Max Pulver
Himmelpfortgasse
Max Pulver

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3. Kapitel

Jänner

Das kam überstürzt. Zu Winters Anfang war unser Briefwechsel völlig eingeschlafen. Und was gab es denn auch mitzuteilen? Die Wahrheit behielt ein jeder ja doch für sich. Schließlich, ich war verheiratet und dachte nicht daran, mich zu verändern; und sie – ja, was war denn überhaupt los in Wien? Was war los? Wie wäre sie dazu gekommen, ausgerechnet mir ihre Zukunftspläne und Herzensangelegenheiten mitzuteilen, wo ich doch nichts von ihr wußte. Lisbeths Andeutungen . . . Aber Mariquita wollte mir nichts von ihren Ängsten mitteilen, sie verbarg diese Dinge vor mir; Gleichgültiges und Unsauberes erledigt man in der Stille. Wahren wollte sie ihr Bild, daß einer sei, der sie wahrhaft kenne, jenseits jener Wirklichkeit, die schlimmer fälscht als Traum, jenseits der Verleumdung durch den Alltag. Fruchtbares suchte sie zu erhalten, das fühlte ich aus ihren Zeilen, die verschwiegen.

Zu Lisbeth war ich nicht mehr gegangen; ihre halben Andeutungen schmeckten nach Verrat, besser war es, nichts zu wissen, als sich Wissen zu erschleichen. Dazu ging von Lisbeth ein Reiz aus, dem ich mich nur durch Abwesenheit ganz entziehen konnte.

Ich fühlte mich sehr isoliert. Wohl möglich, daß diese Abkapselung mit jenem Gift zusammenhing, unter dessen Bann ich damals stand. Mit jenem Gift, dessen Wirkungen so oft und so falsch beschrieben worden sind, weil die Gesundheitsapostel, welche davon reden, es niemals an sich durchzuprobieren wagten.

Einer der bekanntesten Pharmakologen Deutschlands wies mich einmal gesprächsweise daraufhin, daß fast jeder Erdteil sein spezifisches Narkotikum gefunden habe und gebrauche. Asien den Haschisch und das Roh-Opium, die Australier eine Wurzel, die sie ausgraben, kauen, in kochendes Wasser spucken; erst bei diesem Prozeß geht sie in Gärung über und bekommt als Absud ihre narkotische Wirkung. Europa den Alkohol, mit seinem stursten und für die Abfolge der Geschlechter gefährlichsten Rausch. Die Indianer des südlichen Amerika endlich die Blätter der Kokastaude.

Was die Rothäute bei ihren mühevollen Wanderungen stets gebraucht, was tief mit ihrem visionären Hellblick und ihrer unerhörten Sensibilität der sinnlichen Beobachtung zusammenhängt, Blatt einer Scholle, der sie so gut entstammen wie die Staude, die dieses Alkaloid ausscheidet, hatte sich das Kokain – von den spanischen Eroberern nach kurzem Genuß verflucht – bei uns lange nur eine verschwiegene Anhängerschaft ärztlicher Verehrer erworben, bis es durch die Kriegslazarette in die Menge getragen, kurz nach dem Friedensschluß sich explosiv über Europa ausbreitete.

Wann und bei welcher Gelegenheit ich es kennenlernte, ist mir nicht mehr erinnerlich. Ich schnupfte es ausschließlich, Injektionen habe ich nie gebraucht. Zu beschaffen war es sehr leicht. Portiers, Kellner, verarmte Barone und Künstler handelten damit; Großschieber in dieser Ware, die sich für meine Kontrollmethoden interessierten, machten mir gelegentlich ein Fläschchen zum Präsent. Der letzte Angestellte der chemischen Großfirmen verschaffte sich in der Inflationsperiode damit einen Nebenverdienst. Durch tausend Hände, durch die von Kellnerinnen, Zahnärzten und Kokotten rieselte der weiße Strom in die Gesellschaft und die ihrer Lust dienenden, unter ihr liegenden Bezirke.

Später soll es bei Chauffeuren und Näherinnen in Gebrauch gekommen sein, aber da war es unter den oberen Zehntausend als Mode natürlich schon erledigt. Überraschend bleibt die Tatsache, daß eine so befremdende und im Grunde für die meisten unwillkommene toxische Wirkung dermaßen gierig gesucht worden ist. Nur Massensuggestion, snobistische Sensationslust, das Bedürfnis, den durch Krieg und Hunger abgeschlafften Organismus wenigstens für Augenblicke zu spannen, zu überspannen, machen den Massenkonsum dieser Droge erklärlich, denn ihr fehlt der Hauptreiz, um dessentwillen andere Räusche gesucht werden: Betäubung.

Keine Herabpressung ins Animalische, wie beim Alkohol, keine verschwebenden Traumflüge wie beim Opium, kein Einschrumpfen des Ichs und kosmisch-rasendes Riesenwachstum der Dinge wie beim Haschisch, keine künstlichen Paradiese abstürzend in das Erwachen wirklicher Höllen; Kokain macht überklar, überwach, durch Wände und Seelen hindurchwitternd, unerbittlich, grell und flackernd zugleich, lähmend den Leib, den Geist zu sausender Reise aufstachelnd; analytisch, entdeckerisch, wirkt es utopisch-reale Gewebe, ballt imaginäre Essenz, unerhört jede sinnliche und sensible Wahrnehmung verfeinernd; Kokain entbindet den Geist aus seiner Verschränkung, unerbittlich nackt tritt der Abgelöste sich selbst gegenüber; das heißt, das tritt ein, wovor fast alle Menschen fliehn, das was die Gesellschaft schuf, die öffentliche Meinung, den Staat, das Zusammenleben in jeder Form: Angst vor der Selbstbegegnung des Einzelnen, des Einsamen.

Das Grauen vor tiefster Isolierung hätte die meisten zweifellos vom Genuß zurückgehalten, hätten sie seine Wirkung klar erfaßt. Unverstanden muß diese unheimliche Abspaltung wohl auch gefühlt worden sein, denn die Kokainsüchtigen scharten sich zusammen und nahmen das Gift im kleinen Kreise Gleichgesinnter ein, zunächst, um das tiefe Unbehagen einer Einwirkung zu übertäuben, die unendliche Gespräche verschleiern sollten; aber diese Täuschung mißlang. Bald genug zersplitterte der Austausch der Meinungen in kaum sich streifende Monologe, jeder stieg auf exzentrischer Kurve, die sich vor dem Blick seines Nachbarn verlor; hilflos aus der Gemeinschaft fortgezerrt, fanden die Teilnehmer dieser Nächte überwachenden Feste nur spät und gewaltsam in kaltglühender, vom eigenen Wunsch und Willen getrennter Erotik die Brücke zum Du zurück.

Seltsame Unechtheit stellte sich brennend gerade auf diesem Gebiete ein. Oder war nur die starre Kruste überm Abgrund geborsten? War, was heraufbrach, in grausamer und gequälter Umarmung Verschüttetes, unsere erste Natur – unter unserer Tagesmaske Gestocktes und Verstecktes?

Eine Wandlung aller Gefühle, befremdlich, wie unter der Magie afrikanischer Landschaft, entfaltete sich, so daß sich unser geglaubtes Ich verlor, unsere sozialen Typen sich auslöschten und ein Unpersönlich-Mächtiges heraufbrach. Unbegreifliches ward getan und erduldet, Durst nach tiefster Erniedrigung unserer selbstgewissen Ichheit lechzte nach Schmerzen; das innigst Gefürchtete peitschte man herbei; bitter wie der Geschmack des Alkaloids in Nase und Rachen war der Nachgeschmack dieser unnatürlichen Vereinigungen. Verzweifelnd an der Unbegreiflichkeit eigenen Tuns und Erleidens stürzte sich der Süchtige in stets gesteigerte Dosis, stieß von der Tagwelt kräftiger ab, um in jener Zwischenschicht der Entrückung zu verharren, die – in sich klar und zusammenhängend – den gefühlten Wahnsinn der eigenen gescheiterten Existenz mit den Erleuchtungen eines exotischen Übersinns vertrieb.

Vielleicht schon ein Jahr vor meiner Begegnung mit Mariquita hatte ich dieses Gift geschmeckt und an den gemeinsamen Zusammenkünften seiner Verehrer teilzunehmen begonnen. Aber seine isolierende Wirkung traf mich dermaßen stark, daß ich mich automatisch aus dem Kreise wegstahl und mit meiner Entrückung in der Einsamkeit verschwand. Nach kurzem, gemeinsamem Hochlodern sprang kein Funke mehr zwischen mir und den andern hin und her, und so mied ich diese Zusammenkünfte, deren fratzenhafte Bilder in mir haften, wie im Taucher ein anderes Gesicht, verzerrt durch die Lichtbrechung in der Wassertiefe. Unter dem glatten Spiegel des Alltags hocken diese Selbstverlorenen auf dem grünen Seegrund, ein Kreis von Ertrunkenen, die unter dem Zug der Strömung miteinander zu spielen scheinen, und deren Glieder widerstandslos wie Papier jedem Anstoß nachgeben. Oben aber sicheln die rastlosen Schiffe des tätigen Lebens. Grau sägt der Bleikiel der Yachten an ihnen vorbei, stumpfer Donner der Motoren kollert zu ihnen herab. Druck des gepreßten Wassers schüttelt sie wie Wind, sie wanken, glotzen hohl nach oben, mit Augen, die kein Bild mehr halten können.

Häufiger und häufiger tauchte ich zu diesen Toten hinab, ihre leere, flackernde Erregung lernte ich überall erfassen, wo sie sich auch herumtrieben, auf der Straße, im Kaffee, in Gesellschaft und auf der Bühne; jeder zweite Schauspieler schnupfte damals, und die Elevinnen gaben sich irgendeinem Schieber um ein Gramm dieser Droge hin. Die beständige Angst, durch Razzien der Polizei oder durch ein spekulatives Stocken in der Zufuhr jählings um ihr lebensnotwendiges Narkotikum gebracht zu werden, schloß alle Kokainisten zu einem unsichtbaren Ring zusammen; man half sich gegenseitig aus, man erkannte sich auf zwanzig Schritt, teilte den letzten Rest, geizte aber zugleich damit wie ein Wucherer mit seinem Gold; eine unerhörte Intelligenz wurde zur Wiederbeschaffung aufgewandt; denn die Wüste, die hinter der Oase dieser Entrückung lag, war furchtbar, das Innere ausgebrannt wie ein zerschossenes Dorf.

Kurz nachdem ich die ersten Dosen des Gifts eingenommen, zog ich mich aus jeder Gesellschaft zurück. Eine ungeahnte Steigerung der Sensibilität stellte sich ein, der Raum begann zu klingen und zu schwingen, Festes wurde durchsichtig, Hellhörigkeit begann, später kamen Stimmen. Meine präsentabeln, für das soziale Leben wie mit Watte umwickelten Triebe und Gefühle sprangen aus ihren rosa Hüllen, Rücksichten, Masken, Lügen blätterten ab – stahlnackt stach das Messer aus der abgestreiften Verkleidung.

Die Selbstbeobachtungen jener Tage bleiben mir äußerst wertvoll. Die Zeitspanne zwischen dem Wegfall der gewohnheitsmäßigen Selbsttäuschungen und dem Eintritt der giftbedingten Halluzinationen und damit verbundenen neuen Selbsttäuschungen war von einer Luzidität, mit der ich keine andere Erkenntnisweise zu vergleichen wüßte. Das ganze Gewebe des Triebgeschehens, der verstrickte Ursprung und die unendlich wandelbare Abschattung aller Regungen, Gefühle, Erkenntnis- und Wahrnehmungsvorgänge fächerten von einem Punkt her vor mir auseinander. Ich verdanke diesem Gift weitgesteigertes Gefühl für Nuancen, für Sous-entendus, für Abtönung und für die unsichtbar durchstrahlende Wirkung von Hintergründen. Es hat mich mit den Zwischenschichten vertraut gemacht, mit dem Nährboden unserer Realitätsebene; die äußerst intensiv und ausgedehnt betriebene Schulung der innern Wahrnehmung brachte mich mächtig weiter, zugleich aber kam es zu erheblichen Schwankungen des seelischen Gleichgewichts, die Exzentrität drohte – mit dem Verlust des letzten Berührungspunktes am Kreise menschlicher Gemeinschaft; Abspaltung, brückenlos, schien unabwendbar. Herzstörungen stellten sich ein. Da brach ich ab. Von einem Tag auf den andern trennte ich mich von dem Gift.

Angeblich soll das unmöglich sein. Ich habe es aber in einer Reihe von Fällen miterlebt. Im Augenblick, wo ich eine weitere Ausbeute für meine Erfahrung nicht mehr erwarten konnte und wo die seelischen und leiblichen Störungen einen beunruhigenden Charakter annahmen, zog ich mich aus diesem Seelenklima zurück, das ebenso unzuträglich wurde, wie die Sahara im Sommer. Ich habe eine Entdeckungsreise gemacht, mit der Gefahr erhöht sich der Ertrag. Meine Entschlossenheit zu bedauern habe ich keinen Anlaß. Vergnügungsreisenden empfehle ich dieses Land nicht.

Rausch werden sie nicht finden. An Stelle von Klarheit nur Wirrung. Sie verstricken sich, ohne sich zu lösen, und kommen ärmer zurück, als sie auszogen, wenn sie wiederkommen.

Seit meiner Trennung von Mariquita hauste ich also in den Höhlen dieser Zwischenschicht. Da flatterte mit eins in den letzten Jännertagen ein Telegramm von ihr wie ein verwundeter Vogel in mein Labyrinth: «Ankomme 8 Uhr 35 abends herzlich Mariquita.»

Jetzt erinnerte ich mich. Als ich im Herbst von ihren Schwierigkeiten vernahm, hatte ich sie eingeladen, zu mir zu kommen. Meine Frau hatte sogar diesen Vorschlag mitangeregt. Besorgt verfolgte sie die vereinsamende Wirkung des Gifts, sie mußte ahnen, wieviel mir schon jene imaginäre Beziehung war – genug, sie hatte den Vorschlag gemacht, und ich hatte ihn eigentlich nur weitergegeben, ohne im Grunde an seine Verwirklichung selbst zu glauben. Meine erste Antwort auf die Drahtnachricht war erregtes Unbehagen.

Utopisches Wolkenspiel senkte sich herab, zerriß: Verwirklichung, unheimliche Unwägbarkeit des ins Dasein drängenden Augenblicks, plötzliches Gewichtsein jetzt nach spielender Form, Gehalt gerinnend zu Gestalt, Übergewicht stürzend aus erschüttertem Gleichgewicht: Entscheidung. Sie kommt zu mir. Was wird geschehn? Auszudenken wagte ich es nicht. Sie wird bei mir wohnen. Nicht denken, nicht überlegen, der Strom braust heran, erfaßt dich, gurgelnd reißt er dich mit. Nicht widerstehn, schwimmen, sich treiben lassen, nicht widerstehn. Ob er dich ans Ufer trägt, mitzerrt ins Getümmel des unendlichen Meers? Nicht denken, Denken ist Verrat. Leben. In die zischenden Wogen schreit eine Stimme aus mir: ich will Mariquita! Echo, klagend, deckt den Schrei.

Wer rief: ich will? Furcht treibt mich um, Freude hetzt mich. Noch zwei Stunden, dann muß ich zur Bahn, und alles entscheidet sich; wieso? Nicht fragen, nicht hinsehn. Etwas wächst, etwas wird – drohend mit Wirklichkeit.

Die Klingel schlägt an. Mein Puls stockt: Sie! Zu früh. Mit versagender Hand ziehe ich den Türriegel zurück. Zwei Damen stehen draußen, verschneit, im Pelz. Zwei Freundinnen meiner Frau. Clythia, die ältere von beiden, reizt mich seit langem. Ihr Kosakentemperament – sie ist Halbrussin, Offizierstochter, die geschiedene Frau eines Herrenreiters; von den Männern enttäuscht, lebt sie mit ihrer blonden großen und spielerisch grausamen Freundin zusammen – ihr Kosakentemperament peitscht mich ebenfalls zur Angriffslust. Während ich den beiden den Pelz abnehme – ein harter Blick Clythias auf meine Hände, die die Schultern ihrer Freundin streifen, belehrt mich, daß ich vorsichtig sein muß –, lodert in mir jählings unsinnige Gier hoch. Diese beiden muß ich besitzen, in ihrem gegenseitigen Sichbelauern, in ihrem neidischen Haß auf den Mann, im ganzen tobenden Furioso ihrer lesbischen Eifersucht: mein Lächeln verzerrt sich, ich geleite sie in das Zimmer meiner Frau.

Wieder beginnt das Katze- und Mausspiel. Die Frauen kauern auf dem Diwan, ich sitze ihnen gegenüber, lahm vor Spannung; über uns ballt sich der wahnsinnige Blitz, dessen Feuerorgie uns mit einem Schlag entzünden wird; das Gitter ist in die Tiefe gesunken: vor mir kauert die Tigerin; sprungbereit. Wir starren in die grünen bösen Edelsteinaugen – Opferbeute. Rasend kreist der Raum. Über meine Nerven sägt die Stille.

«Sieben, acht.» Rückwärts zählend hält mein Gedächtnis die Stunden fest. Mahnend schweigt das silberne Bimmeln. Das Scheibenpendel sichelt weiter, schweigsam am feinen Draht schwingend. Zur Bahn! Überstürzter Abschied, Hinaustauchen in die Winternacht, Schnee knarrt, Straßenbahnen schürfen vorbei, ich springe auf. Fahlgrüne Gesichter, Billetts, rotes Signallicht – «Hauptbahnhof», atemlos gestammelt.

Verbrauchtes Rumpeln übers Pflaster, breite Straße im Dunkel erstickend, quirlendes Schattengewoge. Aussteigen. In Sprüngen durchmesse ich den Platz, spritze ich durch Haufen in die Halle. Schwarzes donnert gegen die Sperre: der Wiener Zug. Ich presse mich ans Eisengitter, schlage den Pelzkragen zurück. Glühend heiß ist mir, Schweißtropfen fühle ich an der Stirn herabrinnen, meine Knie zittern. Schwall auf Schwall, grellkarierte Wolldecken flecken zwischen schmutziggrauen Schattenmassen, rußgraue Gesichter, Schmutz, Nebel und Qualm. Da – die blanke Scheibe eines frisch gepuderten Gesichts, schräg darin der wundrote Mund: Mariquita.

Ein ärmliches Fiberköfferchen gleitet in meine Hand, unsere Finger haben sich gestreichelt. Wir steuern nebeneinander durch den brodelnden Menschenwirbel, fremd, betreten. Mein Mut ist weggewischt; wortlos schreite ich aus; unsere Arme streifen sich beim Gehen. Wie klein Mariquita aussieht unter der Mütze, deren Pelz sich im Besatz ihres Straßenkostüms wiederholt. Wie verschüchtert, wie arm. Mitleid hat mich erfaßt, ja, sie ist auf der Flucht, vor sich, vor ihrer Schwäche, vor einem Mann.

Im Schneegestöber an der Haltestelle, dann im Stehplatz der Straßenbahn fängt sie an zu berichten: Ein junger Mensch, Assistent der Poliklinik, hat sich um sie bemüht, sie weist ihn zurück. Er macht sich mit ihren Eltern bekannt, läßt nicht locker, zäh und schleimig taucht er stets aufs neue auf, umkreist sie zudringlich. Ihre Abweisung wird nicht beachtet, mit wechselndem Vorwand betritt er immer wieder ihr Atelier, bringt Blumen und Bücher, spricht von Freundschaft. Die Eltern, welche ihre Verheiratung wünschen, unterstützen ihn. Sie muß sich seine Gegenwart gefallen lassen.

Eines Tages betritt er ihr Atelier, eine Dachkammer in der Altstadt – wo der Schlüssel hängt, ist ihm bekannt –, noch ehe sie heraufkommt, sieht einen Brief von mir auf dem Tisch liegen, liest ihn. Mariquita überrascht ihn bei dieser Unverschämtheit, weist ihm – nach erregtem Wortwechsel, wobei er den Brief anzündet und in den Ofen wirft – die Tür. Skandal zu Hause. Mariquita flieht. Auf die Einladung meiner Frau hin, die schon längere Zeit vorliegt, läßt sie der Vater – durch ihren nervösen Zustand besorgt – ziehn.

«Jetzt ist alles gut, jetzt bin ich bei dir.»

Wir haben die Straßenbahn verlassen, Schneesturm preßt uns aneinander, umschlungen legen wir die wenigen Schritte bis zu meiner Wohnung zurück. Gelb flackt die Laterne an der Ecke in den nassen Schnee. Der Koffer springt aus meiner Hand. Plötzlich halten wir uns umschlungen: Ihr Kuß brennt auf meinen Lippen, ihr erster. Rasend tauschen wir geliebte Namen, rasend umwinden wir uns; eine Liebesfackel, brennen wir auf aus den Kälteschauern der Winternacht. Langsam lösen sich unsere Glieder, wir treten ins Haus.

Was sich dann ereignet, ist unbegreiflich wie Traum. Kein Wort der Verabredung wird gewechselt, aber die Intrige der Verliebten ist vollkommen.

Mariquita findet einen gedeckten Teetisch, die beiden Besucherinnen von vorhin sind fort. Nur Spanischlederduft, verklingend wie Erinnerung, streicht durch den Raum. Verlegen windet sich das Gespräch zwischen Dreien hin und her. Meine Frau schützt Müdigkeit vor, breitet Bettücher über den Diwan, zieht sich zurück. Mariquita ist mit ihr ins Badezimmer verschwunden. Gelähmt sitze ich im Sessel, starre auf die Tür, die hinter den beiden ins Schloß fiel, sehe durch Milchglasscheiben das Licht aufflammen, höre das Wasser ins Bad brausen. Jetzt zieht sie sich aus, Ruth steht neben ihr, wieder ist es so wie damals im Sommer hinter dem Wandschirm – . . . Aquarium.

Ohnmächtig bin ich jetzt, wie damals, alles entscheidet sich ohne mich, bricht über mich herein; stets sind meine Entscheidungen so; eine Frucht ist gereift, löst sich plötzlich, fällt rasselnd, neben mir zur Erde. Ich schrecke auf: etwas hat sich entschieden.

Die Tür geht auf, Mariquita huscht herein; mit dem roten Lederabsatz ihres Pantöffelchens drückt sie die Türe zu; dann schlägt sie den lachsfarbenen Kimono auseinander – nackt steht sie vor mir – leibhaftig – einen Augenblick schwankt ihre Gestalt, als drohe sie umzusinken, dann stürzt sie lautlos in meine Arme.

Auf dem Diwan finden wir uns wieder. Die Türe ist verriegelt, eine blasse Tischlampe brennt, stürmischer Kampf und Traum wogen in einen Strom der Entrückung. Die Uhr holt zum Schlagen aus – zwölf. Zu spät. Ich fühle, im Schlafzimmer drüben brennt noch Licht. Ein Wesen wartet, zitternd vor Erregung. Seine Not, seine furchtbare Angst überfällt mich. Ich möchte aufspringen, mich durchs Fenster stürzen, hinab durch die klirrende Nacht aufs Pflaster, zerschellen. Qual schäumt aus dieser Lust, «unerträglich» schreit es in mir. Aber ich rühre mich nicht. Mariquita liegt neben mir, schlank und weich, ein Pfirsich im Flaum seiner ersten Fruchtreife, gelblichen Tons unter blauschwarzen Haarwellen, mit sanft gedrechselten Gelenken, wie eine Katze gespannt, unter schwellender Form eingehüllt in ein Gemisch aus Parfüm und Raubtiergeruch. Unbedenklich stets nach neuen Liebkosungen lechzend.

Wieder beuge ich meine Lippen hinab, und wieder überfällt mich unhemmbarer Rausch. Unsere Leiber überwogen sich wie Wellen von einer Sturmflut geschlagen. Aber Bitternis ist auf meinen Lippen, ich spüre, es ist das unbezähmbare Meer, was mich fortschlägt, ins Dunkle, in den Tod. Und eine Stimme, unhörbar, erhebt sich und beginnt um Hilfe zu rufen. Aber der Traum schlägt über mir zusammen, und ich erwache nicht.

Plötzlich treibt mich neue Sucht vom Lager auf. Taumelnd wühle ich in meinen Kleidern, hole die elfenbeingedrechselte Büchse hervor, schraube sie auf, schiebe sie neben uns auf das Taburett. Winzige weiße Kristallstäubchen schimmern unter der Lampe wie Schnee. Ich kauere mich hin, greife mir mit spitzen Fingern eine Prise aus der Dose, biete sie Mariquita an. Sie hat begriffen, nickt. Mit einem tiefen Atemzug schnaubt sie das Pulver ein; ich nehme links und rechts eine Prise, lehne mich zurück. Stille. Enger und enger wuchert die Nacht, vereinzelt hellen winzige Lichtflecke das Zimmer, schwimmen im zähen Dunkel der Ebene draußen. Dann fließen sie aus, länger noch flackern die honiggoldenen Feuerwaben der Laternen. Aber auch sie schmelzen weg, einzig unsere pagodenförmige Lampe wirft starr ihr graurosa Netz über uns. Stärker lädt sich die Dunkelheit mit Stille. In unsichtbaren Kraftfeldern, Spannung über Spannung legend, ballt sich Verhaltenes und zwingt zu lauschen: atemlos.

Der Hauch des Giftes entzündet Hirn und Nerven, hellhörig, hellfühlend spritzen die Sinne in den Raum, leises Rascheln zu Donner übertreibend, Mauern durchströmende Witterung. Selbst der eigene Atem flackert angstlauernd im Bann der Spannung. Ätherwellen umkreisen das Lager, glasklar. Aber völlig zerrinnen sie nicht. Stumpf quält sich das Herz in der Brust: so hörst du vielleicht nachts aus dem nahen Tiergarten eine Bestie sich an ihren Käfigwänden scheuern, hoffnungslos und ohne Unterlaß. Und dich beschleicht Furcht – wie vor unbekannter Drohung. Unsere Leiber kauern in den Kissen des breiten Lagers. Mariquitas Elfenbein schmiegt sich in einem Sichelbogen an meine kupferne Gespanntheit. In zarter Gedrängtheit, Blüte geheimnisvollen Ostens, liegt sie entfaltet. Im Lichtkreis der Lampe neben der Kristallflasche glitzert das Gift aus dem warmen Gelb der chinesischen Dose, körnig, als wäre Reif von den Sternen gefallen; Gabe lockend mit den Verzückungen einer zarteren Welt.

Vorhin, als die Schärfe dieses Geruchs zum erstenmal jäh in unser Gehirn flammte, lief feuriger Tumult durch den Leib. Blutwellen stürmten aus dem Herzen jubelnd unter einem Wirbel, der sie mit fremdem Antrieb peitschte; dieser erste Anprall zersprengt alle Schlösser, keine Verschwiegenheit hält diesem Dietrich stand, der wirksamer als Schlüssel, Brecheisen und Lötflamme Behütetes unwiderstehlich sanft entriegelt. Durst drängt sich auf, Verborgenes, Gehegtes und Verstecktes ans Licht zu ziehn, Geständnis bis zur Preisgabe, Verrat am innersten Gefühl. Keine Folter kann so viel abpressen als ein paar Prisen dieser Droge. Wollust der Selbstquälerei zwingt dich, dir Maske um Maske herunterzureißen, nackt stehst du im grellen Lichtstrahl, brennend vor Scham. Aber dich vor dir selbst bloßzustellen, genügt auch deine Nacktheit nicht. Wie Röntgenstrahlen durch Haut und Muskel sticht dein Blick bis ins innerste Mark deines Wesens, wühlend nach dem geheimsten Punkt deiner Schwäche, umwendend alle Triebe, zerfressend jede Ballung von Gestalt, reißt im Triumph das Verletzlichste ins Licht.

So beginnt Mariquita ihr Leben zu erzählen. Hellhörig gleite ich hinter ihre Worte, spüre den dunkeln Saft, der im Innern jeder Äußerung kocht; eine Frau liegt an meiner Seite, eine Wissende. Was ich stets vorahnend empfand, habe ich heut nacht erfahren. Wohl hat sie die knarrende Holztreppe beschritten, wohl erlag sie dem Lied des Rattenfängers. Mariquita flüstert; stockend, dann wieder ausbrechend, wie ein gestauter Bach, erzählt sie ihr erstes Erlebnis – die Geschichte –

 
Zwischen zwei Spiegeln

Ihr ekelte. Öliges troff von seiner gelben Stirn. Leeres grünes Licht ging aus seinen Augen, als er sich zu dem Kinde bückte. Klebrig quollen ihm Worte von den Lippen wie Eiter aus brandiger Wunde. Sein Bann umspülte Mariquita. Sie schwankte unter dem süßlichen Anhauch seiner Verwesung und folgte dem Mann. Seine Gestalt zerteilte die Dämmerung, grau wie ein Kutter vor dem Wind; unsichtbar saugend riß seine Spur das Mädchen hinter sich her.

Während der Abend rußig aus kargem Himmel zwischen den Giebeln herabstäubte, bohrte er sich in den Schatten, ohne sich umzuwenden. (Formlos glitt die Schar der ihnen Begegnenden an den beiden vorüber.) Nur einmal, unter dem honigfarbenen Lichtkegel einer Gaslaterne, tasteten seine Augen verstohlen nach ihrem Gesicht. Mariquita trieb hinter ihm im Strom, willenlos, sanft gestreichelt vom Grauen. Er rief sie mit den Augen. Und jetzt ging sie ihm zur Rechten. Deutlich hörte er ihren Atem; der flackerte wie unter Alblast. Gläserne Starrheit fror über ihrem Gesicht, ihre Schulter streifte ihn und empfand es nicht. Zeitlos bewegte sie sich vorwärts, durch den Raum gerissen, unfühlend, wie Eisenspäne zum Magneten, blinderfüllt vom Zug des einen Ziels.

«Mein Atelier», hatte der Mann geflüstert, und plötzlich waren die zerflossenen Züge geronnen, die Züge dieses schlechtgewachsenen, lächerlich eitlen Malers mit dem blaßlila Schlips und dem grauen Anzug von betonter Unauffälligkeit; über seine Pupillen strich es wie rötlicher Rauch. Ein Gurren stieg auf hinter seiner zerbrochenen Stimme und fälschte seine Worte, die kühl und beschwichtigend weiterplätscherten. Aber über seine Pupillen strich es wie rötlicher Rauch. Grauen prickelte Mariquita über den Rücken und legte sich süßlich in die Luft. Sie nickte ein Ja und war ihm gefolgt. Plötzlich stockte ihr Schreiten.

Ein braunes Holztor. Die wildlederbekleidete Rechte des Mannes drückt auf die Klinke eines eingelassenen Pförtchens, mit der Linken drängt er das Mädchen über die Schwelle. Modergeruch und hallende Finsternis (er schleppt mich in einen Keller, er will mich im Keller schlachten). Aber sie geht weiter. Seine Linke liegt wie ein totes Instrument auf ihrer Schulter und leitet sie. (Im Keller wird er mich abdrosseln, lautlos, ohne Kampf, Spinnenfinger um meinen Hals geschraubt; ich wehre mich nicht.)

Seine Hand gleitet von ihr ab. Ein asphaltierter Hof, überglotzt von den blassen Mondkugeln der Küchenlampen, die offene Tür ins Hinterhaus, Holztreppen, schmutzig überzuckt vom ungeschützten Gaslicht, jetzt, zwischen Schrägbalken aufdröhnend, eine Türe, wegsinkend ins Schwarze. Und plötzlich, aufblühend von verdeckten Lampen: Hoher Raum, weich dienend ein Teppich unterm Fuß – rätselhaft, aus silbrigem Grün der Luft, Gestalten, verschlungen im Gebilde. Geschmückte und Nackte streifen kaum ihre Neugier.

Mariquita hockt am Rand des breiten Diwans. Ihre Hände krallt sie ins Eisbärenfell, die Füße trommeln zuckend gegen den Pfosten. Auf dem niedrigen Tisch vor ihr, über den ein Bischofsmantel gebreitet ist, summt der Samowar. Ihr gegenüber hat sich der Maler in einen Klubsessel niedergelassen, streift zögernd die Wildlederhandschuhe von den Fingern. Seine vergilbte Hand taucht aus dem Halbschatten; wie ein totes Instrument gleitet sie, kreist im Spiele ihrer Verrichtungen, pflanzt einen Teller mit Süßigkeiten vor Mariquita hin. Das Mädchen nascht, während seine Augen lauernd an den Lippen des Mannes hängen. Schlaff ist sein Körper in die Polster gesackt, nur sein Mund zuckt schmal und halb schon ausgeblutet:

«Sie sind schön, Mariquita, Sie ahnen nicht, wie schön Sie sind. Sie kennen sich ja nicht. Haben Sie sich je im Spiegel betrachtet?»

Mariquita bückt sich, um ihr Erröten zu verbergen. Starrt. Schwarzviolett und silbern huschende Lichter halten ihren Blick fest. In den gründämmernden Raum schneiden die Kanten eines mächtigen, dreiteiligen Spiegels. Verlangend biegt er ihr seine Seitenflügel entgegen, bereit, sie einzuhüllen mit Umarmung. Die Augenlider ihres Gegenübers sind zusammengepreßt, Wange und Kiefer gestrafft. Plötzlich trifft sie ein stummer Befehl: nackt zwischen den Spiegeln stehn, nackt – wie an jenem Abend, wo jäh betroffen der Schwamm ihren staunenden Händen entglitt, sie bestürzt aufloderte im Gewahren ihres bloßen Leibes.

Wieder kommt seine Stimme – aus tonloser Spannung:

«Ich spüre, daß Sie es lieben, sich vor den Spiegel zu schleichen, das eigne knospende Leben zu belauschen –. Aber Ihr Spiegel lügt, jeder Spiegel lügt. Und wenn er dich umhüllte, so bannt er nur Bilder und Schatten. Er bleibt ein Taschenspieler, er vertauscht links und rechts! Er ist dein Diener, und doch ist er tot. Vor deinen Augen vertauscht er dir links und rechts, der tote Affe!»

Zaudernd richtet sie sich auf. «Nicht das», flüsterte der Maler, seine Augenlider heben sich, von unten heraufstreift sie ein träger Blick. «Nicht das. Keine Angst. Nur zeigen.»

Mariquita ist vom Tisch weggetreten, und plötzlich mit einem Ruck reißt sie sich ihre Matrosenbluse über den Kopf, schleudert die Schuhe von den Füßen, streift sich Strümpfe und Höschen von den Beinen, schüttelt die Schultern, und mit einem schwankenden Schritt, wie eine Betrunkene, tritt sie vollends aus den herabgeglittenen Kleidern und taumelt gegen den Spiegel. Das kühle Glas bringt sie zur Besinnung. Weiß lodert sie aus dem Reigen ihrer allseitig wiederholten Gestalt. Staunen faßt sie über den Liebreiz ihrer verdämmernden Schwestern, nur zögernd beginnt sie das Wagnis, sich zu erkennen. Glied um Glied ihres Leibes tritt ihr getränkt mit Fremdheit aus dem Spiegel entgegen – lauernd verfolgt sie das Leben ihrer Flanken, preßt in wachsender Spannung die Schenkel zusammen.

Da fließt plötzlich ein Fremdes durch den Reigen, leergrüne Augen, verzerrte Züge eines schlaffen Gesichts, der Maler! Ein Schrei; entsetzt stürzt Mariquita in die Wirklichkeit zurück, rennt zu ihren Kleidern, reißt sie an sich, verkriecht sich hinter einen Stuhl. Die Tür klirrt ins Schloß.

Geduckt, mit flatternden Pulsen – hockt das Mädchen im Versteck. Nichts. Kein Fuß regt sich. Lauern. Nichts. Endlich schielt sie ängstlich streifend nach dem Stuhl hinüber. Leere. Der Mann ist fort.

 

«Ich hab ihn nie wieder gesehn», setzt Mariquita hinzu. Wut, Scham und Eifersucht schleudern uns in neue Umarmung. So begann ihr Leben, stets wird es wieder so beginnen: Aquarium, Lodern zwischen grünen Spiegeln, Lauern; eine frische Prise von Kristallstäubchen schwemmt diese Gedanken hinweg. Sie gefrieren im Schnee. Brüchig klirrt der Raum. Gläserne Wellen starren um unser Lager, schneiden uns die Luft ab, drohn uns zu ersticken. Eingesargt in den versteifenden Krampf einer unpersönlichen Erregung, die uns beherrscht, ohne uns zu besitzen, schwebt unser Zwiegespräch wie ein Mövenpaar über winterlichem Meer, Schwüre tauschend, die der tosende Abgrund übertost.

«Jahrelang bebte diese Spiegelgeschichte in mir nach», beichtete Mariquita weiter. «Ich fürchtete mich vor mir selbst und blieb brav. Die Erinnerung an jene Verführung zu mir selbst, deren Augengenuß sich der Lüstling mitverschafft hatte, war langsam zugeschüttet worden. Wie einen Schacht, dessen Tiefe man fürchtet, ließ ich sie verfallen. Ich war viel allein, zeichnete und aquarellierte. Armeleutegassen, drohende abendliche Straßenecken, Verzweiflung welkender Blumen, das Aussätzige der Stadt. Einmal auch eine seltsame Traumorgie, derlei ich nie gesehn: halbnackte Mädchen auf den Knien betrunkener Mannsbilder. Grünes Flaschenglas und Spiegel.

Freundschaftlichen Umgang suchte ich einzig bei meiner Schwester. Sie ist zwei Jahre jünger als ich und trieb damals schon eifrig Musik. Mit ihr besuchte ich die Tanzstunden und die hausbackenen Faschingsfamilienabende, wo sich das bürgerliche Wien vergnügt. Unter den faden Jünglingen, unsern Tanzkavalieren, schien die einzige annehmbare Figur:

 
Ein bulgarischer Student

Kyrill war gewiß kein Adonis. Untersetzt, den schwarzen Wuschelkopf tief zwischen den Schultern, mit der unreinen, blassen Haut seiner Wangen, dem fadenscheinigen und immer salopp getragenen Konfektionsanzug, der auf ausgetretene Stiefel herabhing, reizte er eher zum Spott als zum Sichverlieben. Aber in seinem dumpfen, bäurischen Hirn loderte eine Flamme, die meine Schwester mitriß.

Chaos ging von ihm aus, kindlich ergötzliches Staunen und tierisch unfehlbare Triebwucht eines Barbaren, die aus den verwässerten Seelen ringsherum hervorduftete, stark wie junger Wein. Mit Kyrill konnte man sprechen, unbegrenzt lange und unbestimmt sich unterhalten, während das Wasser im Samowar summte und die Eltern aus- und eingingen. Denn er war an den Vater empfohlen und verkehrte bei uns zu Hause; saß er einmal da, so war er nicht mehr wegzubringen. Meine Schwester Irene, die sonst vor jeder auch liebenswürdigen Annäherung von männlicher Seite in sich zurückzuckte, faßte Zutrauen zu seinem Plaudern. Er äußerte sich in unpersönlichen Worten, erzählte, berichtete, zweifelte und diskutierte, – unaufhörlich. Alle Ereignisse, Gestalten und Bilder seiner Umwelt begleitete er mit naiver Anteilnahme. Und so erschien er uns als der Kamerad, dem gegenüber sich Irene ungefährdet vorwagen durfte.

Irene ließ sich in diesem harmlosen Bache treiben; sichtlich blühte sie auf und begann mit ihren Augen schüchterne Streifzüge in die Welt zu wagen. – Ich kam niemals ganz über sein Äußeres hinweg; einzig sein fremdländisch hart gehacktes Sprechen brachte mich in eine Art von Betäubung, so daß ich Stunden in seiner Gesellschaft verträumend schwieg.

Eines Abends lag ich mit Kopfweh zu Bett. Irene war mit Kyrill auf eine blöde Tanzunterhaltung gegangen. Unruhe machte mich schlaflos. Was war mit Irene? Sinnlose Angst um sie befiel mich plötzlich. Ich richtete mich im Bette auf, horchte, begann zu warten. Die Türe knarrt. Ich fahre auf, zusammengekauert war ich eingeschlafen. Da spürte ich Irene auf mich zukommen, wortlos fiel sie auf den Bettrand, ergriff meine Hand; an meine Wange legte sie die ihre – tränenfeucht. «Was ist, Liebe? Beruhige dich doch. Was ist?» «Kyrill.» «Kyrill? Was hat er dir . . .» Irenes Schluchzen ist die einzige Antwort. Ich ziehe sie zu mir unter die Decke. Endlich kann sie sprechen.

«Wie gemein die Menschen sind, wie gemein. Jetzt dachte ich, Kyrill ist unser Freund, und jetzt ist er auch bloß wie alle andern, ein schleimiges Tier.»

«Wieso?» Innerlich horchte ich auf. Etwas in mir gab dem Verdammungsurteil meiner Schwester recht, spontan, grundlos. Aber äußerlich ruhig fragte ich fort:

«Was ist mit Kyrill? Ist er zudringlich geworden, hat er dich küssen wollen?»

«Nein, küssen nicht.»

«Dann versteh' ich nichts.»

«Also hör: Auf dem Heimweg, wir gehn ganz ruhig nebeneinander her, am Kohlmarkt, mitten unter allen Passanten bleibt er stehn, dreht seinen Kopf aus dem Laternenlicht weg und sagt mit einer Stimme, wie ich sie nie an ihm gehört habe: ‹Fräulein Irene, werden Sie meine Geliebte.› Wie ein Knüttelschlag fährt mir das Wort über den Schädel, mir wird ganz taumelig. Da packt er mich am Handgelenk und schreit: ‹Kommen Sie, Irene, mein Täubchen, werden Sie meine Geliebte.› Er rüttelt mich am Arm, da erwache ich und höre mich mit unnatürlich spitzer Stimme sagen: ‹Muß es gleich sein, Kyrill?› Verdutzt läßt er mich fahren, und ich springe in den Autobus.»

«Dieser Antrag ist etwas lächerlich – oder verrückt», meine ich besänftigend. «Denk an die Eltern, morgen soll er zum Tee kommen.» «Er ist imstande und kommt trotzdem; ich kenne ihn, er ist nicht verrückt, er ist ein Raubtier auf der Jagd, das mich will. Er kommt her, er lauert auf eine Minute, wo wir allein sind, er fällt über mich her, ich fürchte mich.»

Nach einer Pause: «Du wirst mit ihm reden. Du mußt ihn zur Vernunft bringen. Gleich, in der Früh! Geh zu ihm hin!»

«Ich soll zu ihm hingehn?»

«Nein, um Gottes willen, nein. Du hast recht. Nicht hingehn, er tut dir was, nein.»

«Ich werde hingehn.»

«Schwester!»

«Ich will sehn, ob er mir was tut. Schlaf jetzt, besprechen wir's morgen.»

Irene ist an meiner Seite eingeschlafen. Ich wälze mich schlaflos. Der Kampf mit dem Tier hat begonnen. Mich befeuert die Gefahr. Ich gehe hin, trete an ihn heran und hau ihm ein paar Ohrfeigen herunter. Nein, ich nehme den Revolver von Vater ins Handtäschchen und knalle ihn nieder: wortlos, unterm Türrahmen. Er fällt aufs Bett. Mögen sie kommen. Mögen sie mich verhaften. Strafe muß er haben. Oder soll ich sein Geschwätz anhören? Er kann sich nicht rechtfertigen. Ich werde sagen: «So räche ich meine Schwester», und dann, ehe er aufspringen kann, durchs Täschchen den Schuß abfeuern. Vielleicht wird er gar nicht fliehen wollen, ruhig seine Strafe entgegennehmen. Ob ich's dann kann, wenn er mich so erstaunt, wie es seine Art ist, anschaut? – Vielleicht merkt er etwas und will mir meine Pistole entreißen. Mag er kommen, ich hab keine Furcht. Wenn der Maler damals nicht gewagt hat, mich anzurühren, und davongeschlichen ist wie ein verprügelter Hund, der Kyrill wagt's erst recht nicht. Der nicht. Wie ich ihn strafen will, das wird mir der Augenblick eingeben. Aber die Pistole gebe ich ins Täschchen. Das Vorgefühl meines rächenden Triumphes nehme ich mit in den Schlaf hinüber. Der Morgen findet mich zu meiner Tat entschlossen.

Sorgfältiger als gewöhnlich mache ich Toilette. – Er muß sehn, daß er es mit einer Dame zu tun hat. Meine Schwester erwacht und beschwört mich schlaftrunken, nichts zu unternehmen.

«Wir wollen alles erst reiflich überlegen», lüge ich mich los.

«Versprichst du mir, nichts ohne mein Wissen zu tun?»

«Ich verspreche es.»

Ängstlich verläßt sie das Haus; sie hat um zehn Uhr Musikstunde. Meine Eltern sind fort, ich gehe rasch ins Schlafzimmer, nehme die Pistole aus der Lade und stecke sie in meinen Muff. Dann verlasse ich das Haus. Kyrills Adresse ist mir von schriftlichen Einladungen her bekannt. Wie von einer Schnur gezogen, durchquere ich das elende Außenviertel. Wie dreckig Häuser und Menschen hier sind! Ich presse den Muff vor den Mund, um mich gegen den Staubwirbel zu schützen, den ein frostiger Wind an den Ecken in die Höhe schraubt. Ich spüre die Pistole an den Fingerspitzen. Ist sie geladen? Im Hausgang will ich nachschaun; sie ist immer geladen. Hoffentlich verschiebt sich die Sicherung nicht. Vorsicht. Hände weg. Weiter. Noch um diese Ecke, Straßenbahnkreuzung, Auto. Der Wachmann hebt die Hand. Links halten. Ein Deutscher fährt auf der rechten Seite durch. Ob man den Wachmann heraufwinkt, wenn ich . . . Unsinn, das ist Verkehrspolizei, der darf seinen Posten nicht verlassen; da – Nummer 139 im dritten Stock, das heißt also im fünften. Aber bestimmt doch nach dem Hof hinaus. Torgewölbe, links an der Seitenwand das Treppenhaus wie ausgestorben. Hochherrschaftlich, Messing, weggenommener Läufer, wie bei uns. Nach dem ersten Stock beginnt der Schmutz. Dritter Stock. Ein grauer Gang läuft um die Ecke. Zimmer Nummer zwölf brauche ich. Hier ist acht. Ich kann nicht mehr. Mein Atem versagt. Kein Schritt auf den Stiegen. Ich lasse den Pistolenkolben in meine Hand gleiten, so daß der Lauf im Muff versteckt bleibt, ziehe den Hebel, das Magazin rutscht heraus, sechs Patronen: ein Druck, und er schnappt zurück. Wie Fruchteier liegen die Geschosse im Bauch der Waffe. Alles in Ordnung.

Eine ungeheure Einsamkeit breitet sich um mich aus. Der Wind zerrt an den lottrigen Vorfenstern, Straßenlärm brodelt herauf, aber eine schauerliche Stille ist um mich, giftig wie eine Gaswolke, die man nicht durchschreiten kann. Endlich habe ich mich wieder in der Hand. Ich tappe voran, Schritt um Schritt, mir ist, als falle ich der Mauer entlang. Neun, zehn, elf, zwölf. Meine Hand rutscht auf die Klinke, die Tür schnappt auf: Kyrill springt überrascht vom Bett auf, sein Buch läßt er auf die unordentlichen Decken fallen. Er ist ohne Stehkragen. Während er unsicher auf mich zutritt, gleitet sein Adamsapfel auf und ab. Irgend etwas scheint ihn zu würgen. Seine Stimme ist unnatürlich heiser. Er nimmt meine Hand und versucht sie zu küssen: ich reiße sie in den Muff zurück und umkralle den Pistolenkolben. Wir stehen uns auf einen Schritt gegenüber. Meine Blicke messen ihn.

«Fräulein Mariquita, wie lieb, daß Sie kommen.»

«Meine Schwester», presse ich hervor, Kyrill spürt die Drohung, lächelt, wirft mit einem Tritt die Türe zu.

«Blöd bin ich gewesen, das seh ich jetzt.»

«Ist das Ihre ganze Entschuldigung? Sie beleidigen Irene tödlich, und dann . . . Sie sind ein Schurke.»

«Mariquita!»

Plötzlich ist er hinter mir, seine Arme gleiten über meine Schultern, verschränken sich unter meiner Brust. Wir ringen, er preßt mir meine Hände an den Leib, der Muff fällt zu Boden, und wie ich schreien will, krümmt er mich zurück und wühlt seine Lippen in meinen Mund.

«Dich», keucht er, «dich.»

Unbegreifliche Mattigkeit überkommt mich. Und während ein Funkenregen ohnmächtigen Hasses vor meinen Augen niedergeht, hebt er mich auf und trägt mich zum Bett. Vor geschlossenen Augen zerreißt ein blutiger Vorhang. Schmerz sticht auf, dann schaukelt mich das Meer. Seine Salzflut brennt unerträglich in meine Wunden. Neben mir höre ich hastig unterdrücktes Atmen; wie bei einem Schwimmer, den seine Kräfte verlassen.

«Mein Feind», spüre ich. Wir ertrinken in einer Umarmung. Aus der grünen Dämmerung um mich her graut endlich Tag. Mit geschlossenen Augen richte ich mich auf, streiche meine Kleider zurecht, stelle mich auf die Füße. Der Boden schwankt unter mir wie ein Schiff; in der Not öffne ich die Augen. Hinter meinem Rücken höre ich, wie Kyrill aufsteht. Ein Buch fällt zur Erde, ein Stuhl. Der Tisch klappert unter meinem tastenden Griff. Dann sehe ich den Muff vor mir. Langsam bücke ich mich durch den Raum zu ihm hinab, jetzt hebe ich ihn auf. Er ist schwer wie Blei. «Nur meinen Muff nicht liegen lassen», fährt es mir durch den Sinn. «Die Pistole schnell in den Kasten legen, bevor Vater heimkommt.»

Mit einem Sprung bin ich an der Tür. Unverriegelt. Draußen. Weg. Nummer elf. Nummer zehn – ein Postbote kommt mir durch den Gang entgegen, salutiert – «wohnt hier ein Herr Kyrill Bogatschew, oder so ähnlich?» «Teufel», schreie ich dem Männlein ins Gesicht und jage die Treppen hinunter.

An der Bellaria trifft mich meine Schwester. Ich glaube, der Erdboden verschlingt mich. «Wo kommst du her?» macht sie mit einem schrägen Blick und kramt in ihren Noten.

«Von der Schneiderin», lüge ich.

Von Kyrill sprechen wir nicht mehr.

 

Mariquitas Stimme erlischt. Schmutziges Grau sickert durch die Vorhänge. Ich schalte mit zitternder Hand die Lampe aus. Wir frieren furchtbar; eine letzte Prise noch. Flatternder Halbschlaf, lahme Überreizung. Winzige Eisenbahnzüge surren über die Wand. Alles zerbröckelt, schrumpft. Kleinste Splitter regen sich wie Infusorien unter der Lupe. Atemraubende Angst weitet die Pupillen, überscharfe Linsen sind anstelle der Augen getreten, alles Feste in wimmelnde Körner zerlegend.

Lallend noch fallen einzelne undeutliche Worte, schwer wie Träume. Mariquitas Beichte geht gespenstisch in mir um. Die Albmare durchdringen sich. Student und Maler, Fratzen im Spiegel; zerwühltes Bett. Durch glasige Ferne träufeln noch einmal Mariquitas Worte zu mir; ich versteh sie nicht mehr. Mein Inneres, übersättigt von Eifersucht und Grauen, vermag nichts mehr aufzunehmen.

«Unglück», «Klinik» sind die letzten Laute, dann deckt ein vom Herzen kommender Blutschwall jedes Begreifen zu.


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