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An demselben Tage, um zehn Uhr morgens, traten in einer Straße Prags zwei schwarzgekleidete Damen, die eine etwa fünfundvierzig, die andere zwanzig Jahre alt, aus einem Hause, in der Absicht, wie die Bücher in ihren Händen andeuteten, nach der Kirche zu gehen und ihre Andacht zu verrichten.
Obwohl der tiefe Ernst in ihren Mienen ihren Trauerkleidern sehr entsprach, so war doch auch nicht zu verkennen, dass ein milder erquickender Schimmer innerer Freudigkeit über ihrem Antlitz lag.
Ein junger Mann in preußischer Leutnants-Uniform begleitete die Damen, und als hätte er kürzlich ganz dieselben Leiden und dieselben Freuden erlebt sprach Ernst, und stille Freudigkeit aus seien Mienen.
»Es sind die schönsten Wege, die wir scheidend gehen«, sagte der junge Mann, indem sie eine Straße rechts einbogen – »Sie nach der Kirche, ich auf das Schlachtfeld. Sie unterstützen die gute Sache mit heiligen Worten und Seufzern, ich führe das Schwert, und Deutschland ist es, das wir alle retten wollen.«
»Wir wollen den Himmel bitten«, erwiderte die ältere Dame, »dass er, wenn es möglich ist, Sie uns zum Troste leben lasse, nachdem uns ja ein großes Opfer schon entrissen ist. Sie werde Ihre Pflicht tun, Otto, wir sind es überzeugt; aber suchen Sie den Tod nicht ohne Hot, hüten Sie sich vor dem düster-schwärmenden Gedanken, als wären Sie dem Freunde, der einmal dahin ist, mit Ihrem Leben eine Sühne schuldig.«
»Ich will Vaterland und Ehre in jeder Lage zu Rate ziehen, ihr Wink allein entscheide über Leben und Tod. Dass ich den Freund uns nicht erwecken kann, und wenn ich tausend Leben zu vergeben hätte, dies muss ich mir leider sagen, und so ist mir das Leben Pflicht, wo es mit Ehren erhalten werden kann.«
»Wir scheiden ruhiger, Otto, da Sie uns zum Abschied dieses sagen«, sprach die jüngere Dame – »denn ich will es nur bekennen, dass ich befürchtet habe, Sie würden den Tod ohne Not suchen, da Ihnen das Leben so vieles Schmerzliche gebracht.«
Unter solchen und ähnlichen Gesprächen war man bald genug vor dem Portal der Kirche angekommen, und der junge Offizier reichte den Damen die Hand zum Abschied, indem er sagte:
»Und nun kein Wort des Schmerzes und der Sorge mehr; wir wollen scheiden, als wenn es sich nur um kurze Trennung handelte, der ein frohes Wiedersehen folgen muss … Leben Sie wohl, Mutter Vollwarth und geben Sie mir die Versicherung auf meine Reise mit, dass ich Sie künftig noch immer so nennen dürfe.«
Die ältere Dame reichte ihm die Hand und sagt mit einer Träne im Auge:
»Gut, gut, mein Sohn – leben Sie wohl und denken Sie auch im Getümmel der Schlacht ein wenig unser!«
»Leben Sie wohl – Schwester!« sagte der Offizier zu der jüngeren Dame. – »Bezeichne uns diese Wort in Zukunft, wie sehr wir uns immer noch ehren und verehren dürfen!«
»Es sei, es sei«, erwiderte die Angeredete mit stillem Weinen: – »Einige Blumen habe ich einst unserem Freunde mitgegeben, als er Abschied nahm, und ich ahnte, dass er sein Leben wagen könne; er ist nicht zurückgekehrt – Blumen welken und Menschen sterben; nehmen Sie ein anderes Andenken mit: dies kleine Bildnis Ihrer Schwester und lassen Sie sich durch diesen Blick erinnern, wie sehr er Ihren Schritten folgt, um zu bitten, dass keiner den Untergang mutwillig suche!«
»Ich will's zu Herzen nehmen!« rief Otto Jeneveldt, mit stürmischen Gefühlen Mathildes Hand ergreifend und küssend – dann kehrte er sich schnell hinweg, rief: »Lebt wohl! Lebt wohl!« und eilte fort, indem die Damen in die Kirche traten …
Otto Jeneveldt befand sich seit länger als drei Monaten in dem Korps des preußischen Generals Kleist, das einen Teil der verbündeten Hauptarmee ausmachte.
Er hatte am 26. August die Schlacht bei Dresden gegen Napoleon mit gefochten und ward hierauf in der Schlacht bei Kulm, wo der verfolgende Vandamme vernichtet wurde, verwundet.
Während er in Teplitz seine Wunde pflegen ließ, erfuhr er, dass Frau von Vollwarth und ihre Tochter sich der Kriegsbegebenheiten halber von Dresden nach Prag zurückgezogen hätten, wo sie in aller Stille den Ausgang der Dinge abwarteten.
Er beschloss auf diese Kunde hin, sobald seine Wunde es erlauben würde, die Reise nach Prag zu machen und die beiden Damen, seit mehr als einem Jahre und nach den erschütterndsten Erlebnissen, zum ersten Male wieder zu sehen. Er hatte den Damen schon nach Dresden früher einmal geschrieben, dass er von seinem Fieber genesen und dass er endlich über alle Verhältnisse und Geheimnisse aufgeklärt sei, es war dies jener Brief, dessen der Professor Ernst in seinem Berichte an Friedrich Erbacher Erwähnung getan.
Jener Brief hatte nun zwar bei allem Schmerz über den Verlust des Freundes und der Geliebten zugleich dargetan, wie sehr er bestrebt sein wolle, sein Herz mit der Zeit zu einer erwünschten Resignation zu vermögen, aber über das, was sein noch heftig bewegtes Gemüt zunächst doch verzweiflungsvoll vorhaben könnte, ließ er sich offenbar mit Absicht nicht vernehmen.
Gleichsam lächelnd, aber mit dunkler Dissonanz brach sein Brief am Schlusse ab, und es war die einzige Andeutung, die er fallen ließ, dass er eine Stelle wisse, wo sich irdisches Leid und überirdischer Trost wohltuend die Hände reichten; dahin wolle er eilen und sage Lebewohl für lange!
Er wollte auf dem Schlachtfeld sterben, und so bald als möglich, das war zunächst seine Absicht gewesen.
Otto wusste, dass sein Vater mit dem General von Kleist vor Zeiten in guter Bekanntschaft gelebt hatte, es führte ihn daher sein nächster Weg zu diesem, um sich unter seinem Kommando um das Vaterland verdient zu machen, während er mit Begierde den Tod suchte.
Der längere Waffenstillsten und die Bemühungen, den Frieden herbei zu führen, mäßigten Ottos erstes Feuer des Schmerzes insofern etwas, dass er über Vergangenes und Gegenwärtiges ruhiger und klarer denken und empfinden lernte, indem er nun die Leiden und Opfer des Freundes und die Kämpfe Mathildes näher ins Auge fasste, konnte es ihm wahrlich nicht entgehen, dass jener Teil des Schmerzes, der bei den traurigen Verwicklungen auf ihn entfallen war, gewiss nicht der größte gewesen. Namentlich leuchtete seit lange in der Nacht seiner Leiden ein so lieblicher Stern des Trostes herein, dass er sich nicht verbergen konnte, wenn ihm trotzdem noch eine Zukunft lieb und wert erscheinen solle, sie nur im Lichte dieses sanften Gestirnes erscheinen konnte.
Und dieser holde Stern?
Es war das Bild Alines.
Kurz vor der Schlacht bei Dresden war es daher, dass Otto wieder nach allen Seiten Nachrichten von sich gab. Auch der Frau von Vollwarth und ihrer Tochter schrieb er wieder und vervollständigte, was er in dem ersten Briefe dunkel gelassen hatte.
Die Schlacht bei Dresden und die von Kulm folgten hierauf.
In letzterer war es, wo General Kleist von Nollendorf herab den Franzosen plötzlich in den Rücken kam und ihre Niederlage, welche durch Colloredos Ankunft mit den Österreichern bereits vorbereitet war, vollkommen herbeiführte.
Nachdem Otto, leicht verwundet und für einige Zeit zum Dienste untauglich, in Teplitz zugebracht hatte, führte er endlich gegen Ende September seine Reise nach Prag aus, um seine ehemalige Braut und deren Mutter wieder zu sehen.
Es sollte die stillschweigende letzte Prüfung sein, ob sein Herz wirklich und für immer auf den Besitz Mathildes verzichten könne.
Das Wiedersehen war, wie sich denken lässt, für alle drei erschütternd genug; aber, wie einverstanden, fühlten in den ersten Augenblicken alle, dass der Schmerz um den verlorenen Freund, über dessen letztes Schicksal sie noch nicht aufgeklärt waren, ihnen am meisten zu schaffen mache.
Otto lebte nun acht Tage in der Nähe der beiden Damen, man sah sich täglich, man war unzertrennlich, man wagte endlich über alles bestimmt und ausführlich zu reden, und Otto durfte sich endlich, als er Abschied nahm, sagen, dass die Wunde, welche ihm der Schmerz der Liebe beigebracht, heilbar sei, wie die Wunde, welche ihm der Feind des Vaterlandes geschlagen.
Die Hauptarmee der Verbündeten traf er indessen weit aus Böhmen nach Schlesien vorgerückt.
Sie drang über Altenburg, Frohburg und Gera gegen Leipzig vor, während die Reservearmee bei Dresden, das Nordheer in und um Dessau, die schlesische Armee auf den linken Muldeufer, bei Zörbig und Raguhr, standen.
Napoleon hatte dagegen sein Hauptquartier in Düben, von wo er bedeutende Demonstrationen über Wittenberg und Dessau nach Berlin machte, um Blücher und den Kronprinzen von Schweden zur Rückkehr auf das rechte Elbufer zu vermögen und dann umzukehren und das vereinzelte Hauptheer zu schlagen.
Dies gelang ihm nicht.
Vielmehr drängte alles nach und nach zu einer entscheidenden gemeinsamen Hauptschlacht hin, welche endlich zwischen Napoleon und den Verbündeten vom 16. Bis zum 19. Oktober geschlagen ward und für ersteren verloren ging; sie heißt die große Völkerschlacht bei Leipzig und entschied die Befreiung Deutschlands von der Herrschaft der Franzosen …
Am ersten Tage nach der Schlacht war's, als in der Nähe eines kleinen, halb zur Ruine geschossenen Hauses am östlichen Ende von Leipzig, drei deutsche Offiziere sich umarmten und sich wohl Glück wünschen durften, dass sie sich, nachdem in dieser Schlacht von beiden Seiten nahezu an 90 000 Mann getötet und verwundet worden waren, noch wohlauf und ohne Wunden wiedersahen.
Es waren die Majore Ernst und Jeneveldt und des Letzteren Sohn Otto.
Was sie sich aber auch zu sagen hatten, wie sehr sie auch erfreut und bewegt waren – alles das trat zurück gegen den Eindruck, den es auf die Männer machte, als hierauf in einiger Entfernung von ihnen ein vierter, junger Offizier zu Pferde erschien, absprang, das Pferd an den Stamm eines halb verbrannten Birnbaumes band und endlich auf die zukam.
Wir wollen nicht schildern, was Professor Ernst empfand, als er in dem jungen Offizier – Friedrich Erbacher erkannte; auch wollen wir uns nicht bei der außerordentlichen Bewegung aufhalten, die den alten Jeneveldt durchtobte, als er in dem Offizier »seinen Fritz« wieder sah; allein die unbeschreibliche Verwirrung, das stumme Erstaunen, der Schreck, das seltsame Verstummen der Lippen und zugleich das Sprechen aller Mienen Ottos war einer näheren Betrachtung wert, als er den tot geglaubten Freund auf einmal lebend, zwar bewegt, aber doch frisch und munter auf sich zukommen sah.
So sehr auch Fritz Erbacher, wie von neuem Leben erblüht und kräftiger als je vor ihm stand, so glaubte doch Otto unbestreitbar ein Gespenst, eine bloße Erscheinung seines verstorbenen Freundes zu sehen; er wich sogar vor der Umarmung desselben im ersten Augenblicke einen Schritt zurück, bis ihn endlich die liebevolle Stimme des Freundes, die Erklärungen des Vaters und des Professors überzeugten, dass er nicht träume, dass er keine bloße Erscheinung sehe.
Nun endlich – da freilich – gewann das Gefühl der Freude, des Entzückens allein in seinem Herzen Platz, und ein Schrei tiefster Brust begleitete die nun folgende Umarmung; er musste weit mehr als jede andere Begrüßung ausdrücken, wie hier ein Glück gefeiert wurde, so groß und größer noch als das Glück der Siegesfreude, das von Leipzigs Fluren über Deutschland sich verbreitete …
*
Napoleon ging nach der Schlacht von Leipzig nach Paris, um ein neues Heer zu schaffen.
Schon im Januar 1814 rückte er auch wieder gegen den Feind.
Doch war er nun von allen Seiten mit großer Übermacht bedrängt. Wellington, der inzwischen im Verein mit den Spaniern die Franzosen bei Salamanca und Vittoria geschlagen hatte, stand nun diesseits der Pyrenäen; Holland war von Preußen erobert, und die große alliierte Armee drang bei Kaub und Basel, den Rhein überschreitend, auf ihn ein.
Der Kongress von Chatillon suchte vergebens den Frieden zu vermitteln; während desselben dauerten die Feindseligkeiten fort.
Verzweiflungsvoll wehrte sich Napoleon mit höchst geringen Kräften bei Brienne, Areis usw., er schlug Blücher bei Montmirail undglaubte die Allierten durch Operationen in ihrem Rücken zum Rückzug zu verleiten.
Aber statt zurückzugehen, marschierten diese geradezu auf Paris, wo sie nach einer gewonnenen Schlacht am 31. März als Sieger einzogen.
Zu spät hatte Napoleon seinen Irrtum eingesehen und war umgekehrt.
In Fontainebleau ereilte ihn die Nachricht von der Kapitulation von Paris.
Verzweifelnd gab er nun alles auf, benützte selbst die noch vorhandenen Hilfsmittel nicht und unterzeichnete am 12. April seine Thronentsetzung mit dem einzigen Vorbehalt der Souveränität über die Insel Elba und gewisser Jahressummen, die ihm und seiner Familie künftig sollten ausbezahlt werden.
Am 28. April 1814 schiffte er sich nach der Insel Elba ein …
Es genügt, in solcher Kürze hier die auf die Schlacht von Leipzig folgenden Ereignisse auf dem Felde der Politik und des Krieges zu erwähnen; bemerkt sei hierzu nur noch, dass unsere Freunde alle den Feldzug noch ununterbrochen mitgemacht haben.
Erst jetzt, nachdem diplomatische Verhandlungen statt der Schwerter die Weltangelegenheiten zu ordnen begannen, nahmen sie bis auf Weiteres Urlaub und eilten heimwärts zu den lange nicht gesehenen Teuren, die von Zeit zu Zeit nur kurz und brieflich von ihrem Aufenthalte und Befinden Nachricht erhalten hatten.