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Siebentes Kapitel.
Drei Rosen. Lieder der Gefangenen. Vergessen!

Diese schönen Tage der Gefangenschaft sollten von nun an bald ein Ende haben.

Die Truppendurchmärsche waren für lange Zeit hin wenigstens in dieser Richtung unterbrochen, und als letzter Kommandant der Festung blieb wieder en dem Fürsten von Eckmühl durchaus ergebener französischer Offizier zurück.

Dieser ließ zwar nach seinem Amtsantritt Otto scheinbar eine gleiche Gunst der Behandlung angedeihen wie seine Vorgänger, verlängerte sogar die Zeit der täglichen Spaziergänge im Vorhofe um eine halbe Stunde, verkehrte selber oft mit dem Gefangenen und ließ es nicht an Artigkeit im Benehmen fehlen.

Eines Tages ging der Adjutant des Kommandanten um die gewöhnliche Nachmittagsstunde mit Otto im Hofe spazieren und lenkte, wiewohl etwas zart anrührend, das Gespräch auf dessen Gefangenschaft und auf den wahrscheinlichen Ausgang des Prozesses.

Aus der ganzen Art der Fragen und Andeutungen ging hervor, dass der Offizier in höherem Auftrage dies Kapitel zur Sprache bringe und dass Otto leider auf das Ärgste gefasst sein müsse.

Otto hatte einem solchen Ausgang des Prozesses schon so oft fest in das Auge gesehen, dass er mit großer Fassung diese Unterredung bestand.

»Man hat die Macht, mit mir zu verfahren«, sagte er, »ob man gerecht sein will, das ist eine andere Frage. Ich bin des Todes nicht schuldig, aber ich werde mit Fassung sterben.«

Der Offizier schwieg eine Weile, dann warf er die flüchtige Bemerkung hin, dass vielleicht ein Gnadengesuch bei Seiner Majestät von Frankreich den schlimmsten Schwierigkeiten ein Ende machen könnte.

Otto erwiderte:

»Ich kann Seiner Majestät von Frankreich nicht abbitten, was ich nicht gegen sie verbrochen habe. Ein Bienenstock, dem man leicht verzeihliche Gefühle und Gedanken eines deutschen Jünglings anvertraut, ist kein gefährliches Werkzeug, um Frankreichs Macht in Deutschland zu schwächen oder zu brechen.«

Hiermit hatte die Unterredung ein Ende.

Otto wurde in seine Zelle zurückgebracht, und von jetzt an wurden ihm wieder alle Vergünstigungen entzogen, welche ihm seit einigen Wochen die Gefangenschaft erleichtert hatten.

Er bekam kein Buch mehr zum Lesen und Studieren; es wurden ihm alle Schreibmaterialien wieder fortgenommen; der Briefwechsel mit Vater und Mutter durfte nicht länger unterhalten werden; auch die Spaziergänge im Freien hörten auf.

»Meine Tage sind gezählt«, rief Otto mit wehmütigem Lächeln, als er diese Vorzeichen sah: »Nun, Andreas Hofer, ich soll Dein Schicksal teilen – verzeih, wenn ich nichts getan habe, was Dich Helden ausgezeichnet hat; aber ich fühle etwas von Deinem Herzen in mir, lass mich durch mein Schicksal Deiner Genossenschaft würdig werden!«

Otto erwartete nun stündlich, dass ihm sein Urteil werde vorgelesen werden, er wünschte in der Tat, es möchte nun alles, da es einmal beschlossen sei, rasch zu Ende gehen.

»Mein ganzes Wesen ist jetzt doch voll jenes Schwunges, der den Tod erleichtert, ja mit Heiterkeit ertragen lässt«, dachte er, »also werde rasch gerichtet und rasch von diesem Dasein Abschied genommen!«

Aber dieser Wunsch sollte ihm nicht so bald in Erfüllung gehen.

Trotzdem er aus vielen Zeichen bestimmt entnahm, dass sein Tod beschlossen sei, verging doch Tag um Tag, Woche um Woche, ohne dass ihm sein Urteil förmlich verkündigt und die Stunde seines Todes angesagt wurde.

Ja, ein voller Monat ging noch ferner in vergeblichen Erwartungen dahin, die Spinnen vollendeten inzwischen von oben bis unten ihr Netz am Fenstergitter, und Ottos schwungvolle Stimmung machte nach und nach einer Abspannung, ja einem fast gleichgültigen Dahinträumen Platz.

Oft, wenn er in Gedanken mit der Hand um sein Kinn fuhr oder wenn er unvermutet in einer Fensterscheibe sein Bild erblickte, erschrak er vor sich selber, denn sein Bar wurde länger und länger und schien auf die leis unmerkliche Verwilderung hinzudeuten, welche auch die Seele des Menschen in der Einsamkeit, in Gram und ungewissen Erwartungen, mit der Zeit verfalle.

»Es ist gut«, dachte Otto, »dass meine Teuren alle so strenge von mir fern gehalten werden; bin ich einmal dahin, so wird meine Bild wie aus besseren Tagen in ihrem Angedenken leben; mein gegenwärtiges Bild würde ihnen nur das Herz zerreißen und künftig ihren Gram nur mehr verdüstern.«

In solchen Gedanken saß Otto eines Morgens auf seiner nun wieder zum förmlichen Strohlager gewordenen Ruhestätte, als sich ein unterirdisches Geräusch vernehmen ließ, die Falltüre aufgehoben wurde und der Gefangenenwärter allein hereintrat; er übergab mit einer gewissen geheimnisvollen Hast dem Gefangenen drei Rosen, sagte nur: »Heut' ist Johannistag!« und entfernte sich eilig wieder, ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen.

Otto war beim Anblick des duftigen Blumengeschenkes von Gefühlen überwältigt.

»Heut' ist Johannistag!«

Was bedeutete dieser Gruß? Von wem kam er? Wer war es, der an diesem Tage seiner so zart gedachte, der sich von unsäglichen Schwierigkeiten nicht abschrecken ließ, bis in die Zelle des Verurteilten mit diesem rührenden Geschenke vorzudringen?

Aber er konnte nicht einmal die Frage nach dem geheimnisvollen Geber aussprechen, so schnell war der Gefangenenwärter wieder verschwunden.

Otto ergriff mit beiden Händen die drei prachtvollen Rosen, hielt sie zitternd empor und rief mit Schmerz und Entzücken:

»Mutter, Mutter! Kommt dieses Zeichen von Dir? Weilest Du in den Straßen dieser Stadt – bist Du bis in die Mauern dieser Festung gedrungen, und haben Deine Tränen sich durch alle Hindernisse Bahn gebrochen, damit ich wenigstens dies Geschenk aus Deinen bebenden Händen erhalte? Oder soll ich beim Anblick dieser Blumen Deines lieben, glühenden Herzens gedenken, Mathilde, teure Braut?«

Er sank auf sein Lager zurück, legte sich die Blumen auf die Brust und bedeckte sein Angesicht mit beiden Händen.

Die Bewegung seines Herzens sollte in den nächsten Tagen einen neuen, nicht unwichtigen Anstoß erhalten.

Bisher hatte Otto aus den Nachbarzellen kein Lebenszeichen von anderen Gefangenen vernommen; nun sollte es an solchen Lebenszeichen für einige Zeit nicht fehlen.

Denn eines trüben, schwermütigen Abends ließ sich ganz unerwartet aus einer Nachbarzelle eine Flöte vernehmen, welche allerlei bekannte Liederweisen mit Fertigkeit und schönem Ausdruck spielte.

Nach der Wahl dieser Lieder zu schließen, schien der Spieler viel Trost im Unglücke, wahrscheinlich auch viel Hoffnung auf baldige Erlösung zu haben; seine häufige Zuflucht nahm er voll Vertrauen zu Gott.

Doch war der Spieler nicht der einzige Bewohner jener Zelle, denn sooft die Flöte eine bekannte Melodie anstimmte, fingen auch zwei Männerstimmen in derselben Zelle an mitzusingen, und zwar so schön und rührend, dass Otto im Verlaufe dieser wundersamen Vorträge nicht selten tief ergriffen wurde.

Dies war namentlich am nächsten Morgen, einem stillen, feierlichen Sonntagmorgen, der Fall.

Denn da wurde Otto sehr frühe, als der Tag noch kaum graute, von der Flöte und den zwei Sängerstimmen geweckt, welche das bekannte schöne Lied vertrugen: »Wach' auf, mein Herz, und singe!« Als dieses zu Ende war, stimmten sie an: »Wer nur den lieben Gott lässt walten«, und »Befiehl du deine Wege etc.«

Otto kannte alle diese Lieder von seiner Schuljahren her und sang mit bebender Lippe mit; doch versagte ihm die Stimmer vor Bewegung bald, und er begnügte sich, dem andächtigen Vortrage zuzuhören.

Aber nach dieser Sonntagsfeier vergingen acht volle Tage, ohne dass sich Flöte und Gesang wieder vernehmen ließen, wahrscheinlich hatte man den Gefangenen solche Äußerungen als Störungen der Festungsruhe bis auf Weiteres untersagt.

Während dieser Tage hatte sich Otto Mühe gegeben, von dem Gefangenenwärter zu erfahren, wer ihm den am Johannistage so geheimnisvoll das Geschenk der drei Rosen übersendet habe.

Allein diese Mühe blieb vergebens, da der Gefangenenwärter stets nur in Begleitung eines Offiziers in die Zelle kam und überhaupt durch ängstliche Abwehr mit den Blicken zu verstehen gab, es wäre gefehlt, die Sache in Gegenwart der Offiziere anzuregen. Erst später, als eines Tages der Kommandant mit einem Offizier in der Zelle erschien, um eine schadhafte Stelle des Gefängnisses in Augenschein zu nehmen, benützte der Wärter einen günstigen Moment, um Otto zuzuflüstern:

»Es ist Sitte, dass die Stadtbewohner am Johannistage den politischen Gefangenen ein solches Liebeszeichen senden, doch darf es jetzt nicht ohne Strafe geschehen – weil – weil …«

Er konnte nicht zu Ende reden, denn der Kommandant entfernte sich wieder aus der Zelle, und der Gefangenenwärter musste folgen.

Also nicht die Mutter, nicht die Braut hatten Otto jenes duftige Liebeszeichen zugesendet!

Es wollte Otto schmerzlich überkommen, dass er einen so lieben Gedanken wieder aufgeben solle; allein er hatte sich schon sehr an Vorzeichen und an männliches Ergeben in ein Schicksal gewöhnt, und darum suchte er seine ganze Fassung wieder zu gewinnen.

Indessen war auch der Gedanke nicht ohne Trost, dass fremde Menschenliebe sich zärtlich bis zu ihm gedrängt habe, und zwar durch Hindernisse und Gefahren.

Nicht ohne Rührung griffe er nach den seither verwelkten Blumen, betrachtete sie eine Weile stumm und sagte dann:

»Ihr armen, armen Kinder der freien Mutter Erde! Hat man euch von der Mutterbrust gerissen, um hier dem Gefangenen die letzten Augenblicke zu versüßen? Wie manche Tage hättet ihr in freier Luft, im holden Sonnenscheine noch geduftet und geblüht, und ihr musstet um meinetwillen hier so früh verbleichen! Doch tröstet euch. So wird auch manches blühende Menschenleben dem Dasein vom Herzen gerissen – um, wer weiß welchem Ideale dieser Erde ein erlösendes oder wenigstens erhebendes Opfer zu werden!«

Aus diesen Gedanken erweckten ihn das Flötenspiel und der Gesang seiner Nachbarschaft wieder; und diesmal bedeutungsvoll genug.

Denn man stimmte erst mit freudigem Aufschwunge an: »Nun danket alle Gott!« und ließ dann mit wahrem Jubel folgen: »Freut euch des Lebens!«

Mit diesen Liedern endete die Gefangenschaft der Nachbarn – und von nun an wurde es wieder trostlos stille um Ottos Gefängniszelle, er schien wieder der einzige Unglückliche des großen, lärmlosen, schrecklichen Hauses; Otto kam sich vor wie einer, der verurteilt ist zu sterben, aber vergessen wird, um, lebendig begraben, allmählich dahin zu siechen, und, sich selber ein Gespenst, von Tag zu Tag schlimmer zu verfallen.


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