Leopold von Ranke
Über die Epochen der neueren Geschichte
Leopold von Ranke

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Neunter Vortrag

Das merkwürdigste bei dieser Vereinigung zwischen Kirche und Staat war, daß beide Mächte von ganz verschiedenen Anfängen ausgegangen waren; denn der Hausmeier, welcher jetzt die höchste Gewalt im fränkischen Reiche erlangte, entbehrte sogar der religiösen Autorität, welche das Volkskönigtum in Germanien bisher gehabt hatte; der Hausmeier war bloß der Repräsentant der weltlichen Gewalt, dagegen der Papst war durchaus geistlicher Fürst und hatte damals gar keine weltliche Macht, und sein Gehorsam war auch zweifelhaft.

Dies war die Grundlage des karolingischen Reiches, wie sie unter Karl Martell und Pippin dem Kleinen sich festgesetzt hatte. Wenn Karl der Große zuerst die Langobarden unterwarf (774), so war das ein großer Vorteil sowohl für ihn, weil dadurch die Franken in Italien festen Fuß faßten, als auch für den Papst, dessen geschworene Feinde die Langobarden gewesen. Nach der Befreiung des Papstes von seinen Feinden zog Karl der Große in Rom ein und wurde von dem Papste unter den größten Feierlichkeiten empfangen.

Den Langobarden blieb nurmehr das Herzogtum Benevent. Dieses stand in Verbindung mit dem Bayernherzog Tassilo, der gleichfalls Karl dem Großen feindlich gesinnt war und sich mit den in Pannonien herrschenden Avaren verbündete. Allein trotz dessen war Karl der Große viel zu mächtig, als daß ihm seine Feinde hätten widerstehen können. Gleich wie die Langobarden durch die vereinigte Aktion des Papstes und des Kaisers unterworfen worden waren, traf dieses Schicksal auch die Herzöge von Bayern und von Benevent. Hiernach warf sich der durch die Waffen bekräftigte Belehrungseifer des großen Frankenkönigs zugleich von Bayern und Italien aus auf die heidnischen Avaren. Auch sie unterlagen und ein Teil ihrer ungeheuren Beute fiel als Geschenk dem Papste zu. Dadurch wurde Pannonien für das Christentum gewonnen. Unter der Herrschaft der Avaren war eine große Menge slavischer Nationen vereinigt gewesen, die nun eine gewisse Freiheit bekamen und anfingen, sich selbst zu organisieren; und weil dies durch Karl den Großen bewirkt worden, so nannten sie ihre Fürsten, die nur Abbilder Karls waren, »Krale«, ein Wort, welches jetzt im Slavischen überhaupt König heißt. Überdies breitete Karl durch seinen Sieg über die Avaren die lateinische Kirche in jenen Regionen aus, so daß auf dieser Seite die Verbindung zwischen Papst und König unbedingt war. Wir müssen hier antizipierend beifügen, daß der Papst niemals dulden konnte, daß der oströmische Kaiser, mit welchem sowohl die Avaren als die Herzöge von Benevent verbunden waren, dort wieder Einfluß bekam.

Hiernächst ist der Kampf Karls gegen die Sachsen zu berühren. Diese waren alle noch Heiden, und da Karl der Große sie zu Christen machen wollte, so waren diese Kriege hauptsächlich Religionskriege. Sowie der Frankenherrscher vorrückte, gründete er in den eroberten Ländern Bistümer und legte den neuen Untertanen zugunsten dieser neu errichteten geistlichen Anstalten den Zehenten auf. Eine Auflage, welche, da sie aus dem Alten Testamente sich herschreibt, einen gewissen geistlichen Charakter an sich hatte; die Bischöfe aber waren zugleich weltliche Beamte, welche den Gehorsam gegen den König förderten. Die Gründung dieser großen Bistümer (Münster, Bremen, Hildesheim, Halberstadt usw.) war ein höchst gewichtiges Moment zugleich für die geistliche und weltliche Herrschaft. Auf diese Weise wurde nach und nach das Christentum und die Autorität des Königs zugleich bis an die Küsten der Nordsee und die Elbe ausgedehnt.

Aber auch auf die Sarazenen und den Islam hatte Karl sein Augenmerk zu richten. Dies war der vornehmste Feind der in der Bildung begriffenen okzidentalischen Christenheit und gegen ihn führte nun Karl der Große die aus Italien, Frankreich und Deutschland vereinigten Streitkräfte und unternahm verschiedene Züge. Schon Pippin hatte die Sarazenen aus dem westlichen Frankreich völlig vertrieben. Karl ging hinüber nach Spanien. Hier kam es ihm sehr zustatten, daß das abgesonderte Kalifat der Omajjaden in fortwährenden Zwistigkeiten mit den Abbasiden begriffen und auch von inneren Empörungen bedroht war, so daß Karl der Große sogar von einigen spanischen Emiren zu Paderborn aufgefordert wurde, nach Spanien zu gehen. Bei Roncesvalles in den Pyrenäen erlitt er zwar eine Niederlage, infolge deren er sich zuerst im südlichen und westlichen Frankreich mehr befestigen mußte; aber nachdem dies geschehen war, überschritt er zum zweitenmal die Pyrenäen, und nunmehr gelang es ihm, die spanische Mark (um Barcelona) zu gründen, aus welcher später die Königreiche Katalonien, Valencia, Murcia hervorgingen.

Karls des Großen Tätigkeit war eine ganz ungeheure; wenn man bedenkt, daß er Italien, Frankreich, Germanien gleichmäßig beherrschte, dabei von seinen Feinden unaufhörlich bald an diese, bald an jene äußerste Grenze seines Reiches gerufen wurde und darüber sein großes Ziel als Fürst der Kultur doch nicht aus dem Auge ließ. Hiebei sind zwei Momente besonders merkwürdig:

1. Daß diese drei Nationen das Bewußtsein ihrer Nationalität, die noch nicht ausgebildet war, Karl dem Großen zu verdanken haben. Wir haben nämlich gesehen, wie in Italien die drei Elemente, Griechen, Papst und Langobarden, sich unaufhörlich bekämpften. Das hörte nun ganz auf: die Griechen wurden aus Italien ausgestoßen, die Langobarden gedemütigt, und der Papst vereinigte sich mit den Franken. Deutschland ferner existierte vor Karl dem Großen eigentlich gar nicht;Die gemeinsame Bezeichnung »deutsch« kam erst im 9. Jahrhundert durch Karl den Großen in Aufnahme. denn bis dahin hatten sich die alten Stämme gar nicht als etwas Zusammengehörendes betrachtet. Erst dadurch, daß Karl der Große sie alle unter seinem Zepter vereinigte, lernten sie sich als Einheit kennen. Ebenso war es endlich in Frankreich; es wäre an eine französische Nationalität nicht zu denken gewesen, wenn nicht die Gascogne und Guyenne mit Frankreich fest verbunden worden wären.

2. Dabei blieb es aber nicht: diese drei Länder wurden nicht allein mehr nationalisiert, sondern, was noch mehr ist, es wurde auch eine Verbindung zwischen ihnen begründet, welche unaufhörlich fortwirkte, und worauf noch heutzutage das europäische Leben beruht. –

Fragt man nun, welche von beiden Gewalten damals die überwiegende war, die geistliche oder die weltliche, so glaube ich, kann man mit Bestimmtheit darauf antworten, daß die weltliche Gewalt überwog, indem der Papst noch nicht so viel Macht hatte, um selbsttätig einzuwirken, sondern mehr die Absichten des Kaisers förderte und unterstützte. Dazu kam, daß der Papst in Rom von einem solchen Parteiengewühl umgeben war, daß er dort kaum zu existieren vermochte. Leo III. wurde sogar einst von einer dieser Faktionen auf der Straße angefallen, zu Boden geworfen, und ihm ein Stück der Zunge abgeschnitten. In dieser Not rief der Papst Karl den Großen um Hilfe an (800). Karl kam auch nach Rom, machte dort Ordnung und setzte den Papst wieder auf den Stuhl. Da war es nun, daß Leo den Gedanken faßte, mit stammelnder Zunge dem König der Franken die weströmische Kaiserwürde zu übertragen. Dazu bestimmten ihn mehrere Gründe: erstens wollte er sich definitiv vom oströmischen Kaiser losreißen; zweitens wollte er sich des fortwährenden Schutzes der fränkischen Könige versichern und hiezu schien ihm die Übertragung der Kaiserwürde an Stelle des bereits von Karl dem Großen innegehabten Patriziates notwendig; drittens befanden sich die ehemaligen Bestandteile des weströmischen Kaisertums ohnehin in den Händen Karls des Großen, so daß er also faktisch bereits Kaiser von Westrom war. Dessenungeachtet war die Übertragung dieser Würde eines der größten Weltereignisse; denn von nun an trat der germanische König auf als ein römischer Imperator, und nachdem diese große Einheit des Abendlandes begründet wurde, nachdem schon ins germanische Königtum Ideen der römischen Staatsgewalt aufgenommen worden waren, so wurde doch dieses Element viel stärker dadurch, daß der mächtige Fürst zugleich römischer Kaiser wurde; denn nun behauptete er, daß ihm alle die Gerechtsame gebührten, die früher dem römischen Kaiser zugestanden hatten.

Dadurch wurde die Verbindung zwischen Papst und Kirche, zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt noch fester. Zugleich schrieben aber die Päpste von dieser Zeit ihr Recht, die Kaiser zu ernennen, her, was insofern verkehrt war, als sie ihnen zwar die Würde, nicht aber die Macht gegeben hatten. Das karolingische Reich beruhte nun aber einmal auf dieser engen Verbindung des Papsttums mit dem Königtum, welche alle Schichten der Bevölkerung durchdrang und bis in die untersten Verwaltungskreise sich erstreckte. Das ganze Reich war eingeteilt in Grafschaften und Bistümer. Neben jedem Grafen stand ein Bischof und beide waren gehalten, einander die Hand zu bieten; ebenso die untergeordneten Zentenarien und Archidiakonen. Wenn der Graf jemand zu einer weltlichen Strafe verdammte, so sollte der Bischof diesen exkommunizieren und umgekehrt. Und doch kann man nicht sagen, daß unter den Karolingern die Bischöfe eine bedeutende Autorität hatten. Sie galten nur als die Repräsentanten der geistlichen Gewalt, die dem Könige zum weltlichen Gehorsam verpflichtet waren und deshalb von ihm getragen und gefördert wurden. Im übrigen setzte der König die Bischöfe ein und versetzte sie, hielt Konzilien usw.

Mit diesen politisch-kirchlichen Einrichtungen war zugleich eine mehr systematische Wiederaufnahme der Kultur aus der antiken Welt verbunden.

Nachdem Karl der Große diese Einheit gestiftet hatte, sah er darauf, daß die unter den Stürmen der Jahrhunderte verwüsteten Schulen wiederhergestellt und gehoben wurden. Zu diesem Zwecke verschrieb er sich von allen Seiten Lehrer, aus Italien den Geschichtschreiber der Langobarden, Paulus Diaconus, aus England, wo er großen Einfluß besaß, den gelehrten Alcuin und andere mehr. Er selbst gründete nicht nur Klosterschulen, welche vor der Entstehung der Universitäten die wichtigsten, ja die einzigen Pflanzschulen der Bildung waren, sondern ging selbst in diese Schulen, belobte selbst die Fleißigen und tadelte die Faulen. An seinem Hofe bestand eine Akademie, unter deren Mitgliedern auch er sich befand. Aber nicht nur diese, sondern auch alle Elemente der Kultur nahm Kaiser Karl zusammen. Er erneuerte den Kirchengesang, von dem alle Musik ausging. Er erneuerte die Baukunst, die Malerei usw.; kurz er war ein Riesengeist, dessen Aufmerksamkeit das Kleinste wie das Größte nicht entging.

Resümieren wir die leitenden Ideen, die seinem Jahrhunderte zugrunde liegen, so sind es in Kürze folgende: 1. Vereinigung von Kirche und Staat, 2. Bildung der Nationalitäten, 3. Verbindung des gesamten Europa, 4. Gründung der Kultur auf dieser Unterlage, und zwar dergestalt, daß sie auf einer Seite die Antiquität umfaßte, jedoch auch dem modernen Elemente Gerechtigkeit widerfahren läßt. Karl der Große fühlte sich überhaupt als guter Deutscher, der, indem er das eine Moment der Kultur festhielt, das andere darüber nicht vergaß.

Nur einem so eminenten Geiste, wie Karl der Große war, konnte es gelingen, die einander widerstrebenden Elemente, nämlich auf der einen Seite das Kaisertum und die verschiedenen Nationalitäten, auf der andern Seite die geistliche und weltliche Gewalt, diese Keime künftigen Zwiespaltes zusammenzuhalten. Seine Nachfolger waren dazu nicht mehr imstande. Nach dem Tode seines Sohnes, Ludwigs des Frommen, waren drei Söhne vorhanden, unter welche das Reich geteilt werden sollte. Die Idee der Geistlichkeit war es, das Kaisertum unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, und diese Idee drang bei dem Teilungsentwurf vom Jahre 817 durch. Lothar, der älteste der Söhne Ludwigs des Frommen, wurde hiebei in einer Weise begünstigt, daß seine Brüder ihm gegenüber gleichsam als apanagierte Prinzen erschienen. Darüber kam es zum Streit zwischen den Brüdern Lothar, Ludwig und Karl dem Kahlen. Der fränkische Heerbann betrachtete sich lange Zeit als eine Einheit und wollte lange für oder wider die Brüder nicht Partei nehmen. Endlich kam es zum Treffen bei Fontenay 841, in welchem Lothar geschlagen wurde, und hierauf 843 zur berühmten Teilung von Verdun. In dieser erhielt Karl der Kahle alles Land bis an die Maas, Ludwig der Deutsche alles Land bis an den Rhein und Lothar die Rheinlande selbst bis ans Meer auf der einen und bis an die Rhone auf der andern Seite (Lothringen im weitesten Sinne) nebst Italien. Das merkwürdigste hiebei ist, daß infolge dieses Vertrages nicht drei Reiche entstanden, sondern daß drei Brüder ein großes Reich teilten, von denen der älteste ein oberstes Ansehen behielt.

Lothar II., Lothars Sohn, starb ohne Hinterlassung von Erben, und ebenso sein Bruder Ludwig II., und nun entstand die Frage, ob ihr Erbe den östlichen oder westlichen Karolingern zufallen sollte. Karl der Kahle machte alsbald Ansprüche darauf; er eilte schnell nach Italien und wurde vom Papst unterstützt; allein die deutsche Linie behauptete das Kaisertum und jagte Karl den Kahlen aus Italien hinaus, dessen Enkel 879 auf das lothringische Erbe am Rhein und Italien Verzicht leisteten, welches nun mit Deutschland vereinigt wurde. Daher kam es, daß von nun an die späteren deutschen Könige immer Kaiser waren. Hätte Karl der Kahle seine Idee durchgesetzt, so wären die französischen Könige Kaiser geworden; da aber die Linie Ludwigs des Deutschen die Oberhand behielt, und zwar nicht bloß durch die Gewalt der Waffen, sondern auch durch Vertrag, so blieb die Kaiserwürde bei Deutschland.

In diesen Kämpfen zwischen den Gliedern der karolingischen Familie war die Macht der Großen ungemein erstarkt; es war nämlich den Großen gewissermaßen freigestellt, zu welchen von den drei Brüdern sie sich bekennen wollten, und dadurch stiegen sie aus der Rolle gehorsamer Untertanen gleichsam zur Würde von Beschützern empor. Bereits unter den Karolingern finden sich Spuren von Erblichkeit der Ämter. Wir können die Sache zwar nicht mit Bestimmtheit erforschen, aber wir finden ein CapitulareVerordnung, Erlaß. aus der Zeit Karls des Kahlen, nach welchem die Könige nicht mehr das Recht haben sollen, die Magnaten ihrer Honores, d. h. nicht nur ihrer Ehrenämter, sondern auch ihrer Besitztümer zu entkleiden. Während also unter Karl dem Großen das Ganze eine alles umfassende Einheit gewesen war, so erhob sich unter seinen Söhnen und Nachfolgern eine mächtige Aristokratie in den Herzögen und andern Großen.

Währenddessen suchte auch die Geistlichkeit den Verfall der höchsten weltlichen Autorität zu ihren Gunsten auszubeuten. Hiebei diente ihnen als mächtiger Hebel eine der merkwürdigsten Produktionen, die je menschliche List zum Vorschein gebracht, nämlich die falschen Dekretalen,Die pseudoisidorischen Dekretalen sind wahrscheinlich um die Mitte des 9. Jahrhunderts in einem Kloster der Kirchenprovinz Reims entstanden, als Herausgeber wird ein sonst unbekannter Isidor Mercator genannt. Es handelt sich um eine große Sammlung alter und neuer Dekretale, Papstbriefe, Konzilsbeschlüsse, die aber zu einem sehr großen Teil gefälscht oder überarbeitet sind. Eine der folgenschwersten Fälschungen. Die Absicht ist, die fränkische Kirche, besonders die Bischöfe vom fränkischen Staat unabhängig zu machen. Zu diesem Zweck wird dem Papst eine besondere Machtstellung über der Synode zugesprochen. Die protestantischen Geschichtsforscher der Reformationszeit wiesen zuerst die Fälschung nach. d. h. eine Sammlung von meist gefälschten päpstlichen Dekreten, in welchen den Päpsten Rechte beigelegt wurden, die oft jeder Begründung entbehrten. Da aber diese Dekrete überall, und namentlich in Deutschland, für echt angesehen wurden, so fanden die späteren Ansprüche der Päpste, die sie im 9. Jahrhundert zwar nicht durchsetzten, wohl aber bereits formulierten, hierin die kräftigste Basis.

Also durch drei Momente war die mächtige Einheit, welche Karl der Große gestiftet hatte, wieder zersetzt worden: erstens durch die inneren Kämpfe seiner Nachfolger; zweitens durch die Erhebung der Magnaten infolge dieser Kämpfe; drittens durch das mächtige Emporstreben der Päpste, welche nunmehr Rechte geltend machten, an die man früher nicht dachte. Die Einheit des Reiches bestand aber noch fort, und auch die Kultur war im vollen Schwunge und hatte sich nach Regionen erstreckt, die sie früher nicht erreicht hatte.


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