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Nachdem wir von der Ausbreitung der Religion gesprochen haben, ist die Frage zu beantworten, auf welche Weise die Begründung einer Kirche vor sich gegangen ist. Hiebei ist einiges als Analogie aus dem Judentum herübergenommen worden, z.B. der Unterschied zwischen Geistlichen und Laien. So wie es bei den Juden einen besonderen Stamm, die Leviten, gab, dem die Besorgung des Gottesdienstes vorzugsweise oblag, so wurden auch im Christentume die Geistlichen, im Gegensatz zum Volke (λαοσ) als Los Gottes (χληροσ) angesehen. Ungeachtet der in manchen Beziehungen nicht zu verkennenden Analogie mit dem Judentum gewann die Kirche jedoch eine andre Gestalt, als dieses, namentlich durch die höchst eigentümliche Bildung und Erscheinung der Synoden und Konzilien.
Schon in den frühesten Zeiten der Kirche bildeten sich Gemeinden, welche in einer gewissen Verbindung miteinander standen und sich eine Art von kirchlichem Selfgovernment angeeignet hatten. Die Hauptsache aber ist, daß die Vorsteher dieser Gemeinden, die Episkopi, zusammentraten und streitige Fragen über das Dogma in letzter Instanz entschieden, unter der Behauptung, daß dieser ihrer Verbindung der heilige Geist innewohne. Merkwürdig ist es hiebei, daß diese Synoden zuerst in echt republikanischen Gegenden zusammenkamen, wo noch die Idee von den alten Bundesverhältnissen sich erhalten hatte, wie in Achaja. Ursprünglich waren diese Synoden partikulärer Natur, später dehnten sie sich zu allgemeinen Konzilien aus, zu denen die ganze Welt (οιχουενη) zusammenströmte, und auf welchen dem Christentum jene doktrinelle Grundlage gegeben wurde, auf der wir heutzutage noch stehen. Dieses höchst wichtige Institut gab dem Christentum auch eine größere Repräsentation für die Doktrin, wie sie noch nicht dagewesen war, und während die Staatsverfassung sich zur Absolutheit ausbildete, trat in der Kirche eine ganz andre Erscheinung hervor, nämlich die der Selbstregierung und Selbstbestimmung von unten her, welche, alles zusammenfassend, wieder neben dem großen Staate ein eignes Reich bildete.
Das Christentum war bereits, bald unter der Verfolgung, bald unter der KonnivenzZuneigung, Duldung. der Kaiser ziemlich weit verbreitet worden, als Kaiser Konstantin in der Mitte des 4. Jahrhunderts es in seinem Interesse fand, oder durch irgendeinen uns unbekannten Umstand bewegen wurde, das Christentum anzunehmen. Es war für ihn von der größten Wichtigkeit, sich, nachdem er als Imperator an der Spitze der Armee und als Regent an der Spitze der von ihm eingerichteten Verwaltung stand, auch an die Spitze dieser neuen Organisation zu stellen. Er begriff auch die hohe Bedeutung dieses Schrittes und gerierte sich als obersten, sozusagen äußeren Bischof der Kirche, wodurch erst die Einheit des Reiches zum vollständigen Abschluß kam.
Dadurch aber wurde zu gleicher Zeit auch die Kirche, die bisher noch keine Einheit gewesen war, zu einer großen Genossenschaft erhoben; denn die römischen Bischöfe waren damals noch weit entfernt davon, sich als Oberhäupter der Kirche zu betrachten; vielmehr standen die Patriarchen gemeinschaftlich unter den Kaisern, obwohl sie sich in geistlicher Beziehung nicht viel von ihnen dreinreden ließen.
Da nun entstand die Frage: sollte das Christentum in diesem doch immer engen Bezirke des römischen Reiches eingeschränkt bleiben?
Das römische Reich barg eine Menge Mißstände in seinem Schoße. Hiezu muß man vor allem die verderbliche, viel zu gewaltsam eingreifende Verwaltung rechnen. Ferner war das römische Reich nicht prolisipReich an Bevölkerung. genug; es hatte infolge der verheerenden Bürgerkriege, infolge der gegen die Ehe nach und nach eintretenden Abneigung und aus andern Gründen eine unendliche AbnahmeIn Hinsicht auf Fortpflanzungsfähigkeit besteht überhaupt zwischen der germanischen und romanischen Bevölkerung ein Unterschied. Frankreich z.B. hatte im Jahre 1815 eine Bevölkerung von 30 Millionen, Preußen von 10 Millionen, jetzt hat Frankreich 35 Millionen, Preußen aber 17 Millionen Einwohner, so daß Preußen nunmehr fast die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs besitzt. der Bevölkerung erlitten, zu deren Vermehrung auch das Christentum nichts beitrug, in welchem sich sehr bald mönchische Tendenzen kundgaben.
Wir sehen also hier die merkwürdige Tatsache, daß das römische Reich, nachdem es die größten Produktionen hervorgebracht hatte, die für die Welt nötig waren, in sich selbst verödete. Es kam nun darauf an, daß sich die expansive Kraft der zur Herrschaft gelangten Weltideen betätigte. Dies konnte auf zweierlei Weise geschehen: erstens indem diese Anschauungen den übrigen Nationen durch Übertragung nahegebracht wurden, was auch teilweise der Fall war, – in Britannien verbreitete sich das Christentum weit über den römischen Wall hinaus. Jedoch geschah das mehr in einer sektiererischen Form, welche der Aufgabe nicht genügen konnte. Zweitens konnte die Expansion der christlichen Ideen vor sich gehen durch den Krieg, welcher eine Menge Völkerschaften, namentlich aber Germanen, in unaufhörliche Berührung mit den Römern brachte und dadurch auch zu einem Moment der Kulturverbreitung wurde.
Beides konnte aber nicht bewirken, daß die Welt jene Elemente sämtlich in sich aufgenommen hätte: die Propagation der welthistorischen Ideen und der Kultur, wie sie sich im römischen Reiche entwickelt hatte, wurde mehr vollzogen durch die Eroberungen fremder Völker im römischen Reiche, als durch die Eroberungen der Römer über fremde Nationen. Hätten die Römer diese Ideen durch Besiegung der andern Völker über die Welt verbreitet, so würden sie damit zugleich ihre Sprache und ihr ganzes Wesen den andern Völkern aufgeprägt haben; die übrige Welt würde ebenso romanisiert und gräzisiert worden sein, wie es bereits im Orient und teilweise auch im Okzident geschehen war. Dahin aber sollte es nicht kommen; die andern Nationen der Welt hätten dadurch ihre ganze Ursprünglichkeit eingebüßt. Da indes die Römer auch nicht stark genug waren, das zu vollführen, so fiel jene Aufgabe den Germanen zu. Diese durchbrachen auf allen Seiten den römischen Limes, und erst dadurch, daß sie das Christentum annahmen, wurde die Weltreligion die Religion aller Nationen.
Einen merkwürdigen Gegensatz hiezu bilden die Araber, welche nicht die Weltreligion, wohl aber die römische Kultur in sich aufnahmen. Dadurch aber entwickelte sich die wunderbare Weltverkettung, daß auf der einen Seite im Westen die Germanen, auf der andern Seite im Osten die Araber die von den Römern überlieferten Anschauungen kultivierten und fortpflanzten.