Max Pulver
Himmelpfortgasse
Max Pulver

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4. Kapitel

Zwischenzeit / Spannungen

Gegen Mittag kommt es zur Aussprache. Verschleierung wäre lächerlich gewesen. Frostdurchbebt sitzen wir um den erkalteten Tee. Drei von Auszehrung Befallene, hilflos vor der Übermacht des Geschehenen. Ohne Ausflucht, ohne Lösung. Ängstlich mit Worten das Ausmaß des Abgrunds abtastend. Nirgends eine Brücke.

Bittere Erniedrigung hier, schwankendes Mißverstehen dort. Halbe Worte der Aufklärung; von Ratlosigkeit für Augenblicke zugeschüttet, grenzenloser Haß aufflammend gegen mich. Ruth ist im Grunde nicht anders als ich, sie müßte mich verstehn. Aber alles sträubt sich in ihr gegen diese neue Wirklichkeit; äußerlich bemeistert sie sich. Zögernde Liebenswürdigkeit eingezogener Krallen auf beiden Seiten. Verhaltene Kränkung vergiftet die Luft. Ich lasse die beiden allein. Irre stundenlang über vereiste Stoppeln. Bei meiner Rückkunft finde ich Lähmung wie zuvor. Verständigung ist unmöglich. Jeder Schatten einer Regung beleidigt schon. Mariquita packt ihre Sachen. Im Gang draußen stellt mich meine Frau:

«Du hast eine furchtbare Verantwortung auf dich geladen. Du hast ein Mädchen . . .»

«Nein.»

«Also dann hat sie schon vor dir . . .» Schweigen. «Berechnung also, abgekartet. Als sie kam, wußte sie, was sie wollte.»

– Tränen.

Ich begleite Mariquita zum Bahnhof. Wortlos. Bleierner Himmel über bleiernem Gehirn. Wir stehn am Wiener Zug. Schmutziges Nebelreißen, weißes Straußenfedergeflock der Lokomotive. Mariquita schluchzt. «Bald», tröste ich, «bald», ihre Hand streichelnd. Sie flüchtet in den Wagen. Pfeifen, Türen knallen. Die eiserne Front rollt vorüber. Vom Fenster ihre Hand. «Bald.»

Tage des Brütens. Erörterungen flackern auf, Anklagen sinnlos. Neues ist. Unbegriffen mächtig. Block nicht zu umspannen. Mariquitas erster Brief. Zerrissen, aber fest in Zuversicht. Sie ist mit ein paar armen Musikern gereist. Die Leute sahen, wie wir uns zum Abschied küßten.

«Ihrem Herrn Bruder ist der Abschied doch recht nah gegangen.»

Nach acht Tagen ruft mich ein geschäftlicher Auftrag nach Berlin. Lösend wiegt mich die durchjagte Nacht. Das Auto einer Bekannten wartet. Über graue Zementstrahlen rolle ich an bröckelndem Stuckprunk vorüber in den Kiefernwald ihres herrlichen Landsitzes. Ich verschwinde unter dem Gewimmel der Gäste, bade, treibe mich halb beschäftigt in der Stadt herum.

Gegen Abend suche ich Edmund auf, wie stets, wenn ich nach Berlin komme. Russinnen, mit dem weichen Vollmond ihres Gesichts aus kugelig gesträubtem Pelz leuchtend, stapfen galoschenbeschwert durch schmutzige Straßen. Aus dem Filter geraffter, gelber Vorhänge tropft Jazzbandmusik der Teestunde. Angelockt vom Rotlichtkegel der Türlampe surren die Strichmädchen vor den Lokalen. Lebhaften Schritts patrouillieren sie auf der Querstraße herüber.

Ich durchquere eine schäbige Toreinfahrt, den Hof und eine Treppe, wo schildhaltend zwei lächerliche Löwen mit rußigen Schneehauben stehn. Korsettfabrik im ersten; weiter: glitschige Treppen. Eine Göre mit Pappschachtel schleift an mir vorüber. Weiter. Links eine rote Hand: zum Naturheilkundigen. Rechts Edmunds Schiefertafel. Die Tür mit Nachrichten vollgeschmiert. Unleserlich. Der Wind singt im Treppenhaus. Verschwommen kollern Schritte in die Tiefe. Plötzlich steigt drinnen eine vielstimmige Lachgarbe auf und versprüht jäh wie Feuerwerk. Mein Poltern gegen die Tür läßt ein paar Füße heranschleifen. Edmund steht im Rahmen, dunkler Block vor dem Kreidigen des Atelierlichts. «Alexander.»

Er reißt mich in den Raum. Jenny fliegt mir aus ihrem Korbsessel aufschnellend an den Hals. Frage: «Seit wann in Berlin?» Stimmengewirr der Begeisterung. Aus dem Durcheinander heiser und fast bellend: «Hast du Koks?» Ich nicke. Jenny faßt mir ins Haar, reißt meinen Kopf zu sich her und küßt mich schallend rechts und links. Edmund brummt zufrieden vor sich hin, zwei Mädchen drängen zum Tisch, bemalte Schatten, wie sie vorhin unter den Bogenlampen schwirrten, während ich meine chinesische Dose aus der Westentasche herausklaube, aufschraube, behutsam in die Tischmitte schiebe.

Hier war ich oft zu Gast; Gäste teilen hier alles mit dem Gastgeber. Radikale Überzeugung ist nichts ohne radikale Tat.

Ein halbes Dutzend Hände greifen nach dem Flimmerstaub. Jenny kommt allen zuvor, sie hält die kleinen Kristalle fest in den Fängen, rettet sie auf ihren Handrücken und schnaubt sie rücksichtslos ein. Die beiden Mädchen ahmen sie tolpatschig nach, verschütten den Staub aufs Tischtuch. «Auflecken!» befiehlt Jenny. Die roten Zungen machen sich gehorsam ans Werk. Edmund nimmt eigensinnig und bedächtig eine Prise; sein Vater war Gärtner und mag Tabak so geschnupft haben, bäurisch genießerisch und zugleich mit einem Schuß von sektiererischem Eifer.

Auf einmal plant über dem Gewimmel eine Männerhand: lange, knochige Finger, vom Gelenk hängt ein feinmaschiges Kettchen herab; die Haut schiefert bräunlich; fast unmerklich zitternd schwebt sie über der Dose, greift sich mit Daumen und Zeigefinger eine spitzige Prise. «Kolja.»

Erinnerung überflutet mich. Fluß unter Weidenbüschen, flüchtig bewölkter Junihimmel: Lichtfunken schwirren über blonden Leibern; zwischen blauroten Federnelken rasende Jagd; vom Gras gepeitscht – Kopfsprung. Jäher Bogen von grün-schwarzen Weiden –, Kolja, der Wanderbursche, bolschewistischer Agitator, politischer Häftling und Ausbrecher, den Frauen feind und von ihnen begehrt, kühn und furchtsam ergreifend, was seiner Lust dient, geboren jenseits des Gewissens, herschreitend aus neuem barbarischen Zeitalter, unbedenklich, gottlos und schön in der strahlenden Jugend seiner Verderbtheit, gesund jenseits unserer Moralbegriffe, unermüdlich fleißig und tückisch; ein Umgetriebener, in vielen Sätteln gerecht, Freund dieses Giftes, das ihn nie unterjochen und nie freilassen wird; Narziß als Revolutionär, zum Zerstören geboren und dabei erfüllt von Genußgier, hängend an allen Eitelkeiten und behängt mit allen Eitelkeiten dieser untergehenden Welt. In der Spirale meines Schicksals stets aufs neue auftauchend, Katalysator der Entscheidungen, aber selber willenlos und von seinen Lebenswünschen getrieben, dumpf wie ein Tier; Verstand nur Schutz, geschmeidige Waffe, Umweg, wo sich der Jäger zum direkten Angriff zu schwach fühlt. Mit weichen Gebärden wie ein Raubtier, dessen tötender Schlag noch voll Anmut ist, unschuldig in jeder Schurkerei.

«Alexander, du hier?» Wir sehen uns an. Unsere Finger begegnen sich über der Dose. Der aufquellende Wirbel des Gesprächs ringsum überschwemmt uns. Wir bleiben stumm, einer des andern Weg nachwitternd, den jeder von uns gegangen, seit wir uns vor Jahren trennten. Neben Kolja, im Halbschatten, leuchtet das mächtige Goldhaar einer jungen Frau. «Irene Kieselbach», bemerkt er ohne Betonung. «Meine Freundin», höre ich.

Noch zwei Mädchen sitzen am Tisch, mehlbleiche Gesichtsmonde mit karminroten Lippenbögen. Aber diese hier ist anders. Ohne Schmuck, ungepudert, eine Stirn, brennend von Klarheit; ihre Augen sind feucht, ihr Mund nicht völlig geschlossen und bebt ein wenig unsicher. Sie möchte kalt erscheinen wie eine Geschäftsfrau, aber ihre künstliche Ruhe steckt mit Erregung an. Kolja hält ihr eine Prise hin – sie drängt seine Hand hastig weg. Wegstoßen möchte sie seine harten Finger, aber ihre Ablehnung ist wie Streicheln. Kolja atmet umsichtig und mit fast geiziger Sorgfalt das Pulver ein, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Dann greift seine Rechte in den Schatten, holt am langstieligen Hals eine Wodkabuddel herauf, füllt die flaschengrünen Gläschen, die auf dem Tisch herumkollern. Von draußen wischt jähe Nacht alle Farben aus; die Glasglocke des Auerlichts blüht auf. Der Raum beginnt zu schimmern.

Weiber, auf Barrikaden blutrote Fahnen schwingend, halbnackte Nutten, mit hohen Schnürstiefeln zwischen schleimigen Kavalieren promenierend, Soldatenklötze, auf Lastwagen gepfercht durch den Menschenmarkt des Alexanderplatzes sich hindurchkeilend, knallen von der Wand herab. Aus den Rahmen entsprungen räkeln sich die beiden Mädchen, füttern sich gegenseitig die Nase mit Gift und bekommen glasige Augen. Sind sie nicht wie Tote?

In Holland war's – an der Küste; nach einer durchhorchten Nacht, wo von der Doggerbank her im Dunkeln Schiffsgeschütze gegeneinander bollerten, Schlag auf Schlag, aber ohne Feuerstrahl; ich stand auf einer Düne und suchte blödsinnig mit einem Windlicht. Das Brüllen stieg fort und fort, überbrüllte die tosende See, aber zu sehen war nichts. Ich stand mit meinem Windlicht, den Mantel überm Schlafanzug, und fror. Irgendwann wurde es Morgen. Und mit dem ersten Lichtstrahl kam es heran, weit draußen im Meer, zwischen mennigroten Balken, trieb, ich spürte es mehr, als daß ich es sah – ruckweis näher und näher, hampelte in den seichten Uferwellen und klatschte in den wegrieselnden Sand. Tote Männer, nacktgezerrt vom Wellenschlag, das Matrosenleibchen prall über der Brust: Augen wie Glas. Ertrunkene. Ist der Tod nicht wie ein Gift? Sitze ich hier nicht zwischen hampelnden Leichen? Ihre Gebärden nur Wellenschlag, der ihre Glieder herumschleudert, keine Eigenbewegung, kein Innen; Tote. Ertrunkene; Gift und Ermüdung surren in meinem Gehirn. Ich will nach Hause – schlafen.

Edmund hat sich mir zur Seite gesetzt. Er schäumt Politik. Immer tickt das eine Wort an mein Ohr – Gewalt, Bürger erschlagen. Schön, denke ich, und weiter? Gewalt. Jenny erzählt mir von ihrem neuen Freund. Er ist Kohlenschipper gewesen im Ruhrgebiet. Bei einer Versammlung der kommunistischen Jugend lernte sie ihn kennen. Jetzt ist er krank. Es ist ihm etwas Lächerliches und zugleich Peinliches passiert. Sie flüstert mir sein Mißgeschick ins Ohr. Ich nicke. Sie liebt ihn trotzdem. «Begreifst du, ich liebe ihn trotzdem.» Er ist noch so jung. Die Falten spannen sich auf ihren hohlen Wangen. Ich nicke wieder, ja, ich verstehe.

Beider Worte höre ich nicht mehr. Kolja ist mir gegenüber; an seiner Seite leuchtet Irenes mächtiges Goldhaar. Eifersucht bohrt in mir. Liebt sie ihn? Natürlich liebt sie ihn. Alle Frauen, zu denen er sich neigt, lieben ihn. Aber er liebt nur sich selbst. Geizig ist er mit sich wie mit dem Kokain, das in kleinen Prisen zwischen seine knochigen Finger wandert. Er ist geizig. Hab ich das früher nie gewußt? Es wird heiß im Raum, Kohlen fallen durch den Rost im Ofen. Die beiden Mädchen wollen plötzlich baden. Eine Gummiwanne wird aufgeschlagen, Wasser brausend in Kannen abgefüllt. Die drei reißen sich die Blusen ab, nesteln ihre Röcke auf, streifen Hemden und Strümpfe herunter und fangen an, sich schreiend und schimpfend zu begießen. Jennys Hagerkeit, überhuscht von schwarzer Haarflamme, ragt zwischen den molligen Rundungen der andern wie ein herrschsüchtiger Junge unter kreischenden Backfischen. Tropfend fährt sie in riesige Filzpantoffeln, watet durch das Atelier, um sich vor dem Glutschein des Ofens zu trocknen. Edmund kauert über seinen Notizblock gebückt und zeichnet. Kolja sitzt starr an Irenes Seite und gießt sich Wodka ins Glas – mich fröstelt. Mir ist krank zumut. Irene beobachtet mich unter langen Wimpern hervor. Plötzlich weiß ich, sie ist seine Geliebte noch nicht. Ich atme auf. Zwischen Kolja und mir gehen leere Worte hin und her. «Die Telephonnummer?» Er nennt sie. «Morgen rufe ich an. Gute Nacht.»

Ich bin draußen. Das Kreischen der Badenden gefriert auf der Treppe. – Ich tappe mich hinab. Nach Hause. Strichmädchen aus Mauerwinkeln rufen mir nach in den Schneesturm. Vorüber. Treppen, drohende Hallen. Rotes Blinken. Ein Zug. Zwischen Glasscheiben gepreßt, donnern wir durch das Rohr. – Hundert Männer, die Zeitung vor dem Gesicht: Nachtausgabe. Endlich gleitet die Tür weg. Ich stapfe durch Schneewirbel in kahlgefegte Alleen. Hier ist die Glocke am Tor. Der Nachtwächter poltert heran. «N'Abend, mein Herr.» Wärme des Vestibüls. Auf Zehen ersteige ich die Freitreppe. Meine Türe. Licht.

Auf dem Tisch liegt Mariquitas Brief. Groß nach rechts oben stürzend die Adresse. Die Zungenspitze des Briefumschlags durch zwei Marken verklebt. Die Post muß ihren Brief umdrehen, um ihn zu stempeln. Wozu entgegenkommen? Ihr Raum ist nicht für Geschäftliches da. Einen Augenblick kann sich auch der Beamte mit dieser Sendung abgeben. Das ist nicht ein Brief wie jeder andere – ist ein individueller Brief. Anders als die andern. Blödsinniger Einfall. Zitternd reiße ich ihn auf; überfliege den stufigen Sturz der Zeilen. Mariquita ist traurig. Launige Worte, aber im Herzen ist sie traurig.

«Aus meiner Dachkammer seh ich hinüber ins Finanzministerium. Griesgrämlich graue Räume, Glatzen über blauen Pappdeckeln. Manchmal rücken sie ihre Ohrenstühle von den Bündeln weg; der Finanzminister tritt zum Fenster. Sein Backenbart ist staubgrau; mit der Linken kratzt er sich darin; sein Siegelring blitzt auf – wohl das einzige Gold da drüben. Seine Blicke läßt er in mein Dachfenster wandern. Wie ein Ertrunkner nimmt er sich aus; wahrscheinlich glaubt er zu leben.

Übrigens war ich gestern auf dem Fest der Wiener Werkstätten. Mein Kostüm als Mädchen aus dem Mond hättest Du sehen sollen. Schwesterchen Irene und Toni hatten es mit mir zusammen ausgeheckt. Toni ist meine Freundin. Sie hat ein herrliches Damenschneideratelier hinterm Rathaus. Lauter Pariser Modelle. Sie trägt schon Bubikopf. Sie will mir immer das Haar abschneiden, aber ich sträube mich noch.

Also, mein Kostüm war sehr zart. Irene ging als Page. Eigentlich war es recht nett dort, aber mir etwas zu dunkel. Eklig war's. Warum bist Du nicht da? Heute brummt mir der Schädel. Ich nehme eine kleine Prise – Dir zu Ehren. Alles ist mit Ölfarbe vollgeschmiert. Du kannst auf dem Blatt Fingerabdrücke sammeln für Deine kriminalistische Tätigkeit. Übrigens, was sagst Du zu dem Papier? Groß wie ein Journal. Mein Größenwahn, gelt? Heute male ich so was wie ein Vorstadtbacchanal. Halbnackte Mädchen auf den Knieen betrunkener Männer. Schleimige Spitzbubengesichter, Alkohol schwitzend. Auf dem Lottertisch eine grüne Flasche. Wo ich das bloß herhabe? Seit meinem zwölften Jahr zeichne ich solche Geschichten (mit Kohle) oder male sie in Öl. Selten mal eine Judengasse in der Brigittenau. Sonst immer sechzehnter Bezirk, Ottakringer Plattenbrüder. – Du hast ja die Vorstadtwiese.

Grüß Gott. In den Armen halten möcht ich Dich. Und nun bist Du in dem herrlichen Berlin. Wir Östreicher bewundern das. Pervers, wirst Du sagen. Von Herzen, Grüß Gott.»

Die Nacht war quälend. Übermüdet. Schlaflos. Ich lege mich ins Bad nebenan. Jeder Gast hat hier sein Badezimmer. Das Wasserbrausen betäubt mich. Ich kehre zu meiner Dose zurück. Mariquitas Dachstube flammt vor mir auf. – Mit breitem Pinsel haut sie das Bacchanal auf die Leinwand. Kolja sitzt daneben, die grüne Flasche auf dem Tisch vor sich. Ein Strom von Eifersucht überflutet mich. Nein, kennenlernen darf er sie nicht. Sie gehört mir, mir allein. Das Mondmädchen; es soll nicht tanzen, mit andern tanzen im verdunkelten Raum, durch den ein Scheinwerfer seinen stumpfen Lichtkegel dreht. Sie soll ins Atelier zurück, an den Tisch voller Ölflecken. Mag der Finanzminister mißbilligend zu ihr hinaufstarren. Malen soll sie. Darf ich eine Prise, mein Herr? Ja, eine Prise ist erlaubt. Aber mäßig. Sonst treibt dich Erregung um, gegenstandslos, gestaltlos, und du schwankst ins Abenteuer.

Warte. Warte. Nur noch ein paar Tage hier, dann nehme ich den kürzesten Zug über Prag nach Wien und bin bei dir. Jetzt schreibe ich Satz um Satz. Herausgeschleudert und vergessen. Trunkene Beschwörung. Morgen früh muß der Brief zur Post. Ich kann nicht ruhig bleiben, mit Eisbärenschritten schwanke ich durchs Zimmer, hin und her – wie im Käfig. Die Kiefern knarren draußen im Sturm. Ich schleiche auf bloßen Sohlen, keiner darf mich hören. Lausche. Schleiche weiter auf und ab. Schließlich klebe ich am Fenster. Sinke in mich zusammen.

Die nächsten Tage vergehn mit Geschäften. Gegen Wochenende erhalte ich einen Anruf von Kolja. Seine Stimme schwingt dünn und etwas gespannt. Schön. Heute Abend bei ihm. Kleine Gesellschaft. Kaltes Abendbrot. Acht Uhr. Eine Blutwelle schlägt mir in den Hals. Entscheidung oder Verrat? Was entscheidet sich? Unsinn. Doch, ich weiß es blind. Der Kampf um Mariquita hat eingesetzt, Kolja ist mein Gegenspieler. Aber er weiß nichts von ihr. Also fürchte ich mich zu verraten – sie an ihn zu verraten.

Innerlich bebend steige ich aus dem Zug. Eine merowingische Untergrundhalle, freies Feld, schneeverstrichene Wege zwischen Schutthügeln und Schrebergärten. Eine Querstraße. Endlich. Im ersten ein durch Rouleaux gefiltertes Licht. Die Klingel versagt. «Kolja, Kolja!» Mein Schneeball saust ans Fenster. Herabpolternde Schritte durchs Treppenhaus. Kolja zieht mich in den Gang.

«Die andern sind schon da. Irene kennst du schon. Wolodja von Stifft, seine Freundin», stellt er beim Eintreten über den glasklirrenden Tisch hinweg vor.

Ich schüttle die schuppig trockne Hand eines hagern Balten und schaue in die Mondfülle eines tschechischen Mädchengesichts. Irene habe ich bei der Begrüßung vergessen. Niedersitzend gewahre ich sie an meiner Seite. Sie ist auffallend bleich heute Abend. Ihr goldner Haarhelm brennt im Lampenflimmer. Bittere Furchen sind in ihre kindliche Maske geschnitzt, hochmütige Furcht härtet die Augen.

Der Imbiß hat begonnen, Wodka aus langhalsigen Flaschen treibt sein stumpfes Feuer durch die Eingeweide. Der Balte steckt aufrecht zwischen den Schmausenden, raucht seine Zigarettenkette ohne die Speisen zu berühren, eine rosenrote Pillenschachtel zwischen den Fingern. Kolja haut richtig ein, Lachs- und Kaviarbrote verschwinden zwischen den weißen Zahnzäunen. Die Tschechin bedient den Samowar. Das Gespräch rollt über Politik. Ich beteilige mich kaum. Die Bissen würgen mich im Halse.

Kolja ist vor kurzem von seiner zweiten Rußlandreise zurückgekommen. Moskau. Auch eine Fahrt auf der Wolga. Turkestan bis Taschkent; Auftrag des Volkskommissars für Handel. Er tut geheimnisvoll. Spricht von russischen Mädchen, von einer Kellerkneipe in Moskau, wo ihm sein Diener das Leben rettete. Er zieht einen persischen Dolch aus der Revolvertasche und spielt damit. «Jetzt lügt er», flüstert mir der Balte zu. Ich nicke. Weshalb habe ich das nicht selbst bemerkt? – Also doch wieder unter seinem Bann. – Jetzt sehe ich plötzlich, daß seine Lippen rot geschminkt sind, daß eine dicke Schicht braunen Puders auf seinen Wangen liegt.

Wolodja von Stifft wendet sich zu mir. Früher ist er Maler gewesen, dann spionageverdächtig, auf der Flucht, in Konstantinopel. Einige Zeit Schaukastendieb. Jetzt studiert er an sich wissenschaftlich die Wirkungen des Kokains. Er mißt den Blutdruck, stellt die Phasen der physiologischen Veränderungen fest, erklärt mir die begleitenden Umlagerungen der moralischen Struktur. Seine Persönlichkeit bleibe unbetroffen vom Zerfall. Kolja sei sehr entstellt, aber er werde überdauern. Ich nicke, höre mit halbem Ohr hin; meine Blicke umkreisen Kolja, der sich zu Irene beugt und ihren Haarhelm streichelt. Allmählich umschlingt er sie mit der Linken, streicht ihr mit jäher Gewalt Prisen in beide Nasenflügel. Rasende Erregung überfällt mich. Schärfe tritt in die Züge des Paares, ein Krampf, Siegerwille und Widerstand härtet ihre Umschlingung, Wollust der genossenen und der erlittenen Gewalt. Nur ein Augenblick, dann gleitet Irenes Haupt erbleichend in die Polster, während Kolja die Fäuste auf die Knie stützt und anfängt zu lachen. Die Gläser klirren. Wir brechen auf. Von Stifft will uns für den Rest der Nacht beherbergen. Eisiger Sturm brennt mich wach. Wohin treibe ich mit diesem Rudel von Verlorenen?

Kolja geht eingehakt mit Irene. Sie pressen sich aneinander, suchen Schutz vor dem Wind. Er wird sie heut Nacht besitzen, weiß ich. Was geht mich dieses Weib an, verschwinde, flieh! Aber ich gehe weiter – Beute fiebernder Spannung. Weiter. Kolja liebt diese Frau nicht. Was er sucht, ist Selbstgenuß. Meine Gegenwart peitscht ihn auf. Macht vor mir zu erweisen, das ist seine Berechnung. Träfe er diese Frau allein, er träte weg von ihr. Verführung ist für ihn keine Lust geheimen Abenteuers, nur Eitelkeitsrausch vor Zeugen. Gier eines Dritten stachelt ihn; er ist ein Mondgeschöpf, nur fremdes Licht widerstrahlend, badend im Neid des Beschauers, ohne einen andern Willen als den, fremdes Blut aufzupeitschen, bei einem Genuß, der ihm nur aus der Spannung des Dritten zuströmt.

Ruth hatte ihn zu sich selbst geweckt. War er nicht wie ein Kind, der Knabe von neunzehn Jahren, der feig vor der Liebe sich in den Mutterleib hätte verkriechen mögen? Und dann wuchs er Nacht für Nacht, wie ein Vampir, der am Schläfer sich vollsaugt, wurde wach zu allen Lüsten, wurde inne seiner Macht, spielte mit der Hingabe der Liebenden, stachelte das Weib in den Rausch, während er, angenehm gekitzelt, kalt blieb im Genuß seiner anschwellenden Wärme; war er mir nicht unheimlich verwandt, war ich nicht in ihn hinübergetreten und lebte ein zweites Leben, während er leiblich von Ruth fortlief, zu andern Genüssen, zu leichten Siegen, die seiner Selbstliebe für den Augenblick Befriedigung gaben. Jahrelang blieb er verschollen. Jetzt war er wieder aufgetaucht, flammt im Strahl meines Feuers und versucht, genährt mit meinem Blut, das letzte – seinen Sieg über mich.

Kahles Treppenhaus, Weißlicht eines mächtigen Atelierraums. Unsre knarrenden Korbsessel rücken um die Wodkaflasche. Dosen voll Giftstaub da und dort auf dem Tische. Von Stiffts Freundin geht ab und zu, bereitet unter dem Vorbau zwei Polsterlager. Der Hausherr führt mir seine Apparate vor. Kolja schnupft und raucht, seine Wangen glühn. Er reißt sich das Hemd herunter und wirft sich mit dem Oberkörper im Stuhl zurück. Braun strafft sich die Haut über den Muskeln seines jungen Tierleibes.

Irene starrt mit schwimmenden Augen vor sich hin. Ich bin betrunken. Aber nicht vom Schnaps; den habe ich nicht angerührt. Unter dem Wirbel des Giftes zerlöse ich mich, während die Spannung mit verrückten Irrlichtern über mir flackert. Ewigkeiten sausen. Kolja trinkt. Ich warte. Plötzlich gehn wir zu Bett. Die Tschechin ist verschwunden. Der Balte wickelt sich in seinen Mantel und streckt sich über zwei Stühle aus. Wir treten zu dritt unter den Vorbau. Irene streift zuerst ihr Oberkleid ab, wirft sich in Hemd und Strümpfen in die dunkelste Ecke des einen Lagers. Stille. Nichts rührt sich. Bange Atemströme flattern wie verirrte Vögel durch den Raum. Mählich spüre ich, wie Koljas Beine sich straffen, der glühende Körper neben mir hart wird. Ich will nicht, daß er hinüberspringt.

Worte brechen aus mir, beschwörend. «Ich habe eine Freundin in Wien», haucht mein Verrat. Kolja zuckt. «Ich will sie kennenlernen, ich fahre mit dir nach Wien», knirschen seine Lippen dicht an meinem Ohr. Da verstumme ich, von Angst geschlagen. Kolja wartet. Ich schließe die Augen. Stumm geht der Kampf zwischen unsern Gehirnen hin und her. Plötzlich wendet er sich ab. Ich reiße die Augen auf, durchbohre das Dunkel. Da flattert seine Hand von der Bettdecke auf, wetzt drüben an den Polstern von Irenes Lager, taucht hinein. Kolja schnellt sich mit einem Sprung hinüber; Irene ist aufgefahren. Geduckt bleibt er neben ihr auf der Decke liegen. Ewigkeiten tropfen. Kolja rührt sich nicht, nur allmählich zittert sein Flüstern ins Dunkle neben ihm; und eine Stimme, blaß und wie zersprungen, zittert Antwort zurück. Sein Körper sinkt zwischen die Decken. Mit bleischweren Luftsäulen steht Betäubung vor meinen blinden Augen. Ein gurgelnder Schrei zerreißt die Spannung. Sie ringen. Seine Hand schleudert mir Frauenstrümpfe ins Gesicht. Kolja lacht.

Dann ist kalkiger Morgen. Das Paar neben mir flüstert mit abgewandten Gesichtern. Ich taumle auf die Füße, reiße meine Kleider an mich, mache mich im Atelier fertig und schleiche an dem Schläfer auf den Stühlen vorbei hinaus. Bis in die Knochen bin ich durchfroren. Bei jedem Schritt stoßen mir die Beine wie Holzpflöcke gegen den Leib. Die Gelenke knarren in schlecht geölten Scharnieren. Mein Kopf ist leer. «Versanden», sagt es mechanisch in mir, «versanden.» Würde mich einer ritzen, Sand würde aus meinen Gliedern laufen. Eine billige Puppe.

Das Herz flattert vor mir her über die Schneehaufen, ich muß es wieder einfangen. Ich kann nicht atmen, und doch muß ich laufen, laufen, sonst ersticke ich. Ein Würgkrampf hat mich befallen, aber ich wanke weiter nach Hause zu. Etwas Entsetzliches erwartet mich dort. Gefahr liegt bleischwarz über dem Haus.

Ich trete ein, schleppe mich durch die Halle. Die Hausfrau begegnet mir: «Um Gottes willen, was haben Sie für Flecken im Gesicht?»

Vor dem Spiegel. Meine Lippen sind blau. Sie versteht, führt mich zu einem Stuhl.

Wie ein Blitzstrahl kracht plötzlich neben mir das Telephon:

Holland. Aus Rotterdam. Für Sie. Ihr Schwager.

Der Hörer schwankt in meinen Händen.

«Meine Mutter. Schlaganfälle.»


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