Max Pulver
Himmelpfortgasse
Max Pulver

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9. Kapitel

Festtage

Wie ein Stier gegen die Wand! Wie ein Stier. Ist das meine Diplomatie? Zum Teufel damit, alles ist gleichgültig. So oder so – Methoden sind Umwege. Meine Stirn brennt vom Zusammenprall. Widerstand.

Endlich. Es ist fast befreiend, Gegenleben zu spüren. Kampf. Aber doch bleibt etwas quälend. Nur beim ersten Stoß brannte Härte des Gegenwillens. Dann federte es zurück, polsterartig. Keine Mauer, eine Kautschukwand, die zurückstößt, ohne zu verletzen. Unangreifbar geschmeidig. Ist dieser Widerstand der letzte oder der erste? Schämt sie sich ihrer Nachgiebigkeit und will sie verstecken, oder – sie ist abgesprungen. Nerven. Bestimmt nur Nerven.

Sie ist doch hysterisch. Von der Mutterseite her belastet. Die Spannung zwischen notgedrungener Alltagsmaske und heimlichem Rausch – für sie unerträglich. Vielleicht wirkt auch das Gift. Zwar versichert sie mir, nicht mehr zu schnupfen, aber sie verschafft es sich noch irgendwo, wohl von jenem Assistenzarzt. Übrigens, weshalb gibt der Mann ihr das? – Unsinn. Gefälligkeit. Es gibt doch gefällige Leute. Das Bedürfnis, Proselyten zu machen, ähnlich wie bei Morphinisten. Und schön ist sie. Man kann ihr doch nichts abschlagen. Das ist alles. Summe: Zusammenbruch. Vielleicht wirklich ein paar Tage Bettruhe. Freilich, die Pfingstgelegenheit ist hin. Aber wer weiß, ein Erholungsurlaub hernach, Ferien.

Ruhig bleiben, vor allem ruhig bleiben. Verloren ist noch nichts. Möglich, daß ihre Stimmung bis morgen umschlägt. Vor allem: den Tag einteilen, die Stunden mit Tätigkeit ordentlich vollpfropfen. Keine Phantasien, kein Abwägen und Nörgeln. Arbeiten und zuwarten. Glücklicherweise habe ich ja reichlich zu tun. Untersuchungen. Auch Ruth müßte ich antworten. Nein, das laß ich lieber anstehn. Einstweilen gehe ich ins Kaffeehaus. So. Freistunde. Es ist recht gemütlich, einmal nicht verabredet zu sein. Verteufelt gemütlich. (Journale sind doch was Köstliches, und die vielen Wassergläser!) Zum Heulen gemütlich. Schluß mit den Faxen. Kellner, zahlen! Heim.

Das Auto hat mich wirklich gestreift. Ich schwanke ja wie ein Besoffener über die Straße. Ja, will ich denn wirklich blind sein. Will ich mich wirklich – –. Dazu ist es noch zu früh. Also, an die Arbeit . . . Ich lege die Lupe weg. Eigentlich ist doch diese letzte Szene recht komisch gewesen. Wie eine beim Ehebruch Ertappte auf der Bühne. Gib's weg, oder ich schreie um Hilfe. Hat sie wirklich geglaubt, ich wolle –. Die Gedankenleserin, die kleine Hexe. Das ist das Zweite Gesicht. Angst kann hellsichtig machen. Ich nehme das Buschmesser aus dem Gürtel und rolle es in der Hand. Wie gemein sich die Klinge ausbuchtet. Das ist kein Dolch, keine Spitze zu kurzem, trocknem Stich, wo der Durchbohrte lautlos einknickt. Breit, fast beilförmig, etwas auch wie ein Hackmesser. Man muß es flach ansetzen, damit es richtig schneidet. Zum Tranchieren, zum Schlachten. Für Metzger, für Kannibalen eigentlich. Für Buschleute, für Menschenfresser.

Also daran hat sie gedacht. Sie fürchtet, ich könnte sie strafen. Oder – sie wünscht es. Wofür will sie Strafe leiden? Für ein Vergehen doch. Für . . . vor ihrem Gewissen hat sie mich verraten. So ist es. So. Keine Ausflüchte. Ich weiß. Unumstößlich steht diese Überzeugung vor mir. Wie langsam ich bin. Zu trottelhaft. Jetzt, wo sie aus meinem Bereich ist, sehe ich es plötzlich ein. Jetzt erst. Daher erschrak sie auf den Tod. Irgendwie gab sie ihr Geheimnis preis, zu spät gewahrte sie es und erschrak. Witterte ich es? Ja, doch. Aber nur einen Augenblick lang, und dann übertölpelte mich der Verstand, mein waches, blödsinniges Wissen. Ich zauderte, das hat sie gerettet. Nichts macht stumpfsinniger als der Intellekt. Dieser Vater der Lüge, Selbsttäuschung und Selbstbetrug wie Kulissen schiebend vor das nackte Gewahren, vor den Tierblick, der schon die Sprungbereitschaft des Angriffs in sich trägt.

Mariquita, das Weibchen, dieses Stück Natur, hat in ihrer Geschmeidigkeit gesiegt. Eine Sekunde noch, ich hätte sie erwürgt, aber ihr Schlangenleib bog aus. Ich stutzte, und sie entrann. Die Flucht ist ernsthaft. Sie flieht um ihr Leben. Sie wird nicht wiederkommen. Bestimmt. Die Mauern schießen zu – Gefängnis. Ganz bestimmt? Bleibt nicht eine kleine, winzig kleine Hoffnung? All das ist logisch, zwingend. Unwiderruflich. Die Entscheidung ist gefallen. Also . . . Kann man nicht auch zu logisch denken? Das ist Männerverstand. Männerkonsequenz. Bündigkeit betrügt mich vielleicht jetzt – wie vorhin. Etwas stimmt zu gut, stimmt also nicht ganz. Gefahr lockt. Neugier. Wird sie wiederkommen? Prickel ist in jeder Drohung. Ist es nicht ihr tiefer Wunsch, der mir das Messer in die Hand drücken möchte? Möchte sie nicht, daß ich sie töte? Hat sie mich nicht stets zu Quälereien getrieben, in der ersten Nacht schon, mir Fragen aufgedrängt, die sie erniedrigten, ihre Beichte sich abpressen lassen? Und später: meine Hände mußten sie quälen, sie schrie danach, befahl es mir, zwang mich erst, als ich noch widerstrebte. Meine Peinigungen sind ihr zu schal geworden, ihr Stachel zu sanft. Eine neue, schärfere Peitsche für ihre Nerven, mehr ist es nicht. – Bestimmt? Möglicherweise nicht mehr. Die Entscheidung ist nicht gefallen.

Nur eine Sprosse höher sind wir getrieben auf der Qualleiter, die man Liebe heißt. Die Spannung ist noch weiter überspannt. Weiter weg vom Boden, höher hinauf oder weiter hinab ins Zwischenreich. Noch entfernter vom Gleichgewicht. Exzentrischer. Noch gefährlicher die Luft. Weiter nichts. Unbestimmt. Giftiger. Kaum noch auszuhalten. Mein Herz schlägt unvermittelt in den Hals. Beginnt langsam und schleichend wieder. Extrasystolen. Eine Neurose, wenn nichts Schlimmeres. Vielleicht in einem jähen Blutschwall das Ende. –

Gaby kommt spät nach Hause; sie findet mich vor dem Tisch – starrend. «Bist du eingefroren?» Ich kann nicht antworten. «Du hast Streit gehabt? Geh schlafen.» Sie packt mich am Arm, führt mich zu meinem Diwan. «Zieh dich aus.» Sie geht ins Nebenzimmer. Ich gehorche. Sie kommt wieder herein, beugt sich über mich, küßt mich plötzlich. Ganz scheu und verstohlen. Wie ein Bub. «So, schlaf schon.»

Wie ein Toter muß ich geschlafen haben. Ordentlich verkrochen habe ich mich in den Schlaf. Ich habe nicht geträumt. Träumen ist zu gefährlich. Keine Mitteilungen; auch die neue Dimension will ich nicht. Nichts darf in mich hineinragen. Leere soll sein. Wüste. Sand. Sand. Sand. Wie ungern ich erwache. Warum? Wie überflüssig ist diese Rückkehr aus dem Nichts. Nicht mehr mitmachen, streiken. Das ist das beste. Dieses Morgenlicht zieht mich in einen Tag zurück. Ungefragt. Ungebeten. Seine brutale, ewig gleiche Ordnung. Abgestanden. Ohne Interesse. Die Wirklichkeit kann ihre Zudringlichkeit zu weit treiben. Schließlich kann mich doch nichts zwischen den Dingen halten, wenn ich nicht mehr will. Im Vergessen ist Freiheit. Oder vorn an der Mündung des Pistolenlaufs. Die Diskussion über die Freiheit des Willens erübrigt sich. Schluß machen kann ich. Genügt ihnen das? Gibt es eine schlagendere Beweisführung? – Wieder einschlafen – ein zweites Argument. So kann man Diskussionen abschneiden – wie einen Faden.

Wie den Lebensfaden – übrigens eine schneidermäßige Vorstellung. Wer sich fürchtet, ist ein Narr. Was tut's, wenn ich falsch gerechnet habe? Ich streiche durch. Und dann kann ich ja auf einem neuen Blatt anfangen. Schließlich kann man sich immer in eine Krankheit zurückziehn, halb Selbstmord, halb Schlaf. – Wie Mariquita. Ob sie geflohen ist?

«Gaby, ist Post da?» Keine Antwort. «Gaby?» – Soll ich wirklich aufstehn. Ja, geht denn einer freiwillig zum Richtblock hin? Der Henker schleift ihn doch wenigstens hin. Der Henker besorgt seine Toilette. Soll man wirklich selber hinspazieren und den Kopf zurechtlegen? Ich sitze auf dem Bettrand, angle mit den Füßen nach den Pantoffeln. Gaby schläft bestimmt noch. So geradwegs zum Briefbeutel am Türschlitz zu gehn, das ist doch wirklich unmöglich. Aber aufstehn muß ich. Ich schlage einen Mittelweg vor. Rasieren wir uns.

Ich gehe hinaus. Der Gaskocher steht einen Meter links von der Türe entfernt. Ich stecke die Flamme an. Der Wecker zeigt elf Uhr. Ich bin wirklich lange fortgewesen. Das befriedigt mich. Ein Akt der Unabhängigkeit. Also dieses Tor bleibt mir offen. Auf und davon.

Warum fahre ich nicht allein nach Venedig? Die Zelte abbrechen. Ich bin doch ein Nomade. Sollte mir drauf ankommen! Ein Pfingstausflug. Mit der Südbahn. Wenn nur das verfluchte Gummiband nicht wäre. Aber daran schnelle ich zurück. Mag es sich dehnen und dehnen, zerreißen wird es doch nicht, und ich sause nach Wien zurück an die Himmelpfortgasse. Was gehn mich Landschaften an? Städte? Die Fremde? Ist man nicht schon in seiner Heimat verlassen genug? Mariquita kann ich nicht davonlaufen, nicht einmal mir kann ich davonlaufen. Man soll zum Richtblock hingehn und den Kopf drauflegen. Das ist die Flucht nach vorn und macht am wenigsten Umstände. Mit einem Sprung bin ich an der Tür, durchwühle den Kasten – nichts.

«Alexander.» Gaby ruft. «Ja.» «Herkommen.» «Guten Morgen, schon wach?» «Schon seit acht Uhr. Der Briefträger hat mich geweckt. Er hat einen Eilbrief für dich abgegeben. Dort am Sims.»

Mariquitas Züge. Ich stürze ins Nebenzimmer, öffne zitternd, aber behutsam mit einer Schere die Schmalseite, wie bei einer Geldsendung, wo man Banknoten zu verletzen fürchtet. Sie schreibt –

 

«Lieber,
 

heut früh, wenn du diese Zeilen erhältst, bin ich abgereist. Nur für ein paar Tage. (Die nächsten zwei Worte sind durchgestrichen und zugeschmiert.) Irgendwohin ins Gebirge. Ruf zu Hause nicht an und such meine Adresse nicht zu erfahren. Ich muß Ruhe haben. Bitte!! Seit Tagen bin ich schlaflos. Mein Zustand ist furchtbar. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Das ist kein Vorwurf, aber so quälen wir uns zu Tode. Erst muß ich zur Ruhe kommen.

Bitte, laß mich.

Von Herzen frohe Feiertage.
M.
 

P.S. Ich schreib dir, sobald ich Klarheit habe. Geh mit Gaby spazieren. Sei vernünftig!! Bestimmt komm ich bald wieder und ruf dich an.» –

 

Das Beil ist gefallen. So schmeckt es also – tot zu sein. Wie stark muß der Schlag sein, daß man ihn so gar nicht spürt. Ist das Betäubung? – Nur nicht erwachen. Etwas brennt – aber ganz abgerückt. Eigentlich spüre ich es nicht. Ich konstatiere bloß. Nur nicht erwachen, daß nicht etwa der Schmerz – «bestimmt komme ich bald wieder.» Das ist: nie. – Die Angst ist vorüber. Ich brauche mich nicht mehr zu rasieren. Schnell, draußen das Gas löschen. So. Und ins Bett, weiterschlafen.

Ich schließe die Augen. Mariquitas Zeilen sind wie weggewischt. Etwas flatterte. Wie der Zickzackflug eines erschreckten Vogels sind ihre Zeilen. Die Taube spürt den Habicht, der auf sie herabstoßen will. Aber kann sie ins Freie? Sie ist doch im Käfig, hinterm Gitter. Ist nicht ein Gitter da, mitten zwischen den wegstiebenden Worten eine Stelle – durchgestrichen und zugeschmiert. Ein Gefängnis. Nachsehn! Ich öffne die Augen wieder, glätte den zerknitterten Bogen in meiner Hand: Ganz richtig: zwei Worte stehn da – zugetuscht hinter einer doppelten Palisadenhecke enggedrängter Grundstriche: «Zu Toni.» Kein Zweifel. «Zu Toni.» So heißt es. Nachher kommt, mit glatten, in liebenswürdiger Falschheit zugerollten Spiralen «irgendwohin ins Gebirge.» – Also nicht in die Freiheit. Aus meinem Käfig ist sie ausgebrochen, um in den andern zu fliegen. Ihre Freunde haben sie weggelockt, die Schwache erlag ihnen, wie sie allen vordem erlegen. Sie ist nicht davongelaufen in die heilsame Wüste der Selbstbesinnung. Ein neuer Rattenfänger lockte sie mit seiner alten Weise. Das ist es. Mein Vögelchen folgt einem neuen Bann. Toni – an jenem Abend haben wir uns gewittert. Unsere Strahlungen prallten gegeneinander. Rangen entscheidungslos. Schließlich lenkten wir ab ins Blödeln.

Was ist Toni? Eine Liebende? Wohl kaum. Eher eine Machthungrige. Intrige, Kuppeltrieb, darin lebt sie ihren Ichdurst aus. Ihre Brüder – Marionetten? Wegnehmen, dem fremden Mann wegnehmen, Mariquita an sich reißen. Ihr Triumph die Selbstbestätigung, daß sie mehr als Frau ist, stärker. Den Mann übermannt. Das ist für sie das erste. Ausgedrückt in der Sprache weiblicher Freundschaft: «Ich will nur dein Bestes.»

Aus dem Unsichtbaren langt sie herüber. Fast leiblos. Ohne Gesicht. Keine Fläche für mich, wo ich Gegenkraft ansetzen kann. Ein Kampf mit ungleichen Waffen. Sie stößt mich in einen luftverdünnten Raum, unter die Saugpumpe. Ein Attentat aus dem Hinterhalt. Man entzieht mir das Leben. Umsichtig und vorsichtig. Wenn ich mich rächen will, gibt es vorerst nur eines: Flucht.

Ich fahre in die Kleider, stürze aus dem Haus. Bedrohlich neigen sich die Häuserwürfel auf mich herab. Auch sie sind mit im Komplott. Sie lauern darauf mich zu erdrücken. Sie beobachten mich. Das Beste ist, harmlos zu erscheinen. Ich pfeife. Meine Kehle macht ekelhafte Schlingbewegungen.

Auf der Straßenbahn. Da verliert man sich. Umsteigen am Praterstern. Hinaus. Wir kriechen über die Reichsbrücke. Lehmgelb flutet die Donau unter mir fort. Baumkronen ragen aus dem Überschwemmungsgebiet. Auf dem linken Damm wimmelt es von Nackten, sie kriechen an der schrägen Mauer hinab, versuchen das Bad oder liegen wie Erlegte an der Sonne.

Pfingstsamstag. Erster Ausbruch glühenden Sommers. Dampfboote, breit und trächtig, schaufeln sich stromaufwärts, Schaumstreifen an den glitzernden Flanken. – An der schönen blauen Donau. – Der gelbe Fluß . . . China. Franz-Josefsland – Bretterdörfer der Bettlersiedlungen. Jetzt ein Damm zwischen zwei Seen: die alte Donau. Ich steige aus. Schlendre dem Ufer entlang gegen Norden. Der Teich zu meiner Linken wimmelt von Zillen. Arbeiterfamilien, den roten Wimpel am Bug ihres Lotterkahns; dicke Weiber, wie Kartoffelsäcke über die Ruderbank gestülpt, bloßschultrige Mädchen mit Büstenhalter und flatternden Röckchen über nackten Beinen, Kindergewimmel, alles vorwärtsgestemmt von den Grobschmiedarmen des Vaters. Die Burschen haben sich vor diesen Archen gedrückt und jagen, in Reihen ausgerichtet, militärisch taktmäßigen Ruderschlags in ihren Linzerschnecken seeaufwärts. Auch hier knallen am Bug die roten Wimpel. Wie kleine hölzerne Torpedoboote schießen sie zwischen den Mittelstandspaddlern hindurch. – Manöver der roten Flotte. – Die völkische Mannschaft auf den Vierern und seltenen Achtern flattert nur einen kurzen Strich lang übers Wasser dahin, dann liegt sie schon, verschnaufend und ins Gewimmel verkeilt, aufs neue still. Die Herrenfahrer in ihren Einern kauern gelangweilt in der Sonne.

Über die schottrige Straße stolpre ich schmerzhaft vorwärts. Kahlenberg und Leopoldsberg schwimmen im Horizont, gegürtet mit dem Eisenband der Brücke von Floridsdorf. Endlose Güterzüge kollern spielzeughaft zwischen den Eisengittern, Silos, Häuserblocks, überragt von Kirchturmnadeln, schimmern in Rosatönen über den Strom.

Vor soviel Welt, vor soviel schweißiger, proletarischer Wirklichkeit schrumpft meine Enttäuschung ins Lächerlich-Geringe. Aber etwas Ödes ist um mich, etwas ausgeweidet Puppenhaftes, das zum Schreien reizt. Verkriechen kann man sich hier, auf einem Müllhaufen verrecken, ausgebeult wie eine leergefressene Konservenbüchse. Ein Lumpenbündel auf einem Kehrichthaufen, – mehr gilt der Mensch hier nicht.

Ein paar Jollen kreuzen unendlich behutsam zu mir herauf. Beständig müssen sie lavieren, jeden Augenblick über Staag gehn. Der Steuermann, die gleitende Leine in Händen, verlegt fortgesetzt sein Gewicht zwischen Steuerbord und Backbord, während sein Klüvergast, oft ein reizender Bubikopf in weißem Dreß, träumerisch am Boden hockend das Focksegel bedient. Der Nachmittag ist lang. Ich finde mich nicht mehr in der Zeit zurecht. Vielleicht ist unbemerkt die Hölle der Ewigkeit angebrochen. Die grelle Lebenslust ringsum blendet mich. Wie ihr Lachen über das Wasser schallt! So soll man leben. Viehisch zwischen Schutthaufen oder in einer lottrigen Zille im Teich plätschern. Brünstig, schweißbedeckt im Kindergebrüll sich vermehren; mag die Brut auskriechen, wohin sie will.

Eine Hysterika macht eher zehn Gesunde tobsüchtig, als daß zehn Gesunde eine Hysterika heilen. Totschlagen.

Mit erhobenen Fäusten stürme ich vorwärts. Totschlagen. Mein Stock fetzt wütend um einen Pfahl. Ans Stirnende getroffen fliegt er übers Feld. Blöder Ersatz. Hinein in die Ortschaft. Ich muß Streit haben. Händel. Einen Kerl abtun.

Müllschüttel heißt diese Hüttenstadt. Soviel Bescheidenheit ist zynisch. Wirklich nur Bretterbuden, errichtet über dem Humus verfaulter Kohlblätter. Wie ein gereizter Stier stoße ich durch die Dorfstraße. Die Rangen hinter den Lattenzäunen pressen furchtsam ihre dreckbeschmierten Fratzen in die Lücken. Kein Mensch auf dem Fahrweg. Ich schwenke nach links und kollere in einer Erdrunse voller Unrat und ausgefräster Blechstreifen zum Bootshafen hinunter. Gedräng am Anlegeplatz. Mädels mit Schals über den Armen und ohne Hut hüpfen an der Hand der Schiffsburschen aufs Floß oder quirlen mit den Riemen ungeschickt im Wasser herum. Schlamm quillt in wolkigen Fahnen aus der Untiefe, kloakenhaft. Ein Bursch, das Paddel auf der Schulter, streift mich. Blitzschnell fährt ihm mein Ellbogen in die Flanke. «Verzeihung, mein Herr», macht er abgehend, und legt zwei Finger an die Schirmmütze. Hoffnungslos. Keiner stellt sich. Meine Flegeleien erscheinen diesen frohen Menschen nur wie Tolpatscherei. Ein Wirbel! Über mir, unter den Kastanienreihen trinkt man Kaffee. Lauter Pärchen. Dann und wann ein Alter, dem auch allein wohl ist. Weit draußen krickt eine Punt vorüber. Kunterbunt liegen sie auf den Polstern im Boot. Achtern, neben einem nackten Jungen, läßt ein dickes Mädchen im Trikot die Beine ins Wasser bammeln und trillert auf der Lotosflöte –

Die schöne Adrienne –
Tschinderateraterata Radio –
Mit ihrer Hochantenne . . .

«Scheißhering.» «Bieder Hund, bieder.» Zwei Schnecken sind ineinander verhackelt. Um ein Haar kippt die eine. Leider ist schon alles wieder in schönster Ordnung. Diese allgemeine Heiterkeit ist unerträglich. Mit zehn Groschen in der Tasche kann man glücklich sein – am Wasser und bei der Pfingstsonne. Kohlensäure, Luft, Champagner, das Leben prickelt ordentlich. Drehorgelkitsch, zum Schluchzen schön. Sonne, Sonne, Sonne.

Wozu ein Mädchen lieben? Grade Mariquita? Alle Mädchen, alle, Mensch und Vieh. Den Dreckfratz und den Lauseköter auf dem Müllhaufen. Alles. Wozu hassen? Wozu diese Maske, unter der ja doch verschämte Liebe hervorblickt! Wozu diese Quälerei und Angst? Die Welt verschmäht dich nicht, Wind reibt dich froh und rot, du säufst Luft, daß dir die Rippen krachen. Streift dich nicht an jeder Ecke Abenteuer? Bist du nicht frei zu gehn, unterzutauchen im Strom? Bist du nicht frei, mitzumachen oder beiseite zu treten, die Waffe in der Faust, die dir alles vom Leib hält? Hoffnung hält einzig Stich. Nicht Furcht.

Mariquita kann dir verloren gehn. Aber das Leben bleibt. Die Erwartung, das Morgen. Überraschendes. Der Einsatz ist hoch. Der Verlust wäre hoch. Aber niemals ist ein Spiel ganz verloren. Revanche, Rache? Aufschieben. Wozu so verdächtig vorschnell hassen? Ruhig Blut bewahren, nicht die Augen zudrücken. Vor der Wirklichkeit so wenig wie vor den andern.

Ja, andere sind ebenso schön wie sie. Mit ihrem unsichtbaren Kielwasser von Duft segeln sie vor dir her ins Abenteuer, in die rote Abendsonne. Nur die Silhouette, schwarz, glutumflossen, treibt vor dir auf dem Feldweg. – Der Hafen ist verlassen, die letzten Hütten bröckeln ab. Ich gehe im Zickzack über Feld. Diese Gestalten lenken meine Schritte bald nach links, bald nach rechts. Wie ein Eisenstück unter dem Einfluß verschiedener Magneten unentschieden schwankt, bis es dem mächtigsten Zuge gehorchend anschießt. Anschießen, anschließen, was will ich doch? Nicht mehr allein sein.

Zusammengehn. Drei Mädchen sind vor mir. Über das niedergetretene Gras gehn sie fast auf gleicher Höhe, aber in einigem Abstand voneinander. Jetzt überhole ich die mittlere. Ein tschechisches Bauerngesicht, rund und rot, die Backen mit Sommersprossen übersät. Sie schielt zu mir herüber. Diese nicht. Was will ich überhaupt? Schon schwanken meine Schritte nach links auf der Fährte der Dunkelhaarigen, die vor mir herläuft, fast ein bißchen gehetzt. Ich spanne den Schritt. Jetzt bin ich an ihrer Rechten, halte mit ihren Füßen gleichen Takt. Sie schaut mich nicht an. Im blendenden Licht zerschmilzt ihr Gesicht. Die Augen gesenkt, geht sie etwas unsicher gradaus. Nach ein paar Schritten stolpert sie, bleibt stehn, bietet mir in einem Anfall von Mut ihr Gesicht, fragt: «Bitte?» «Ja, nein. Ich hab mich getäuscht, entschuldigen Sie, bitte.» «Suchen Sie jemand?» macht sie und scharrt mit dem Fuß. Neugier ist in der Stimme, mit einem ganz dünnen Oberton von Angst. «Ich –» (bin so allein) verschlucke ich. Zu kitschig. «Ja, wirklich, ich suche.» Die Augen der Dunkelhaarigen fangen an zu lachen. Die Lippen ziehen sich ein bißchen von den Zähnen. Ihre Züge sind derb und seltsam gradaus. Forschend blickt sie mich an, fast wie eine Mutter ihr krankes Kind . . . «Ich bin Ihnen nachgelaufen. Ich weiß selbst nicht, weshalb. Oder doch, schon. Aber das ist Unsinn. (Unaufhörlich spür ich, wie mein Kopf nickt.) Aber das ist Unsinn. Einen Rat brauch ich halt.» Sie zögert. «Von mir?» Ich nicke. «Ja, gehn's, Herr.» «Es ist halt Unsinn», brumme ich, lüfte den Hut und mache auf den Hacken kehrt.

Drüben klingelt eine Straßenbahn. Plötzlich fange ich an zu laufen. Den Wagen muß ich haben. Ich such ja nur. Ich muß heim. Im Briefkasten muß ich nachschaun. Sie hat geschrieben. Sie kommt zum Sonntag. Ich such ja nur – oder bin ich verrückt, bitte. Meine Fußspitze krampft sich ins Trittbrett. Verschnaufen. Die Linke am Riemen, eingepfercht, rattre ich über den gelben Fluß. Heim. Die Straße kriecht atemraubend steil. Ganz dösig steigt der Lift. An jeder Etage knackt die Sicherung. Wie weit es ist zur Tür. Weit weg dreht sich der Schlüssel im Schloß. Natürlich nichts. Der Briefbeutel ist leer. Gaby ist ausgegangen. (Hat sie nicht irgend so eine verfehlte Geschichte? Eine Quälerei mit einem Mann?) Zibi hat sich verkrochen. Ich kann nicht mehr wach bleiben. Das Gehirn, dieser Wiederkäuer, hat sich übernommen und braucht Schlaf.

Wozu ich heute aufgestanden bin? Es hat sich doch nichts ereignet. Alles war so wie jetzt, wo ich wieder auf dem Diwan liege. Feiertag. Feierschichten einlegen. Die Seele aussperren, eh sie von selbst die Arbeit verweigert. Kein Hantieren, keine Kraftverschwendung. Still sein, bis die Störung behoben ist. Kurzschlußgefahr. Ich spüre schon den Schlag. Er liegt in der Luft. Vielleicht kann ich die Berührung vermeiden. Übrigens bin ich recht brüchig. Das Gift? Immer wieder springt mein Herz in den Hals. Die Gewaltsamkeit muß aufhören. Ich versuche mich zu entspannen. Aber Schlaf ist es nicht, was mich lau auflöst. Mürb geht mein Leib aus seinen Grenzen, nur das Herz stockt, straff gehärtet. Dann – wie ein Stein. Schließlich dämmere ich in den Pfingstmorgen hinüber. Ich kann vergessen. Ich weiß, daß ich vergessen will. Darüber hinaus fragen ist verboten. Ich habe nur eine Pflicht: vergessen. Ich stelle mir dieses Wort in Sperrschrift vor. Das macht mir Mühe. Wirklich, ich brauche alle Kraft dazu. Eine ausgezeichnete Übung, die mich innerlich ganz verschlingt. Müßte nicht der Mensch glücklich sein, der sich wirklich auf das Vorstellungsleben des Verstandes beschränken könnte?

Instinkte sind für die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts eben so überflüssig wie Schwimmhäute – wir haben doch die Technik. – «Also, fünf Uhr ist vorüber», weckt mich Gabys belustigte Stimme: «Hast du wieder ein Schlafmittel?» «Mutlosigkeit ist das wirksamste», entgegne ich. «Mach mit mir einen Abendbummel.» «Gern. Denn so steht es geschrieben. Übrigens habe ich nicht geschlafen.»

Die Laternen flammen auf, als wir durch die Nußdorferstraße gehn. Gaby schimpft auf die Festtage: «Schau dir die Leut an. So lang einer seiner Arbeit nachgeht, schaut er aus wie ein Mensch. Dreckig, aber wie ein Mensch. Ein halber Tag Freiheit, und sie vertrotteln. Gehn schlenkernd mit den Gliedern herum, die ihnen nicht gehorchen. Dann schinden sie sich mit Kind und Kegel ab. Am Abend saufen sie und verkeilen andere oder kriegen Schläg. Weihnachten schließlich, meinetwegen noch. Aber Pfingsten, ich bitt dich. Was ist da überhaupt los?» «Du fragst im Ernst?» «Tatsächlich.» «Die Ausgießung des heiligen Geistes. Das Fest. Unser Fest.» «Du spinnst.» «Ich hoffe es. Nichts ist herrlicher im christlichen Glauben, als dieser Augenblick.» «Ernsthaft?» «Ernsthaft.» «Du hast den Augenblick verschlafen, mir scheint.» «Gaby, das war kleinlich.»

«Du, da hat Beethoven gewohnt.» Wir stehn in einer stillen Vorortstraße. Unvermutet sind wir in ein anderes Jahrhundert hineingelaufen. Eine Tafel hängt im Schatten. Schwer zu entziffern.

Siech, taub, von den Furien der Einsamkeit und des Menschenhasses gepeitscht, horstete er hier in seinem grün-ländlichen Versteck. Maske des Sonderlings, des Biedermanns: Die Spatzen glauben, ein Kauz hockt drinnen im Dunkel. Derweil ist es ein Adler.

Seine Organe öffneten sich nach den Sternen. Vielleicht muß man sich gegen die Erdströme abschließen, damit das obere Gesetz rein erklingen kann. Diese Leidenschaft duldet keine andere neben sich. Man muß verachten können, um zu lieben.

Schaffen ist ein Rausch, stärker als Giftrausch. Hinter verschlossenen Lidern geht das Zweite Gesicht auf, welches das erste ist, erfüllt vom Goldglanz des Gartens Eden. Pfingsten. Die Ausgießung des heiligen Geistes.

Krankheit war sein strenger Meister, der hinter ihm die zerstreuenden Türen abschloß. Die Notenschlüssel wurden die einzigen, die seinen verrammelten Sinnen einen Weg ins Freie offen ließen. So wanderte der Kranke durch sein Zimmer, auf den Spuren einer Melodie: Jenseits der Sinne lag sie wie ein Bergkamm, von dem uns ein breites und tiefes Tal trennt. Drüber lag Föhnlicht; nah schien alles zum Greifen. Und er sprach die Formen dieses Gebirges mit Tönen nach. –

Später kehren wir bei einem Weinbauern ein. Der Latschenzweig vor der Tür, der blinde Geiger unter den Obstbäumen, verliebtes Volk, paarweis weinselig umschlungen an den Brettertischen. Furchtbar schlägt die Erinnerung an Mariquita auf mich zurück. Hat unsere Entfremdung nicht auch beim Heurigen begonnen, im sechzehnten Bezirk, in Ottakring, an einem Spätnachmittag, während der Rummelplatz herüberorgelte. Ich kann den Wein im Becher nicht anrühren. Gut, daß es so dunkel ist. Gaby hört mich würgen. Sie klopft mir auf die Schulter. Es hilft nichts. So legt sie für mich aus, schleppt mich zur Straßenbahn. Lauter Liebespaare. Jetzt fahren's heim zusammen. Rechte Kavaliere. Nicht lauter geschwinde Mädeln. Auch Besseres. Festeres. Die leben richtig im Konkabinett zusammen, wie man hier sagt. Oh! Plötzlich glühend Klarheit: daran bin ich gescheitert, im Grund nur daran. Wir haben ja nie zusammengehaust. Kaum im Anfang die eine vergiftete Nacht. Und seither kaum mehr – buchstäblich – kaum mehr. Das hat uns auseinandergeschlagen. Keine Metaphysik, Himmel, Hölle und Familie, – nur dieses eine. Wenn du eine Frau liebst, darfst du sie nie weglassen, keine Stunde, keinen Augenblick. Sie muß sich an dein Bett gewöhnen, muß neben dir einschlafen, neben dir aufwachen. Muß deine Schulter spüren, wenn sie schläft. Das konnte ich vergessen, das! Was jeder Bauer weiß, was jedem Neger im Blut steckt. – Wir andern sind Gehirntrottel. Einsamkeit ist unsere gerechte Strafe. Eine andere Welt, eine andere Ordnung von Beziehungen schiebt sich zwischen Ich und Du.

Wer sich entwickelt, verstrickt sich in den Fangarmen einer eifersüchtigen Nebenwelt. Verlust häuft sich auf Verlust. Jedesmal, wenn wir einen Schritt ins Sinnliche zurückmachen wollen, werden wir durch ein neues Opfer bestraft. Meine Mutter – jetzt Mariquita. Und Ruth? Hat sie nicht geschrieben, daß sie nach London gefahren ist? Dort irrt sie herum, kann sich selbst nicht entgehn, ebenso verzweifelt wie ich. Ich muß heim, ihr schreiben, sie irgendwie trösten. Heißt das nicht Mariquita verraten? Aber ich muß. Zu viel Unglück ist schon angerichtet worden. Glücksgier ist mörderisch wie Krieg. Ich muß retten, die andern wenigstens, wenn ich schon mich selbst zerstört habe. Oder ist das wiederum nur ein Selbstbetrug? Eine neue Flucht? Von Mariquita weg zurück in den Mutterleib. Betäubung mit Gewesenem. Bin ich schiffbrüchig oder auch schon verbrecherisch?

Auf der Plattform des Anhängewagens schluchzt eine Ziehharmonika. Die Paare im Wagen kuscheln sich aneinander, summen mit: «Wien, Wien, nur du allein.» Gaby neben mir singt laut. Auch der Schaffner drängelt sich trällernd durch die Reihen. Weiß Gott, man ist hier glücklich. Bankrott, schiffbrüchig, von tausend Sorgen gehetzt – aber glücklich. Beneidenswertes Volk. Ich möchte dem nächsten sein Mädchen aus dem Arm reißen und mit ihr schlafen gehn. Einfach so ein dummes herziges Ding in der Nähe haben. So, wenn es atmet, Freude auf den Poren, gesund, satt und lebendig wie ein Tier. Tiere sind die wahren Götter. Gras fressen, aufschnaufen, Gras fressen. – Ich will heim.

Trotz aller Psychoanalyse hier sind die Träume – Walzerträume – Kitsch. Aber mitten ins Herz. Mitten ins Herz. Eine banale Liebelei ist besser als jede Tragödie. Was braucht man sich zu verstehn, wenn man sich nur hat. Sind Probleme mehr als die anspruchsvolle Maske unserer Impotenz! In der Ars amandi war ich wohl nicht unerfahren. Aber ich versäumte zu halten, zu binden, unselbständig zu machen, eine Wolke von verwöhnter Lässigkeit um meine Geliebte zu zaubern, den süßen Nebel verschlossener Haremsräume. Ich hatte Mariquita geweckt, ihre Sensibilität aufgepeitscht und überspannt. Das Hellhörige, das Hellfühlige in ihr entbunden. Nun spürt sie schärfer den Unterschied der spezifischen Gewichte, sie federte gegen meine Schwere hoch. Dieser Unterschied verletzt die Eitelkeit ihres Geltungswillens; sie rächt sich mit dem Vorwurf: ich belaste sie zu stark. Zwar vielleicht war der Vorwurf nicht nur Racheakt – vielleicht hatte sie für sich recht.

Während dieser Überlegungen war ich mit Gaby die Treppen hinaufgestolpert. Den Lift hatten wir augenscheinlich vergessen. Mechanisch kleidete ich mich aus. Also, einen Fortschritt haben mir die Festtage gebracht. Ich erkenne jetzt, worin die Gefahr für die Beziehung zwischen Mariquita und mir liegt: mein Übergewicht muß verschwinden. Da ich es nicht aus der Welt schaffen kann, muß es wegeskamotiert werden. Fühlbar darf es nicht mehr sein. Ein Stück Geist gilt es zu opfern, um Mariquita zu halten. Ich muß ihr Vorsprung geben, sie soll glauben können, daß sie mir überlegen ist. Natürlich ist sie es als Frau auf tausend Arten. Aber das will sie nicht gelten lassen. Sie muß den Mann in mir erniedrigen können, um sich als Sieger zu fühlen; die Suggestion muß sie für einen Augenblick überschwemmen, daß sie unsere Beziehung geistig leite. Innerlich habe ich Zutrauen zu ihrer schöpferischen Kraft. Aber sie mißtraut sich auf diesem Gebiete selbst und projiziert den Zweifel in mich hinüber. Darin liegt die eigentliche Gefahr. Lieben heißt doch das Selbstgefühl des andern stärken, gestaltende Kräfte in ihm aufspüren, reizen, zum Durchbruch bringen. Liebe ist die Magie des Glaubens: das wesenhaft Geahnte zur leibhaften Verwirklichung zu führen. Die Hebammenkunst meines Instinkts in fremden, träumenden Bildtriebleben; der Stoß an die übersättigte Lösung, worauf Kristalle anschließen. Aus Erschütterung gerinnt Gestalt. Wenn ich ihre bildenden Impulse nicht befreien kann, habe ich sie verloren.

Das muß ich erreichen; und sei es durch Täuschung. Das ist ein nächstes Ziel. Vordergrund – vielleicht kein Eigentliches? Kaum. Aber doch mehr als bloßes Mittel. Vielleicht fesselt Dankbarkeit. Die Selbsttäuschung der Freiheit genügt doch zum Leben. Fügen wir uns scheinbar ins Mutterrecht wie der schlaue Äneas, wie alle irrenden Ritter. Nichts verpflichtet diese weibliche Generation mehr als das Gefühl zu herrschen. Manngleich. Nähren wir diesen Selbstbetrug. Binden wir durch Dienst. Diese Fußangel ist am leichtesten zu verstecken. Also, nichts von Entführung, wenn sie wiederkommt. Keine Vorwürfe, kein Ultimatum. Keine Überwältigung durch Macht. Gehorchen. Scheinbar gehorchen. Ihre Pläne entgegennehmen. Kein Widerstand, der sie zum Entschluß reizen könnte. Die Führung ihr überlassen. Sie wird um Entscheidungen verlegen sein, zögern, hinausziehen. Dann unbemerkt Richtungsimpulse einträufeln. Die Saat keimen lassen. Meine Wünsche müssen auf ihrem Baum reifen. Unschuldig sein wie die Tauben und klug wie die Schlangen. Abwartende List. Und als nächstes Endziel – gemeinsame Flucht an den Lido. Zusammenleben im Süden. Sie muß selbst ihre Zügel lockern. Wien ist übermächtig. Fremder Boden treibt sie in meine Arme zurück.


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