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Seit dem 18. Dezember 1812 war Kaiser Napoleon wieder in Paris zurück und rüstete mit Aufbietung aller Mittel, um den wahrscheinlichen Folgen des misslungenen Zuges nach Moskau ebenso rasch als kräftig zu begegnen.
Es war kein Zweifel mehr, dass wie eine donnernde Lawine sich ein ungeheures Missgeschick hinter ihm her wälzen und ihn begraben werde, wenn er nicht schnell genug dem drohenden Unheil Damm und Verhau entgegensetze.
Schon war am 30. Dezember von Seite des preußischen Generals York ein Schritt geschehen, der, abgesehen von dem materillen Nachteil für die Stellung der französischen Waffen im Nordosten, jedenfalls die schwersten moralischen Folgen nach sich ziehen musste. York hatte als Befehlshaber des preußischen Hilfskorps die Konvention von Poscherau mit dem Feinde Frankreichs abgeschlossen, wozu ihm weniger das Kritische seiner Lage als der bereits im Norden Deutschlands bedeutsam erwachte Geist der öffentlichen Meinung bewog. Dieser Schritt, welcher gleichsam das Zeichen zu einer allgemeinen Bewegung gab, erhielt zwar scheinbar nicht die Billigung des Königs von Preußen, wurde aber bald genug durch die Stellung, welche der Staat einnahm, glänzend genug anerkannt; am 9. Februar 1813 rief dieser die Nation zum freiwilligen Kriegsdienste auf.
Noch hätte es wahrscheinlich in Napoleons Händen gelegen, durch schnelle und gerechte Erfüllung früherer Zusagen den König von Preußen von dem letzten entscheidenden Schritte einer förmlichen Kriegserklärung abzuhalten, allein er achtete keiner der Vorstellungen, die hm in Paris wiederholt und dringend gemacht wurden, er wollte, indem er sich jede Zusage pünktlich erfüllen ließ, selbst von keinerlei Verbindlichkeiten wissen, sondern fuhr fort im Tone eines Oberherrn den Verbündeten als Vasallen zu behandeln.
Da kam den 28. Februar 1813 zu Kalisch der Bund mit Frankreichs Feinde zu Stande, der König von Preußen erklärte am 16. März darauf Napoleon den Krieg und rief am folgenden Tage Volk und Heer auf zum Kampfe für »Freiheit, Vaterland und Ehre«.
Mit diesem kühnen Schritte ward für die Befreiung Deutschlands von französischer Unterjochung wesentlich entschieden.
Denn schon war man in Preußen für solchen Fall aufs Gewaltigste vorbereitet. Hunderttausend Mann waren in den Waffen geübt und konnten augenblicklich auf dem Kriegsschauplatz erscheinen, während zur Bildung einer Landwehr Scharnhorsts Plan lange schon fertig vorlag.
Die nun folgende Begeisterung, die Tapferkeit, die Bereitschaft zu Opfern, ja der religiöse wie patriotische Fanatismus Preußens bis zur Besiegung und gänzlichen Niederwerfung der Fremdherrschaft, verdienen im Buche der Geschickte jedenfalls aufs Glänzendste verzeichnet zu werden …
Es war an einem der ersten Tage dieser begeisterungsvollen Periode Deutschlands, als im Hause des Professors Ernst ein Gast gesehen wurde, welcher die Aufmerksamkeit der Familie in hohem Grade erregte.
Der Gast war ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren.
Seine Gestalt war hoch und schlank, seine Stirn schön gewölbt und das Gesicht fein und länglich geschnitten; dem weicheren Ausdrucke des Gesichtes waren die blonden, kurzgeschnittenen und wohlgeordneten Haare wie die blauen, sanft leuchtenden Augen mehr als angemessen.
Wir treffen den jungen Mann, sorgfältig gekleidet, in dem schönsten Zimmer der Wohnung, wie er, in einem Lehnstuhle sitzend, aufmerksam und gerührte Blicke durch eine offene Türe nach dem anstoßenden Zimmer richtet, wo sich die Kinder des Professors, zwar ungestört, aber doch in einer Weise tummelten, die gar sehr die glückliche Natur derselben und die gute Schule ihrer Erziehung zeigte.
Da es ein Sonntagmorgen war, so hatten die Kinder ihre besten Kleider angezogen, was gewiss den Reiz ihres Anblicks noch erhöhte.
War der junge Gast schon durch den Anblick der Jugend auf das Innigste erquickt, so wurde seine Freude vollkommen, wenn von Zeit zu Zeit eines der Kinder mit glühenden Wangen zu ihm herantrat und auf gutmütig würdige Weise seinen Richterspruch erbat, ob nicht Bruder oder Schwester diesmal Unrecht an ihm begangen.
Der Gast verstand es dann, seinen Ausspruch so zu stellen, dass beide Teile wohl zufrieden sein und ohne Spannung ihr Spiel fortsetzen konnten.
Nach solchen Zwischenfällen warf derselbe dann einen lächelnden Blick auf den ihm gegenüber am Tische sitzenden Professor, der die ganze Zeit her sowohl den Spielen und Angelegenheiten der Kinder als auch den Bewegungen, welche in dem Gaste vorgingen, seine Aufmerksamkeit widmete.
Da stellte es sich denn heraus, dass der junge Mann von Zeit zu Zeit auch noch unruhige Blicke nach einer zweiten Türe warf, die vom Hausgange in das Zimmer führte.
Augenscheinlich erwartete er von dorther jemanden mit einer Lebhaftigkeit, welche er durch seine ruhige Haltung vergebens zu verbergen bestrebt war.
Der Professor bemerkte dieses geheimnisvolle Spiel der Blicke nicht ohne sichtbarliche Freude, ließ aber wohlbedachtsam keine Silbe darüber verlauten.
Endlich – gegen elf Uhr – nachdem der Professor und sein Gast bereits eine gute Weile ihre Aufmerksamkeit von den Kindern abgezogen und über Verschiedenes ein Gespräch geführt hatten – näherten sich draußen zarte Schritte der Türe und Aline, des Professors ältestes Töchterlein, trat herein.
Sie war in der Kirche gewesen und hatte nur geschwinde Hut und Überwurf abgelegt, um dann ein für den Gast bereitetes Glas Limonade in das Zimmer zu tragen.
Wie sie so hereintrat, in schwarzem Seidenkleide, ein Rosabändchen unter einem Spitzenkragen um den Hals, ihre großen braunen Augen, beschattet von schwarzen Wimpern und Brauen, klar und lächelnd vor sich herschickend, das dunkelblonde Haar einfach in Form eines Kränzleins um das Haupt gewunden und am Nacken noch in reiches Geflecht verschlungen – da verstummte über dem holdseligen Anblicke der junge Gast.
»Hier schickt die Mutter die Limonade«, sagte Aline, das Glas mit einer leichten Verbeugung auf den Tisch stellend und wieder zurücktretend.
Der Gast hatte seinen Dank noch nicht ausgesprochen, als im anstoßenden Zimmer die jüngsten Kinder ihr Spiel verließen und jubelnd herbeiliefen, um sich an ihre schöne Schwester zu drängen.
Sie fasste sie am rauschenden Seidenkleide, ergriffen ihre Hände, wollten in das Gebetbuch sehen, welches Aline noch unter dem linken Arme trug, und bezeigten über das Erscheinen ihrer Schwester eine Freudigkeit, als wäre sie einige Tage abwesend gewesen.
Aline hob das jüngste Kind empor, küsste frischweg auf die Wange, stellt es wieder hin und sagte, nach dem anstoßenden Zimmer gehend:
»Spielt fort und vollführt kein solches Lärmen! Seht Ihr nicht, wer da ist?«
Aline war lange aus den Augen des Gastes verschwunden, als dieser, noch immer lautlos ihre Spur im Nebenzimmer suchend, in seinem Lehnstuhle dasaß.
Der Professor weckte ihn aus seinem Dahinträumen, indem er sagte:
»Trinken Sie, trinken Sie, Freund!«
Dann legte er ihm einige gedruckte Blätter hin und fuhr fort:
»Lesen Sie hier, wozu Flugblätter und Zeitungen in Preußen seit acht Tagen ermuntern.«
Indem sich der junge Mann mit großer Bewegung der Blätter bemächtigte, wurde dem Professor selbst ein Brief hereingebracht, dessen Adress-Schriftzüge er kaum erblickte, als er sichtlich ergriffen wurde.
Es war ihm lieb, den Gast mit den Druckblättern beschäftigt zu sehen, da er seine Bewegung nicht gerne verraten und über den Inhalt des Briefes schwerlich gerne befragt worden wäre.
Er trat an ein Fenster und las nun folgenden Brief auf der Feder der Frau von Vollwarth:
»Mein wertester Herr Professor!
Sie werden mit Ungeduld diesen Brief erwartet haben, welcher die Entscheidung meiner Tochter bringen soll. Ich hätte auch gerne früher geschrieben, wenn die Frage, welche ich an meine Tochter zu richten hatte, nicht gar so delikater Natur gewesen wäre, wenn meine Tochter selbst nur von den Erschütterungen, die sie getroffen, sich besser erholt hätte.
Erst gestern schien mir ein Augenblick günstig, das Herz meiner Tochter zu erforschen, und ich erfuhr denn wirklich, was ich befürchtet hatte … Mathilde wird sich nun der Heirat entziehen … Ich muss es Ihrem Ermessen anheimstellen, wie Sie diese Nachricht demjenigen beibringen wollen, der in diesem Augenblicke vielleicht zuversichtlicher als jemals der Erfüllung seiner Wünsche entgegensieht. Wie ich Sie aus unserem kurzen Verkehre und aus den Schilderungen unserer Lieben kenne, werden Sie im Stande und gesonnen sein, das Herz meiner Tochter ebenso zu entschuldigen wie den Schmerz des Verlierenden zu mildern. Mathilde hat, wie Sie wissen, auf das Ehrenvollste für die Aufrechterhaltung des Bündnisses so lange gestritten und gelitten, bis das Äußerste geschehen war; seit dem Tode des Geliebten aber hat, wie sie sagt, das Schicksal selbst das Zeichen gegeben, dass eine entscheidende Wendung eintreten müsse – der Geist des Toten darf ihr näher stehen als der Lebende selbst – kurz Mathilde zweifelt an ihrer Kraft, das Glück eines anderen noch jetzt im rechten Maße zu gründen und zu erhalten … Ach, hätten Sie diese Kämpfe, diese Anstrengungen meiner Tochter, ihrem gegebenen Worte treu zu bleiben, die letzten Monate her gesehen! Ich versuchte vergebens, ihren Zustand und mein Leid zu schildern … Ich muss schließen, wenn mich nicht alle Schmerzen aufs Neue durchwühlen sollen! Gott segne Ihr Vermittleramt! Ist noch etwas von künftigem Glücke aus diesen Kämpfen für uns zu retten, so will ich glauben, dass es keine Wunden auf Erden gibt, für die nicht ein Balsam der Linderung vorhanden wäre … Leben Sie wohl und grüßen Sie alle, die uns teuer sind …«
Der Professor legte den Brief zusammen und versank in Gedanken; dann blickte er nach seinem jungen Gaste, der inzwischen die Flugblätter gelesen hatte und von ihrem Inhalte aufs Tiefste ergriffen hin und wieder ging.
»Nun, das Vaterland beschäftigt Sie lebhaft, wie ich sehe, junger Freund«, sagte Ernst.
»Gott, welch ein Geist, welche Bewegung muss jetzt durch das Vaterland gehen! Wäre ich doch fort von hier – wären doch meine Kräfte stark genug, um mit fliegender Eile dort zu sein, wo dieser Geist und diese Bewegung im Augenblicke schalten und walten!« rief der junge Mann.
»Trösten Sie sich, Lieber«, erwiderte der Professor: »Sie werden längst im Besitze Ihrer Kräfte sein, bis die entscheidenden Schläge gegen die Herrschaft der Fremden geführt werden! Tausende, welche ihnen jetzt zuvor kommen, werden nicht früher als Sie, der Fahne ins Feld folgen!«
Man hörte in diesem Augenblick aus dem dritten Zimmer herüber Flötenspiel, von einer Gitarre begleitet; die Töne näherten sich, und bald darauf erschienen zwei blühende Burschen in Studententracht im anstoßenden Zimmer, die sich, im Taktschritt und im Spiele fortfahrend, näherten.
Der junge Gast des Professors war nicht wenig erstaunt, diese Flöten- und Saitentöne mit gewissen Erinnerungen in Verbindung bringen zu müssen; denn sowohl die Melodie als die Art der Vortrages waren ihm aus vergangener Zeit gar wohl bekannt.
Die beiden Burschen aber marschierten, spielend und ohne Rücksicht auf die Anwesenden zu nehmen, auch durch das letzte Zimmer, schwenkten dann nach links und gingen, wie sie gekommen waren, nach dem dritten Zimmer zurück, wo ihr Spiel endete, aber dafür ein Lied begann, welches den Gast des Professors nicht wenig bewegte.
»Sie haben hier meinen ältesten Sohn und dessen Universitätsfreund gesehen«, sagte der Professor, des Gastes Rührung scheinbar nicht bemerkend – »es ist die Art der Jungen, stets bei ihrer Heimkehr mit den ersten Gruß also darzubringen. Ich lasse ihnen gerne ihre gutmütige-tolle Art, weil ich weiß, dass die Jugend gewisse romantische Possen so am ersten loswerden kann.«
»Aber dies Flöte – diese Melodie – mein Gott! – auch das Lied, welches jetzt gesungen wird …« sagte der junge Mann mit Lebhaftigkeit.
Der Professor ergriff seine Hand und erwiderte:
»Stille, stille! … Die Kinder dürfen nicht hören, was Sie sagenwollen. – Lassen Sie uns die Türe schließen und dann reden, was uns auf dem Herzen liegt!«
Ernst schloss die Türe zu dem Zimmer, in welchem die Kinder spielten, und fuhr dann fort:
»Nun, lieber Jeneveldt, jetzt reden Sie, was Sie sagen wollten!«
»Habe ich nicht dieses Spiel und diesen Gesang auch in meiner Gefängniszelle gehört?«
»Allerdings, mein Freund. Die tollen Burschen hatten kaum von Ihrer Haft gehört, als sie ein leichtes politisches Vergehen verschuldeten und es einzuleiten verstanden, dass sie auf vierzehn Tage Ihre Zellennachbarn wurden, um durch Spiel und Gesang Ihre traurigen Stunden zu erheitern!«
Nun kamen die beiden Studenten einfach und heiter wieder in das Zimmer und begrüßten wie andere Erdensöhne den Professor und seinen Gast.
Eduard, der Sohn des Professors, war eine schlanke, doch kräftig gebaute Gestalt mit blondem Haar, das üppig und ziemlich tief den Nacken hinab fiel; sein Freund, Albrecht, auf der Universität der »Romansphobe« (Wälschfresser) genannt, war kurz, stämmig und mit einem Paar Schultern begabt, die geeignet schienen, ein kleines Gebirge mit der Wurzel aus dem Boden zu heben; er war braun von Haaren, die er ebenfalls nach deutscher Studentenart trug.
So verschieden auf diese Weise die äußere Erscheinung der beiden Burschen sich darstellte, so war es doch das gleiche Feuer, welches die Blicke derselben beseelte.
Es blieb nicht lange Geheimnis, dass sie diesmal hier seien, um auf lange Abschied zu nehmen –
»Denn«, sagte Eduard, seinen Vater fest und fröhlich mit seinen blauen Augen ansehend: »Die Arbeit hebt an und soll nicht früher enden, bis alles, was von fremder Gewalt in Deutschland ist, mit Stumpf und Stiel hinaus geworfen ist!«
Der Professor blickte seinem Sohne lange schweigend in die Augen, legte ihm dann die rechte Hand auf das Haupt und sagte:
»Der Himmel segne diese Arbeit. Sei wacker, wo Du auch hingestellt wirst – ich werde Dich nicht daheim behalten wollen, wo ich entschlossen bin, selber nächstens auszuziehen.«
Während hierauf der Freund des Sohnes zum Professor hintrat, wendete sich Eduard an Otto Jeneveldt und sagte:
»Wir sehen uns schwerlich heute zum letzten Male. Ihre Gesundheit macht gute Fortschritte, und sind Sie nur erst erstarkt, so führt Sie Ihr patriotisches Herz dieselbe Straße wie uns.«
»Gewiss, gewiss«, erwiderte Otto, seine Hand mit Wärme ergreifend.
»Grüßen Sie mir indessen Ihre Braut und sagen Sie ihr, was sie noch nicht weiß, dass das Ständchen, welches ihr einmal so geheimnisvoll gebracht worden ist, von mir und einigen Kommilitonen herrührt; wir hielten es für Pflicht, die Arme in Liedern zu trösten, während Sie gefangen saßen.«
Der Professor blickte auf die Uhr und sagte mit einiger Sorge:
»Es ist nun aber Zeit, lieber Jeneveldt, dass Sie als kranker Hofmeister wieder in Ihre Zelle zurückkehren; der Doktor würde Ihnen schwerlich so lange her zu verweilen gestattet haben.«
Otto schien wenig Lust zu haben, dieser Weisung zu folgen, aber der Professor fuhr fort:
»Ich muss darauf bestehen, Lieber. Wenn Sie eine Weile Ruhe genossen haben, sollen Sie auf Ihrer Stube Krankenbesuch erhalten, so viel Sie wollen. Wir werden Sie alle heute noch sehen. Empfehlen Sie sich von den Kindern, als ob Sie das Haus verlassen wollten – in die Krankenstube wird wie bisher keines gelassen werden, wo man den Hofmeister vermutet.«
Als Otto Jeneveldt auf seinem Zimmer sich wieder allein sah, hatte er Stoff genug zu den verschiedenartigsten Gedanken und Gefühlen.
Seine Lage, der Zustand des Vaterlandes, die wundersamsten Heimsuchungen, welchen seit einiger Zeit sein Herz ausgesetzt war – auch die liebenswürdigen kleinen Familienerlebnisse, welche sich eben seinen Augen dargeboten hatten – alles das erregte und bewegte sein Wesen lebhaft genug.
Otto wusste seit etwa vierzehn Tagen, dass er, anstatt wie er meinte, weit von seinem früheren Gefängnisplatz weg zu sein, noch in derselben Stadt – und in der Wohnung jener schönen »Geisterfamilie« sich befand, welche ihn während der letzten Tage seiner Haft und namentlich während seiner Fieberkrankheit träumend und wachend so sehr beschäftigt hatte.
Auch wie es gekommen war, dass er sich an so bedenklicher und zugleich anziehender Stelle befand, hatte er seitdem erfahren.
Es war nämlich von seinen Befreiern beschlossen gewesen, ihn während der ersten vierundzwanzig Stunden im Hause des Professors zu verbergen und ihn dann, wenn er sich etwas erholt und die sichtbaren Gefängnisspuren beseitigt hätte, auf wohlbedachte Weise fort und in Sicherheit über die Grenze zu bringen. Nun traf es sich aber, dass Otto bereits, bevor man die Wohnung des Professors erreichte, von Leiden und Aufregungen geschwächt – auf offener Straße ohnmächtig zusammenbrach und in bewusstlosem Zustande zur bestimmten Stelle gebracht werden musste. Als er erwachte, geschah es nur, um bereits unzweideutige Anzeichen von Nervenzerrüttung zu geben. Man entwarf daher den Plan, wie er nun fernerhin im Hause zu verbergen und zu halten sein solle. Der Hofmeister, auf dessen Schweigsamkeit man bauen konnte, wurde bis auf Weiteres unter den besten Bedingungen entlassen, auch die bejahrte treue Köchin wurde auf Zeit in guter Weise anderswo untergebracht und der Doktor in das Geheimnis gezogen. Durch die Mitschuld des »Fremden«, d. h. Hetzfelds an der Befreiung war man einiger Maßen vor der schlimmsten Gefahr sicher, wie den auch schon der Umstand, dass ja »Otto Jeneveldt« wie das Amtsblatt besagte »wirklich erschossen« war, voraussetzen ließ, dass man ihn nicht mehr unter den Lebenden suchen und verfolgen würde.
Es lässt sich denken, dass Otto, nachdem einmal solche Eröffnungen gemacht worden waren, nicht ermangelte, über alles, was sich seit seiner Verhaftung zugetragen, ausführlichen Bericht zu verlangen.
Dieser wurde ihm mit Hinweglassung jener Umstände gewährt, welch seiner Ruhe und Genesung hätten gefährlich werden können.
Seine Eltern, hieß es, lebten stille und in Erwartung besserer Tage einsam auf ihrem Schlosse, und der Vater würde wahrscheinlich bald in der preußischen Armee wieder Dienste nehmen; Frau von Vollwarth und ihre Tochter hätten sich seit Spätherbst Familienangelegenheiten halber wieder nach der Stadt begeben und wechselten fleißig Briefe mit dem Schlosse Jeneveldt; Friedrich Ebert – sei bereits in Königsberg, um der ersten einer die Waffen für die Befreiung des Vaterlandes zu ergreifen.
Auf Ottos Frage, welchen Eindruck auf das Kommando der Festung seine Flucht gemacht und welche lebhafte Anstalten zu seiner Habhaftwerdung seitdem gemacht worden wären, wurde erwidert, das sich jene Stelle in der Überzeugung befinde, er sei an dem bezeichneten Tage wirklich erschossen worden, wie es in dem Amtsblatte auch zur öffentlichen Kenntnis gebracht wäre.
Als Otto sehr überrascht fragte, wie das zugegangen, erhielt er eine Antwort, die ihn so erschütterte, dass er einige Zeit wie stumm auf seinem Bette saß.
Man sagte ihm nämlich, Friedrich Erbacher, sein Freund, hätte sich in jener Nacht der Befreiung eigentlich nicht in die Gefängniszelle zu ihm begeben, um ihn unter persönlicher Leitung aus dem Gefängnisse zu erlösen, sondern sich statt ihm – gefangen nehmen und erschießen zu lassen.
Für diesen äußersten Fall seien einige Offiziere, darunter Lieder, dann Hetzfeld und der Gefangenenwärter gewonnen gewesen; ein zufälliger Umstand habe aber dieses Äußerste noch verhütet; denn an demselben Morgen, als an Friedrich Erbacher das Todesurteil vollstreckt werden sollte, waren auch noch einige Exekutionen an militärischen Verbrechern zu vollziehen, und es gelang, eines von diesen ohnehin rettungslosen Opfern, an Friedrichs Stelle zum Tode zu führen, ohne dass bei der Verwirrung, welche die Nachrichten aus Russland veranlasst hatten und bei der meisterhaften Vorsicht, die man bei der Verwechslung der Gefangenen in jener Nacht bewerkstelligte, das Wagstück entdeckt worden wäre.
Es lässt sich denken, dass nach solchen Eröffnungen mancher Tag vergehen musste, um Ottos Empfindungen wieder ins rechte Gleichgewicht zu bringen.
Die Vorstellung, dass der Freund bei der geringsten Unvorsichtigkeit leicht hätte ein Opfer werden können, verfolgte ihn lange wachend und träumend.
Wie stand des Freundes Bild nun wieder vor seinen Augen! Hatte er nicht glänzend, in der Tat bewährt, was er je von Grundsätzen ausgesprochen? Welche Tage des Wiedersehens, welcher Triumph der siegreichen Freundschaft musste das einst noch geben!
Als Otto Jeneveldt sich nach und nach in den Gedanken an Vergangenes und Gegenwärtiges zurechtgefunden und beruhigt hatte, trat wunderlicher Weise sein Verhältnis zur Familie des Professors wieder in den Vordergrund.
Er wünschte lebhaft, die schönen Kinder alle zu sehen und mit ihnen zu verkehren.
Allein man bedeutete ihn, dass die Kinder Vorsicht halber nicht in das Krankenzimmer dürften, überhaupt auch nicht wissen sollten, dass er statt des Hofmeisters im Hause sei.
Nur Aline, die ohnehin als gesinnungstüchtige Vertraute vom Geheimnis wusste, wurde ihm vorgestellt und brachte durch ihre hinreißende Erscheinung einen Eindruck hervor, den er nicht zu ermessen vermochte und den er auch trotz manches Versuches nicht mehr los werden konnte; denn meinte er auch schon manchmal, sein Gemüt habe sich über den bedeutsamen Eindruck beruhigt, so durfte nur, wie es nun täglich geschah, Aline in Gesellschaft ihrer Mutter oder Brigittes auf seinem Zimmer erscheinen, und der Eindruck war wieder da und mächtiger als zuvor.
Heute nun, wie wir gesehen haben, war es Otto zum ersten Male gestattet worden, das Krankenzimmer zu verlassen.
Man hatte es unter der Form geschehen lassen, dass er als der Sohn eines fernen Bekannten gelte, der einige Zeit in der Stadt wohnen und nun öfters eine und die andere Stunde auf Besuch erscheinen würde.
Die Täuschung war, wie erwähnt, nur für die Kinder berechnet, die denn auch den jungen Gast, der so freundlich und blass aussah, gläubig und bald recht vertraulich begrüßten und seine Ansprache angenehm fanden.
Otto hatte sich nach seiner Rückkehr in das Krankenzimmer in seinen Schlafrock und großen Lehnstuhl geworfen, um all den bunten Gedanken nachzuhängen, welche ihm eben wieder erregt worden waren, als er nach und nach mit seinem Sinnen und Fühlen wieder bei jenem Gegenstande ankam, der ihn in neuester Zeit trotz alles Wehrens doch am häufigsten beschäftigte.
Dieser anziehende Gegenstand war Aline.
Ihre Erscheinung, wie sie vorhin, aus der Kirche heimkommend und noch das Rot armer Andacht auf den Wangen, hereintrat, die Limonade anmutig vor ihn hinstellte, grüßte und sich dann im frohen Kindertumulte so trefflich benahm … diese unvergleichliche Erscheinung wollte vor dem Auge seines Geistes nicht mehr weichen.
Er war eben, ohne es selbst zu wissen, tiefer als gewöhnlich in Betrachtungen versunken, als die Türe seines Zimmer leise aufgetan wurde und – »Brigitte« hereintrat.
Sie brachte Otto das Glas mit Limonade nach und hatte auch sonst noch im Zimmer hier und dort ein wenig zu ordnen und manches hinweg zu holen.
Nachdem ihr Otto halb in Gedanken eine Weile schweigend zugesehen, fing er an, allerlei Fragen an sie zu richten, welche Brigitte, ohne von ihrer Beschäftigung aufzublicken, kurz und artig beantwortete.
Endlich sagte Otto:
»Und wisst Ihr denn auch, Brigitte, warum ich so viel buntes Zeug durcheinander frage?«
»Nun, warum denn, Herr?« erwiderte Brigitte.
»Damit ich Eure Stimmer vernehmen. Ich weiß nicht, was das ist, aber Eure Stimme klingt mir so angenehm, dass ich nichts lieber hören würde.«
»Das mag davon kommen, Herr, dass ich während Ihrer Krankheit so viel um Sie gewesen bin. Den Kranken wird so leicht alles lieb, was sie umgibt, weil sie sonst so vieles entbehren müssen.«
»Möglich, möglich. Aber gerade heraus – es mag Täuschung sein, Brigitte. Eure Stimme hat Ähnlichkeit mit der Stimme meiner Mutter!«
»Das ist mir lieb, wenn es Ihnen so vorkommt, lieber Herr!« sagte Brigitte.
»Ach, meine Mutter! – sie ist also her gewesen, als ich da drüben eingegittert gewesen bin, sie hat auf dem Fenster geblickt und die Arme nach mir gestreckt, als wolle sie für alle Fälle, wenn etwa meine Befreiung misslänge, noch das Angesicht ihres Kindes erblicken!«
»Ja, ja! Was ist das für ein Tag, für eine Nacht gewesen!«
»Ich will's glauben … Brigitte, ich bitte Euch, bleibt noch eine Weile hier, macht Euch zu schaffen – redet, redet – erzählt mir, was Ihr wollt, aber lasst mich Eure Stimme hören – die Stimmer meiner Mutter!«
Brigitte fragte, was sie ihm erzählen solle.
»Eure Lebensgeschichte – erzählt sie mir nochmals – wo Ihr herstammt – wie lange Ihr in dieser Stadt seid – seit wann Ihr der Familie des Professors dient. Alles das erzählt mir nochmals und recht im Zusammenhange!«
Brigitte erzählte nun mit vielem Geschick eine erfundene, kurze Lebensgeschichte und schloss mit dem bedeuten, dass eigentlich die letzten zehn Jahre im Hause des Professors ihr nur ein angenehmer Tag zu sein schienen.
»Das wundert mich nicht«, erwiderte Otto, »welche Eltern! Welche Kinder!«
»Es ist eine Freude mit den einen wie mit den andern!«
»Und – ei, da kennt Ihr ja Aline von Kindesbeinen an! … Dünkt es Euch, dass sie doch noch die Perle von allen Geschwistern ist?«
»Die Wahl tut einem weh – indes, ich glaube fast, Sie haben recht, lieber Herr!«
»Wie unvergleichlich muss sie schon als Kind gewesen sein!«
»Ja, ja – man hatte seine Not, wenn man mit ihr über die Straße ging; die Leute, wildfremde Leute oft, haben die allerliebste Schelmin fast mit den Augen verschlungen. Mütter ließen ihre Kinder stehen und eilten auf den Wunderengel zu.«
Ein lebhaftes Rot flog über Ottos Wangen.
Die Frage, welche er nach einigem Zögern tat, gab Aufschluss über das, was in seinem Innern vorging.
Er sagte, nicht ohne wiederholtes Erröten:
»Aline ist wohl den Augen manches braven jungen Mannes nicht entgangen?«
Brigitte, offenbar überrascht, schwieg einige Augenblicke, dann erwiderte sie:
»Dass Aline unter sehr ehrenwerten jungen Männern die Wahl hätte, ist kein Zweifel; aber mit ist nicht bekannt, dass schon einmal geworben worden oder dass Aline über eine Neigung überrascht worden wäre.«
Die letzten Worte hatten großen Wert für Otto; unwillkürlich erleichterte ein Atemzug seine Brust.
Aber die Art, wie die Worte gestellt und vorgetragen wurden, machte ihn zugleich aufmerksam.
Er sah mit Verwunderung auf und fasste Brigitte schärfer in das Auge.
Er sagte sich in diesem Augenblick selbst, dass es doch eigen sei, warum er bisher noch niemals Brigittes Angesicht genauer und mit Muße betrachtet habe. Es schien ihm fast, als ob Brigitte stets solche Wendungen des Kopfes beliebt hätte, dass er nie ein Studium ihrer Züge ermöglichen konnte.
»Ich weiß nicht, wie es mit ergeht«, dachte er in diesem Augenblick, »nicht nur die Stimme, auch die Gestalt, namentlich manche Bewegungen, und was ich von dem Profil ihres Gesichtes weghabe, erinnern mich an meine Mutter. Komme die Täuschung, woher sie wolle – sie ist mir angenehm, ich will sie unterhalten, ich will sie mehren – »Brigitte!« rief er nun laut, »ich möchte den Rest der Limonade trinken, bringt mit sie her!«
Indem Brigitte die Limonade brachte und etwas verlegen ihren Kopf hin und her wendete, aber doch ihr Gesicht einer genaueren Betrachtung nicht wohl entziehen konnte, richtete Otto scharfe, prüfende Blicke auf sie und entdeckte mit Staunen, dass die Ähnlichkeit mit seiner Mutter immer auffallender werde.
»Erlaubt, Brigitte …«, sagte Otto, das Glas nehmend, ohne zu trinken und seine Blicke unbeweglich auf ihr Angesicht richtend …
»Erlaubt, lieber Herr …« unterbrach ihn Brigitte mit etwas unsicherer Stimme …
Aber Otto unterbrach sie mit wachsendem Erstaunen wieder und sagte:
»Wenn ich nicht wüsste – wenn mich nicht alles im Hause versichert hätte, dass meine Mutter, seit ich hier bin, ferne lebt und unserer Sicherheit wegen ferne leben müsste – Brigitte – Brigitte …«
»Wie?« sagte Brigitte und fuhr sich mit der Schürze über die Stirne, konnte aber die Tränen, die ihr plötzlich aus den Augen drangen, nicht ganz beseitigen – »Wie? So sehr sehe ich Ihrer Mutter ähnlich? So sehr sind Sie versucht, mich für Ihre Mutter zu halten?«
»Brigitte! – Sprache, Gestalt, Auge, Stimme – alles, alles mahnt an meine Mutter – Brigitte – ich bitte Euch – bin ich von Sinnen, oder was soll ich sagen?«
»Sage, dass Du überzeugt bist, – ich sei Deine Mutter und ich werde nicht umhin können – es zu sein – zu Deinem Trost, zu Deiner Freude, zur Lösung auch dieses Geheimnisses!« rief Brigitte.
Und ohne sich länger zurückzuhalten, brach sie in Schluchzen und Weinen aus, ließ sich bebend vor Freude und Weh vor ihm auf die Knie nieder und umklammerte heftig ihres vorbeugenden Sohnes Hals, der nach einer Weile nur die Worte hervorbringen konnte:
»Mutter! Meine Mutter! Als pflegende Magd bei Deinem Sohne!«