Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Biwak.

Ein Eden dünkts dem Aug', des Meeres Plan
Voll Blumeninseln und die Märchenauen
Siziliens und Strombolis Vulkan
Beglänzt von Phöbus erstem Strahl zu schauen!

Der Dichter, der die vorstehenden Verse in dithyrambischem Entzücken sang, hat nicht zuviel behauptet. Wem es jemals vergönnt gewesen ist, von irgend einem Höhenpunkt aus, z. B. von der Ätna-Spitze bei richtiger Beleuchtung dieses zauberische Panorama zu überblicken, der wird das oben zitierte poetische Kompliment einfach bestätigen. Eine Rundsicht voll Pracht und Majestät! Tief unter deinen Füßen liegt ganz Sizilien, die fabelreiche, schon von Homer gefeierte Trinacria, ausgebreitet wie eine nach titanischem Maßstab gezeichnete, farbenbunte Landkarte; ein Areal von mehr als fünfhundert Quadratmeilen. Nordwärts schweift das Auge bis tief nach Kalabrien hinüber, fern im blauen Nebelduft schwimmen die Liparischen Eilande, über welche die Rauchsäule des Vulkans von Stromboli hinstreicht wie ein Gespensterschatten. Um das Riesenbild schlingt sich das blaue unendliche Meer: nur der Pik von Teneriffa auf den Kanarischen Inseln kann sich in der Weite des Meereshorizontes mit dem Ätna messen.

In minder pittoreskem Gewande präsentierten sich am 26. August 1862 die sizilischen »Märchenauen«. Schon seit Tagen hatte der Regengott seine Schleusen geöffnet und – »Wasser, Wasser« war seitdem die trostlose Parole. Auch Äolus, der altheidnische Windgott, wollte wohl zeigen, daß er noch immer ein Wort mitzureden habe, und so ließ er von den Liparischen Inseln, seiner mythologischen Residenz, einen Nordwester herüberpfeifen, der dem prasselnden Regen die letzte Würze gab.

Dem grau in grau gemalten Naturbilde entsprach ganz und gar die Gemütsstimmung eines Menschenhäufleins, das sich unter einer Laube von verflochtenen Baumzweigen so gut wie möglich zu schützen suchte. Mit der Rückseite gegen den knorrigen Stamm einer Korkeiche gestützt, war die armselige Laubhütte offenbar eine rasch improvisierte Wachtstube, denn unter dem Geflechte kauerten vier oder fünf Gestalten eng beisammen, denen eine halb soldatische, halb theatralische Uniformierung ein abenteuerliches Gepräge gab. Der Platz, auf dem die Hütte stand, war der Rand eines Hochplateaus, das sich in ziemlich schroffem Fall abwärts senkte. Im Zickzack schlängelte sich aus der Tiefe ein Pfad herauf, der für den vorgeschobenen Wachtposten jedenfalls eine ernste Bedeutung hatte, denn ungefähr dreißig Schritte vor der Hütte war eine rasch geschaufelte Erdschanze aufgeworfen, die einer nach dem Pfade hingerichteten Gebirgshaubitze zur Deckung diente. Der Moment mochte ein kritischer sein, wenigstens nach der gespannten Aufmerksamkeit zu schließen, womit, in den regentriefenden Kapuzmantel gehüllt, die in die Schanze postierte Schildwache das Vorterrain ins Auge gefaßt hielt. Dem Kanonier war übrigens die Wacht nicht allein anheimgestellt, denn hier und da glitzerte zwischen den Büschen eine Bajonettspitze hervor, woran sich erkennen ließ, daß die ganze Frontlinie auf dem Qui vive war …

Den Schauplatz, auf dem sich diese kriegerische Szene abspielt, bildet das sogenannte » Piano forestale d'Aspromonte«: das öde, über fünftausend Fuß hohe Hochplateau des Aspromontegebirges, das mit seinen wildzerklüfteten Höhenzügen die ganze Südspitze Kalabriens durchschneidet.

Aus der vom Wind zerzausten Laubhütte, die eine so problematische Wachtstube abgab, kroch soeben einer der vier oder fünf Insassen hervor und schüttelte seine halberstarrten Glieder. Wie seine Kameraden trug auch er einen bis zum Knie reichenden Kapuzmantel von grobem braunem Tuch, wie es den Fischern und Schiffern Süditaliens zur Kleidung dient. Rote Vorstöße und halberblindete Metallknöpfe gaben dem Kapuzmantel, der die Spuren vieler Strapazen zeigte, einen soldatischen Anstrich, der in einem darüber geschnallten breiten Faschinenmesser seine Ergänzung fand. An dem Brustflügel des Mantels waren ein paar Knöpfe abgerissen: zwischen der Lücke schob sich eine Bluse von rotem Flanell hervor. Derbe Schuhe und bockslederne Gamaschen, wie sie in Sizilien und Sardinien von den Bauern und Jägern getragen werden, vervollständigten das abenteuerliche Bild, dem die ganze wilde Naturszenerie zum passenden Rahmen diente.

Langsam war der phantastische Gesell an den Rand des Bergplateaus vorgeschritten; die Arme über der Brust gekreuzt, unbekümmert um Regen und Wind, die mit ihm ihr rauhes Spiel trieben, blickte er in die unwirtliche Gegend hinaus. Er war ein junger Mann von anscheinend drei- oder vierundzwanzig Jahren, eine hohe geschmeidige Gestalt. Den Schutz der den Kopf schirmenden Kapuze mochte er verschmähen; ihm genügte der graue Filzhut, der zerdrückt und vom Regen vollgesogen, tief in die Stirne hereingestülpt war. Auch in der Ausstaffierung des Schlapphutes stritt sich die strenge Regel des Soldaten mit der bizarren Laune des Freischärlers: zwei gekreuzte, in Messing ausgeprägte Kanonenrohre bezeichneten ihn als Artilleristen; ein Busch vormals rotgefärbter, jetzt durch Regen und Sonnenbrand abgebleichter Hahnenfedern markierte seinerseits die romantische Geschmacksrichtung des » Soldato di fortuna«. In die roten Achselklappen des Mantels waren gleichfalls zwei gekreuzte Kanonenrohre eingewirkt; zwei kleine Sterne darüber verkündeten der Welt den Rang dieses jungen Donnergottes. War er ja wohlbestallter »Kapobombardiere!« Ein pompöser Titel, der freilich im Deutschen zu dem bescheidenern »Oberbombardier« zusammenschrumpft … Gewiß hätte sich ein fadengrader, preußischer Artillerieinspektor über diesen kuriosen Waffenbruder seine aparten Gedanken gemacht, und wahrscheinlich so etwas wie »Hanswurst« in den Schnurrbart hineingebrummt.

Und dennoch bleibt es fraglich, ob die abgezirkeltste Gardeuniform imstande gewesen wäre, die ganze romanhafte Erscheinung dieses jungen Guerriere so wirksam und pittoresk hervorzuheben, wie es seine Kostümierung à la Fra Diavolo tat. Wie paßte zu dieser phantastischen Verquickung von Soldat und Brigante das scharfgeschnittene, marmorbleiche Gesicht, an dem selbst die Sonne Kalabriens machtlos abgeglitten war und dem ein schwarzer Schnurrbart mit keck hinausgedrehten Spitzen einen so pikanten Zug von wilder Verwegenheit gab! Dazu ein Paar große nachtdunkle Augen, wie geschaffen zum Wetterleuchten aller Leidenschaften, die das Menschenherz bewegen. Jetzt lagen um die Augen bläuliche Ringe, die Zeugen strapazenvoller Tage und Nächte, und dämpften den feurigen Blick zum Ausdruck einer träumerischen Schwermut. Mit dem Schlapphut und dem lose um den Hals geschlungenen roten Foulard harmonierten die rabenschwarzen Locken, die in üppiger Fülle bis auf die Schultern herabquollen.

So stand er nun da, der Oberbombardier und zugleich Kommandant des vorgeschobenen Wachtpostens. Der Regen strömte weiter und weiter und die Abenddämmerung brach herein. Gerade dem Standpunkte des jungen Soldaten gegenüber spalteten sich die Vorberge zu einem breiten Paß, der einen Durchblick in die Ferne gewährte. Bei hellem Wetter hätte das Auge wohl bis nach Sizilien hinüberschweifen können, jetzt aber waren ihm engere Schranken gezogen. Dort, jenseits der sich abdachenden Vorberge, flutete es wie ein dunkelgrüner Streifen: es war der Faro di Messina, die Meerenge, die Kalabrien von Sizilien trennt und den Schiffern des Altertums als eine hohle Gasse voller Schrecken galt. Lauerte ja auf der kalabrischen Seite die mörderische Felsenklippe Scylla und gegenüber an der sizilischen Küste der Meerstrudel Charybdis!

Der Bombardier mußte unwillkürlich lächeln. Wie hat doch die Zeit und der vorschreitende Menschengeist mit diesen Schrecknissen des Altertumes aufgeräumt! Dort über den schäumenden Wogen trieb eine schwarze Rauchwolke: ein südwärts steuernder Dampfer, der für Scylla und Charybdis höchstens einen spöttischen Knix mit dem Bugspriet hatte …

Tiefer senkten sich die Nachtschatten über Land und Meer hin. Von der Hand des sorgsamen Wächters entzündet, blitzten in den Leuchttürmen der beiden Küsten die Ampeln auf, wie ein Lebewohl an den erlöschenden Tag.

Langsam wandte sich der Bombardier um. Der Posten bei der Haubitze war inzwischen abgelöst worden, sein Nachfolger, tief in die nasse Kapuze verkrochen, schritt verdrossen in der Schanze auf und nieder.

» Tristezza d'una notte!« redete der Bombardier den Posten an, indem er in die trübe Dämmerung hinausdeutete.

» Si, signor, una tempesta a guisa di cane!« grollte der wildbärtige Kanonier in dem rauhen Dialekt von Bergamo.

Der Bombardier wandte sich dem kleinen Geschütze zu, dessen Zündloch mit einem alten Taschentuch zugebunden war. Unbewußt streichelte er mit einer zärtlichen Handbewegung das treue Rohr. »Liese, halt' die Ohren steif!« raunte er in väterlichem Tone der trutzig sich spreizenden kleinen Haubitze zu.

Er hatte diese Worte in deutscher Sprache geredet. Jetzt kehrte er sich wieder nach dem Posten um, der in die dunkle Tiefe hinabstarrte.

» Carluccio, vigilanza e vista acuta!«

» Si, signor, si, avete nessuno affanno!« gelobte der Bergamaske.

» Adesso felicissima notte!« lächelte humoristisch der junge Kommandant.

» Tante grazie, signor capobombardiere, riposi bene!« Der Kanonier verbeugte sich schelmisch, denn hatte ihm sein Vorgesetzter bei diesem Hundewetter eine lustige Nachtwache gewünscht, so durfte er mit dem gleichen Galgenhumor dem Bombardier zu einem gesegneten Schlummer in der nassen, winddurchpfiffenen Laubhütte gratulieren …

Der junge Wachtkommandant war in sein Jammernest zurückgekrochen, rabenschwarze Finsternis brütete über dem öden Hochgebirge: nur der Regen und der Wind setzten ihr trostloses Konzert fort – – kein menschliches Lebenszeichen, als zeitweise der kurze, drohende Anruf: » Chi va là?« oder der ermunternde Rundruf: » Sentinella, guardia!«

* * *

Den Schildwachen war aber der Schlaf nicht allein versagt. Mit ihnen wachten zugleich noch hunderte von Augen, schlugen hunderte von Herzen in fieberhafter Spannung dem kommenden Tage entgegen. Nirgends brannte ein Lagerfeuer – was hätte der zündende Funke gegen das durchnäßte Holz vermocht? – und dennoch lagen, unter die regentriefenden Bäume und Hecken gekauert, auf diesem unwirtlichen Erdfleck nahezu fünfzehnhundert Menschen beisammen, naß bis auf die Knochen, frierend und hungernd. Am Tage zuvor war der letzte Bissen über ihre Lippen gekommen; glücklich und beneidenswert, wer in der Feldflasche noch einen Schluck Wein hatte. So ziemlich im Mittelpunkt dieses trostlosen Biwaks traten aus dem Dunkel die Umrisse eines niedrigen Bauwerkes hervor; die Hirten des Hochgebirges hatten aus Steinen vier Wände roh aufgeschichtet und ein ebenso kunstloses Bretterdach darübergestülpt. Für halbwilde Kalabresen genügte dieser armselige Nothafen; in dieser stürmischen Regennacht war er aber auch für bedürfnisvollere Gäste ein kostbares Asyl.

Ein in der Hütte vorgefundener Haufen trockenen Holzes hatte es ermöglicht, auf dem primitiven Herde ein Feuer anzufachen, das, soeben mit ein paar frischen Scheiten genährt, lustig emporzüngelte. Mit dem traulichen Knistern und Prasseln der geschäftigen Herdflamme kontrastierte die düstere Szenerie, die der Feuerschein beleuchtete. Vor dem Herd saß auf einem Holzblock ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren. Eine schlichte und doch unendliche charakteristische Figur! Von mittlerer Leibeslänge war sie und hager; ein kurzgehaltener brauner, hier und da bereits graumelierter Vollbart umrahmte das energische, verwitterte Gesicht; schlug er die scharfen graublauen Augen in die Höhe, so las man in seinem Blicke einen zähen Willen und unbeugsamen Mut – aber auch noch Etwas war in diese Augen geschrieben: poetische Schwärmerei und unbegrenzte Seelengüte. Man fühlte instinktiv, daß es ein hohes Gut sein müsse, von diesem Manne Freund genannt zu werden. Auf seinem Kopfe saß ein grauer, von Wind und Wetter arg mitgenommener Schlapphut ohne Schmuck oder Abzeichen; eine Jägerjoppe, unter der ein rotes Wollhemd hervorleuchtete, eine weitfaltige, ziemlich abgetragene Manchesterhose und grobe Schuhe mit hirschledernen Gamaschen bildeten seine glanzlose Kleidung. Ein über seine Brust laufender Riemen trug ein Futteral, unter dem sich ein Revolver abzeichnete, ein neben ihm an der Wand lehnender wuchtiger Säbel mit kunstvoll gewundenem und ziseliertem Korb ergänzte seine Bewaffnung …

Über sein Knie hatte er eine Karte ausgebreitet, die er mit sinnendem Blick studierte. Zwei ähnlich wie er kostümierte Gestalten verfolgten schweigend die Bewegungen, die sein Finger zeitweise auf der Karte machte. Der ältere der beiden, ein wildbärtiger Hüne, lehnte, die Hände auf den Säbel gestützt und die Zähne auf eine zerkaute Zigarre gepreßt, seitwärts am Herde: der jüngere zählte erst zweiundzwanzig Jahre; ihn hatte seine heldenmütige Mutter am 16. September 1840 drüben in den melancholischen Steppen Südamerikas geboren.

Eine schlanke, geschmeidige Figur mit offenen, jugendfrischen Gesichtszügen, die aber jetzt tiefer Ernst verdüsterte. Er stand hinter dem Mann mit der Karte; zwanglos hatte er seine Hand auf dessen Schulter gelegt und sich vorgebeugt, um genauer auf die Karte blicken zu können. Keiner der drei sprach ein Wort; das Knistern des Herdfeuers, das einförmige Geplätscher des Regens und das Rauschen des Waldes belebten allein die drückende Stille, die in der Hütte herrschte. Die drei waren aber nicht die einzigen Gäste in dieser armseligen Herberge, denn soeben zitterte ein schwerer, röchelnder Atemzug in ihr Ohr. » Acqua – – una goccia d'acqua!« murmelte eine klanglose Stimme. Der Mann mit der Karte hatte sich schon erhoben und nach einem halb zerbrochenen Krug gegriffen, im nächsten Moment kniete er vor einer Schütte Gras, die in der Ecke aufgehäuft war und zwei Schläfern eine den Umständen entsprechende Lagerstätte bot. Die Kapuzmäntel der drei oben skizzierten Personen dienten als Decke. Ein ergreifendes Bild, würdig, durch den Pinsel eines großen Meisters verewigt zu werden! Nebeneinander auf dem feuchten Grase lagen zwei jugendliche Gestalten, die eine fast noch ein Knabe, beide mit roten Wollhemden bekleidet, beide Schulter an Schulter gebettet wie zwei Brüder und dennoch so weit getrennt durch die gesellschaftlichen Schranken, die der Hochmut des Menschen zwischen seinen Mitwesen errichtet hat. Der ältere der beiden, höchstens zwanzig Jahre alt, trug auf seinem Antlitz den Stempel jener Aristokratie, die ihre Rechte nicht sowohl auf vergilbte Pergamente, als auf den individuellen Adel der Persönlichkeit stützt. Ein unbeschreiblicher Hauch von Schmerz und Trauer schwebte wie ein Geisterschatten über den feinen, alabasterbleichen Zügen; der eine Arm war schlaff ausgestreckt, die schmale, mädchenhafte Hand des andern lag auf der Brust, als wolle sie dem Herzen Ruhe gebieten. Und das Herz war dem Gebote gefolgt, und ein traumloser Schlummer hielt die schöne Jünglingsgestalt umfangen, denn schon seit Stunden war der Schläfer – eine Leiche …

Sein neben ihn gebetteter Kamerad brauchte sich vor dem unheimlichen Schlafnachbar nicht zu fürchten, denn auch er selber war ja nur noch eine mit dem Erlöschen ringende Leuchte. Ohne Bewußtsein hatte er den kühlenden Trunk hingenommen, der ihm von seinem Pfleger mit zärtlicher Sorge dargereicht worden war; die großen schwarzen Augen waren starr gegen die Decke der Hütte gerichtet, röchelnd hob und senkte sich die beengte Brust.

Schweigend, regungslos umstanden die drei Männer das armselige Sterbelager. Ein Bursche war's von kaum sechzehn Jahren, ein rechtes und echtes Kind des süditalienischen Volkes: eine Gestalt, wie sie durch die umher ziehenden, mit Sackpfeife und Dudelsack konzertierenden »Pifferari« auch im Auslande bekannt geworden ist. Krauses schwarzes Haar von der Dicke einer Roßmähne umbuschte das tiefbraune runde Gesicht, dem selbst noch in dieser ernsten Stunde die schnippisch aufgestutzte Stumpfnase einen drolligen Zug beimischte. Dicht neben seinem Sterbekissen stand eine kleine, mit den italienischen Farben bemalte Trommel; offenbar war sie auf seinen besondern Wunsch hierher gestellt worden, noch Tags zuvor hatte der arme, von Fieberfrost geschüttelte Tamburino auf seinem geliebten Lärminstrument »zum Streite geschlagen,« jetzt sollte ihm der Blick auf die Trommel, die schon ihres Erben harrte, das Sterben erleichtern. O, morire sì giovine! – –

Noch umstanden die drei den sterbenden jungen Trommler, als sich hinter ihnen die Tür der Hütte öffnete und eine neue Person eintrat. Seinen breitkrempigen, regentriefenden Kalabreser abnehmend, wandte sich der Ankömmling der Gruppe zu, die sich ihrerseits ihm ebenso erwartungsvoll näherte. Der ältere Mann, der kurz zuvor so gedankenvoll die Karte studiert hatte, ergriff zuerst das Wort. »Nun, Colonnello, wie sieht es aus?« Zugleich machte er nach der Ecke hin, wo der junge Tambour lag, eine bezeichnende Handbewegung, als woll' er für den Sterbenden die möglichste Stille erbitten.

Der als Oberst titulierte Ankömmling verstand das Zeichen, denn mit halblauter Stimme entgegnete er: »Unsere Postenlinie ist in bester Ordnung, General! Die armen Teufel klappern vor Kälte und Hunger, aber wacker halten sie die Augen offen und die Ohren gespitzt.«

Ein Lächeln der Anerkennung erhellte flüchtig die ernsten Züge des Generals, der in seinem abgetragenen Jagdkittel und seinen groben Ledergamaschen einen abenteuerlichen Kontrast bildete zu seinen gold- und silbergestickten Kollegen bei den regulären Armeen. Er hatte eine Weile sinnend vor sich hingeblickt, jetzt hob er wieder sein Haupt.

»Sind unsre Patrouillen auf den Feind gestoßen?«

»Direkt nicht, General!« antwortete der Oberst: »von Hirten ist ihnen aber die Mitteilung geworden, daß die Vorposten Pallavicinis bei den Sennhütten von San Stefano stehen, also etwa eine Meile von hier. Auch der Paß von Monte Alto ist mit drei Kompagnien Bersaglieri besetzt.«

Der General zuckte bei letzterer Kunde unwillkürlich zusammen.

»Jedenfalls,« bemerkte der Oberst: »werden wir bald nach Tagesanbruch angegriffen, dafür kenn' ich Pallavicini zu gut.«

» Cospetto di Bacco!« grollte der wildbärtige Riese, der noch immer auf seinem erloschenen Zigarrenstummel herumkaute: »lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! Mein Magen bellt in allen Tonarten und dieser Satansregen löst uns noch alle in einen Urbrei auf.«

Schweigend hatte der General von neuem nach seiner Karte gegriffen, auch seine Schicksalsgefährten verstummten. Nur aus der Ecke röchelte es her – aber immer leiser und leiser. Keiner der Männer hatte für diese schauerliche Todesmusik ein Ohr – jetzt handelte es sich um das Wohl oder Weh von fünfzehnhundert wackern Burschen, und dicht an den General hingedrängt, blickten mit ihm die drei in die Karte hinein, um die Situation des kommenden Tages zu entziffern.

»Das sechsundzwanzigste Regiment« – –

»Hat sich bis an den sogenannten Rodomonte vorgeschoben,« ergänzte der Oberst die hingeworfene Frage des Generals: »das dritte Bersaglieribataillon hat noch mit Einbruch der Nacht den Sprone del gallo besetzt, die drei Gebirgskanonen unter Kapitän Vidoni sind gleichfalls noch in der Abenddämmerung bis zur Cascina dell' Orso vorgegangen.«

»Wir sitzen in der Falle,« brummte der Goliath, »unsre ganze Parole wird heißen: Drauf und dran mit Kolben und Bajonett!«

»Meine Schützen werden nichts besseres begehren,« bemerkte der jüngste der vier Männer und sein Auge blitzte in wildem Feuer.

Ohne ein Wort zu reden, hatte sich der General auf den Holzklotz niedergelassen, der ihm zum Sitze diente. Den Ellbogen auf das Knie gestützt, das Kinn in die flache Hand gelegt, so blickte er regungslos in die Herdflamme, die gefräßig an dem letzten Holzscheit nagte.

Grell beleuchtete der züngelnde Feuerschein den seitwärtsstehenden Obersten. Seinem Alter nach mochte er in der Mitte der fünfziger Jahre stehen, aber wenn auch offenbar ein wildbewegtes Leben an ihm vorübergebraust war, so zeugte doch immer noch die hohe, militärisch stramme Gestalt von ungebrochener Kraft und Energie. Wohl trug auch er den braunen Kapuzmantel und darunter das rote Wollhemd; was aber bei seinen drei Gefährten als ein phantastisches Kostüm erschien, gewann auf seinem Leibe ein militärisches Kolorit. Auch ohne die zwei breiten Narben, die auf Stirn und Wange sein männliches Antlitz durchfurchten, ließ die ganze Erscheinung des Obersten erraten, daß er sich schon in gar manchem blutigen Strauß getummelt und unter den verschiedensten Verhältnissen dem Tod ins Auge geschaut hatte. Aber in jeder Bewegung war maßvolle Ruhe, geadelt durch die Formen romanischer maniera cavalleresca. Den von Wind und Wetter zerzausten, aber noch immer pechschwarzen Schnurrbart drehend, beobachtete er mit schwermütig ernstem Blick den General, der, seine Umgebung vergessend, sich in seine düstere Gedankenwelt verloren hatte. »Wir sitzen in der Falle,« mit dieser lakonischen Bemerkung hatte der Riese die Situation kurz und bündig charakterisiert.

Die gangbaren Wege und Stege in dem öden, zerklüfteten Hochgebirge waren durch den Feind besetzt und abgeschnitten: es blieb also nur noch der Versuch eines gewaltsamen Durchbruchs übrig. Nicht davor schreckte der General zurück. Was den tapferen Degen niederdrückte, war die Überzeugung, daß ein Durchbruchsversuch mißlingen mußte. Nicht nur stand auf seiten des Gegners die numerische Übermacht und die bessere Bewaffnung an und für sich, sondern noch ein anderer Faktor kam in Betracht: am Tage zuvor war der letzte Bissen an die Freischar verteilt worden, seitdem hungerten die Leute. Welches Dasein hatten sie überhaupt schon seit nahezu einer Woche geführt! Strapazen und Entbehrungen, wie sie eben nur in der kalabrischen Gebirgswildnis möglich sind. In strömendem Regen, nichts im Magen, Fieberfrost in den Knochen – bei Tag ein ruheloses Gekletter Berg auf, Berg ab, da und dort ein Scharmützel mit dem nachdrängenden Feind, bei Nacht ein Biwak unter den fort und fortströmenden Schleusen des Himmels. Wahrlich, auch der reguläre Soldat wird einer solchen zähen Ausdauer, einem solch geduldigen Gehorsam seine Achtung nicht versagen können. Begeisterung für die freiwillig erwählte Sache, eine an die Abgötterei hinstreifende Verehrung des Führers, der mit ihnen stritt und litt – das waren die Bande, die den aus den verschiedensten Alters- und Gesellschaftsklassen rekrutierten Haufen zusammenhielten und ohne Murren das Schlimmste ertragen ließen. Dort draußen in Wind und Regen lagen frierend und hungernd fünfzehnhundert Menschen: bejahrte Männer neben Jünglingen, die teilweise fast noch Knaben zu nennen waren; die Söhne der reichsten Bürgerfamilien, die Sprossen der glänzendsten Adelsgeschlechter Italiens teilten den letzten Schluck aus der Feldflasche brüderlich mit dem armen Piccioto, für den von seiner Kindheit an das Leben niemals etwas anderes gewesen war, als ein Kampf mit dem Hunger und dem Durste. Auch die Abenteurer und fahrenden Kriegsknechte aus Frankreich, Deutschland und Gott weiß woher, die in der Legion dienten, wurden von ihren eingeborenen Waffengefährten als Brüder betrachtet. War ja der für sie alle gleichbesorgte General ihr gemeinschaftlicher Vater, flatterte ja über ihren Häuptern die durchlöcherte und zerfetzte Fahne. Sie alle, der General wie der Offizier, der Korporal wie der einfache Legionär, waren Fratelli d'Italia. Und als Kinder einer und derselben Mutter lagen auch dort in der Ecke der armseligen Berghütte die zwei Kameraden hingebettet, Leib an Leib, der Tote und der Sterbende, beide bedeckt mit dem Mantel ihres Generals und Condottiere. Eine weite Kluft hatte bei der Geburt den kleinen Tambour von seinem Schlafkameraden getrennt: jenem war ein mit alten Lumpen gefüllter Binsenkorb zur Wiege geworden, diesen säugte die Amme an den paradiesischen Gestaden des Lago di Como in einem stolzen Schlosse mit lustigen Marmorhallen und funkelnden Zinnen. Den einen hatte das Schicksal für die harte Arbeit bestimmt, den andern für den mühelosen Genuß. Da rasselte die Werbetrommel und lockte den Junker wie den Proletarier in Reih' und Glied der Freischar. Jener trat in die Schützenkompagnie, diesem fiel die Trommel zu, die schon mehrmals ihren Herrn gewechselt hatte. Schon vorher durch aufreibenden Dienst geschwächt, waren in der letzten grausamen Woche mit ihrem fieberhaften Hin und Her über Berg und Tal Dutzende der Legion krank und erschöpft hingesunken; der General konnte nichts tun, als sie den Hirten des Gebirges zur Pflege anvertrauen. Den Sterbenden schaufelten die überlebenden Kameraden ein eiliges Grab, dann ging der ruhelose Marsch weiter. Auch dort der Schütze und der Tambour waren zuletzt an der äußersten Grenze ihres Könnens angelangt, ein tödliches Fieber schüttelte die entkräfteten jungen Körper; Hirten, denen man die zwei sterbenskranken Kommilitonen hätte überweisen können, waren nicht zu finden und da der General der total ermatteten Schar unbedingt längere Ruhe gönnen mußte, so ließ er aus Baumästen zwei Tragbahren herstellen, worauf die beiden mühsam bis zu dem Lagerplatze fortgeschleppt wurden, der jetzt dem Freikorps eine so trübselige Rast bot. Der General hatte also den beiden jugendlichen Kämpen einen Teil der elenden Hütte eingeräumt, die das Hauptquartier bildete. Im Moment gab's bei der Legion weder Arzt noch Apotheker, und sein alter Kampagnemantel war alles gewesen, was er den todkranken jungen Märtyrern zur Linderung hatte bieten können.

» Madre, madre!«; Das waren die letzten im Delirium gemurmelten Worte des Toten gewesen. Und welche Vision verklärte das Antlitz des kleinen Tambours, dessen Seele soeben in einem leisen Seufzer entfloh? O, Rätsel des Todes und der Ewigkeit … Wie dem andern, so schloß auch diesem der General mit eigener Hand die gebrochenen Augen. » Passato!« Er sprach's zu seinen Offizieren hingewandt, und an seinen Wimpern glänzte eine helle Träne. »Wie viele habe ich schon sterben sehen! O, Freiheit, du ewiges, du heiliges Heimweh der Völker! Italien, du traurig schöner Traum – –«

Aus der Ferne krachte ein Flintenschuß in diesen schwermütigen Monolog herüber; einen Moment darauf knatterte es schon die ganze Vorpostenlinie entlang. Mit einem Sprung stürzte der General auf seinen Säbel los; dann wandte er sich zu den beiden Leichen hin, traurig lächelnd. »Kinder, ihr müßt uns unsre Mäntel geben! Ihr bleibt im Trocknen und wir müssen in den Regen.« Mit einem flinken Ruck wanderten die drei Mäntel, die den Sterbenden zur Decke gedient hatten, auf die Schultern der Lebenden. Dann stürmten die vier zur Hütte hinaus in die rabenschwarze Nacht, der General Giuseppe Garibaldi, der Oberst Marchese Lionardo della Mirandola, der Schützenkapitän Menotti Garibaldi, der Sohn des Generals.

Und als vierter, mit seinem unvermeidlichen Zigarrenstummel, der Koloß Pianciani, der Kriegskommissar der fliegenden Schar.


 << zurück weiter >>