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Etliche dreißig Jahre vor dem Zeitpunkt, mit dem unser Buch beginnt, machte in der deutschen Universitäts- und Provinzial-Hauptstadt Hofrat Hilgard eines der ersten Häuser. Senior der medizinischen Fakultät, anerkannte Autorität auf dem Gebiete der Gynäkologie und der Chirurgie, war sein Name weit über die Grenzen seines engeren Vaterlandes hinausgedrungen. Er war ausschließlich Fachmann – weiter nichts; Klinik und Bibliothekzimmer bildeten seine Welt. Der genialste politische Schachzug Bismarcks, wenn der damals schon an der Reihe gewesen wäre, der göttlichste Triller der Patti, wenn die damals schon als Stern am Musikantenhimmel aufgetaucht wäre, hätten den alten Sonderling durchaus kalt gelassen, aber eine sectio caesarea auf Leben oder Tod konnte ihn entzücken und bei einem so recht verzwickten Knochenbruch rieb er sich fidel die Hände.
Einer solchen Geschmacksrichtung gegenüber ist es leicht erklärlich, daß der Hofrat das Hausregiment, in des Wortes umfassendster Bedeutung, seiner Gemahlin überließ, und ebenso natürlich ist es, daß diese nicht anstand, von der gegebenen Vollmacht den ausgedehntesten Gebrauch zu machen. Der Hofrat sorgte für die Beschaffung des Geldes, die Rätin, als große Dame und Tochter eines stolzen, wenn auch verarmten Adelsgeschlechtes, wußte den Mammon loszuwerden und somit war beiden Parteien geholfen. Als vierzigjähriger Mann hatte der Hofrat seine gerade um die Hälfte jüngere Gemahlin an den Traualtar geleitet; durch welches Motiv der ganz und gar zum Hagestolz veranlagte alte Knabe sich doch noch in das Rosengärtlein des heiligen Ehe- und Wehestandes verschleppen ließ, wäre schwer zu sagen und vielleicht hätte der verspätete Freier selbst keinen besonderen Grund angeben können. Die Mutter seiner Gemahlin, eine Offizierswitwe, die mit den tragikomischen Allüren des Bettelstolzes an einer kleinen Pension herumknusperte, war wohl die Ober-Regisseuse des idyllischen Schäferstückes gewesen. Irgend ein Weh und Ach hatte sie in das Konsultationszimmer des berühmten Gynäkologen geführt, der gerade kurz zuvor infolge der dankbaren Verwendung einer Prinzessin mit dem Hofratsdiplom ausgezeichnet worden war. Allerdings floß in seinen Adern nur Plebejerblut, aber du lieber Himmel! Was hilft in unsern prosaischen Tagen der allerschönste Stammbaum, wenn an seinen Zweigen keine vergoldeten und versilberten Nüsse hängen! Ob das junge Mädchen dem Projekt der weltklugen Mutter gerade zujubelte, wissen wir nicht, andererseits aber war bei dem dünnen Thee und den schmal zugeschnittenen Butterbroten der mütterlichen Menage die Tochter schon allzusehr mit des Lebens Not und Entbehrung vertraut worden, um sich nicht von Herzen aus dieser Misere hinwegzusehnen. Der leidende Zustand der Mutter bot einen plausiblen Vorwand, sich von dem Kinde nach der Wohnung des Hofrats führen zu lassen; daraus entspannen sich Begegnungen, dann kürzere, dann längere Unterhaltungen; das muntere, schöne Mädchen, von der routinierten Mutter eingepaukt und sekundiert, spielte seine Rolle vortrefflich und immer enger und enger zog sich der Blockadering um den alten Knaben zusammen. Das lustige Geplauder der jungen Sirene, ihr schelmisches Lachen mochte dem griesgrämigen Gelehrten eine flüchtige Erfrischung bieten, und in einem solchen Moment tändelnder Anregung wird es wohl auch geschehen sein, daß er irgendein Wort fallen ließ, dem weibliche Interpretationskunst eine verbindende Bedeutung unterschieben konnte. Selbstverständlich schoß die lauernde Frau Mama darauf los wie ein Geier auf ein fettes Hühnchen, und halb scheu, halb phlegmatisch nahm der erjagte Schwiegersohn die sakramentalen Worte hin: »Habt euch, Kinderchen!« So wurden die beiden Mann und Frau.
Noch zwei Jahre sollte sich die Mutter ihres Sieges erfreuen, dann starb sie.
Die Ehe der beiden war also nicht im Himmel, sondern im Würfelbecher äußerer Umstände und Zufälligkeiten geschlossen worden, und im besten Fall konnten zwei so heterogene Naturen wohl nebeneinander leben, aber sie lebten sich nicht ineinander.
Längst schon hatte der Hofrat auch wieder den modus vivendi seiner Hagestolzen-Periode in statum quo ante restituiert, und auch seine junge, lebenslustige Gemahlin war, nach einigen Bekehrungsversuchen, gleichmütig zur Tagesordnung übergegangen. Aus dieser exzentrischen Kreisbewegung mag es sich wohl erklären, daß die Ehe nahezu zwölf Jahre kinderlos blieb; desto größer war das Staunen des hochgeneigten Publikums, als sich mit einem Mal ein Dritter im Bunde präsentierte, ein Bübchen, das bei der Taufe den Namen Heribert erhielt. Die Hofrätin zählte jetzt zweiunddreißig Jahre, ihre junonische Schönheit stand auf der Mittagshöhe. Groß und schlank gewachsen, von imposanter Haltung, das feingeschnittene, klassische Antlitz von tiefschwarzen Locken umrahmt: so besaß sie all die erforderlichen Attribute, um als Königin einen Salon zu beherrschen.
Der Hofrat hatte den kleinen Nachzügler höchst gelassen begrüßt.
Ultra posse nemo obligatur Niemand braucht mehr zu tun, als er kann. – sagt der alte Lateiner, und auch von der fischblütigen Natur des alten Klinikers durfte man kaum die überschwengliche Empfindung fordern, die sonst den Vater eines neugeborenen Kindes so froh bewegt. Desto größer schien das Mutterglück seiner Gemahlin zu sein. Vor der Wiege sitzend, konnte sie in seligem Vergessen in die großen dunkeln Augen des Bübchens schauen und es stürmisch herzen und küssen, wie wenn ein heller Sonnenstrahl ein Lächeln über das feine Kindergesicht hinflog.
Schon gleich bei den ersten Vorzeichen des sensationellen Ereignisses war allerlei gemunkelt worden über die eigentliche Vaterschaft des zukünftigen Weltbürgers, und man hatte sich en petit comité einen Namen ins Ohr geflüstert, den eines Kavaliers von fremdländischer Abstammung, der, schon als Kadett in den diesseitigen Heeresverband eingetreten, jetzt als Rittmeister bei dem in der Stadt garnisonierenden Husarenregimente diente.
Ob die Volksstimme hier auch Gottesstimme war, was fragte die Chronique skandaleuse viel danach? Soviel blieb allerdings unumstößlich Tatsache: bald nach dem Einzug des Regimentes war der Rittmeister in den Salon der Hofrätin eingeführt und seitdem zum fast täglichen Gaste geworden. Im Theater und Konzert, auf Ball und Promenade figurierte er ohne Hehl als ihr huldigender Cicisbeo. Ein Skeptiker konnte den Kopf dazu schütteln; trotzdem wäre niemand imstande gewesen, den Offizier eines Benehmens zu zeihen, das die Schranken ritterlicher Galanterie jemals und irgendwie überschritt. Wenn zwischen der Rätin und dem schmucken Reiter überhaupt ein intimeres Verhältnis existierte, so gehörte es offenbar zu jenen eigentümlichen Fällen, die es dem Beobachter ungleich leichter machen, mit einem guten oder schlechten Witz die Akten zu schließen, als den eigentlichen Tatbestand zu ergründen. Der Dame und ihrem Kavalier gegenüber nahm man natürlich die harmloseste Miene an und schwur, der kleine Weltbürger sei dem Herrn Hofrat ganz »wie aus dem Gesichte geschnitten« – was, nebenbei bemerkt, eine recht pharisäische Heuchelei war, denn faktisch hatte das Knäblein auch nicht einen einzigen Gesichtszug mit dem Alten gemein.
Nun, der Kleine war jetzt einmal da und auch für ihn galt das altdeutsche Volkswort: »Die Mutter sagt es, der Vater glaubt es, ein Narr bezweifelt es.«
Mochte übrigens die Rätin noch so sehr an ihrem Kinde hängen, so hatte sie doch auch andererseits von ihrer Stellung und ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen eine viel zu hohe Meinung, als daß es ihr in den Sinn gekommen wäre, auf die Dauer ihren gewohnten Liebhabereien zu entsagen. Mit Anbruch der Wintersaison kehrte alles wieder in sein altes Geleise zurück: jeder Tag brachte sein Amüsement, heute im eigenen Hause, morgen anderswo, und nach wie vor folgte der schönen Frau als Schatten der galante Husar. Immer und immer wiederholt sich die tragikomische Erscheinung, daß bei derartigen Situationen gerade der Hauptinteressent, der Ehemann, fast stets der letzte ist, der, um einen soldatischen Ausdruck zu gebrauchen, Lunte riecht. Speziell bei dem Hofrat bleibt übrigens die Sache leicht erklärlich. Wie schon erwähnt, hatte er sich seit Jahren eine Lebensweise geschaffen, die ihn mit seiner weltlustigen jungen Gemahlin nur in der losesten Fühlung hielt. Er begleitete sie ebensowenig in die verschiedenen Gesellschaftszirkel, denen sie angehörte, als er andererseits Veranlassung nahm, sich an den Soireen zu beteiligen, die sie in ihrem eigenen Salon veranstaltete. Nomineller Ehemann, war er faktisch jetzt noch Hagestolz. Sein Studierzimmer lag ganz abgesondert von den übrigen Gemächern der weitläufigen Wohnung. Von der Klinik und seinen einsamen Spaziergängen heimkehrend, vergrub er sich in seine Bücher und ausgebreiteten Korrespondenzen, oder er empfing die mit schwerem Geld honorierten Besuche von reichen und vornehmen Patientinnen, die oft aus weitester Entfernung herbeikamen, um den eminenten Frauenarzt zu konsultieren. Im Anfang war über diesen so schroff getrennten Hausstand und die etwaigen Grundursachen viel geredet worden, zuletzt aber hatte man das eheliche Verhältnis des in Alter und Geschmack so ungleichen Paares als ein abgeschlossenes Faktum hingenommen, das erst wieder durch das Erscheinen des kleinen Heribert von neuem der Kritik Beschäftigung gab. Auch mit seinen Kollegen pflog der Hofrat nur den formellsten Verkehr, und so war niemand da, der es gewagt hätte oder überhaupt sich bemüßigt fühlte, dem finstern Einsiedler zu hinterbringen, was sich die Stadt lachend und witzelnd erzählte …
Die Zeit schritt. Das so vielbesprochene Bübchen wuchs und nahm zu an Weisheit und Alter. Da – der kleine Heribert hatte kurz zuvor seinen zweiten Geburtstag gefeiert – machte mit einem Mal ein neues Thema die Zungen in der guten Stadt mobil. Ein Armeebefehl war nämlich erschienen, und darin figurierte das Avancement des Rittmeisters zum Major. Bei der Rose war aber auch gleich der Dorn, denn das Dragonerregiment, in das sich der Major verpflanzt sah, garnisonierte in einem abgelegenen Grenzstädtchen. Auch hörte man bald, der Major habe alles versucht, um durch Stellentausch an dem für ihn so angenehmen Orte bleiben, oder doch wenigstens eine näher liegende Garnison beziehen zu können. Sein Bemühen war aber fruchtlos geblieben, und so mußte er der lustigen Stadt, einem wahren Husarenparadies, Lebewohl sagen. Nun erwartete man, ein reger Briefwechsel werde die Rätin und den Major soviel wie möglich über die herbe Trennung trösten müssen, aber man irrte sich, denn die Frau Postmeisterin konnte hinter dem Kaffeetopf, natürlich beim Eidschwur tiefster Verschwiegenheit, ihren Mitschwestern die bestimmteste Versicherung geben, daß keine Korrespondenz zwischen den beiden stattfand. »Sollte es trotzdem der Fall sein,« meinte die würdige Dame, »so kann es nur auf einem ganz heimtückischen Umweg geschehen.«
Der Hofrat hatte bisher zur Miete gewohnt. Eines Tages, etwa ein halbes Jahr nach der Versetzung des Majors, las man in der »Amtlichen Liegenschaftstabelle«, daß der »hiesige Ortsbürger« Rudolph Adolph Hilgard das im amtsgerichtlichen Grundbuch sub Nummer so und soviel verzeichnete, da und da belegene, einen Flächenraum von so und soviel Quadratruten deckende Anwesen käuflich erstanden habe. Ein reizendes Heim! Wenige hundert Schritte vor dem sogenannten Bischofstor lag das im heitersten Villenstil gehaltene Bauwerk seitwärts auf einem Hügel, den rings in aufsteigenden Terrassen eine herrliche Gartenpflanzung umkränzte. Das niedliche Bergschlößchen hatte von jeher das Wohlgefallen der Rätin erregt, und zu wiederholten Malen war sie an ihren Gemahl herangetreten mit der halb scherzhaften, halb ernstgemeinten Bitte, ihr doch auch eine solch duftige und luftige Feenresidenz zu verschaffen. Der Alte aber hatte immer nur in seinen Bart hineingebrummt und so war es bei dem frommen Wunsche seiner Frau Liebsten verblieben.
Mit einem Mal krachte der Erbauer und Besitzer der Villa, ein Fabrikant, infolge mißlungener Spekulationen, zusammen, das Grundstück kam unter den Hammer, und in einem unerklärlichen Anfall von Galanterie erstand der Hofrat das elegante Tusculanum. Vielleicht hätte übrigens den alten Misanthropen nur ein egoistisches Motiv zu dem Ankauf bestimmt, denn das rings mit einem Gitter abgeschlossene Territorium entsprach ja ganz seinem einsiedlerischen Hang, und die weiteren Räumlichkeiten gestatteten ihm zugleich, sich noch mehr zu isolieren, als ihm dies in seiner bisherigen Wohnung möglich gewesen war. Sei dem, wie da wolle – der so lange gehegte Wunsch seiner Gemahlin war glänzend in Erfüllung gegangen, und für sie, die sich ihrer Reize so wohlbewußte Evastochter, konnte der Gedanke nahe liegen, daß es einzig ihr schmelzender Zauber gewesen sei, der den frostigen Gatten so siegreich aufgetaut habe.
Die Rätin hieß Arabella. Bei der Einweihungs-Soiree (an der sich ausnahmsweise der Hausherr betheiligte) machte einer der Gäste in einem poetischen Toast den Vorschlag, den pittoresken Gartensitz »Villa Arabella« zu taufen; mit allgemeiner Akklamation ging der huldigende Antrag durch, und seitdem führte das Anwesen diesen Namen.
Mit seiner zeremoniellen Beteiligung am Einweihungsfeste betrachtete der Hofrat seine gesellschaftliche Verpflichtung als erledigt, und schon am folgenden Tag zog er sich wieder wie ein mürrischer Dachs in seinen Bau zurück. Nach wie vor bestritt er mit gewohnter Liberalität den glänzenden Haushalt seiner Gemahlin und verlangte dafür nichts weiter, als in seiner Klause mit seinen Büchern und anatomischen Präparaten unbehelligt zu bleiben.
Der kleine Heribert bekam seinen kuriosen Papa oft tagelang nicht zu sehen. Längst schon hatte es die Rätin aufgegeben, dem fischblütigen Gemahl das Evangelium ihrer eigenen Lebensanschauung zu predigen, und so ging auch in der »Villa Arabella« die getrennte Wirtschaft weiter.
Brillante Feste, italienische Nächte und Gott weiß was noch bot die junonische Burgfrau ihren Gästen, dennoch aber konnte es dem schärferen Beobachter nicht entgehen, daß sie selber an diesen Vergnügungen nicht mehr mit der früheren Lebenslust teilnahm, und man wollte bemerkt haben, daß diese Ermüdung von der Zeit an datiere, wo der Major nach jenem fernen militärischen Pathmos verbannt worden war. Voltaire sagt: »Für Liebe und Freundschaft ist die Trennung, was der Wind für das Feuer; ein kleines bläst er aus, ein großes facht er an.« Welchen dieser beiden Effekte hatte die Trennung auf die Dame und den Offizier eigentlich ausgeübt? Ja, das war so eine Frage! Eine direkte Korrespondenz bestand zwischen den beiden nicht, denn darüber hielt die Frau Postmeisterin haarscharfe Kontrolle; fand trotzdem ein brieflicher Verkehr statt, so geschah dies – nach dem Ausdruck der braven Frau – nur unter Entwicklung einer bodenlosen Heimtücke.
Ob seit ihrer Trennung die beiden Gelegenheit gesucht und gefunden hatten, sich wiederzusehen? Das war die zweite Frage. Der Major hatte seit seiner Versetzung die Stadt nicht wieder besucht, aber die Rätin war, wie übrigens alljährlich ins Bad gegangen und zwar ohne Begleitung ihres Gemahls. Der machte seine Sommerreisen für sich ab, womit er zugleich eine botanische Hetzjagd verband. Im Trubel eines Modebades (die Rätin besuchte natürlich kein anderes!) konnte sich ein etwaiges Rendezvous leicht jeder Beobachtung entziehen, und jedes ging alsdann vergnügt nach Haus.
Doch das waren alles nur Vermutungen und Schlüsse ohne positiven Untergrund, und als solche wollen wir sie auch bis auf weiteres taxieren.
* * *
Seit dem Einzug in die Villa Arabella hatte sich der ganze Haushalt, so zu sagen, um ein Gewinde höher geschraubt; die Rätin hatte einen guten Teil ihres bisherigen Mobiliars als nicht mehr passend befunden und demgemäß durch neues ersetzt. Die Villa lag, wie schon bemerkt, vor dem Tore. Erlaubten es aber der Rätin Rang und Stand, bei Wind und Wetter wie eine simple Bürgersfrau den Hin- und Herweg zu Fuß zu machen? Dame Arabella beantwortete sich diese Frage mit einem entschiedenen Nein. Ein ebenso entschiedenes »Nein« hatte aber auch der Hofrat, als sie ihm die dringende Notwendigkeit einer Equipage klar zu machen suchte. Schmollend zog sie sich in ihr Boudoir zurück, um nachzusinnen, wie sie doch noch ihr Ziel erreichen könne. Ein plötzlicher Gedanke erleuchtete sie. Durch den Tod einer Tante war ihr eine kleine Erbschaft zugefallen, die sie dann in Staatspapieren angelegt hatte; wenn sie jetzt die Papiere versilberte, so ließ sich dafür eine Equipage anschaffen. So eigenmächtig sie auch sonst zu schalten und walten pflegte, so glaubte sie in diesem Fall dennoch den Konsens ihres Gemahls einholen zu sollen. Natürlich ersah sie sich dazu einen möglichst günstigen Moment. »Die Erbschaft«, erklärte der Hofrat in seiner brüsken Art, »ist dein, also mache damit, was du willst! Ich für meine Person brauche keine Equipage, und auch dir würde das Laufen sehr wohl bekommen; bei schlechtem Wetter hilft eine Mietsdroschke.« Mit einer bei ihm ganz ungewohnten Gefühlswärme sprach er weiter: »Hast du dir überhaupt schon Gedanken darüber gemacht, wie es einmal nach meinem Tode kommen könnte?« Er fixierte das schöne, eitle Weib mit dem durchdringenden Blick des Diagnostikers, dem es Beruf ist, die verworrenen Erscheinungen krankhaften Lebens zu entziffern. Seine unerwartete, ernste Frage ließ die junge Frau unwillkürlich erbleichen.
»Du weißt,« brach er das momentane, unerquickliche Schweigen, »ich besitze von Hause aus ebensowenig ein Privatvermögen, wie du selber. Allerdings hab' ich ein sehr schönes Jahreseinkommen, aber mein Hausbuch sagt mir auch, was mich jedes Jahr kostet. Von Zurücklegen ist da nicht viel die Rede, und deswegen wirst du wohl daran tun, wenn du dich noch rechtzeitig mit dem Gedanken beschäftigst, daß ich, schon meinem Alter nach, vor dir sterben kann« … Er wandte sich einem Paket zugeschickter Bücher zu, um wohl damit anzudeuten, daß er für jetzt das Thema als abgeschlossen betrachte. Verstimmt rauschte die schöne Frau zur Tür hinaus …
Vielleicht wäre bei ihr der Hinweis auf eine ungewisse Zukunft doch nicht ohne Wirkung geblieben, und sie hätte, wenigstens diesmal, ihr Projekt fallen lassen. Aber der Hochmutsteufel hielt sein Opfer fest. Schon hatte Dame Arabella in ihrem Gesellschaftszirkel das Gelüste nach einer Equipage kundgegeben und natürlich allgemeine Billigung gefunden. Warum auch nicht? Die andern brauchten ja für den Spaß nicht aufzukommen. Ein Kavallerie-Offizier, der zu den Gästen der Villa gehörte, war mit ganz besonderm Enthusiasmus auf das Thema eingegangen und hatte erklärt, eine schönere Gelegenheit könne sich gar nicht bieten, denn Baron X. stehe gerade im Begriff, eine längere Reise anzutreten und werde sich demzufolge bereitfinden lassen, seine hochelegante Karosse und das dazu gehörige superbe Rappengespann um einen ausnahmsweise billigen Preis loszuschlagen. Auch könne gleich der Kutscher, ein wahrer »Staatskerl«, mit der Equipage übernommen werden. Der Köder war gar zu verlockend und ohne langes Besinnen hatte denn auch die Rätin den Fallensteller autorisiert, den Baron X. einmal zu interpellieren. Dem war selbstverständlich die Anfrage hochwillkommen und in Anbetracht der Sachlage forderte er einen Preis, den man wirklich einen ungemein billigen nennen konnte.
Soweit waren die Unterhandlungen schon gediehen, ehe die Rätin mit ihrem Anliegen an den Gemahl herangetreten war. Wie wir sahen, hatte er es kurz abgeschlagen, seine eigene Kasse zu öffnen, gleichgültig dagegen war es ihm gewesen, wie und zu welchem Zweck seine Frau ihr persönliches Erbe verausgaben wolle. Auch in diesem leidigen Pferdehandel sollte sich ja das trübselige Bild einer zerfahrenen Ehe spiegeln!
Wir wollen uns kurz fassen und es dem Leser anheimgeben, sich selber den psychologischen Prozeß zu kombinieren, der jetzt im Kopf der eiteln Weltfrau seine Instanzen durchlief. Das Schlußergebnis ist leicht vorauszusehen. Zwei oder drei Tage nach dem unerquicklichen Gespräch zwischen dem Ehepaar wanderten die Rappen in den Stall der »Villa Arabella«. Der Offizier, der den Handel vermittelt hatte, war so »glücklich« gewesen, noch eine weitere Probe seines diplomatischen Talentes ablegen zu können: um eine Bagatelle hatte er zu der brillanten Karosse auch noch ein reizendes Korbwägelchen erstanden und galant erbot er sich als Lehrer der Fahrkunst, die es dann der schönen Amazone gestattete, selber die feurigen Rappen zu zügeln und graziös in dem luftigen Wägelchen dahinzufliegen. Freude war in Trojas Hallen, und auch der kleine Heribert patschte vergnügt in die Händchen, als ihn im Stall der Kutscher auf den Rücken der großen, schwarzglänzenden »Hotto« setzte. Der Hofrat seinerseits drapierte sich in das Schweigen eines Trappisten. Wir wollen hier bemerken, daß er, seinem Worte getreu, die Equipage niemals benutzte. In den ersten Tagen hatte wohl Dame Arabella eine gewisse peinliche Verlegenheit empfunden, wenn sie beim Ein- und Aussteigen dem sarkastischen Blick des Alten begegnete, der von seinem Fenster aus den Kasus betrachtete; der leichte Sinn der jungen Frau war aber nicht dazu angetan, sich lange durch das spöttische Grinsen des sauertöpfischen Kritikers stören zu lassen, und so gab sie sich mit vollem Behagen, unter der Anleitung ihres militärischen Lehrmeisters, ihren Fahrstudien hin. In der Stadt wurde anfangs viel darüber gewitzelt, doch zuletzt hatte man sich auch über die plötzliche Sportlust der Rätin satt geplaudert und ging zu anderen Tagesfragen über. Die Pferde waren ihrer Herrin förmlich ans Herz gewachsen, täglich kam sie in den Stall, um nach ihnen zu sehen und ihnen allerlei Näschereien zu bringen: wenn dann die schlanken Rappen den Kopf umwandten und mit freudigem Wiehern die schöne Herrin begrüßten – wer hätte da wohl ahnen können, daß diese zutraulichen Tiere dazu bestimmt waren, noch eine furchtbare Rolle zu spielen! …
Ein sonniger Herbstnachmittag verklärte Berg und Tal, als Dame Arabella ihr Wägelchen bespannen ließ, um, wie sie es oft schon getan, eine Spazierfahrt zu machen. Der kleine Heribert sollte sie begleiten, aber er schlief gerade, und da die Mutter seine Ruhe nicht stören wollte, so verabschiedete sie sich von ihm mit einem leisen Kusse. Wenige Minuten darauf trabten die Rappen mit ihrer leichten Fracht zum Gittertor der Villa hinaus. Schon einige Zeit zuvor hatte der Fahrlehrmeister seiner Schülerin das Absolutorium erteilt, und mit sicherer Hand zügelte sie seitdem die feingeschulten Pferde, während auf dem Hintersitz der Kutscher, die Arme über die Brust gekreuzt, als passives Dekorationsstück figurierte. So auch diesmal wieder.
Eine kurz zuvor erbaute Eisenbahnlinie überschritt auf einer Brücke die Landstraße, auf der die Amazone ihre Rappen dahinschnurren ließ. Den Bergstock, der in der Bahnlinie lag, durchbrach ein Tunnel, der etwa hundert Schritte seitwärts von der Landstraße ins Freie ausmündete. Schon zu wiederholten Malen hatten die Pferde den Anblick und Lärm eines Eisenbahnzuges kennen gelernt, und so mochte sich ihre Führerin wohl auch diesmal wegen einer etwaigen Begegnung keiner besondern Sorge hingeben. Das Gefährt war der Übergangsbrücke schon ganz nahe gekommen, als sich plötzlich, wie aus den Tiefen der Erde, ein dumpfes Rollen hören ließ: die Dauer einer Sekunde und – – schon polterte mit einem grellen Pfiff, halb von Dampf verschleiert, ein Bahnzug aus dem Tunnel hervor und sauste mit klappernden Rädern über die dröhnende Brücke hin! Wie will die schwerfällige Feder beschreiben, was das Werk eines Momentes war! Schaut hin, ihr schreckensstarren Augen! Dort jagen schon im tollsten Galopp, mit auf dem Boden schleifenden Zügeln, die scheuen Rappen die Straßen entlang, Todesfurcht hat die beiden Insassen des Gefährtes gelähmt, sie können nur noch ihre Seele Gott empfehlen. Mitten in einer wirbelnden Staubwolke fliegt der leichte Wagen hinüber und herüber wie ein vom Sturm gerüttelter Nachen. Dort krümmt sich die Straße zu einer scharfen Ecke – Halt! Halt! … Jetzt – – hui! Im wilden Umschwung ist das Wägelchen umgekippt, in weitem Bogen fliegt der hinten aufrechtstehende Kutscher über die Wegböschung hinunter. Die unglückselige Wagenlenkerin aber ist in dem umgestürzten Fuhrwerk hängen geblieben und mit ihr verschwinden die nur noch toller gewordenen Gäule um die Ecke. Im nächsten Dorfe erst werden sie schäumend und dampfend von den Bauern aufgehalten, nur noch ein paar Bruchstücke des zerschellten Wagens sind mit den rasenden Tieren angelangt. Verschiedene der Dorfbewohner kannten das stolze Rappengespann und errieten sofort die Sachlage. Hilfsbereit eilten sie der Unglücksstätte entgegen. Schon aber waren auch von den an die Straße grenzenden Feldern Leute herbeigekommen, um der mitten im Wege liegenden, blutüberströmten Frau Beistand zu leisten. Auch der Kutscher, der nur einige leichte Kontusionen davongetragen hatte, kam wehklagend herangehinkt.
Im Dorfe selbst war kein Arzt, so ließ der Bürgermeister einen Wagen mit Betten bepacken, die bewußtlose, gräßlich zugerichtete Dame wurde darauf gelegt und mit aller Behutsamkeit nach der Stadt geschafft. Der Hofrat war abwesend, als der traurige Transport in der Villa anlangte; schon beschäftigte sich ein rasch herbeigeholter Arzt mit der verunglückten Frau, als der Hausherr heimkehrte. Durch die verstört umherlaufende Dienerschaft erfuhr er gleich beim Eintritt das gräßliche Ereignis.
Einen Moment war er erbleicht, dann wandte er sich wortlos und mit festem Schritt dem Zimmer zu, in dem man seine Gemahlin niedergelegt hatte, und keine Muskel zuckte in seinem kalten, hagern Gesichte, als er mit der kritischen Ruhe des chirurgischen Veteranen seine Untersuchung begann. Ehrerbietig war der herbeigerufene Arzt vor dem Großmeister seiner Zunft zurückgetreten.
Langsam richtete sich der Hofrat auf – noch einen Augenblick fixierte er schweigend das marmorbleiche Antlitz der ohmnächtig vor ihm liegenden Frau – dann klang es kalt und hart wie der Schlag eines eisernen Hammers, als er zu seinem Kollegen die drei kurzen Worte sprach: » Sie muß sterben«.
* * *
»Sie muß sterben.« Zermalmender Richterspruch für ein Frauenleben, das, noch jung und für alle Genüsse empfänglich, sich so leidenschaftlich an die Welt und die »süße Gewohnheit des Daseins« festklammerte!
Jetzt war in den Sälen und Rosenlauben der »Villa Arabella« der anakreontische Jubel verstummt, und dort in dem Erkerzimmer, an dessen tiefverhängte Fenster die herbstlich gefärbten Ranken der wilden Rebe wie Geisterfinger pochten, lag, zwischen Delirien und kurzen Lichtblicken wechselnd, mit zerschmetterten Gliedern die Herrin, der die Heilkunst höchstens noch einige Tage Frist erkaufen konnte, und über deren wundem Haupte der erbarmungslose Tod wie ein Geier seine Kreise immer enger und enger zog.
Eine traurige, dunkle Herbstnacht brütete über der so stillgewordenen Villa, als unten am Gitter, das den Park umschloß, eine sorgsam verhüllte Mannesgestalt drei leise Schläge an ein Pförtchen tat, das ganz im Schatten der Bäume und Hecken verschwand. Zweifelsohne war der späte Gast erwartet worden, denn schon im gleichen Moment schob innen eine Hand den Riegel zurück, und der Ankömmling stand einer Frauensperson gegenüber, die ihn mit einer halb vertraulichen, halb respektvollen Bewegung begrüßte. Im leisesten Flüsterton sprachen die beiden eine Weile miteinander; das Weib bekämpfte hörbar ein mühsam verhaltenes Weinen, und auch der Mann schien in einem Zustand höchster Erregung. Rabenschwarze Finsternis lag über den Park hin, doch das Weib war des Weges kundig; schon nach wenigen Schritten kamen dem Paare zwei mächtige Doggen knurrend entgegen: ein leiser Zuruf des Weibes beschwichtigte die sprungfertigen Wächter, und mit einem prüfenden Seitenblick ließen sie den ihren Zähnen entzogenen Unbekannten passieren. Auf Nebenpfaden und mit aller Behutsamkeit näherten sich der Mann und seine Führerin der Villa, die nur noch an zwei Stellen erhellt war. »Dort ist sein Zimmer!« flüsterte, nach einem der beiden Lichter hindeutend, das Weib. »Die gnädige Frau liegt hier,« erklärte die Alte weiter und wies nach den matt erleuchteten Fenstern eines Erkerzimmers hinauf. Ihr Begleiter nickte wortlos und wischte sich mit der Hand über die Augen.
Immer noch von den halb mißtrauischen Hunden gefolgt, erreichte das scheue Paar die Rückseite der Villa; das Weib erschloß eine Tür, und sie betraten das grabesstille Haus. Mit nervöser Hast griff der Mann nach der Hand seiner Führerin. »Ob sie wohl bei Bewußtsein ist?« murmelte er im Ton qualvollen Bangens. »Sie ist es den ganzen Tag über gewesen,« beruhigte mit ebenso leiser Stimme das Weib; »die Spannung, ob Sie, Herr Baron, kämen, hält sie aufrecht. Ich werde nachsehen – bitte, erwarten Sie hier meine Rückkunft.« Sie öffnete, leise eine der auf den Hausflur mündenden Türen und schob ihn in ein dunkles Kämmerchen. Schon nach wenigen Minuten kehrte sie wieder, diesmal mit einer brennenden Ampel in der Hand. Der Lichtschein zuckte unstet über den nächtlichen Gast hin. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann in den mittleren Jahren und in bürgerlicher Reisekleidung; aber auch ohne den martialischen Schnurrbart und gewisse charakteristische Bewegungen, verriet das ganze Auftreten den Soldaten. Es war ersichtlich, daß er mit all dem Aufgebot seiner Energie die seelische Erregung zu bezwingen suchte, die sich in seinen Zügen spiegelte. Schweigend folgte er seiner Führerin, die mit einem stummen Wink sich der Treppe zur obern Etage entgegenwandte. Durch ein Vorzimmer kamen sie vor eine Flügeltür, und hier blieb das Weib stehen. »Herr Baron,« flüsterte sie in ängstlicher Mahnung, »der Zustand der gnädigen Frau erfordert die höchste Schonung, denn Ihre Ankunft hat sie furchtbar erregt.« Gehorsam nickte der nächtliche Gast. Leise öffnete das Weib die Tür – unwillkürlich preßte der starke Mann die Hand auf sein Herz; in nervöser Hast überschritt er die Schwelle des Gemaches – – – ein schwacher Aufschrei, den keine Feder beschreiben könnte, zitterte durch den matt erleuchteten Raum, zwei Frauenarme streckten sich in stürmischem Verlangen dem Ankömmling entgegen … Diskret war die alte, vertraute Kammerfrau – sie hatte den Gast an dem Gartenpförtchen erwartet und hierher geleitet – in dem Vorzimmer zurückgeblieben, geräuschlos zog sie die Tür zu, um sich dann an den Aufgang der Treppe zu postieren.
Die Zwei im Krankenzimmer waren jetzt allein …
Die Kammerfrau wußte sehr wohl, was bei diesem geheimnisvollen Rendezvous auf dem Spiele stand und nur die Anhänglichkeit gegen die Herrin hatte die Alte bewogen, sich zu ihrer gefährlichen Rolle überhaupt herzugeben; durch ihre Vermittelung war auch – um das Wort der ehrbaren Postmeisterin zu zitieren – »auf heimtückischem Umweg« eine Korrespondenz gepflogen worden, die uns das plötzliche Erscheinen des nächtlichen Gastes erklärt. Bis zu welchem Grade der Unglücksfall seiner Gemahlin den Hofrat als Gatten und Menschen berührte, ließ sich bei diesem eiskalten, verschlossenen Charakter schwer bestimmen; aber er war auch zugleich Arzt, die Chirurgie, wie schon früher bemerkt, hatte er sich zur virtuosen Spezialität erkoren und so konnten ihm beim Anblick der zerbrochenen Frauenknochen geradezu die Finger jucken. Gehörte er ja, nicht bloß seinem Berufe, sondern auch seiner ganzen Gemütsanlage nach, zu jenen der normalen Empfindungswelt entrückten Forschern, die jedes organische Wesen zunächst nur als pathologisch-anatomisches »Objekt« interessiert! In seinen Augen war es die Prinzipal-Bestimmung des Menschen, sich eine möglichst lehrreiche Krankheit zu holen, unter möglichst phänomenalen Prozeßformen zu sterben und dann in usum delphini unter das Seziermesser zu wandern. Auch bei dem Martyrium seiner Gemahlin verband sich für ihn das Nützliche mit dem Schönen, und angelegentlichst verfolgte er die Peripetien des Leidensdramas. Selbst noch zur Nachtzeit kam er, um nach den Verbänden und dem Stand des Auflösungsprozesses zu sehen und dadurch erklärt es sich auch, warum, dem eingeschmuggelten Gaste gegenüber, die Kammerfrau so ängstlich tat und jetzt die Treppe so aufmerksam bewachte. Wäre ja eine plötzliche Begegnung des Alten und des Gastes in dem Krankenzimmer zu einer Szene geworden, vor deren bloßem Gedanken schon die Treppenhüterin erbebte! – –
Und horch! Kaum eine Viertelstunde mochte sie auf ihrem Lauerposten stehen, als sie unten im Zimmer des Hofrats eine Bewegung vernahm: kein Zweifel, der Hausherr hatte sich noch immer nicht zur Ruhe begeben, und leicht konnte es ihm in den Sinn kommen, nach gewohnter Weise nochmals die Patientin zu besuchen. Eilenden Fußes stürzte die Alte nach dem Krankenzimmer hin, um noch rechtzeitig ein Alarmsignal zu geben. »Der Herr wird gleich kommen.« Mit diesem Mahnruf streckte sie den Kopf durch den Türspalt herein.
Ein ergreifendes Bild bot sich ihrem Auge dar.
Vor dem Bette kniete der Major – er, wie der Leser wohl längst schon geahnt hat, war ja der nächtliche Gast. In seinen Armen hielt er den kleinen Heribert, der den tiefen Schlummer der Kindheit schlief. Aus den Augen des starken Mannes tropfte Träne um Träne und fiel auf die Stirne des Knaben. Das mit Tüchern und Bandagen verbundene, zerfleischte Antlitz der Mutter war dem sorglos schlummernden Kinde und dem bitterlich weinenden Major zugekehrt, in den großen, eingesunkenen Augen glühte ein seltsamer Glanz, auf den Lippen schwebte ein geisterhaftes Lächeln … Der halblaute Zuruf der Kammerfrau fuhr zerstörend über dieses dramatische Bild hin: wie aus einem dunkeln Traum erwachend, schnellte der Major in die Höhe, der Blick der dem Tode geweihten Frau heftete sich mit einem ganz unbeschreiblichen Ausdruck von Grauen und Resignation zugleich auf die halboffene Thüre, an deren Schwelle die wachsame Alte stand. Ihr Mahnruf war ein rechtzeitiger gewesen, denn soeben knarrte im untern Stockwerk eine Türe – schleppende Schritte schlurften den Hausflur entlang und näherten sich der nach oben führenden Treppe! Der Moment und die Situation ließen die Kammerfrau alle weitere Umschweife vergessen; mit einem raschen Griff entwand sie dem verstörten Manne das Kind und trug es in das Nebenzimmer zurück, von wo der Major es herübergeholt hatte. In längstens zwei Minuten mußte der Hofrat eintreten!
Die Hände des scheidenden Paares hatten sich umschlungen, als wollten sie ineinander verwachsen – Lippe brannte auf Lippe, als wollten sie zusammenschmelzen … Auf dem Tische stand eine kleine, zierliche mit Silber beschlagene Kassette von indischem Rosenholz, der Deckel war zurückgeschlagen und zeigte als Inhalt ein Päckchen Briefe und Billetts, verblichene Bänder und vertrocknete Blumen. Die Hand der an allen Gliedern zitternden Kammerfrau berührte die Schulter des schmerzbetäubten Mannes. »Herr Baron, machen Sie sich und uns nicht unglücklich!« Von den obersten Stufen der Treppe her ließ sich ein trockenes Hüsteln hören. Der Major erinnerte sich von früher her dieses Tones! Keine zwanzig Schritte trennten ihn mehr von dem Manne, dem er hier um keinen Preis begegnen durfte. Im nächsten Moment schon verschwand die Kassette in der weiten Tasche seines Überrockes. Er preßte die Hand auf seine brennenden Augen. »O, Arabella, scheiden – scheiden auf ewig!«
»Nein,« hauchte es wie eine Geisterstimme in sein Ohr – »auf Wiedersehen!«
Mit der Kraft der Verzweiflung riß die Kammerfrau den in Schmerz aufgelösten Mann vom Bett weg und zog ihn in ein Seitengemach, von da schoben ihn ihre bebenden Hände einen dunkeln Korridor entlang.
Vorn war der Hofrat eingetreten. – – –
Zwei Tage nach dieser traurigen Nacht durchlief eine Todeskunde die Stadt. Es gab viel zu reden. Kalt und unbewegt leitete der Hofrat persönlich die Sektion der selbst mit ihren schweren Verletzungen immer noch schönen Frauenleiche. In lateinischen Brocken ward allerlei erörtert, dieser und jener innere Bruch konstatiert: der Hauptbruch aber blieb den wohlweisen Leichenrichtern unsichtbar, nämlich Cor fractum – zu Deutsch: Ein gebrochenes Herz.
Nach dem Kalkül des Hofrats hätte die derangierte Maschine immerhin noch vier Tage fortpumpen können: da kam der Major – mit seinem Scheiden wich die letzte Federspannung, eine Geisterhand griff in das stockende Räderwerk von Fleisch und Blut, und – – der Hofrat, der alte, kalte Rechenmeister, war in seinem Kalkül um zweimal vierundzwanzig Stunden betrogen.
* * *
Mit standesgemäßem Gepränge fand die Beerdigung statt, und wenn Dame Arabella im Leben so manches Mal der Klatschsucht zur Zielscheibe gedient hatte, so appellierte jetzt ihr grausiges Ende an das rein menschliche Mitgefühl; bei den tief ergreifenden Worten, die am Grabe Pater Romanus, der beredte Benediktinermönch, über Leben und Sterben, über Zeit und Ewigkeit sprach, flossen viele ungeheuchelte Tränen. Die Augen des Hofrates blieben trocken, dennoch aber konnte sein kaltes, kantiges Gesicht eine innere Rührung nicht verhehlen, als er, den kleinen Heribert an der Hand haltend, zum Rande des Grabes vortrat, um eine Erdscholle als letzten Tribut auf den blumengeschmückten Sarg hinabgleiten zu lassen. Eine vom Domchor gesungene Motette schloß die Trauerfeier.
Schon am folgenden Tag pochte des Lebens nüchternste Prosa an die Pforte des Sterbehauses, zunächst in der Gestalt eines jüdischen Pferdehändlers, der sich erbot, die unseligen Rappen sofort zu kaufen und bar zu bezahlen, da ja, wie Mendel Moses gefühlvoll bemerkte, »die schwarze Gäul' müsse verreiße 's Herz im Herr Hofrat sei'm Leib! Wäß mer jetzt doch im ganze Land, daß die Rappe sin Dorchgänger un Wer werd se wolle kaafe, wann 's nit is der Mendel Moses?!« Der schlaue Hebräer durfte sich gratulieren, denn kaum war auf sein erstes Angebot hin der Handel perfekt geworden, als auch schon hintereinander drei weitere Söhne des Morgenlandes herangekeucht kamen, um gleichfalls in zarter Teilnahme den gramgebeugten Witwer vom peinlichen Anblick der mörderischen Rappen zu befreien. Schon aber hatte der triumphierende Mendel Moses seine so mühelos erjagte Beute angehalftert, und die drei Nachzügler konnten jetzt nichts mehr tun, als unter giftigem Ausspucken ihrem flinkern Stammesgenossen Gesundheit und langes Leben wünschen.
Die Rappen waren kaum aus dem Stalle fort, und noch beruhigte, selber unter lautem Schluchzen, die alte Kammerfrau den kleinen Heribert, der weinend seine »Hotto« zurückverlangte – da erschienen auch schon andere Gestalten zur weihelosen Totenfeier in der Villa Arabella. Briefträger und Laufburschen überbrachten von verschiedenen Firmen der Stadt langzifferige Rechnungen, die auf den Namen der Rätin lauteten und jetzt unter allerlei Floskeln der kaufmännischen Höflichkeitslehre Sr. Hochwohlgeboren dem Herrn Hofrat und Ritter verschiedener Orden »zur geneigtesten Erinnerung und gelegentlicher Begleichung« unterbreitet wurden.
Trotz dem brillanten Haushaltungsetat, über den die Verstorbene verfügt hatte, noch Schulden! Wortlos, nur ein sardonisches Auflachen an die eingelaufenen Konten heftend, schloß der Alte sein Pult auf, um bis zu näherer Prüfung die unerwarteten Mahnzettel in eine Schublade zu legen …
Eine Woche nach dem Ableben der Rätin traf eine unverheiratete Schwester des Witwers ein, um die Zügel der Wirtschaft zu übernehmen. Fräulein Cordula, so hieß sie, war eine ehrsame Jungfer, die den wiederkehrenden Lenz mindestens wohl schon zum vierzigsten Male begrüßt und seitdem als Verwalterin auf einem Rittergut fungiert hatte. Schon bei Lebzeiten seiner Gemahlin war es der Wunsch des Hofrats gewesen, Cordula zu sich zu nehmen; die naturwüchsige Jungfer aber, die sich in Küch' und Milchkammer heimischer fühlte, als in Salon und Drawing-room, hatte ein Zusammenleben mit der so aristokratisch abgezirkelten Schwägerin perhorresziert und demzufolge die Einladung des Bruders dankend abgelehnt. Jetzt hingegen, wo mit dem Ableben der »Madame Etiquette« die derbe, den Teufel nach Chic und Bon ton fragende Landpomeranze keine Schulmeistereien mehr zu befürchten brauchte, hatte es von seiten des verwitweten Bruders nur der Anfrage bedurft, um das treue Schwesterherz sofort zu einer bejahenden Antwort zu bestimmen. Der Gutsbesitzer war rücksichtsvoll genug, in Anbetracht der Umstände die so brauchbare Wirtschafterin ihres Kontraktes zu entbinden, und so hatte sich, wie schon oben bemerkt, Cordula eine Woche nach dem Begräbnis auf den Weg gemacht. Ein furioses Scheuern und Fegen vom Boden bis zum Keller hinab leitete, so zu sagen, als ökonomisches Glaubensbekenntnis ihr neues Hausregiment ein, die Wasserflüsse Babylons schienen sich in der Villa ein Rendezvous gegeben zu haben und wie weiland Vater Noah aus einer Luke seines schwimmenden Kastens, so spähte jetzt von seinem Fenster der Hofrat bänglich aus, ob und wann sich wohl die Sündflut verlaufen werde.
Während, wie bereits erwähnt, der Hofrat sich im Parterre angesiedelt hatte, war die Bel-Etage der Villa das Reich seiner Gemahlin gewesen. Zu diesen Gemächern, die er so selten betreten hatte, stieg jetzt, nach beendigter Überschwemmung, eines Nachmittags der Alte empor. Wohl um einen kleinen Triumph zu feiern, wollte ihn Cordula begleiten, doch stumm ward sie zurückgewiesen. Nahezu eine Stunde verweilte der Hofrat oben und die Schwester konnte unten hören, wie er, offenbar in Sinnen verloren, langsam auf und nieder schritt: dann vernahm sie, wie er oben die Türen abschloß, langsam die Treppe herabkam und in sein Studierzimmer zurückkehrte. Bald darauf machte sich die immer tätige Schwester etwas im Garten zu schaffen, und da bemerkte sie, daß der Bruder oben an allen Fenstern die Rouleaux herabgelassen hatte – wohl zum stummen Zeichen, daß er fortan diese Gemächer als »tabu«, d. h. verfemt, betrachtet wissen wollte. Mir kommt dabei die Erinnerung an den Sultan Mahmud, als er nach der Erstürmung von Konstantinopel den einsamen Palast der Paläologen betrat. Was aber bei dem morosen Hofrat ein unschönes Reaktionsbedürfnis war, das adelte sich bei dem wilden Osmanen zum Hochgedanken an die menschliche Nichtigkeit.
* * *
In ebenern Schritt ging die Zeit ihren Gang weiter. Mehr und mehr versenkte sich der Hofrat in die düstern Tiefen seines Ichs, zugleich aber auch in den geheimnisvollen Schacht seiner erkorenen Wissenschaft. Gleichgültig nahm er die Orden hin, die ihn von da und dorther unbegehrt aufsuchten; von jeher aber liebäugelt Fortuna am zähesten mit dem, der sie am geringschätzigsten traktiert, und so überraschte sie eines schönen Tages ihren spröden Verächter gar mit einem – Adelsbrief. Wie ihm vormals eine dankbare Prinzessin das Hofratsdiplom in die Rocktasche geschoben hatte, so war es jetzt die Landesmutter in höchsteigener Person, die ihre menschliche Erkenntlichkeit für eine an ihr virtuos vollzogene Operation in das Pergament eines Adelspatentes kleidete.
Über die Schulter des nobilitierten Bruders hinweg guckte Cordula mit großen Augen in das mit dem großen Kabinettssiegel beklexte Bestallungsschreiben. Mit mephistophelischem Grinsen faltete der Alte das Pergament zusammen und sagte: »Das hätt' meine Frau erleben sollen! jetzt bin ich, obwohl mein Vater nur ein geringer Bader war, blaublütig wie sie.«
So wie er die Orden nur bei nicht zu umgehenden zeremoniellen Vorkommnissen trug, ebenso blieb er auch jetzt im Tagesverkehr seinem einfach bürgerlichen Namen getreu.
Auf dem Zifferblatt der Uhr reihte sich Stunde an Stunde und die Stunden weiteten sich zu Tagen, Wochen, Monden und Jahren. Zum fünfzehnten Mal entfaltete, von der pflegenden Hand Cordulas sorgsam unterstützt, der Frühling seinen heitern Blumenflor auf dem Grabe, in dessen stiller Tiefe die Tote einem Wiedersehen entgegenträumte, das sie mit dem Manne vereinigen sollte, den sie auf Erden und nach Menschensatzung nur hatte »wild« lieben dürfen.
Der kleine Heribert war mittlerweile zu einem achtzehnjährigen Jüngling emporgeschossen, der in Art und Erscheinung lebhaft an das Bild seiner schönen Mutter erinnerte. Schon als Jungen hatte es ihn zum Militär hingezogen und sein Herzenswunsch war es gewesen, in das Kadettenkorps einzutreten, der Hofrat aber hatte mit einem barschen »Nein« seine Einwilligung verweigert und so rutschte in verdrossener Resignation Heribert auf den Klassenbänken des Gymnasiums weiter. Welches Berufsfach er nach bestandenem Abiturium ergreifen solle, blieb einstweilen noch offene Frage. Zwischen dem Alten und seinem Sprößling hatte sich überhaupt ein ganz eigenes Verhältnis entwickelt, und angesichts der Lieblosigkeit, womit sich beide begegneten, mußte sich der Beobachter unwillkürlich jenes dunkle Gerücht zurückrufen, das damals die Geburt Heriberts keineswegs der befruchtenden Kraft des Ehebettes zugeschrieben hatte. Es schien wirklich, als lasse ein instinktives Ahnen die beiden selber an der Richtigkeit ihres gegenseitigen Verhältnisses zweifeln. Die Schroffheit des Alten provozierte den Trotz des Jungen, und so hätte sich dieser abnorme Verkehr zweifelsohne zu einer Katastrophe zuspitzen müssen, wenn nicht immer wieder Cordula beschwichtigend in den Riß getreten wäre. Mit jener fast überzärtlichen Neigung, die so leicht ältere, unverheiratete Frauen für die Kinder anderer erfaßt, hing die Tante an ihrem Neffen: es war, als wolle sie in dieser Form den Liebesborn des Weibes ausströmen, den das Cölibat bislang in ihrer Brust zurückgedämmt hielt. Während der Hofrat von Heribert nur als dem »Jungen« sprach, hatte die sonst aller Empfindsamkeit so abholde Jungfer für ihren Neffen die weichsten Koseworte. Der Jüngling stand also, zu seinem eigenen Unheil, in der Mitte zwischen zwei Gegensätzen.
Liberalität im Geldpunkt war, wie wir wissen, seltsamerweise ein konsequenter Charakterzug des für sich selber so frugalen Hofrats, und so hatte er denn auch gleich von vornherein seiner Schwester einen Etat zugewiesen, mit dem sich der jetzt so vereinfachte Haushalt mehr als reichlich führen ließ. Von den Ersparnissen, die sie machte, hätte die grundehrliche Cordula für ihre eigene Person keinen Pfennig beiseite bringen mögen, dagegen empfand sie keine Skrupel, wenn sie diese »Spargroschen« in die Tasche ihres Herzblättchens fließen ließ. Und Heribert ließ sich dies gefallen, denn unter den verschiedenen Eigenschaften seiner aristokratischen Mutter schien er auch die geerbt zu haben, möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit zu verausgaben. Von den mancherlei tollen Streichen des Gymnasiasten gelangten nur die wenigsten zu den Ohren der guten schwachen Tante und kaum einer zu denen des hermetisch sich abschließenden Vaters. Von Dante, dem unsterblichen Dichter der »göttlichen Komödie«, wird uns berichtet, daß er schon in seinem neunten Lebensjahr bei einer Begegnung mit Beatrice Portinari vom Blitzstrahl der Liebe getroffen wurde! Warum konnte also Amor den doppelt so alten, wildfeuerigen Heribert nicht ebenso wohl aufs Korn nehmen?
Beim Tanzunterricht lernte er Thekla kennen, eine Waise und dabei ein bildhübsches Mädchen. Auch sie hatte scharfen Blickes sofort den Tänzer mit den feinen Alcibiades-Zügen in der Schar seiner Genossen herausgelesen und sein Bild in jungfräulicher Verschwiegenheit mit dem goldenen Heiligenschein des ersten Liebens umwoben. Der Roman nahm seinen traditionellen Verlauf. Der Heimweg beider ging nach einer und derselben Richtung – was war also natürlicher, als das Anerbieten ritterlicher Begleitung einerseits und das verschämte Akzeptieren andererseits! O tempora, o mores! Wo ist sie geblieben, jene gute, alte Zeit mit ihrer frommen, steifleinenen Moral – jene Zeit philiströser Ehrbarkeit, wo der Hamburger Notar und Bürger Jeremias Sommer Anno 1662 ein damals hochgeschätztes Komplimentier-Buch herausgab mit dem Titel: »Der deutsche Anführer zu anmutigen und zierlichen Zwiegesprächen«. Da finden wir unter allerlei »wohlzuvermerkenden Regulis und Items« auch das folgende »Zuhausführungsgespräch«:
Gesell. »Tugendsame Jungfrau! Ich habe große Ursache, mich nunmehr für höchst glücklich zu ästimiren, auch mich baß zu freuen, daß heutigen Tages mein Glücksstern erst recht aufgegangen, sintemalen ich nicht allein gewürdiget worden, in Gesellschaft so holdseliger Mägdelein mit gegenwärtig zu sein, sondern auch anitzo die unverdiente Honneur genieße, eine so tugendreiche Jungfrau in Züchten nach Hause zu geleiten.«
Jungfrau. »Monsieur, ich halte dafür, daß sich diesen Abend die Jungfrauen für glücklich zu schätzen haben, alldieweilen sie die hohe Ehre gehabt, von einem so bescheidenen und feinen Gesellen bedient und ergötzt worden zu sein. Insonderheit befinde ich mich verpflichtet, daß Er die große Mühe hat auf sich nehmen wollen, mir nach meiner Eltern Hause Gesellschaft zu leisten.«
Gesell. »Ehrenhafte Jungfrau! Ich bitte um gnädige Verzeihnuß, daß ich die ungewöhnliche Kühnheit gefaßt, Ihr bei'm Heimgehunge einen Gefährten zu geben. Ihr liebreiches und herzrührendes Gespräch, wohlanständiges Geberde und angenehme Leutseligkeit haben mich dazu verursacht, also, daß ich nicht umhin gekonnt, Ihr noch ferners aufzuwarten.«
Jungfrau. »Monsieur, Seine höflichen Bezeugungen verpflichten mich zu dankbarer Wiedervergeltung, derowegen ich denn auch solche gegen Jedermänniglich will zu rühmen und preisen wissen, bis ich Gelegenheit ersehe, Ihm gar feinem Gesell hinwiederum einige behägliche Ehrendienste zu erweisen.« –
O, du armer Hamburger Aktendrescher und Moralprediger! Wievielmal magst du dich seitdem in deinem Grabe vor christlichem Entsetzen herumgewendet haben, wenn draußen an der Kirchhofsmauer bei Nacht und Nebel und Arm in Arm ein Gesell und eine Jungfrau vorüberstrichen und dabei ein »Zuhausführungsgespräch« wechselten, das sich blutwenig um deine »wohlzuvermerkenden Regulas und Items« kümmerte!! Nicht nur die Preußen, auch die Liebespärchen manöverieren heutzutage mit affenmäßiger Schnelligkeit, und wo man vor zweihundert Jahren noch an den ersten Präliminarien herumlaborierte, da führt jetzt schon oft der Heimweg munter durch die hohle Gasse von – Küßnacht … Bei den Pflegeeltern Theklas logierte ein junger Mann, den wir gleichfalls nur kurz mit seinem Vornamen Paul bezeichnen wollen. Er servierte – wir können nichts für diesen terminus technicus des Kontors! – als Volontär in einem der ersten Handelshäuser der Stadt. Nur um zwei oder drei Jahre älter als Heribert, war Paul der Sohn reicher Eltern und sollte sich ein wenig in der Welt umsehen, bevor er daheim in das väterliche Geschäft eintrat. Er liebte Thekla schon längst, er hatte das an Leib und Seele unverdorbene Mädchen schätzen gelernt und trug sich mit dem stillen Gedanken, das reizende, wenn auch blutarme Waisenkind seinen Eltern als Schwiegertochter zuzuführen. Seine ruhige Natur war aber jeder Übereilung abhold, und so wollte er den richtigen Zeitpunkt zu einer beiderseitigen Erklärung geduldig abwarten. Da kam mit einem Mal der Tanzkursus, und Heribert trat auf die Bildfläche. Mit der angeborenen Klarheit seines Verstandes überblickte der junge Kaufmann die nur allzu möglichen Konsequenzen dieser hochgefährlichen Liaison, und es erfüllte ihn mit Trauer und Zorn zugleich, wenn er daran dachte, die begehrliche Hand des Nebenbuhlers möchte eines Tages die keusche Blume im Sturme knicken. Und doch – was sollte, was konnte er tun? Einer polizeidienermäßigen Denunziation bei den Pflegeeltern des bedrohten Mädchens widerstrebte sein loyaler Charakter, seine zarten Andeutungen aber, die er gegen die heimlich Geliebte selber fallen ließ, fanden eine ebenso kurze als unwillige Abweisung. So erübrigte ihm nichts, als der Entschluß, auf den weitern Verlauf ein wachsames Auge zu haben. Mit zäher Ausdauer heftete er sich in seinen Mußestunden an die Sohlen seines Nebenbuhlers, und so machte er eines Abends eine Entdeckung, die ihn mit einer tröstlichen Genugtuung erfüllte, denn sie ließ den Schluß zu, daß es dem Störer seiner Seelenruhe wenigstens noch nicht gelungen sei, den geplanten Sieg über Theklas Unschuld zu feiern, und daß sich infolge dessen eine gewisse Erkältung bei ihm eingestellt habe. Die Entdeckung aber, die er an jenem Abend machte, bestand darin, daß Heribert – jedenfalls ohne Wissen Theklas – ein Vorstadtlokal frequentierte, worin Tanzunterhaltungen stattfanden, zu denen lockere Studenten und Polytechniker, Regimentskadetten und nicht allzu nonnenhafte Töchter des mittleren Bürger- und Handwerkerstandes das Hauptkontingent lieferten. Von einem Nebenzimmer aus beobachtete Paul das ausgelassene Treiben, das an jene Bälle des Quartier latin erinnern konnte, die durch die Feder Paul de Kocks eine so drastische Weihe erhalten haben. Zu wiederholten Malen folgte der junge Kaufmann seinem ahnungslosen Nebenbuhler nach diesem zweideutigen Lokale, und die ganze Art und Weise, wie Heribert hier mit seinen Tänzerinnen verkehrte, befestigte bei Paul mehr und mehr die Überzeugung, daß der Leichtfuß überhaupt nur Thekla in seinen Bann gezogen hatte, um in ihren Armen die Ovidische ars amandi praktisch zu studieren. Der junge Kaufmann schwankte, wie er zur Rettung des arg bedrohten Mädchens seine Entdeckung verwerten solle; die kurze Abweisung, die ihm damals von Thekla zuteil geworden war, hatte ihn bitter gekränkt, und wäre seine Neigung keine so tiefe und ernste gewesen, so hätte er vielleicht das verblendete Mädchen einfach dem selbstgewollten Schicksal überlassen.
Noch sann der ehrenwerte junge Mann darüber nach, wie er die Sache anfassen sollte, als unerwartet die Lösung sich zeigte.
Es war an einem regnerischen Sonntagabend, als Paul, in die Lektüre eines Buches vertieft, in seinem Zimmer saß, das isoliert eine Etage höher lag, als die Wohnung seiner Wirtsleute. Diese waren ausgegangen, Thekla dagegen zu Hause geblieben. Des Lesens überdrüssig, klappte der junge Mann sein Buch zu und um seinen Gedanken ungestörter nachhängen zu können, blies er die Lampe aus. Eine Weile saß er so da, als er unten auf der Straße ein eigentümliches Pfeifen vernahm, das er als das Korpssignal der obern Gymnasialklassen kannte. Er dachte sofort an seinen Nebenbuhler und öffnete leise das Fenster. Im selben Moment ging auch schon ebenso behutsam in der untern Etage ein Fensterflügel auf, und Paul, vorsichtig sich vorbeugend, gewahrte den Kopf Theklas – zugleich unten auf dem Trottoir die so wohlbekannte Gestalt Heriberts. Das Fenster schloß sich wieder; gleich darauf knarrte aber unten eine Stubentür – ebenso rasch öffnete Paul die seinige und so hörte er, wie flinke Mädchenfüße die Treppe hinabflogen. Das Haus war in diesem Augenblick grabesstill und alle Gehörsnerven des oben sich über das Treppengeländer hinbeugenden Lauschers gespitzt; deutlich vernahm er den gedämpften Schall feueriger Küsse und wie ein Messer bohrte es sich in sein pochendes Herz. Das Pärchen stand im Hausgang und flüsterte jetzt mit einander, aus dem Ton der Stimmen aber konnte der ungebetene Horcher entnehmen, daß Heribert auf die Erfüllung irgend eines Wunsches drang, den das Mädchen dagegen zu verweigern schien, denn die Stimme des Versuchers klang immer gereizter und leidenschaftlicher. Mit einem Mal – Paul hatte das Gefühl, als gerinne das Blut in seinen Adern – wird die sich sträubende Jungfrau von stärkerer Kraft stufenweise die Treppe hinaufgedrängt, ihre bittende Stimme erstickt unter den wilden Küssen des lüsternen Werbers: noch ein letzter, ohnmächtiger Widerstand – – dann öffnet und schließt sich eine Tür und alles ist wieder still … Offenbar hatte Thekla dem Geliebten die Mitteilung gemacht, daß sie ganz allein in der Wohnung sei, die günstige Gelegenheit lockte den jungen Lüstling und seinem begehrlichen Ungestüm war es denn auch, wie wir sahen, gelungen, das halbbetäubte Mädchen fortzureißen.
Noch stand Paul wie gelähmt oben an der Treppe, sein Denkvermögen kehrte erst wieder, als er hörte, wie unten die Hand des verwegenen Eindringlings den Türriegel vorschob. Binnen zwei Sekunden stand er schon vor der Schwelle des Gemaches, worin jungfräuliche Unschuld frevlem Sinnenrausch geopfert werden sollte. Leises Weinen, das Geräusch eines verzweifelten Ringens drang in sein Ohr – – Wut und Schmerz zugleich bewegten den jungen Kaufmann, als er seine Hand schwer auf die Türklinke fallen ließ. Aus dem Zimmer gellte ein heller Angstschrei. »Machen Sie auf, Fräulein Thekla, ich beschwöre Sie!« keuchte Paul aus hochklopfender Brust. Nichts antwortete. »Ich beschwöre Sie, Thekla, bei allem, was Ihnen heilig ist!« wiederholte er seine erschütternde Mahnung. Es blieb still wie zuvor.
»So wende ich mich an Sie, Heribert Hilgard!« sprang er entschlossen über: »öffnen Sie sofort die Tür und entfernen Sie sich aus diesem Zimmer, in das Sie widerrechtlich eingedrungen sind!« Kein Laut regte sich. »Sie zwingen mich sonst zum äußersten Schritt!« drohte er nochmals: »Ich sprenge die Tür und bringe Sie wie einen gemeinen Dieb auf die Polizeiwache!«
Nochmals keine Antwort – nur das Wimmern des vor Schreck und Scham halbtoten Mädchens … Der junge Kaufmann besaß eine ungewöhnliche Muskelkraft die der Zorn noch verdoppelte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stemmte er seine breite Schulter wie einen Sturmbock gegen die Tür, die unter dem wuchtigen Druck krachend aus ihrem Gefüge sprang. Den sonst so gelassenen jungen Mann schien eine Art von Berserkerwut ergriffen zu haben, als er mit einem heisern Schrei in das Zimmer hineinstürzte – – an ihm vorbei huschte wie ein Gespensterschatten Thekla, um sich und ihre Schmach aus den Augen des zürnenden Wächters zu bringen.
Auf dem Tisch brannte die Lampe und beleuchtete den Nebenbuhler, der regungslos in einer Fensterbrüstung lehnte, leichenblaß, mit wildglühenden Augen. Furchtlos drang Paul auf den verhaßten Gegner ein, der sich seinerseits wie ein Tiger zum Sprung duckte. Im nächsten Moment schon hielten sich beide grimmig umschlungen – ein Prall der zwei Ringer schleuderte den Tisch um, die Lampe zersplitterte und erlosch. Im selben Moment schon vibriert durch die Finsternis der Aufschrei: »O Gott, ich bin gestochen!« Ein Körper taumelt zu Boden, der meuchlerische Sieger aber gewinnt die Tür und stürzt mit wilden Sätzen die Treppe hinab, zum Haus hinaus – hinter ihm drein, mit flatterndem Schlangenhaar, die Furien des Gewissens!
* * *
Um die achte Abendstunde war die Untat geschehen. Gegen Mitternacht schlich auf öden Nebenwegen ein dunkler Schatten sich nach der »Villa Arabella« hin. Es war Heribert. Ziellos war er bisher in den Feldern umher geirrt, im brennenden Gehirn nichts als die martervolle Frage: »Ist er tot, oder lebt er noch?« – – Jetzt wollte er, wie er es hinter dem Rücken von Vater und Tante schon so manche Nacht getan, den Gartenzaun übersteigen, das Nötigste zusammenraffen und dann die Flucht ergreifen. Wohin? Das wußte er selber nicht. Nur fort! Nur fort von der Blutstätte! Schwarz und grabesstill lag die Villa vor seinem schwindelnden Blick – nur die Fenster der väterlichen Studierstube erhellte noch ein matter Lichtschein. Pflegte ja der Alte in wissenschaftlicher Forschung die halben Nächte zu durchwachen!
Soeben setzte der unselige Jüngling den Fuß auf das Gittertor, um sich hinüberzuschwingen – da tauchen mit einem Mal links und rechts aus dem Buschwerk dunkle Gestalten auf, ein rauhes »Halt!« donnert in sein Ohr, und derbe Fäuste packen den scheuen Ankömmling. Die Wegelagerer entpuppten sich als ein Kriminalkommissar und zwei Polizeiagenten. Die Bluttat war natürlich sofort ruchbar geworden, und da sich vermuten ließ, der flüchtige Messerheld habe seine Schritte zunächst nach der Villa gelenkt, so war hier bald darauf der Kommissar eingetroffen, um, in Anbetracht des schweren Vergehens, die Verhaftung des Inkulpaten vorzunehmen. Den seelischen Aufruhr des Hofrats, das Jammern und Wehklagen der Tante Cordula mag sich der Leser selber ausmalen. Die Haussuchung des Kommissars erwies sich übrigens als fruchtlos, denn der Arrestant war einfach nicht zu finden. Unverrichteter Dinge wollte sich der Polizeibeamte entfernen, als ihn der Hausherr in sein Studierzimmer bescheiden ließ. Schon seit einiger Zeit hatte sich der Hofrat, jetzt ein Greis von siebzig Jahren, kränklich gefühlt, und so mußte die jähe Kunde von der Freveltat nur desto erschütternder auf den geschwächten Organismus einwirken. Als der Beamte in das Zimmer trat, erschrak er fast bei dem gespenstigen Anblick des in seinen Sessel gesunkenen Alten.
»Herr Kommissar,« redete er diesen in gewaltsamer Fassung an; »ist die Verwundung des jungen Mannes eine lebensgefährliche?«
»Unmittelbar ist sie es glücklicher Weise nicht,« erklärte der Beamte; »der Aussage des Arztes zufolge können aber noch allerlei pathologische Wendungen eintreten, die in indirekter Konsequenz das Leben des Patienten in Frage stellen.«
Der Hofrat nickte bestätigend mit dem Kopfe, dann sagte er kurzab:
»Herr Kommissar, ich habe nur eine einzige Bitte an Sie.«
»Herr Hofrat,« antwortete der Mann zögernd; »ich bin bereit, Ihrem Wunsche nachzukommen, sofern derselbe nicht gegen meine amtlichen Pflichten verstößt und mich in meinen weitern Recherchen nicht aufhält.«
»Nein! nein!« stieß der erregte Greis keuchend hervor; »meine Bitte bezweckt weder das eine, noch das andere … Ich weiß,« fuhr er nach einer Weile ruhiger fort, »daß Sie mein Haus unter Observanz stellen werden und diese Maßregel ist eine durchaus gebotene, denn aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte Er, wenn nicht inzwischen seine Verhaftung anderswo erfolgt, im Verlaufe der Nacht hier in meinem Hause ein Versteck, oder doch die Mittel zu seiner weitern Flucht suchen.« Die Augen des Alten funkelten in einem wilden Glanz. »Von meiner Seite aus, ich schwöre es Ihnen zu, Herr Kommissar, soll Er keine Hilfe zu erwarten haben, denn ich will, daß die volle Strenge des Gesetzes ihn trifft! Nur noch einmal möcht' ich ihm als Vater begegnen und darum hab' ich die Bitte: sollte Er, was ich glaube, sich heute nacht auf meinem Grund und Boden betreten lassen so würden Sie, Herr Kommissar, mich zum größten Dank verpflichten, wenn Sie, vor seiner Abführung ins Gefängnis, mir noch eine ganz kurze Unterredung mit Ihm gewähren wollten. Sie werden mich die ganze Nacht wach finden,« schloß er mit einem unheimlichen Lächeln.
»Die Szene,« bemerkte der Beamte ausweichend, »könnte Sie bei Ihrem leidenden Zustande nur noch mehr aufregen. Es wird jedenfalls besser sein, Herr Hofrat, wenn Sie sich ein paar Tage der Ruhe gönnen.«
In nervösem Ungestüm richtete sich der Greis aus seinem Sessel empor.
»Ruhe?!« spottete er mit einem schneidenden Auflachen; »o, ich bin ganz ruhig! Das sollen Sie, Herr Kommissar, sehen und hören, wenn Er hier erscheint.«
Der Beamte überlegte. In der Bitte des Hofrats lag, streng genommen, nichts, was gegen die Pflichten des Dienstes verstieß und – so geht es ja einmal in dieser Welt zu! – was der Kommissar einem schlichten Bürger vielleicht verweigert haben würde, das glaubte er hier einem so hochangesehenen, mit Titeln und Orden dekorierten Manne gewähren zu sollen. Mit einer höflichen Verbeugung wandte er sich dem Bittsteller zu. »Ich darf mich also darauf verlassen, Herr Hofrat, daß Sie meiner traurigen Mission in keinerlei Weise ein Hindernis bereiten, und daß Sie die Unterredung mit Ihrem Sohne auf den kürzesten Zeitraum beschränken werden?«
»Sie haben meinen Schwur!« antwortete der Greis mit eisiger Stimme.
Der Kommissar ging, um ohne Säumen seine weitern Maßnahmen zu treffen. Der Erfolg ist uns bekannt. Der Flüchtling hatte weder seinen Vater, noch den routinierten Polizeibeamten in ihren Voraussetzungen getäuscht. – –
Jetzt schritt, von seinen ungebetenen Begleitern eskortiert, der unselige Jüngling durch den geisterhaft im Nachtwind rauschenden Park, um in der nächsten Minute dem gegenüber zu stehen, der, nach seinen eigenen Worten, dem schuldbeladenen Sohne »nur noch einmal als Vater begegnen wollte«.
Die Wandlungen der Menschenseele sind oft ebenso jäh als rätselhaft.
Wie einen bebenden Kain hatte es bisher den jugendlichen Verbrecher im Felde umhergetrieben – und jetzt, wo die eiserne Hand des Gesetzes ihn festhielt, war mit einem Mal jede Angst von ihm gewichen und stumm, mit finsterm Trotze, schritt er den Weg entlang. In Erwartung des Besuches hatte der Hausherr die bissigen Hofhunde einsperren lassen; und so erreichten die Polizisten mit ihrem Gefangenen unbehelligt die Villa. Bevor der Kommissar den Hofrat verlassen hatte, war er bedacht gewesen, mit kundigem Blick den Schauplatz der Konfrontation zu prüfen. Das Studierzimmer hatte keine Zwischentüren, sondern nur einen einzigen Ausgang in eine Vorderstube; wenn also der Kommissar seine beiden Untergebenen draußen im Garten vor die Fenster postierte und er selber in der Vorderstube blieb, so waren damit all die nötigen Sicherheitsvorschriften erfüllt, und da außerdem auch noch die ganze Haltung des Hofrats jeden Gedanken an eine etwaige Fluchtunterstützung ausschloß, so konnte sich der bei aller Pflichtstrenge taktvolle Polizeibeamte mindestens die Notwendigkeit ersparen, Augenzeuge bei der peinlichen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn sein zu müssen. Wachend saß der Hofrat in seinem Sessel, als, von dem Beamten schonungsvoll vorwärts geschoben, Heribert stumm und bleich in das Zimmer trat. Die Uhr deutete auf die Mitternachtsstunde.
Ohne den mit Blut und Schmutz befleckten Ankömmling zu beachten, wandte sich der Alte nach dem Kommissar hin, um diesem seinen Dank auszusprechen – doch der humane Beamte hatte sich schon zurückgezogen und diskret die Tür geschlossen. Drinnen blieb es noch einen Moment still, dann begann der Hofrat zu reden – – aber nicht zum verirrten, sondern zum schon verlorenen Kinde. Wieviel an diesem verhängnisvollen Messerstich er selber schuld trug, das kam dem greisen Pharisäer nicht in den Sinn; drum konnten jetzt auch seine Worte nur reizen, nicht heilsam zerknirschen. Mit verächtlichem Lächeln – der Kommissar beobachtete es durch das Schlüsselloch – stand der Jüngling dem herz- und lieblosen Alten gegenüber, der sich den Gefangenen nur hatte vorführen lassen, um ihn mit giftigen Sarkasmen zu überschütten.
Mit einem Ruck, so zu sagen, schleuderte aber die schöne, schlanke Jünglingsgestalt die bisherige stummtrotzige Marmorruhe von sich, als der geifernde Greis begann vor dem Sohne auch das Andenken der heimgegangenen Mutter zu entweihen.
»Dein Spott wird ihr zur Ehrenkrone!« sprach mit tränenglänzenden Augen der Gefangene, und über sein bleiches, edelgeformtes Antlitz, das die langen schwarzen Locken umwallten, flammte ein flüchtiges Rot: »wenn meine Mutter im Strudel des Vergnügens das suchte, was sie in deinem eigenen versteinerten Herzen nicht finden konnte, so klage nicht sie an, sondern dich selber! Ich kann nicht wissen, zu was sie mich erzogen hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre – soviel aber weiß ich wenigstens, daß sie mich bis zu ihrem Tode als Mutter geliebt hat, während du mir von meiner Kindheit an nur dem Namen nach Vater gewesen bist!«
Ein dämonisches Lachen gellte über die Lippen des Alten. »Nur dem Namen nach? Junge, weißt du überhaupt, ob ich dir gegenüber mehr bin als Papa honoris causa?« Und abermals lachte er in satanischem Humor hell auf. »Schade, daß ich dir nicht sagen kann, was aus dem Busenfreunde deiner Frau Mutter geworden ist! Der könnte dir die beste Auskunft erteilen und dich zugleich, wenn du aus dem Gefängnis herauskommst, zu einem lustigen Dragoner zurechtstutzen! Hauen und stechen kannst du ja schon – – –«
Mit einem Mal brach die spottende Stimme ab – der dumpfe Fall eines Körpers – dann ein zitterndes Stöhnen. Schon stand mit einem Sprung der Kommissar im Zimmer. Regungslos, die Arme über die Brust gekreuzt, stand der Jüngling in der Mitte des Gemaches, und, als hätten die beiden ihre Rollen gewechselt, so war es jetzt der Sohn, der mit erbarmungslosem Hohn auf den am Boden sich windenden Greis herabblickte. Was der Kommissar befürchtet hatte, war eingetroffen: die unerquickliche Szene konnte den gallsüchtigen Alten nur noch überreizen, und jetzt hatte sich der körperlich-seelische Aufruhr in einem apoplektischen Eruption entladen. Der Polizeibeamte mußte besorgen, daß ein längeres Verweilen ihm allerlei Ungelegenheiten zuziehen könne; mit einem leisen Pfiff rief er seine beiden im Garten postierten Untergebenen herein, und der Hofrat ward zunächst auf das Sofa gelegt. Um jeden unliebsamen Auftritt zu vermeiden, mußte vor allen Dingen der Gefangene abgeführt werden, einer der beiden Polizei-Agenten dagegen sollte zurückbleiben, die Dienerschaft des Hauses wecken und dann den nächst wohnenden Arzt aus den Federn trommeln.
Wortlos, ohne dem widernatürlichen Vater nur einen Blick zu gönnen, folgte der Jüngling seinen Führern nach der Polizeiwache. – – –
In der Villa Arabella herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Der Arzt war eingetroffen, und seine ganze Autorität hatte er aufbieten müssen, um wenigstens Cordula zu entfernen, die mit ihrem ungemessenen Jammer die Verwirrung nur noch vergrößerte. Der Schlaganfall war, wie die Untersuchung ergab, ein leichter gewesen, überhaupt mehr ein Schwindel, als eine eigentliche apoplektische Erscheinung. Ein Aderlaß hob vorläufig die nächstliegende Gefahr.
So verging die Schreckensnacht; ihr folgte ein trostloser Tag. In ihrem Kämmerchen weinte sich vor Schmerz und Scham Thekla schier die schönen blauen Augen blind. Im Krankenhause lag Paul mit seiner nicht unbedenklichen Stichwunde in der Brust. Vor dem Untersuchungsrichter bestand Heribert sein erstes Verhör. Droben in der Villa Arabella brütete, inzwischen zum Bewußtsein zurückgebracht, der greise Patient in einer stumpfen Apathie und an seinem Lager saß Cordula mit rotverschwollenen Augen, die keine Träne mehr spenden konnten.
So ward es wiederum Abend – dann Nacht. Auch gegen seine Schwester führte schon seit Jahren der Hofrat einen Ton, der jede Widerrede unbedingt ausschloß. So gehorchte, trotz ihrem innern Widerstreben, auch diesmal Cordula, als gegen die zehnte Nachtstunde hin der Bruder ihr gebot, sie solle sich zur Ruhe begeben, denn auch er gedenke einen guten Schlaf zu tun. Mit dem Vorsatz, in der Nacht öfters Umschau zu halten, zog sich die Schwester in eines der angrenzenden Zimmer zurück. Die vorausgegangene ruhelose Nacht und der Trubel des Tages hatten die gute Dame abgespannt, und trotz ihres Entschlusses, wach zu bleiben, erging es ihr wie weiland den Jüngern am Ölberg: sie nickte auf ihrem Polsterstuhle ein. Mit einem Mal – schon begrüßten draußen auf der alten Linde die Sperlinge mit ihrem Zirpen den herandämmernden Morgen – fuhr Cordula aus ihrem Halbschlafe empor. War es Traum oder Wirklichkeit gewesen, daß ihr Ohr einen Ton vernommen hatte wie ein röchelndes Ächzen? In der nächsten Sekunde schon stand sie auf den Füßen, und, die Lampe aufraffend, eilte sie nach dem Krankenzimmer hinüber …
Der gellende Schrei einer Frauenstimme schrillte durch das stille Haus!!!
Mägde und Diener stürzten aus ihren Betten und kamen halbnackt herbeigelaufen. Auf der Schwelle des Krankenzimmers fanden sie Cordula ohnmächtig hingestreckt; im Zimmer aber – den Leuten sträubte sich vor Grauen das Haar auf dem Kopfe – gewahrten sie die lange, hagere Gestalt des Hausherrn, mit nichts als dem Hemde bekleidet und regunglos über die Lehne eines Sessels hingebogen. Bebend trat das Gesinde näher. An der Wand hing in pompösen Goldrahmen das Ölgemälde der Rätin. Gleich an ihrem Todestage hatte der Alte das Bild mit einem schwarzen Flor umhüllt, und so war es seitdem geblieben. Jetzt war der Flor herabgerissen – herabgerissen, denn ein Fetzen hing noch an einer Eckkante des Rahmens. Die Körperhaltung des Hofrats erklärte den Rest.
Er hatte sich von seinem Bette erhoben, mit unnatürlicher Kraft den Flor heruntergezerrt und sich dann in dem Sessel vor dem Bilde niedergesetzt, denn die Nachtlampe war so gestellt, daß sie das Gemälde hell beleuchtete. Mochte es nun Atembeklemmung oder sonst ein körperlicher Zwang sein, mochte er seine seltsame Schaulust befriedigt haben – genug, er hatte sich von dem Sessel erhoben: im selben Moment aber verließen ihn offenbar die Kräfte und nach einem Halt greifend, war er über die Lehne des Sessels hingesunken. Halb stehend, halb knieend – in dieser Positur hatte ihn jetzt die alarmierte Dienerschaft vorgefunden. Eine grauenhafte Szene! Dort an der Wand das Frauenbild blühend in olympischer Schönheit, mit den großen dunkeln Augen geisterhaft auf den erbarmungslosen Greis herabblickend, der vielleicht noch wenige Minuten zuvor ihre Todesruhe gestört hatte. Und hier, nach dem junonischen Frauenbilde hinübergrinsend, der unheimliche Alte, den Mund hämisch verzogen wie zu einer giftigen Lästerung, in den halbgebrochenen, grünen, runden Eulenaugen noch, wie die letzten Zuckungen eines Wetterleuchtens, den Ausdruck diabolischen Hohnes und Hasses. Wahrlich, man durfte diesem gespenstigen Satyrkopfe als letztes Wort das ätzende Bonmot in den Mund legen, das vor Jahren einmal seiner Feder, nicht seinen Lippen, enttröpfelt war. Bald nach dem Tode der Rätin hatte nämlich eines Tages Cordula in dem bisher unbeachteten Schubfache eines Schreibpultes ein Päckchen Briefe entdeckt, die sie ohne weitere Prüfung ihrem Bruder einhändigte. Es waren Briefe, die der Major an die Rätin geschrieben hatte, und die, ohne das Paar eigentlich zu kompromittieren, doch immerhin einen sehr hohen Grad von Vertraulichkeit konstatierten.
Schweigend packte der Hofrat die verräterischen Blätter zusammen und adressierte sie an den Major. Auf den Umschlag hatte der Alte nichts geschrieben, als die lakonische Bemerkung: » ad majorem gloriam« …
Mittlerweile waren die Dienstleute Schritt um Schritt näher gerückt, und das beherzteste unter ihnen faßte jetzt den immer noch regungslosen Hausherrn an. Der Greis rührte kein Glied: um es kurz zu sagen, er war tot.
Ein Herzschlag hatte ihn getötet.
In seinen Schriften und Vorlesungen hatte sich der Alte stets frank und frei als Atheist bekannt und mit eminentem Scharfsinn die Fortdauer der Seele nach dem Tode negiert. Ihm war das Sterben das Platzen einer Blase und Zerrinnen in das blanke Nichts. Seine Lebensgefährtin dagegen, wie wir wissen, hatte ein Wiedersehen erhofft – allerdings ein Wiedersehen mit Vorbehalt.
»Der Tod entbindet von erzwung'nen Pflichten,« tröstet uns ein Dichter, und so mag wohl sein Wort auch die entschwebende Frauenseele umklungen haben wie ein Hallelujah der Erlösung …
Hier liegen die Toten und lügen die Lebenden.« So schrieb einmal ein Spaßvogel an ein Kirchhofstor, und er hätte es gleich an alle schreiben sollen, denn tatsächlich wird ja der Wahrheit nirgends weniger die Ehre gegeben, als in der bombastischen Phrasendrescherei mancher Grabschriften. Unter der Redaktion Cordulas, der guten Seele, meißelte der Steinmetz eine langatmige Rührmichelei in den Marmorblock, der die irdische Hülle des »liebevollen Gatten und Vaters« deckte. Und um dem »Humor des Unbewußten« die letzte Würze zu geben, so verschlangen sich auf der Rückseite des Steines zwei dickvergoldete Hände zu einem zärtlichen Druck, den ein beigefügter salbungsvoller Bibelspruch ausführlich erläuterte.
Villa Arabella – du Stätte eines an das antike Fatum gemahnenden Verhängnisses, auch für dich klagt das schwermütige Dichterwort:
O! wenn ein Haus im Feuer soll vergeh'n,
Dann treibt der Himmel sein Gewölk zusammen;
Es schießt der Blitz herab aus heitern Höh'n,
Aus unterirdschen Schlünden züngeln Flammen –
Blindwütend schleudert selbst der Gott der Freude
Den Pechkranz in das brennende Gebäude!