Max Pulver
Himmelpfortgasse
Max Pulver

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2. Kapitel

Herbst

Rasch wischten Wochen über den Vorfall jenes Sonntags hinweg. Die Erinnerung begann ihr Werk, malte mit falschen Rosatönen; die aufpeitschende Entkleidungsszene bekam einen beruhigenden Hintergrund blauer Fernsicht, alles erschien abgeklärt, falsch-idyllisch und bieder – so recht passend zum Aufbewahren und zum an die Wand hängen. Übrigens mußte ich diese Schönfärberei ganz nebenbei betreiben, denn in jene Zeit fällt meine erste große Untersuchung in einer Bankangelegenheit, die mir aufreibende Arbeit, schließlich aber den ersten schlagenden Erfolg eintrug. Schon war mir die Liebhaberei seltener Mußestunden fast verleidet, als mir eine Überraschung neuen Stoff brachte.

Plötzlich lag ein eingeschriebenes Paket auf meinem Schreibtisch. Der Absender unleserlich. Herzklopfen. Von ihr. Von Mariquita. Aus der Kartonrolle zupfte ich behutsam ein Blatt – die Vorstadtwiese. Die Kauernde mit dem strohgelben Schopf, die beiden Mannsbilder vor qualmenden Schloten, Gerumpel übers Feld verstreut, alles, wie sich's mir in jener Stunde der Spannung eingeprägt. Links in der untern Ecke mit seltsam bogigen Lettern: herzlich, für Alexander Moenboom.

Zärtlich glättete ich das Blatt. Wie süß dieses Rot und Grün, wie streichelnd die bräunliche Qualmwolke um die Lehmgestalten der Männer. Wo war der Ekel, das Gift, das mir damals aus dem Blatt entgegendunstete? Wie überspannt war ich doch gewesen! Ja, ja, das Plätschern, das verfluchte Rascheln, das sausende unsichtbare Gummiband – der vage, unsinnige Zauber einer Nachmittagsschwüle hatten mir Herz und Hirn verrückt.

Was da vor mir lag, dieses zarte Aquarell – war der romantische Traum eines behüteten jungen Mädchens, das einmal nachmittags am Stadtrand spazieren geht und von fern sich diese Proletengruppe betrachtet. Zeitungsberichte und Tratsch vom gut bürgerlichen Familientisch spinnen über die müden, armseligen Kreaturen einen Schimmer von Spannung und Verbrechen. Liest man nicht täglich, wie diese Leute sich schlachten, den eleganten Nachtschwärmern auflauern, in ihren Einzimmerwohnungen Blutschande treiben! Kurz, alle pittoresken Laster, die in der bürgerlichen Gesellschaft nur wunschweise und nach langer mäeutischer Bemühung des Arztes in der Analyse auftreten, stehen diesen Hemmungslosen frei zur Verfügung. Ja, das ist Leben! Die wagen's, die leben sich aus. Skrupel gedeiht da lediglich, wenn sich die Hand des Wachmanns auf deine Schulter legt und du im Müßiggang der Zelle auf deine Aburteilung wartest.

Jeder Untersuchungsrichter wird mir bestätigen, wie selten in allen Gesellschaftsklassen das Gewissen erwacht, solange sich ein Verbrecher ungefährdet und unentdeckt fühlt. Hingegen tritt bei den vielen glücklichen, das heißt sozial erfolgreichen Kriminellen eine auffallende Überkompensation des Rechtlichkeitsgefühls zutage. Solche Leute sind von einer gesteigerten sittlichen Empfindlichkeit, sie betonen bei jeder Gelegenheit die ethische Seite einer Angelegenheit, entrüsten sich über die Laxheit öffentlicher und privater Moral. Ernst und sittenstrenges Richten beherrscht automatisch ihre Einstellung, überall wittern sie Unrat, überall hegen sie Verdacht, die Maschen des Gesetzes sind ihnen zu weit, ihre Zeitgenossen Schurken und Lotterbuben. Ich übertreibe nicht. Beobachten Sie Erbschleicher, Heiratsschwindler, Wechselreiter, Schieber und Streber jeder Art. Sie werden meine Bemerkung bestätigt finden. Gewohnheitsmäßige moralische Entrüstung ist immer ein untrügliches Anzeichen verdeckter Kriminalität.

Der Gegenstand von Mariquitas Bildchen hatte mich zu diesen fruchtbaren Meditationen veranlaßt. Aber, wenn ich nach der Quelle suchte, aus welcher das kleine Kunstwerk des Wiener Mädels hervorgeströmt war, so fand ich diese: kindliche Verbrecherromantik, ausgeheckt im stillen Kämmerlein, während nebenan die Dienstmagd Elsi mit dem Abgewaschenen vom Mittag klappert.

Natürlich schrieb ich einen Dankbrief. Die Adresse entzifferte ich so gut es ging und überließ mein Schicksal resigniert dem intuitiven Spürsinn der Post. Eitel, wie jeder Autor, legte ich meinen begeistert-zärtlichen Worten ein Exemplar meines soeben erschienenen Handbuches «Recherchierungsmethode in Kriminalfällen mit besonderer Berücksichtigung der Urkundenfälschung und des Kreditbetruges» bei. Die Widmung nahm Bezug auf das Bildchen und geriet etwas geschraubt.

Antwort kam umgehend. Mein zärtlich-begeisterter Ton war festgehalten, ja durch eine jugendliche Note verstärkt. – Die Schreiberin hatte sich mit brennendem Interesse in meine gedruckten Ausführungen versenkt; sie schrieb: «Sie reichen mir da den Schlüssel zu einer mir bis jetzt noch verschlossenen, aber vorgeahnten Welt. Hinter dieser Tür liegt das wirkliche Leben, fühle ich.»

Schon wieder diese verfluchte Tür. War sie wirklich mit dem Rattenfänger die schlimme Treppe hinaufgetrippelt? War sie –? Ich konnte darüber nicht ins reine kommen. Der Ton des Briefes war so mädchenhaft unerfahren – ein Mischmasch von gruseliger Neugier und Schüchternheit, dazu ein Schuß gutbürgerlich-blöd –, daß mir dieses Mädchen undurchdringlich blieb – rätselhaft wie die Schriftzüge, die in hohen, weitwölbenden Arkaden geradezu ausschweifend über das Blatt liefen. Und was für ein Blatt! Groß wie eine entfaltete Zeitung, vom linken Rand erregt aufjagende Schriftzüge, unrhythmisch gehackt oder gebunden, bald scharf, bald unvermutet keulenförmig, Grundstriche nach rechts liegend oder nach links zurückbäumend, die Wortenden aufschnellend – alle Elemente über das Weiß des Hintergrunds verspritzt; Aufruhr des Geistes, des Herzens, der Sinne. Ratlos stand ich vor dem Dokument. Text und Schriftzüge waren gleichermaßen undurchdringlich.

Wessen Augen funkelten mich durch diese Backfischlarve an? Ich las den Brief wieder und wieder, betrachtete ihn wie ein chinesisches Gedicht, wie die unfaßbaren Glyphen einer exotischen Welt. Schließlich entdeckte ich auf der Rückseite ein Postskriptum. Da stand mit versagender Feder hingekritzelt: «Sehn Sie meine Cousine? Wie geht es ihr?» – Also doch. – Ein schmaler Hauch von Eifersucht, Gott sei Dank. Erst dabei fiel es mir auf, ich hatte Lisbeth vergessen. Glatt vergessen. Geradezu unwahrscheinlich. Gewiß, es hatte zwischen uns nie so recht geklappt; namentlich in der letzten Zeit nicht. Auch war da ein neuer Kavalier aufgetreten, Sohn eines Antiquitätenhändlers oder so ähnlich, dem ich gern das Feld überließ. Aber immerhin, zwischen uns war ja nichts vorgefallen, keine Auseinandersetzung, kein Wort. Klanglose Trennung seit dem Nachmittag mit Mariquita. Wirklich auffallend. Das Auffallendste daran, daß es mir bis jetzt nicht im geringsten aufgefallen war. War es nicht richtiger, einmal bei ihr vorzusprechen? Ganz beiläufig konnte ich sie doch über Mariquita ausholen – und wozu dieser Eklat, nicht zu erscheinen?

Unverzüglich setzte ich den Gedanken in die Tat um. Ich hatte nicht weit zu gehn. Ein verrostetes Gittertor vor einem herabgekommenen Garten, Hühner und Hunde scharren im Rasen, faulige Holztreppen, ein korallengestickter Biedermeierklingelzug. Lisbeth war zu Hause. Ein elefantenhafter Dienstbote, weiblich, aber mit Dragonerschritten, geleitete mich vor das Sofa, wo Lisbeth lag. Tassen mit Kaffeesatz, Zigarettenasche, zerknüllte Zeitschriften, Parfümflasche und Puderschachtel im verdunkelten Raum. Ängstlich schrieen die Vögel im Garten. Warnten sie vor einer Katze? War Gewitter im Anzug?

Eine Handbewegung lud mich neben sie auf die Polster. Ohne Überzeugung tauschten wir einen Kuß. Ich berichtete von meinen Beschäftigungen. Ich sei überlastet. Lisbeth beklagte sich nicht über mich. Nur, daß elende Intrigen sie am Auftreten hinderten, daß man ihr wieder eine Rolle weggeschnappt – die Heldin in Strindbergs «Kameraden» – erbitterte sie. Das war ein Schandtheater, Direktor und Regisseure trieben eine Haremswirtschaft, jede Rollenzuteilung ging über den Divan, mit der Gage konnte man in Ehren verhungern. Sie wollte sich Schreibmaschinenarbeit verschaffen, ein französisches Buch übersetzen; Erlemann, der Sohn des Antiquitätenhändlers, hatte mit dem Neunmusenverlag gesprochen. Morgen war sie zum Leiter dieses Unternehmens bestellt; ein sehr liebenswürdiger Mensch, versicherte sie; er pflegte nach der Besprechung seine Autoren zum Nachtmahl einzuladen. Was ich glaube, ob sie dazu das rosa Tüllkleid anziehen solle oder das weiße von neulich? Ich konnte in dieser Frage unmöglich aus dem Gedächtnis entscheiden. Schon war sie aufgesprungen, streifte mich mit ihrem Schenkel, riß den Schrank auf. Ich solle entscheiden. Zu viel hing von dieser Zusammenkunft für sie ab, sie mußte den Auftrag haben. Zwar war ihr Erlemann in der uneigennützigsten Weise beigesprungen, aber sie wollte sich nicht verpflichten. Der Verleger zahlte unter Umständen gut. Er war noch ein junger Mensch, für alles Kommende begeistert. Man müsse sich an ihn halten.

Helene Jülicher hatte er dreihundert Mark gegeben, Vorschuß ihr, die nicht einmal grammatikalisch einwandfrei deutsch schreiben könne; aber der Fratz verstand es.

Abwechselnd hielt sie die in Frage kommenden Sommerkleider vor sich hin. Ich riet, was mir gerade einfiel. Ich mußte zu Ende kommen.

Was ihr Mariquita schreibe, platzte ich plötzlich mit meinem Anliegen heraus. Lisbeth horchte auf. «Hat sie dir geschrieben?» war ihre Gegenfrage. Ich log: «Nein.» «Und das Bildchen?» «Bildchen? Wieso?» Ach richtig, ja, sie habe mir die Vorstadtwiese geschickt, die mir damals so gut gefiel. Natürlich, ich hatte geantwortet, mich bedankt. «Wie vergeßlich man doch sein kann!»

Lisbeth hielt das geblümte Mullkleid starr von sich ab.

«Du bist natürlich verliebt in sie.» «Selbstverständlich, rasend.» «Ehrenwort?» «Kleines Ehrenwort.» – «Und? Wann reist du nach Wien?» «Blödsinn.»

Ich schenkte mir etwas kalten Kaffee in die schon benutzte Tasse.

«Sag mal, Lisbeth, was für Leute sind Mariquitas Eltern denn eigentlich?»

«Mein Onkel? Wiener Bürger, Zahnarzt; meine Tante stammt eigentlich aus Böhmen. Sie ist immer noch hübsch. Mariquitas Schwester . . .»

«Ach!»

«. . . ist weniger reizvoll als sie, aber ein braver Kerl. Studiert Musik. Der Vater war lange in Kriegsgefangenschaft, da ist die Tante hysterisch geworden. Mit dem Vermögen sind sie zurückgekommen, natürlich.»

«Ist dir deine Cousine klar?»

«Wir sind gut befreundet. – Sie schreibt mir oft. Grad gestern ist ein Brief gekommen, sie hat Herzenskummer, die Arme. Sie soll einen Assistenten von der Poliklinik heiraten, aber den mag sie nicht.»

«Was heißt – sie soll.»

«Die Eltern wollen, daß das Mädel heiratet. Sie ist zu sinnlich, sie fürchten, sie geht ihnen heut oder morgen nebenaus.»

«Hm – also haben sie Anlaß zu dieser Annahme.»

«Weiß nicht.»

«Ist ja gleich. Vorstellen kann ich mir sie schon gar nicht – das Wiener Rassengemisch.» – Ein abschnappender Klingelton unterbrach. Fast im selben Augenblick flog krachend die Tür auf und trompetete der Elefant: «Herr Erlemann, gnä' Frau!» An der Dragonerin vorüber glitt ein schmächtiger Schatten ins Zimmer, stürzte zum Handkuß vor und hob ein schlaff ausgelebtes Gesicht aus der Verbeugung. Abtastende Pause.

Allerseits ein fühlbarer Ruck; gleichzeitig gingen bei Lisbeth und bei Erlemann die Schleusen hoch und überstäubten die fragende Leere mit Wortschwall. Ganz mechanisch spülte mich dieser Wirbel hinaus. Erst allmählich verebbte das Brausen in meinem Kopf. Zäune flirrten an mir vorbei, ich ging wie getrieben. Die Gärten fielen ab. Schlüpfriger Lehm, Feldweg. Ich stolperte über einen Kiesel, riß mich hoch, blieb stehn: «Heiraten, mag nicht», hörte ich mich ganz laut sagen.


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