Leopold von Ranke
Über die Epochen der neueren Geschichte
Leopold von Ranke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehnter Vortrag

Nachdem im Abendlande eine große Mitte der Kultur gebildet worden war, erschienen plötzlich Völker, welche das mühsam aufgerichtete Gebäude mit einemmal über den Haufen zu stürzen drohten. Dies waren von der einen Seite auf dem Kontinent die Ungarn, auf der andern Seite von der See her die Normannen.

Die Ungarn hingen mit dem ugrisch-finnischen Stamme zusammen, aus welchem die alten Hunnen hervorgegangen waren, so daß sie mit einem Scheine von Recht auf das von Attila früher innegehabte Ungarn Ansprüche erheben konnten. Während der damalige deutsche König Arnulf mit dem großmährischen Reiche im Kampfe begriffen war, bemächtigten sich die Ungarn des letzteren, überfluteten die bayrischen Grenzen und drangen durch die thüringischen und fränkischen Marken bis Lothringen vor. In dieser Bedrängnis erkannten die deutschen Großen das Bedürfnis einer größeren Einigkeit. Aus dieser Erkenntnis ging die Wahl Heinrichs des Finklers aus sächsischem Geschlechte hervor. Er bekam eine außerordentlich schwierige Aufgabe zu lösen, denn er hatte teils mit den Ungarn und Slaven, teils mit den Normannen und Dänen zu kämpfen, was er indes alles mit glücklichem Erfolge ausführte. Er war überhaupt einer der größten Fürsten jener Zeiten. Das Deutsche Reich wurde unter ihm wieder erneuert, aber dessen König war nicht mehr der karolingische Kaiser; Heinrich hatte mit den westfränkischen Karolingern eine Art Abkommen getroffen, infolgedessen er im unangefochtenen Besitze des ostfränkischen Königtums blieb.

Auf ihn folgte Otto I., ebenfalls ein trefflicher Fürst, der mit dem deutschen Königtum das Kaisertum vereinigte. Er ging nämlich mit oder ohne Willen des Papstes nach Rom und setzte dort seine Krönung zum Kaiser durch, eines der wichtigsten Ereignisse der deutschen Geschichte.

Man könnte hier die Frage aufwerfen, welches Recht die deutschen Fürsten auf Italien hatten, und ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie dieses Land hätten fallen lassen. Die Antwort darauf ist, daß sie dasselbe Anrecht auf Italien hatten, wie die Karolinger, und daß man ihnen daher nicht verdenken kann, wenn sie dasselbe geltend machten. Andererseits aber war es für die Entwicklung des deutschen Elementes und namentlich der deutschen Staatsverfassung von der größten Wichtigkeit, daß die Deutschen des Papstes mächtig wurden; und endlich muß man anerkennen, daß die Verbindung Deutschlands mit Italien auf die Kultur jenes Landes den heilsamsten Einfluß äußerte. An das Kaisertum knüpfte sich zudem die Idee der Weltherrschaft im allgemeinen, und daher war es von der größten Wichtigkeit, daß das Kaisertum an Deutschland gelangte. Dieser Umstand hat aber auch allen deutschen Fürsten ihre Bedeutung gegeben; denn dadurch, daß sie den Kaiser wählten, erhielten sie unbestritten eine höhere Würde, als die Großen aller übrigen Nationen.

Otto dem Großen gelang es im Jahre 955, auf dem Lechfelde den Einfällen der Ungarn ein Ende zu machen. Sie zogen sich hierauf in ihr Land zurück, fingen an, deutsche Sitten anzunehmen und gewissermaßen als Vasallen der deutschen Kaiser zu leben. Auch die Dänen nötigte er, die Oberhoheit des Deutschen Reiches anzuerkennen.

Nachdem wir so gesehen, wie aus dem Siege über die Ungarn unter Heinrich I. die Einheit von Deutschland und unter Otto I. die Herstellung des Kaisertums hervorgegangen, haben wir unsern Blick auf die Normannen zu werfen.

Die Normannen kamen durch eine wunderbare Verflechtung von Umständen zur welthistorischen Bedeutung. Wir heben hier nur die zwei wichtigsten Momente hervor:

1. Das Heidentum, das überall in Deutschland geschlagen und mit großer Gewalttätigkeit ausgerottet worden war, zog sich in den höchsten Norden zurück und konzentrierte sich dort bei den Normannen mit der fortwährenden Tendenz, gegen das Christentum vorzudringen.

2. Ein anderes wichtiges Moment war, daß die Normannen jetzt die Seefahrt am besten ausübten und dadurch imstande waren, die entferntesten Küsten mit Leichtigkeit zu beunruhigen. Sie richteten ihre Raubzüge an die Elbe, an die Schelde, an die Mündungen der französischen Flüsse usw. An der Elbe wurden sie im Jahre 880 geschlagen und konnten sich seit dieser Zeit in Deutschland nicht mehr recht festsetzen. Desto mächtiger wurden ihre Angriffe auf Frankreich und England, welch letzteres Land sie schon ganz in Besitz hatten, bis sie durch Alfred besiegt und mit Gewalt zum Christentum bekehrt wurden. Dieser Kampf mit den Normannen beherrschte überhaupt das ganze Jahrhundert und war von der größten Bedeutung, weil die Normannen zu mächtig waren, als daß sie nicht in die große europäische Völkerfamilie hätten aufgenommen werden müssen. Die glücklichen Kämpfe Heinrichs des Finklers und Ottos I. gegen die Normannen und Dänen waren auch insofern von Wichtigkeit, als sie dazu beitrugen, eine gewisse Oberhoheit des Deutschen Reiches über seine Nachbarn zur Anerkennung zu bringen.

Wenn wir nun unsere Aufmerksamkeit auf Frankreich richten, so sehen wir dort die ohnehin ohnmächtigen Karolinger noch dazu auf das heftigste von den Normannen bedrängt, so zwar, daß sich 911 Karl der Einfältige genötigt sah, eine Provinz an der nördlichen Küste Frankreichs (die Normandie) an den Normannenherzog Rollo abzutreten. Unter diesen Kämpfen war besonders das Haus eines gewissen Grafen Robert erstarkt, der sich am besten darin hervorgetan hatte und der Stifter der Kapetinger wurde. Sein Nachfolger Odo wurde schon im 9. Jahrhundert König; sein Haus konnte sich aber noch nicht behaupten, und es trat nunmehr zwischen den Karolingern und diesem neu emporgekommenen Geschlechte ein ähnliches Verhältnis ein, wie jetzt zwischen den Napoleoniden und den Bourbonen.

Der deutsche Kaiser, namentlich Otto I., hatte damals eine große Autorität in Frankreich, und das Deutsche Reich war derzeit ohne Zweifel das mächtigste in der Welt; denn es erstreckte seinen Einfluß außer Italien auch auf Dänemark, Polen, Böhmen und Ungarn. Das Deutsche Reich war aber nicht nur extensiv, sondern auch intensiv groß, indem es die Kultur in ihren verschiedenen Elementen zusammenfaßte und stetig fortentwickelte.

Wenn man nun fragt, wie es gekommen ist, daß das Deutsche Reich auf dieser Höhe nicht stehen bleiben konnte, so tragen daran hauptsächlich folgende Momente die Schuld: erstens daß Otto II. in der Blüte seiner Jahre 983 plötzlich dahingerafft wurde und einen Sohn hinterließ, der noch im Kindesalter stand; zweitens daß sich in den andern Reichen nach und nach mächtige Gewalten konsolidierten, die in einen gewissen Gegensatz mit Deutschland gerieten, namentlich die Kapetinger in Frankreich durch Hugo Capet, und die Herrschaft der Normannen, begründet durch Wilhelm den Eroberer in England; drittens dadurch, daß die deutschen Kaiser in Kampf mit den Päpsten gerieten.


 << zurück weiter >>