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In solcher Weise lebte Otto einige Wochen fort.
Die Untersuchung »ging ihren Gang«, und Otto merkte, solange sie dauerte, nur so viel von derselben, dass der Untersuchungsrichter einige Male im Gefängnisse erschien, um einige Aussagen zu Protokoll zu nehmen.
Während der Dauer der Untersuchung wurden denn auch die Strenge der Haft und die Behandlung des Gefangenen in nichts gemildert. Wiederholte Ersuchen Ottos um ein Buch zum Lesen, sei das Buch welcher Art immer, wurden unerfüllt gelassen.
Eines Tages befanden sich der Untersuchungsrichter, der Kommandant und der Platzadjutant zu gleicher Zeit in Ottos Zelle, und dieser benützte die Gelegenheit abermals zu Vorstellungen: welcher unnützen Pein man ihn aussetze, indem man ihm alles Lesen geradezu unmöglich mache.
»Ich soll ja die Bücher aus Ihren Händen empfangen, meine Herren«, sagte er, »ich bin gehalten, sie wieder in Ihre Hände zurückzugeben; zudem ersuche ich denn nicht, mir eine solche Lektüren zu geben, welche Sie selbst für unschädlich halten? Wie soll also hier von einem Missbrauch Ihrer Gunst die Rede sein können?«
Diese Worte waren mit Ruhe und Würde vorgebracht worden und verfehlten ihre Wirkung nicht.
Die Herren, welche von Ottos Erscheinung längst gewonnen waren, sahen einander an und überlegten, ob man dem Gefangenen willfahren könne. Die Beratung endete zuletzt mit dem Beschlusse, dass man Ottos Verlangen dem Gouverneur vortragen wolle Dieses geschah, und die Antwort war, dies Anliegen des Gefangenen sei innere Polizeisache, es habe sich der Kommandant der Zitadelle allein damit zu befassen.
In Folge dieser Antwort bliebe Otto die Bücher auch noch weiterhin verweigert, denn da die eigentliche Verordnung lautete: ein Gefangener au grand secret bekommt keine Bücher zu lesen, und da der Gouverneur eine Ausnahme für diesen besonderen Fall nicht ausdrücklich gestattet hatte, so wagte es keiner von den drei Herren, die das Versprechen gegeben hatten, Otto Bücher zu verschaffen.
Eine solche Ängstlichkeit hatte ihren Grund in der Furcht des einen vor dem anderen, die so weit ging, dass, wo nur immer zwei Offiziere beisammen waren, keiner auch nur die unschuldigste Meinungsäußerung wagte; und mit Recht.
Denn der General-Gouverneur Davoust, Fürst von Eckmühl, ging, was jedermann bekannt war, so weit, dass er ein Heer von Ausspähern auf eigene Kosten unterhielt, um sich durch fortwährende sogenannte »Entdeckungen« Napoleon wichtig und unentbehrlich zu machen.
In Folge dessen hatte ihm auch der Kaiser die unbeschränkteste Vollmacht erteilt, im ganzen Umfange seines General-Gouvernements (fast des ganzen nördlichen Deutschlands) über Freiheit und Leben auch der Untertanen der souveränen Fürsten des Rheinbundes nach Ermessen zu schalten; diese Vollmacht musste der Kaiser, um den fanatischen Eifer des Verfolgers etwas unschädlicher zu machen, dahin beschränken, dass er dem Generalstabe des Fürsten einen rechtlich gesinnten Offizier als grand-Prevot beigab, der die bloße Gewalttätigkeit durch Einleitung der Fälle in die gesetzliche Form in Schranken hielt. Der Fürst pflegte den Offizier scherzweise nur Monsieur Couleur-de-rose zu nennen, weil er ihm das verhasste Menschengezücht in allzu rosigem Lichte sähe.
Die Sehnsucht Ottos nach einem Buche irgendeiner Art stieg indessen von Tag zu Tage. Außerdem dass einem Gebildeten heutzutage diese Art geistiger Unterhaltung unentbehrlich geworden ist, sollte der Inhalt eines Buches Stoff und Anstoß zu neuen Gedankenrichtungen werden und dabei einiger Maßen den schmerzlichen Mangel an Gesprächen ersetzen.
Da nun aber jedes »Buch« stets als unzulässig verweigert wurde, so geriet Otto auf einen Gedanken, der ihm wenigstens einiger Maßen seine Sehnsucht befriedigen half: er suchte um die Erlaubnis nach, sich für einen Groschen Makulatur-Papier, und zwar gedrucktes kaufen zu dürfen, welches er an demselben Tage wieder zurück zu schenken versprach, an welchem er es erhalten würde.
Dieses Gesuch wurde vom Kommandanten gestattet, und Otto erhielt mehrere Bogen aus Michaelis Übersetzung des Alten Testaments, und zwar aus dem Buche der Richter und Samuels.
Otto fiel, sobald sich sein Zuchtmeister entfernt hatte, über diese Augen- und Seelenspeise mit einem Heißhunger her, der mit nichts verglichen werden kann.
Er fand die Geschichten von Simson und David in den Blättern, die er von Jugend her noch fast auswendig kannte. Nichts desto weniger las er dieselben drei Mal hintereinander durch, um den Augen gleichsam ein lange entbehrtes, sinnliches Vergnügen zu verschaffen.
Bei einer späteren Bestellung von Makulatur brachte man Otto ein dickes Bündel älterer Zeitungen aus den Jahren 1809 und 1810, welche ihm nun reichlich zu lesen und zu denken gaben. Leider wurde ihm der ganze Vorrat bis auf wenige Blätter von dem Gefängnisaufseher alsbald wieder weggenommen mit dem Bemerken, man könne dem Herrn so viel Papier nicht in Händen lassen. Otto war aber standhaften Sinnes genug, seine Vorstellungen um Bewilligung einer Lektüre fortzusetzen und endlich geradezu um ein bestimmtes Werk anzuhalten. Dies war Krie's Anleitung zum Rechnen für Geübtere, und es wurde ihm gestattet, sich dasselbe auf seine Kosten aus dem Buchladen kommen zu lassen; man sah wohl ein, dass hierzu irgend Schreibmaterial vonnöten sei, und man verschaffte Otto auch eine passende Schiefertafel.
Otto hätte nie gedacht, über ein trockenes Rechenbuch und eine steinerne Schiefertafel eine solche Freude fühlen zu können; und zwar dauerte diese Freude einige Wochen hinaus ohne Unterbrechung. Denn Otto rechnete alle Aufgaben des Buches von Anfang bis zu Ende durch, und als er mit der letzten fertig war, machte er sich wieder an die erste. Er fand, dass es wohl nicht leicht ein wirksameres Mittel geben könne, wenn nicht das Gemüt aufzuheitern, doch der Phantasie die Gegenstände, welche es bekümmern, aus den Augen zu rücken, als die Beschäftigung des Verstandes mit der Zahlenwelt …
Es ist wunderbar, wie das Auge des Menschen, so flüchtig es auch im ersten Überschauen und Sehen ist, doch im näheren Betrachten der Dinge eine sparsame Ökonomie beobachtet.
Dies sollte Otto jetzt in auffallender Weise an sich selbst erfahren.
Denn nachdem er sich geistig mit den Gegenständen seines Schmerzes und seiner Freude vollauf beschäftigt und auch seiner gebotenen Lektüre allen nur möglichen Reiz abgewonnen hatte, da meldete sich mit großer Macht die Sehnsucht nach dem Anblick äußerer Gegenstände, nach Betrachtung einer mannigfaltigeren Umgebung.
Aber wo sollte er einer neuen Szenerie von Dingen begegnen, die ihn besonders beschäftigen konnte?
Das Innere seiner Gefängniszelle kannte er, und auf den Gegenständen des Schauplatzes außerhalb seines Gitterfensters hatte sein Auge oft genug geruht, ohne ihn besonders anzuziehen; da sollte sich aber jetzt auf einmal manches ändern.
Otto studierte die ordinäre Wirtshausnatur der Heerscharen von Sperlingen auf den großen Linde in der Ferne, sah mit Interesse dem Eifer der Tauben zu, welche auf dem großen Platze draußen rennend und flatternd, aber auch voll Liebesanstand sich drehend, die Körner aufpickten, die von den täglich kommenden Getreidelieferungen liegen blieben. Trupps von Hühnern und Enten gaben ihm Stoff zur Bereicherung seiner Kenntnisse vom gesellschaftlichen Leben dieser Tiere, bei welchen sich eine Verschiedenheit des Charakters findet wie unter den Menschen.
Unter anderem bemerkte er, dass zwei ihn oft durch ihre Duelle belustigenden Hähne verschiedene Lehrmeister in der Kunst zu krähen gehabt haben mussten, indem der eine nur drei Noten, ki-ke-ri – der andere vier: ki-ke-ri-ki hören ließ.
Der Viernotler behauptete meistens das Schlachtfeld.
Hingegen schien der andere den Grundsätzen der gleichen Güterteilung auf Erden zu huldigen.
Denn da er nur vier Hühner zu seinem Gefolge hatte, während der Notenüberlegene sich eines Dutzends derselben rühmen durfte, so wandte er alle Künste der Verführung, List und Gewalt an, einige von den Frauen des Gegners unter seine Botmäßigkeit zu bringen, was ihm auch nicht selten so lange gelang, bis der mehrstimmige Jodler ihm die Beute mit einem Bajonettangriff des Schnabels und gleichzeitigen Flankenangriffe des rechten und linken Flügels wieder entriss.
Bei dem schnatterigen Wackelvolk der Enten bemerkte Otto, dass es von Seite der Weibchen oft einer langen Koketterie durch Kopfnicken, Halsdrehen und Liebäugeln bedurfte, bis Herr Anton Felix Roderigo von Enterich zu einer trocken freundlichen Erwiderung sich herbeiließ.
Bald schlugen auch junge Spinnen ihre Webstühle zwischen den eisernen Stäben vor Ottos Fenster auf, deren Kunstfertigkeit und Naturtriebe er oft halbe Stunden lang mit Bewunderung beobachtete.
Das geringste Versehen, welches die Künstlerinnen selber begingen, oder der kaum merkliche Schaden, welchen Otto absichtlich in ihrem Gewebe anrichtete, wurde auf der Stelle ausgebessert, um die Regelmäßigkeit des Netzes wieder herzustellen.
Mit Erstaunen bemerkte Otto die Schlauheit, mit welcher diese sechsfüßige Despotenart ihre Beute belauert und ein größeres Insekt erst mit vielen Fäden umstrickt, ehe sie ihm näher auf den Leib rückt, ihm den Todesstich versetzt und es an einem Hinterfuß gefesselt in ihre Höhle schleppt, um ihm das Herzblut auszusaugen …
Die Strenge, mit welcher Otto während der Untersuchung behandelt wurde, erlitt nach Beendigung derselben eine fühlbare Milderung.
Otto erfuhr den Grund dieser Milderung nicht, und weil ihm weder ein Urteil verkündigt noch die Befreiung gegeben wurde, so hielt er sich überzeugt, er sei zum Tode verurteilt und man wolle ihm vor seinem Ende noch einige bessere Tage verschaffen. Dass indessen Woche um Woche verstrich, ohne diese Behandlung sich verschlimmern zu sehen, dies änderte in seiner Annahme nichts; er dachte, sein Tod solle wahrscheinlich nur deshalb hinausgeschoben werden, damit er in einem bedeutsamen Momente als besonders einschüchternder Warnungsakt vollzogen werden könne.
Otto erhielt nun ohne besonderes Ersuchen Bücher zum Lesen; er war nicht wenig erstaunt, als ersten auf diese Art gebotenes Werk Suetons Leben der Cäsaren zu erhalten.
Dieses Werk war nicht geeignet, ein von eiserner Gewalt bedrängtes Gemüt aufzurichten, wenn nicht der Darleiher vielleicht der Meinung war, es würde Otto trösten, unter Napoleons Regimente in Deutschland gehe es am Ende nicht schlimmer her als zur Zeit de Tibere im großen Rom.
Besonders auffallend war ihm unter solchen Umständen folgende Stelle über den Unmenschen Tiberius:
»Jedes Vergehen«, so hieß die Stelle, »galt ihm für ein Hauptverbrechen, auch wenn es bloß in wenigen einfältigen Worten bestand. Ein Dichter wurde angeklagt, dass er in einem Trauerspiele schimpflich von Agamemnon gesprochen; ein historischer Schriftsteller, dass er Brutus und Cassus die letzten Römer genannt habe. Beiden wurde der Prozess gemacht, ungeachtet sie bewiesen, dass ihre Schriften einige Jahre zuvor vom Augustus selber eine günstige Zensur erhalten hatten. Einigen in Gefangenschaft Gehaltenen wurde nicht allein der Trost des Studierens, sondern sogar das Reden mit Menschen verwehrt.«
Nicht nur zu lesen bekam von jetzt an Otto, so viel er wollte, auch Schreibmaterialien gab man ihm, damit er öfter an die Seinigen berichten könne.
Dass sich Otto diese Vergünstigungen nicht zwei Male bieten ließ, ohne davon Gebrauch zu machen, versteht sich wohl von selbst.
Doch welche Pein empfand er mitten in diesem Vergnügen, sich schriftlich mit den Seinigen zu unterhalten! Was er am liebsten geschrieben hätte, durfte er nicht schreiben, und was er schreiben durfte, musste in solcher Form geschrieben werden, dass es bei dem Kommandanten und dem Préfot-militaire, welche alle Briefe vor dem Absenden lasen, keinen Anstoß erregte.
In die Zeit der Gefangenschaft Ottos fielen bekanntlich die Durchzüge des französischen Heeres nach den Gräbern in Russland.
Da die Besatzung der Zitadelle lange Zeit immer von den eben durchmarschierenden Truppen gebildet wurde, so hatte Otto durch sein Gitterfenster den wunderlichen Anblick, bald französische und bald deutsche, bald spanische und bald italienische Korps, die alle einem und demselben Schlachtenmeister gehorchten, entweder scharf gesondert oder auch gemischt auf dem Platz der Zitadelle zu sehen.
Die hier angestellten Waffenübungen, die in der Zitadelle als einer Hauptniederlage von Kriegsmaterialien ankommenden und abgehenden Transporte von Bauernwagen, die mit prächtigen Pferden bespannt waren; dann wieder Tausende neuer französischen mit Ochsen bespannter Fuhrwerke, von bewaffneten Knechten begleitet; Hunderte von Feuerschlünden aller Art, die auf dem Platze zugerichtet und aufgestellt wurden – alles dies gab manche Stunde zu sehen und zu denken.
Von jetzt an erschien auch bei jedem Truppenwechsel in Ottos Zelle ein neuer Kommandant, dem er von seinem Vorfahren wie ein Invertarienstück übergeben wurde.
Hierbei war Otto auffallend, dass es den bald wieder abziehenden Offizieren, namentlich deutschen, nicht eben sehr um Besorgnis vor dem französischen Marschall-Gouverneur zu tun schien; denn, von Ottos Schicksale und dem Urheber desselben kaum unterrichte, brachen sie nicht selten in laute Missbilligungen aus, ja der vorletzte Kommandant während der Durchzüge, ein Württemberger, geriet bei dem Namen »Fürst von Eckmühl« in eine solche Wut, dass er kirschbraun im Gesicht wurde, seinen Degen zitternd in der Scheide rüttelte und unerhörte Verwünschungen ausstieß, bezeichnend waren die Worte:
»Ja, ja, man hat groß Wesen zu machen mit jenem Sieg von Eckmühl, den man uns Deutsche, uns Württemberger über die Österreicher hat erfechten lassen – es ist wohlgetan von diesem Davoust, diesem französischen Schinderhannes, dass er dafür den Deutschen die Kassen stiehlt und ihnen die haut über die Ohren zieht!«
Der zornige Sprecher dieser Worte schien doch wohl zu wissen, in wessen Gegenwart er sich zu solchen Äußerungen hinreißen ließ; sein Kollege nahm ihn nur am Arme und sagte, ihn fortziehend:
»Sie wissen nun, wer hier gefangen sitzt und wie Sie ihn behandeln lassen sollen.«
Acht Tage dauerte das Kommando des Württembergers in der Zitadelle, und Otto hätte nie gedacht, dass ihm seine Gefangenschaft noch eine Freude bringen würde, wie sie ihm während dieser acht Tage zuteilwurde. Der Kommandant erschien täglich bei Otto in der Zelle und blieb in freundlichem Gespräche länger als üblich bei ihm, dann befahl er seinem Adjutanten täglich aufs Neue, ihn eine Stunde lang im Hofe der Zitadelle spazieren zu führen; auch in der Bedienung, in der trefflichen Bereitung der Speisen fühlte Otto eine auffallende Verbesserung.
Die acht Tage waren um, bevor man's dachte.
Am Vorabend des Abmarsches sagte der Kommandant beim Weggehen flüchtig: »Ich sehe Sie wahrscheinlich noch, mein Lieber …«, kam aber nicht wieder … Otto erwachte am nächsten Morgen früher als sonst, hörte draußen zum Abmarsch rüsten, sah dort Mannschaft, Wagen und Kanonen in Bereitschaft setzen – glaubte jetzt und jetzt, der wackere deutsche Krieger werde doch einmal, wenn auch nur auf Augenblicke bei ihm erscheinen; allein er wartete vergebens. Die Besatzung rückte ab, und der Kommandant erschien nicht wieder, wahrscheinlich um sich und dem Gefangenen das Herz nicht schwerer zu machen; er war auch einer von jenen Hunderttausenden, welche in Russlands Steppen begraben liegen …