiften. Angesichts dieser melancholischen Wohnstätte und der sie umrahmenden finstern Naturszenerie war der Richter unbewußt in ein träumerisches Sinnen versunken. Den Arm auf den Hals seines Pferdes gestützt, das an dem sprossenden Gras herumknusperte, gedachte er der Tage, wo er selber als Knabe in diese Einsiedelei verbannt gewesen war, deren unheimliche Stille er kaum gewagt hatte, mit seinem kindlichen Spiele zu stören. Ein knurrender Laut des Wolfshundes, der bisher schweifwedelnd den bekannten Gast begrüßt hatte, rief den Richter in die Wirklichkeit zurück. Er blickte um sich – nirgends aber war etwas zu bemerken … Am Torpfeiler hing ein schmieriger Strick herab, in den ein rostiger Eisenring eingeflochten war. Mit einem kräftigen Ruck setzte der Reiter den Strick in Bewegung, der seinerseits eine heisere Glocke alarmierte. Im selben Moment sprang im Hofe der Wolfshund mit lautem, grimmigem Gebell an dem Gittertor in die Höhe, seine funkelnden Augen waren nach einer bestimmten Richtung hingewendet. Rasch, den Hahn seines Karabiners zurückreißend, fuhr der Richter herum. Ein Gestrüpp von Hecken und Stauden zog sich am Abhang hin: zwischen den Blättern und Ranken spähte ein gelbes, mageres Gesicht hervor! Blitzschnell hob der Richter sein Feuerrohr – – doch ebenso rasch war auch wieder das Gesicht hinter seinem deckenden Schirme verschwunden. Trotzdem hatte die Sekunde genügt, um den scharfen Blick des Richters die Züge erkennen zu lasten. Dieses Galgengesicht hatte ihn schon am Abend zuvor unter den Braccianti von Il Prugnolo frappiert.
Es war – der Schielende.