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Bleich und fahl dämmerte im Osten der Morgen des 29. August 1862. Noch in der Nacht hatten sich die seit Tagen offenen Schleusen des Himmels endlich einmal wieder geschlossen.
In den Schluchten des Aspromonte dampften weißgraue Nebel, aus denen fast geisterhaft der rauhe Schrei der Adler heraufkrächzte, die mit schwerem Flügelschlag talwärts steuerten.
Mit dem ersten Morgengrauen, ohne den Weckruf von Trommeln und Horn abzuwarten, standen die Gäste dieser unwirtlichen Naturherberge auf den Beinen und mit den wunderlichsten Sprüngen und Armbewegungen suchte jeder den erstarrten Kreislauf des Blutes zu beleben. Auch die struppigen, abgeschundenen Maultiere, die die Bespannung des einzig noch vorhandenen kleinen Gebirgsgeschützes bildeten, fühlten das Bedürfnis, ihre steifen Knochen zu recken und zu strecken: den langohrigen Kopf zwischen die Vorderbeine senkend, schlugen sie unter den drollig-täppischen Kapriolen, die diesen Halbeseln eigen sind, mit den Hinterfüßen in die Luft und rollten sich im Gras herum. Schon am Tage zuvor waren unweit von dem Biwak mehrere Klafter gefällten und aufgeschichteten Holzes entdeckt worden; die glühende Sommersonne hatte die Scheite ausgedörrt und die Felswand, an der sie saßen, ihnen einigermaßen als Wetterschirm gedient. Jetzt, wo der leidige Regen aufhörte, der alle bisherigen Versuche vereitelt hatte, ließ sich an die Möglichkeit eines wärmenden Lagerfeuers denken. Der General spendete den nötigen Kohlensatz von seinem eigenen Herdfeuer, und so knisterte unter dem abwechselnden Blasen und Pusten eines Kreises von Legionären zuletzt eine Flamme empor, die mit Hutschwenken und groteskem Freudentanz begrüßt wurde. An der ersten Flamme entzündete sich dann eine zweite, dritte, vierte. Das war ein Gedränge rings um das wohltätige Element! Mit den Gliedern taute zugleich auch das südländische Naturell wieder auf und die Zungen lösten sich zu einem » biribara« von echt italienischer Leichtlebigkeit. Die muntere Stimmung hatte aber auch noch einen anderen Grund. Die Flintenschüsse der Vorposten, durch die in der Nacht das ganze Biwak alarmiert worden war, hatten nämlich, wie es sich herausstellte, nicht das Anrücken des Feindes, sondern die verspätete, gar nicht mehr erwartete Ankunft der Hirten signalisiert, die den zugesagten Proviant herbeibrachten: einige Dutzend Schafe und Ziegen und ein paar mit Brot und Weinschläuchen bepackte Esel. Ein Götterfrühstück winkte also den ausgehungerten Gesellen. Mochte auch für den einzelnen keine allzu große Ration abfallen, so genügte sie dennoch, um den so ungestüm knurrenden Magen zu besänftigen. Im Handumdrehen waren die Tiere geschlachtet und gehäutet worden, schon staken sie jetzt schmorend am Spieß, den einige Kriegsknechte mit kundiger Hand über dem Feuer drehten.
Nach dem Frühstück trat sofort wieder die Disziplin in ihr Recht. Es galt, Montur und Armatur von den Spuren des Biwaks zu säubern, denn der General hatte eine strenge Inspektion angesagt. Patrouillen gingen nach allen Seiten ab, um die Bewegungen der Regierungstruppen auszukundschaften. Ein kriegerisches Leben und Weben mitten in der feierlichen Stille des Hochgebirges … Kaum eine halbe Stunde nach dem Frühstück stand schon die so arg zusammengeschmolzene Freischar, nach ihren Kompagnien geordnet, auf dem Sammelplatz; ebenso pünktlich erschien Garibaldi mit seiner kleinen Suite. » Ferma, battaglione! Presentate l'arme!« Die Trommeln wirbelten und die Schützenhörner gellten zum Ehrengruß. » Evviva Garibaldi! Evviva l'Italia!« erscholl der stürmische Jubelruf und huldigend senkte sich die von Wind und Wetter gebleichte Fahne. Leicht lüftete der Condottiere den Hut, dann begann die Inspektion. Ernst und gedankenvoll durchschritt er die geöffneten Glieder, hier und da an einen Mann ein kurzes Wort des Lobes oder Tadels richtend. Nach Besichtigung der letzten Kompagnie trat er wieder vor die Front hin:
»Brüder und Kameraden!
Der heutige Tag wird die Entscheidung bringen. Mag sie ausfallen wie sie will – Italien wird euch zu seinen treuesten Söhnen zählen. Vielleicht schon die nächste Stunde kann uns unsre Verfolger zeigen, die, wenn auch durch Kleidung und Verpflichtung von uns verschieden, dennoch unsre Brüder, Kinder einer gemeinschaftlichen Mutter, sind. In der nächsten Stunde schon kann die melancholische Ruhe dieses Hochlandes, über dem nur der Geist Gottes und die Adler schweben, von Kampfgeschrei und krachenden Salven widerhallen, und so wollen wir die uns noch vergönnte Frist benützen, um uns einer traurigen, aber auch heiligen Aufgabe zu entledigen.«
Er deutete nach der Schäferhütte hinüber, die ihm in der vergangenen Nacht ein so trübseliges Obdach geboten hatte. »Ihr wißt, Brüder und Kameraden, daß dort der Tod seine Einkehr gehalten hat! Der freiwillige Schütze Graf Angelo da Santacroce und der freiwillige Tambour genannt Il Piccolo sind in die Ewigkeit gegangen. Nicht die Kugel hat ihr junges Leben geendet, sondern eine Prüfung, die über ihre Kräfte hinausging; durften sie aber nicht als Helden fallen, so starben sie doch als Märtyrer für die Erlösung Italiens, ihr patriotisches, klageloses Dulden hat sie, den Proletarier wie den Edelknaben, heilig gesprochen, ein und dasselbe Grab soll sie umschließen, und hier in der erhabenen Bergwildnis, nahe den Wolken des Himmels, mögen sie ruhen – einsam, aber nicht vergessen!«
Der Condottiere schwieg. Eine geisterhafte Stille war eingetreten.
Seitwärts hatten die Pioniere schon das Doppelgrab geschaufelt.
» Compagnia, a sinistra! Compagnia, a destra! Marcia!« scholl's von Kompagnie zu Kompagnie. » Battaglione, fermata!«
In weitem Viereck umrahmte die Freischar das Grab. Von der Schäferhütte her nahte der kleine Leichenzug. Mit der Sorge eines Vaters leitete der General die Einbettung in den Schoß der Erde und eine Träne glänzte in seinem Auge, als er einen Kranz von frischem Eichenlaub auf die Brust der beiden jungen Todesschläfer niederlegte. Dumpf polterten unter den Schaufeln der Pioniere die Schollen in das Grab hinab und wölbten sich zu einem schmucklosen Hügel. Die Axt eines Sappeurs hatte aus zwei Holzscheiten ein rohes Kreuz gezimmert und mit Kohle hatte der General die Worte darauf geschrieben: » Morti per la patria!« Gestorben für das Vaterland.
Hochaufgerichtet stand der Condottiere an dem Grab, sein Auge leuchtete in schwärmerischem Feuer, und mit hallender Stimme sprach er: »Gestorben fürs Vaterland – Das ist die Grabschrift der Toten! Sterben fürs Vaterland – Das ist die Parole der Lebenden! Für die Geister den Himmel – für uns Rom, die ewige Hauptstadt von Italien!«
» Evviva Roma la sempiterna!« antwortete es in tausendstimmigem Chor. Das Quarré schwenkte zum Abmarsch, um an dem General vorüber zu defilieren. An der Spitze der dritten Kompagnie gewahrte sein scharfes Auge einen frischgebackenen Tambour, den Nachfolger Piccolos und Erben von dessen so heißgeliebter Trommel. » Ebbene, Sbarbatello,« redete er in väterlichen! Ton den muntern Knirps an: »wirst du denn mit Deinem Spektakelkasten fertig werden, oder muß ich für ein Kindertrommelchen sorgen?«
Der jugendliche Bengel zeigte lachend seine Zähne und schlug statt aller Antwort einen furiosen Wirbel.
* * *
Es ging gegen Mittag und noch immer ließ sich von den königlichen Truppen nichts sehen und hören, obwohl sie so nahe standen. Von den Legionären ahnten die wenigsten den qualvollen Zwiespalt in Garibaldis Brust. Was sollte er tun?
Die Soldaten des Königs hier erwarten, oder den Ring am günstigsten Punkt zu durchbrechen suchen? Unter andern Umständen hätte der ungestüme Mut Garibaldis ohne jedes Zögern die Antwort auf diese Fragen gegeben. Wären seine Verfolger Franzosen oder Österreicher gewesen und hätten sie selbst mit noch größerer Übermacht ihm gegenüber gestanden – ohne Besinnen hätte sich der tapfere Haudegen an die Spitze seiner Schar gestellt, und mit dem Donnerruf: » Avanti« wäre er auf den Feind losgegangen, um zu siegen oder zu fallen. »Im Handgemenge, im homerischen Gebalge zwischen Mann und Mann« – bemerkt der deutsche Militärschriftsteller Rüstow – »entwickelt Garibaldi seinen eigentlichen heroischen Zauber, hier muß man ihn bei der Arbeit sehen! Jeden Angriff beantwortet er mit einem Gegenangriff, sobald er ein Dutzend Leute zusammenraffen kann. Überall, wo gerade im gegebenen Moment die Hauptentscheidung liegt, da ist er in Person, und, indem er seine ganze Seele in die Seele der Seinen ausströmt, vervielfacht, verhundertfacht, vertausendfacht er sich. Und der Feind sieht erstaunt in jedem roten Hemde einen Garibaldi.«
Hier aber standen ihm keine Fremdlinge, keine erkauften päpstlichen und neapolitanischen Söldlinge gegenüber: hier hatte er es mit italienischen Landeskindern zu tun, die seinem Zug gen Rom alles Gelingen wünschten und sich nur unter dem Zwang militärischer Disziplin in die Polizeidienerrolle fügten, die ihnen von Paris her zugewiesen worden war. Kam es also zum Kampfe, so floß auf beiden Seiten das edelste Bruderblut. Um diesen dramatischen Konflikt zu vermeiden, war ja Garibaldi bisher jedem Zusammenstoß mit den Regierungstruppen ausgewichen; nun hatte eine geschicktere Taktik ihn und seine Schar dennoch in die Falle hineinmanövriert und dadurch die verhängnisvolle Katastrophe heraufbeschworen. Die Drohung Napoleons, Neapel zu besetzen, war – dies wußte auch Garibaldi – eine ernstgemeinte, und wenn Viktor Emanuel und das italienische Heer sich diese Demütigung ersparen wollten, so mußten die zur Verfolgung der Freischar ausgeschickten Truppen jeden patriotischen Hintergedanken über Bord werfen und dem Machtgebot des Imperators gehorchen. Also Kampf, oder freiwillige Ergebung – so stand für Garibaldi die Sache. Somit blieb es auch durchaus gleichgültig, ob er die königlichen Truppen hier an Ort und Stelle erwartete, oder ob er seinerseits zum Angriff vorging: zum Rencontre kam es unter allen Umständen, und der Ausgang war in diesem Fall nicht zweifelhaft. Auch Garibaldi selber gab sich, wie gesagt, darüber keinen eiteln Illusionen hin; die numerische Übermacht, die bessere Schulung und Bewaffnung standen auf seiten des Gegners, und jeder Blutstropfen, den der Condottiere an die Sprengung des ihn umklammernden Ringes hingab, war nutzlos geopfert. Dies war der taktische Gesichtspunkt; um aber die seelische Qual Garibaldis noch zu steigern, gesellte sich eine weitere Frage hinzu. Durch ein freiwilliges Waffenstrecken konnte er den tragischen Bruderkampf verhindern und seine eigenen Leute für einen günstigeren Moment aufsparen. Ob er aber trotzdem vor den Augen seiner Parteigenossen diese Kapitulation nicht auf Unkosten seiner persönlichen Stellung und politischen Bedeutung unterzeichnete? Ob ihm nicht südliche Leidenschaftlichkeit gerade das als schnöde Feigheit auslegte, was in seinem Herzen doch humanster Empfindung entsprang? In seinen Proklamationen hatte er gesagt: »Rom oder der Tod.« Und es war dies in seinem Munde keine leere Redensart gewesen, denn seinem Gelübde getreu wollte er entweder als Sieger in die ewige Stadt einziehen, oder unter deren Mauern fallen. Sein Feldzug galt den päpstlichen Schlüsselsoldaten und nur diesen allein, ihnen gegenüber hatte er auf seine Fahne geschrieben: »Rom oder der Tod.« Was hinderte aber seine Feinde und eine spottsüchtige Presse, den eigentlichen Sinn seiner Parole zu verdrehen und ihn zum lächerlichen Peter zu stempeln, der auf seinem melodramatischen Todesmarsch klüglich und kläglich schon beim ersten Kreuzweg umkehrt!!
In dem Kriegsrat, den Garibaldi gleich nach dem Begräbnis der beiden Legionäre zusammenberief, spiegelte sich ganz derselbe Gedankenkonflikt, der seinen eigenen Kopf zermarterte. Die einen, darunter sein Sohn Menotti und der Kommissar Pianciani, waren der Meinung, Garibaldi habe sein Möglichstes getan, um einem Zusammenstoß mit den königlichen Truppen aus dem Wege zu gehen, jetzt dagegen, wo es sich nur noch um ein kategorisches Entweder – Oder handle, seien subtilere Erwägungen nicht mehr am Platze, und wenn die königlichen Truppen kein Bedenken trügen, Bruderblut zu vergießen, so dürfe man doch wahrlich der Freischar keine lammfrommere Pietät zumuten. Ob mit Erfolg oder nicht – unter allen Umständen müsse ein Durchbruch versucht werden, denn die Kapitulation bedeute für Garibaldi einfach einen politischen Selbstmord.
So redeten die Heißsporne und Tollköpfe. Anders das ruhigere Blut, darunter auch der Oberst della Mirandola. Die totale Zwecklosigkeit eines Durchbruchversuches stand bei diesen in erster Linie und demgemäß erklärten sie es für einen Frevel, an eine absolut verlorene Sache auch nur einen einzigen Mann hinzuopfern. In den Augen aller vernünftigen Italiener könne unter solchen Umständen die Kapitulation keineswegs der Legion zum Schimpfe angerechnet werden, vielmehr dürfe Garibaldi den Dank des Vaterlandes beanspruchen, indem er diesem so und soviel tüchtige Söhne erhalte.
Noch stritten sich in der Schäferhütte die Stimmen der Parteien herum, horch! mit einem Mal krachten draußen von der Vorpostenkette Schüsse herüber. »Zu den Waffen! zu den Waffen!« gellt es durch das aufgescheuchte Biwak, und in das wilde Durcheinander mischt sich das Rasseln der Trommeln und das Schmettern der Hörner. Rings um das Hochplateau herum wirbeln Pulverwolken auf: kein Zweifel, der Ring der königlichen Truppen hat sich in Bewegung gesetzt, um in einem letzten Kesseltreiben die Freischar zu umgarnen. Mitten auf der Hochebene stand die Legion in Schlachtordnung, draußen krachte und knatterte es fort und fort. In das Konzert des Kleingewehrfeuers mischte sich zeitweise ein sonores Dröhnen: es war die kleine Haubitze, die, von dem Capobombardiere und seinen Gesellen bedient, dem anrückenden Feind entgegendonnerte. Tausend kampflustige Augen glühten und sprühten die Front der Legion entlang, als ihr Condottiere vor sie hintrat. Ein fieberhafter Glanz brannte in seinem Blick und gab seinem Gesichtsausdruck etwas Gespenstisches. Seine Lippen öffneten sich – schon reckten und streckten sich in jedem Leib die Muskeln und Sehnen zum wilden Sprung, denn in der nächsten Sekunde mußte ja das Kommando erschallen: » Avanti!«
Ein pfeifender Ton schnitt durch die Luft – im Hinterglied duckten sich unwillkürlich einige Picciotti, die noch der ersten Feuertaufe entgegenharrten. »Vorwärts! Vorwärts!« So flehten all' die Augen, die funkelnd am Munde des Führers hingen.
»Bajonett' ab!« kommandierte er mit eherner Ruhe. Staunen und Grimm malten sich auf den bärtigen, verwetterten Gesichtern, durch die Kompagnien lief ein leises Murren. »Bajonett' ab!« wiederholte Garibaldi mit der gleich eisigen Ruhe, und nur das Schwellen seiner Stirnadern war die schwarze Wolke, in der sich der schlagfertige Wetterstrahl barg. Sein Auge flog die Front entlang wie ein zwingender Bann – – klirrend senkten sich die Bajonette. »Gewehr bei Fuß! Stillgestanden!«
» Evviva il Re! Evviva Vittorio Emanuele!« scholl es aus dem Walde her, eine Feuerlinie flammte zwischen den Bäumen auf, und eine Salve krachte der Legion entgegen. Aus dem Pulverdampf tauchten graue Jägerhüte mit wehenden Hahnenfedern auf; es war eine Kampagnie Bersaglieri, die, den andern voran, das Plateau erklettert, die Vorpostenkette Garibaldis durchbrochen hatte und jetzt, nach abgegebener Salve, mit aufgepflanztem Haubajonett auf die Freischar losstürmte.
Den Säbel in der Scheide, die Arme über die Brust gekreuzt, sah Garibaldi, ohne mit der Wimper zu zucken, die Linie von blitzenden Bajonetten heranwogen. Schon stutzten beim Anblick der regungslosen Schar die Bersaglieri, es wurde ihnen klar, daß kein feindseliger Widerstand sie erwartete, und demzufolge mäßigten sie unwillkürlich ihren Laufschritt. In wenigen Minuten schon wäre ihnen die Sache vollends verständlich geworden, wenn sich nicht im selben Moment die Situation plötzlich verschoben hätte. Mit Zorntränen in den Augen war Menotti Garibaldi dem väterlichen Kommando »Stillgestanden« nachgekommen; als aber die Salve der Bersaglieri in die Reihen der Legion krachte und mehrere Leute verwundete, da hatte die Subordination des jungen Tollkopfes ihre Grenzen erreicht. Den Säbel aus der Scheide reißen und seinen Schützen zuwinken, war das Werk einer Sekunde; in der nächsten schon waren die Bajonette aufgepflanzt und mit dem hallenden Ruf: » Evviva l'Italia« stürzten die sizilianischen Cacciatori auf die Bersaglieri los. Inzwischen hatten sich auch die zersprengten Vorposten der Freischar wieder gesammelt und kamen mit wilden Sprüngen heran, um den Bersaglieri in den Rücken zu fallen. Ein furchtbarer Moment! Schon erklangen ja von allen Seiten her die Trommel- und Hornsignale der königlichen Truppen, die soeben die letzten Böschungen des Plateaus erkletterten. Noch wenige Minuten, und ein blutiges Gemetzel war der Schlußakt des Dramas. Aber Garibaldi hatte nicht gesäumt, den unbesonnenen Schritt seines Sohnes noch rechtzeitig zu hemmen. Mit der merkwürdigen Behendigkeit, die er in allen Leibesübungen besaß, überholte der Condottiere in windschnellem Lauf seine unbotmäßigen Schützen und warf sich ihnen mit dem Donnerruf »Halt« entgegen. »Halt, im Namen Italiens Halt!« erscholl nochmals seine mächtige Stimme wie das Rollen eines Donners, und wie festgebannt senkten sich die Bajonette der Gegner, die kaum noch zwanzig Schritte von einander getrennt waren. Aber im selben Moment sank auch schon Garibaldi in die Arme des Marchese della Mirandola, der mit gleicher Unerschrockenheit seinem Chef gefolgt war. Es ist heute noch unaufgeklärt, wie es sich zugetragen hatte: eine Kugel, mitten in dem Getümmel abgefeuert, war, nahe über dem Knöchel, in das rechte Bein Garibaldis gedrungen und hatte ihn dadurch zum Fall gebracht. Ein ziellos abgeschossenes Stückchen Blei war also dazu erkoren, die Kapitulation zu besiegeln! – – Von allen Seiten kamen schon in hellen Haufen die Königlichen herangezogen, hier die Sechsundzwanziger, dort die Zweiunddreißiger, seitwärts vom Sprone del Gallo und vom Monte Alto her das zweite und dritte Bersaglieribataillon. Drei Gebirgskanonen sperrten im Hintergrund den Paß an der Cascina dell' Orso. Ein eiserner Ring, aus dem es für die abgehetzte Freischar kein Entweichen hatte geben können. Kaum war übrigens Garibaldi umgesunken, als auch schon die Hochebene von Aspromonte zum Rahmen eines echt südländischen Stimmungsbildes wurde. Die weiter zurückstehenden Legionäre konnten zunächst glauben, ihr Condottiere sei tot, und nun begannen die wilden Kerle zu weinen wie die Kinder. Einen Moment darauf erschallt die Freudenpost: »Er lebt«; nun lachen im Handumdrehen die noch tränenfeuchten Augen, » Evviva Garibaldi« jubelt es in geradezu wahnsinnigem Entzücken – » Evviva Garibaldi grüßt es wie ein tausendfaches Echo aus den Reihen der Königlichen herüber! Freischärler und Soldat, Sizilianer und Piemontese stürzen aufeinander zu, und »in den Armen liegen sich beide und weinen vor Schmerzen und Freude«.
»Unsre Verfolger und uns scheidet nur die Kleidung und die Verpflichtung, wir sind Brüder und Kinder einer gemeinschaftlichen lieben Mutter!«
So hatte, noch wenige Stunden zuvor, der Condottiere seine Leute angeredet und jetzt schon zeigte es sich, daß es keine Täuschung gewesen war, und daß kein Napoleonisches Diktum die Macht besaß, das brüderliche Band, das Italiens Söhne umschlingt, zu zerschneiden. Bunt durcheinander lagerten im Gras Freischärler und Soldaten und teilten sich wie gute Kameraden in den Inhalt der Feldflaschen und Schnappsäcke. Reservierter verhielten sich allerdings die Truppenoffiziere gegen ihre irregulären Kollegen, aber auch sie leitete nicht sowohl eine individuelle Animosität, als vielmehr jener professionelle Superioritätsgeist, der nun einmal zu allen Zeiten den patentierten Kriegsknecht von oben herunter auf Bürgerwehrmann und Freischärler blicken läßt.
Gleich nach seiner Verwundung war Garibaldi, um ihn dem lästigen Gedränge zu entziehen, in die Schäferhütte gebracht und ihm hier durch einen Militärarzt ein Notverband angelegt worden. Der Oberst Pallavicini, der die königlichen Truppen befehligte, hatte sich, obgleich er persönlich durchaus nicht mit Garibaldi sympathisierte, in ritterlichster Weise seiner Aufgabe entledigt. Mit achtungsvoll entblößtem Haupte war er zu dem verwundeten Condottiere herangetreten und hatte ihn nach der Hütte geleitet, um ihm hier die weiteren Verfügungen des Ministeriums zu eröffnen. – –
Auf beiden Seiten hatte das Vorpostengeplänkel seine Opfer gefordert, Tote und Blessierte. Auch »Liese«, die kleine Haubitze, hatte ihr Werk getan. Von dem Capobombardiere dirigiert, hatte die giftige Kröte mehrere Kernschüsse abgegeben. Es wäre zu beschwerlich gewesen, mit den Verwundeten auch noch die Toten hinabzutransportieren, und so wurden die letztern unter kriegerischen Ehren oben auf der Hochebene beerdigt. Dann erscholl das Signal zum Aufbruch.
Die Armaturstücke der entwaffneten Schar waren auf einen Haufen zusammengetragen und unter die Obhut eines Wachtkommandos gestellt worden, zu ihrem Transport wollte Pallavicini gleich am nächsten Morgen die nötigen Lasttiere heraufschicken. Die Pioniere hatten aus jungen Bäumen Tragbahren für die Verwundeten hergestellt, Soldatenmäntel bildeten die Unterlage. Durch abwechselnde Mannschaften sollten die Blessierten zunächst nach dem Gebirgsdörfchen San Stefano befördert und von da in Ambulanzfuhrwerken nach dem Lazarett gebracht werden. Für Garibaldi selbst war eine Art von Sänfte zurechtgemacht worden; zwei von den Maultieren, die der »Liese« zur Bespannung gedient hatten, trugen die Sänfte. In zartester Weise leitete Pallavacini die Unterbringung des siechen Condottiere in dieses schwebende Bett. Dennoch aber sollte Garibaldi noch ein letztes Weh kosten müssen. Als die Truppen sich zum Abmarsch ordneten, sah er die Fahne seiner Legion in den Händen eines Bersaglieri-Sergeanten, dem die Sorge um das konfiszierte Feldzeichen zugewiesen worden war. Ein namenloser Schmerz mochte bei diesem Anblick den Gefangenen erfüllen: rasch sich abwendend, fuhr er mit der Hand über die Augen.
Der Zug setzte sich talabwärts in Bewegung.
»Über dem Gipfel des Aspromonte schwebt nur der Geist Gottes und seine Adler« – hatte noch am gleichen Morgen Garibaldi zu seiner Freischar gesprochen. Seit jenem Tage schwebt noch ein Drittes über dieser melancholischen Bergwildnis Kalabriens: die unsterbliche Erinnerung des italienischen Volkes!