Max Pulver
Himmelpfortgasse
Max Pulver

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8. Kapitel

Vor Pfingsten

Was ist mein Verbrechen?

Ich habe ihren Eltern gefallen. Das sollte ich doch. Vielleicht etwas zu gut gefallen? Ein Stück Vertrauen glitt von ihrem Vater auf mich hinüber; er hat sein Kind meinem Urteil unterstellt. Mariquita fühlt das, wenn sie es auch nicht weiß. Ich bin in ihren Besitz eingedrungen, das verzeiht sich schwer. Bin ich ihr nicht zu gefährlich? Sie hält mich für überlegen (mein Gott, sie merkt nicht, wie sehr ich ihr verfallen bin). Sie, mit den Mitteln ihrer Schwäche und ihres Charmes zu tyrannisieren gewohnt, stößt plötzlich auf andere Mittel, auf wirksamere. Wie zwei Zauberer bekämpfen wir uns, alle Magie ihres lunaren Erde-Nachtbannes reicht nicht mehr aus; zerstörend trifft sie der schöpferische Sonnenspeer.

Ich sitze an Gabys Tisch. Ein Gelüst, zu malen, überfällt mich plötzlich. «Gaby?» Keine Antwort. Zibi, der Kater, kobolzt auf weichen Pfoten aus der Ecke heran, pflanzt sich gebuckelt wie ein Kamel vor mir auf. «Wo ist deine Herrin?» Seine Pupillen gehn mit einem Ruck ins Rechteck. «Ist Gaby zu Hause? Ich brauche Wasserfarben. Ich muß etwas malen. Willst du mich nicht verstehn?»

Ich erhebe mich, beginne zu suchen. Zibi hinter mir wie ein besorgter Diener, wenn eine indiskrete Standesperson, eindringend in den Sachen der Herrschaft, herumwühlt, wagt nur leisen Protest. Ich krame unter den Dachfenstern. Ein Malblock, Pinsel, aber keine Farbenschälchen. Die Tür zum Schlafzimmer ist angelehnt, ich stoße sie auf. Gaby liegt quer auf dem Bett, nackt unter dem grünen, ärmellosen Florhemd, Arme und Beine strotzen braun aus dem Linnen.

Das ist kein Schlaf. Bewußtlos ist ihr mächtiger Leib ausgestreut. Betäubt, wie von Keulen niedergeschlagen. Hat sie Gift . . . ? Ein Blick auf das Taburett neben ihrem Bett. Ein zerknitterter Brief – und da stehn die Farben. Mit den Fingern picke ich sie einzeln auf und schleiche hinaus, schicke erst von der Tür einen Blick zurück. Gaby schläft. Wie eine Verzweifelte wühlt sie sich ins Vergessen, während letzte gewittrig stechende Sonnenstrahlen ihre Schenkel sengen. Nicht wecken. Heilig ist diese Flucht aus ihrer Qualwelt! Sie röchelt leise. Wie ein Raubtier ist der Alb ihr über den Abgrund nachgesetzt, kniet ihr, auch drüben noch, auf der Brust. Ihre Kniee preßt sie hoch, sie möchte den auf ihr Kauernden wegstoßen. Aber er ist stärker als sie und hält sie gekreuzigt. Sie erleidet die Notzucht dämonischer Übermacht. Sie möchte schreien, aber der Schlaf hat ihr die Zunge geknebelt. Soll ich sie wecken? Herausschrecken aus ihrer Traumhölle in die wirkliche, von Sonne ironisch vergoldete? Nein, nicht eingreifen. Angst ist schöpferisch. Hänge ich nicht wie sie an derselben Qualkette! –

Mariquita ging von mir fort. Nicht einmal die Hand hat sie mir gegeben. Nicht einmal die Hand. Nicht nachdenken, nur malen. Mein Pinsel läuft im Bogen: weiches, kühlendes Blau schwingt sich in seinen Ursprung zurück! Ein Kreis. Und plötzlich, am Scheitel, da wo ich begonnen, läuft meine Hand nach links, schwelgt in einer tiefen Girlande, kurvt bogig nach rechts und strömt an der untern Kreishälfte, dem Anfangspunkt genau gegenüber, in die Peripherie zurück. Die Serpentine eines großen S erscheint – dem Kreise eingeschrieben. Da zittert mein Pinsel unter dem schrillen Klingelton. Unentschieden hebe ich die Finger – nebenan höre ich Gaby aufschnellen, die Gangtür aufreißen – dröhnende Schritte.

Ihre Hand schiebt zwei Riesen durch die Tür. Verlegen erhebe ich mich zur Begrüßung. Ihr Freund und sein Bruder. Gaby bloßgliedrig zwischen ihnen; die Stimme des Liebhabers kollert ins Falsett. «Ist er nicht greulich hysterisch?» lacht Gaby. Und ihrem Freund in den Nacken klopfend: «Da, Anton, schau dir diesen Mann an. Ein Wundertier mit Röntgen-Augen. Da helfen Flunkereien nichts. Der sieht dich, wie dich der Herrgott in seinem Zorn erschaffen . . .» «Bei dir braucht's das erst gar nicht, gelt?» flötet der Riese Anton und zupft an ihrem Hemd. «Du, ich muß schon bitten.» Sie kommen ins Balgen. Gaby versetzt ihm blitzschnell eine Backpfeife und setzt in großen Sprüngen davon. Anton hinter ihr drein, die Türe knallt. Im Schlafzimmer quirlt Rumor, Gesprächsfetzen dazwischen. Dann Stille. Es wird peinlich. Antons Bruder ist auf mich zugetreten und schüttelt mir die Hand. «Ihre Sachen interessieren mich sehr. Ich bin selbst auf verwandtem Gebiete tätig, bitte. Gaby hat mir von Ihnen erzählt.» «Das mag ein schöner Bericht gewesen sein», meine ich. «In ihren Augen bin ich wohl so ein zweiter Kater Zibi, aber ins Okkulte gesteigert. Übrigens kannte ich in München einen bemerkenswerten alten Mann, der behauptete, die Träume seiner Katze mitzuträumen.»

«Können Sie sich erinnern», fragt er, «wovon seine Katze träumte?» «In der Tat. Von einem Loch blauen Himmels über der Fensterluke.» «Das ist mir sehr bedeutungsvoll.» «Sie meinen?» Er antwortet nicht. Wie gebannt starrt er auf das Blatt auf dem Tisch. «Wer hat das Zeichen gemalt?» fragt er plötzlich mit gedämpfter Stimme. Sein Zeigefinger bildet den Kreis und die eingeschriebene Serpentine in der Luft nach. «Das? Ich.» «Sie können also chinesisch?» «Wieso?» Hat Gaby nicht erzählt, daß der Bruder ihres Freundes spinne?

«Yin-Yang, das Weltseelenpaar.» Er packt meine Rechte und schüttelt sie. «Sie brauchen sich nicht zu verbergen. Sie stehen einem Wissenden gegenüber.» «Ich muß Sie enttäuschen, ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen.» «Haben Sie dieses Zeichen abgeschrieben? Wie kamen Sie darauf?» «Ich weiß nicht. Etwas drängte mich, da setzte ich mich hin, eben vorhin, es lief mir aus dem Pinsel.» «So kennen Sie seine Bedeutung nicht?» «Keine Ahnung.» «Das Siegel des harmonischen Gleichgewichts zwischen Mann und Weib, zwischen Tag und Nacht, gerecht abgewogen zum Dau. – Es ist Ihnen von innen diktiert worden.» «Wenn Sie es so nennen wollen.» «Dann schweben Sie in einer großen Gefahr, mein Herr. In der größten, in Verzweiflung.» Er hört meine Zustimmung aus meinem Schweigen. «Wenn dieses Sinnbild so spontan sich aufdrängt, durch die Hand Äußerung heischt, muß eine ungeheure Sehnsucht am Werke sein . . .»

«Alexander», schmettert Gabys Stimme von drüben in die Stille, «fast hätt' ich's vergessen, zwei telephonische Anrufe für dich.» Sie streckt mir durch die Türe einen Zettel heraus. «Man holt dich mit dem Wagen ab, um acht Uhr.» «So – man?» «Und morgen früh bist du in die Kontinental-Bankgesellschaft bestellt.» «Von wem?» «Weiß nicht, von der Direktion, wie mir scheint.» «Hängen die beiden Anrufe zusammen?» «Kaum.» «Ein Betrugsfall, falsche Buchung, Wechselfälschung?» «Es wurde nichts hinzugefügt.» «Schön, aber wer holt mich heut abend mit dem Wagen ab?» «Man verweigerte mir den Namen. Ich wurde neugierig, rief sofort nach dem Gespräch das Amt an. Eine öffentliche Sprechstelle war benutzt worden.» «Eine Frozzelei?» «Ich glaub nicht. Geh hin, schau zu. Hast du Angst?» «Film.» Die Klingel schlägt an, diskret. Gaby ist an der Tür. «Alexander, man erwartet dich.»

Ein Chauffeur steht draußen, die Mütze in der Hand. «Darf ich bitten, Herr Baron.» «Gleich.» Ich laufe nach Hut und Handschuhen, schüttle den dreien die Hand. «Ich hoffe Sie wirklich wiederzusehn», verabschiedete sich der Chinesischkenner von mir. «Denken Sie an das Yin-Yang.»

Ob ich daran denke?

Der Motor summt. Immer noch die Mütze in der Hand, drückt der Livrierte den Wagenschlag zu. Ich glaube eine Krone über dem Wappen zu erkennen, golden aufblitzend in der Bewegung des Türflügels. Neugierig lehne ich mich hinaus, aber im selben Augenblick fährt der Wagen mit einem Ruck an und schleudert mich in die Polster zurück. Unvermittelt kommt die Dunkelheit. Noch erkenne ich die Votivkirche, den Ring vom 12. November, dann gleiten wir im Grau – wellig zwischen wachsgelben Laternen – ins Abenteuer.

Herrlich gefedert. Kein Stoß erreicht mich. Ich schwimme. Yin-Yang geht blauglühend vor mir auf, die Verschmelzung. Wohin ich fahre? War heute nicht Streit? Hatten wir uns heute nicht verloren? Mariquita und ich, draußen am Rummelplatz? Einsam hockten wir nebeneinander und erstickten unsere brückenlose Getrenntheit im Wein. Und Ruth? Kein Ton von ihr, seit ich hier bin. Keine Zeile. Sie ist in Holland, im Hause meiner Mutter. Sie hat sich verkrochen unter den Schatten der Toten. Sie ist vor mir geflohn. Oder verstieß ich sie? Vielleicht ahne ich ihre Verzweiflung. Griff sie nicht ein, bohrte den Raum überspringend sich mit ihrem Wunsch zerstörend zwischen Mariquita und mich? Riß sie nicht den Abgrund auf heut nachmittag, fiel nicht ihr Schatten über uns, daß wir in Streit versanken?

Seit ich den Kreis malte, weiß ich es, Magie hat Gewalt, eine neue Dimension ist aufgebrochen und drängt sich zwischen Schritt und Schritt. Gestaltlos mischt sich eine Macht in mein Spiel, die nicht aus meinen Quellen ihre Nahrung sog.

Ich bin in ihrem Bann.

Verzaubert. Zum Leben? Zum Tode? Entscheiden kann ich nicht. Das furchtbare Angstrad schwingt und schwingt. Schreckfeuer tropfen von seinen Speichen. Aber auf Augenblicke glüht es still und blau. Yin-Yang, Vermählung Himmels und der Erde.

Wir stehn. Unmerklich hemmte die Vierradbremse. «Darf ich bitten, Herr Baron.» Wie zuvor: der Chauffeur am Wagenschlag. Wir halten vor einem schwarzen Palast. – Scheu würgt sich die Straße zwischen finsteren Häuserzeilen. Hauffs Geschichte von der abgehauenen Hand fällt mir ein. Man ruft mich zu einem Toten. Aber ich bin doch nicht Arzt. Der Diener setzt sich in Bewegung. Wir gehn nicht zum Haustor. Seine Flügel sind eingehakt, Dunkel kältet aus ihnen. Der Mann streift der Mauer entlang, schließt eine lanzenbewehrte Gartentür auf. Pflaster, Leimgeruch. Meine Füße poltern an Mülleimer. Wieder ein Pförtchen – Dienstbotentreppe. Steinfliesen bohren sich in Schraubenwindungen hinauf. Vorausschreitend läßt der Mann den Lichtstreifen einer Taschenlaterne auf die Stufen über mir fallen. «Geben Sie die Hand ans Seil, bitte.» Wendeltreppen wie eines Glockenturms, endlos scheinbar. Wieder knirscht der Schlüssel in der Wand. Ein unglaublich schmaler Gang zittert vorüber, eingepreßt tasten wir zwischen hohen Schränken, über denen sich Koffer in die Finsternis türmen. Dann eine Öffnung: ein Tisch überflutet vom Goldlicht vieler Kerzen. Der Mann nimmt mir Hut und Handschuhe ab, nötigt mich in einen großen Sessel und läßt mich allein.

Lautlos schließt er die Türe wie vorhin beim Wagen. «Wie angenehm die alte Schule der Domestiken ist», denke ich. Seltsam, der Diener trug keinen Backenbart, nur einen kleinen Schnurrbart – englisch gestutzt. Da find' ich mich nicht zurecht.

«Was will man von mir?»

Zaghaft blicke ich mich um. Wo ist der Tote? Warum forschte ich den Mann nicht aus? «Gleich», war alles, was mir einfiel, und ich stand auf und ging mit. Aus Neugier? Nicht allein. Eine andere Dimension ist heute in mein Leben getreten, das ist ausschlaggebend. Wozu widerstreben? Vor welcher Fügung könnte ich mich fürchten? Ich fürchte mich nur vor mir selbst. Ich lege meine Lupe auf den Tisch. Er ist mit grünem Tuch ausgeschlagen. Ein mit Türkisen besetztes Schreibzeug steht in Reichweite. Dann ein Stapel Konzeptpapier. Hier riecht es nach Diplomatie. Aber drei Betten sind in dem Raum – das ist geradezu unmöglich.

Wo bin ich? Sind hier Flüchtlinge zusammengepfercht?

Die Koffer vorhin im Gang?

Ein breiter venezianischer Spiegel hängt mir gegenüber im Halbschatten. Wie müde ich bin. Gedankenlos starre ich in den bläulichen Metallschmelz seiner Scheiben. Etwas regt sich dort, die Flügeltüre mir im Rücken schwankt und spaltet sich langsam. Eine Dame in Schwarz erscheint hoheitsvoll am Arm eines blonden, aufgeschossenen Knaben.

Ich springe auf. «Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind ohne zu fragen.» Schweigende Verbeugung meinerseits. «Geb' er mir die Papiere», sagt die Dame mit verschleierter Altstimme zum Jüngling. «Setzen wir uns.» Ihre männliche Hand mit Muskeln an der Kante wie vom Zügelhalten reicht mir ein graues Leinenheft. Ein mächtiger Solitär blitzt an der sonst ungeschmückten Rechten. Die beiden Personen haben mir gegenüber zwischen zwei Kerzen Platz genommen, forschen in meinen Zügen. «Ungarisch?» frage ich, die Seiten durchblätternd. «Ist das ungünstig?» «Ohne Belang, bitte.» «So können wir beginnen.»

Spät verlasse ich das Haus. Der aufgeschossene junge Mensch bringt mich bis zur Tür. Ein Taxi erwartet mich. Ja, ich bin einem Toten begegnet. Meine selbstverständliche Pflicht ist Schweigen. Todmüde lege ich mich zu Bett. Am nächsten Morgen erwache ich mit Schrecken. «Halb zehn.» Zur Bank. Arbeit. Über die Lupe gebückt.

Stete Gegenwart in gespanntester Aufmerksamkeit. Die Zeit zerbröckelt irgendwo. Plötzlich ist es Abend. Die Türen sind schon gesperrt. An der Portierloge bleibe ich stehn: Mariquita. Vergessen. Nicht angerufen. Den mich begleitenden Direktor bitte ich um einen Augenblick Geduld. Endlose Sekunden bleibt die Verbindung aus. Endlich eine Stimme. «Gnädige Frau.» «Meine Tochter ist bei ihrer Freundin Toni. Wünschen Sie . . .» «Ich werde mir erlauben, nochmals anzurufen.» Höflichkeiten. Einhacken. «Sie nachtmahlen doch mit mir. Wir fahren in den Wiener Wald.» «Mit Vergnügen.» «Also los.»

Frankenbaisse. Der Betrugsfall in der Bank. Waldschlucht und Hügel, Schatten, Abendfeuer streifig grell in den Scheiben. Man verschleppt mich. Wo ist Mariquita? Toni habe ich nie gesehn. Aber ich hasse sie. Dort ist das Lager meiner Gegner. Diese Leute haben Absichten mit Mariquita, verfolgen ein Ziel. Durchschauen kann ich es nicht. Aber meine Selbsterhaltung wittert: gegen mich. Gegen Mariquitas Verbindung mit mir.

Da ist Verschwörung. Ich muß sie kennenlernen. Der Gefahr ins Gesicht sehn. Wahnsinn, sie jetzt allein zu lassen. «Ich möcht' nach Hause, Herr Direktor.» Das breite Gesicht legt sich in autoritativ beschwichtigende Falten: «Aber, bitte, Sie sind von der Arbeit überreizt. – Übrigens, Ihre Resultate befriedigen mich sehr, wirklich sehr. Gleich sind wir beim Fischer am Bach. Nach der Forelle bring ich Sie sofort heim, ganz bestimmt. Beiläufig: haben Sie den Obersten Besmertny gekannt? Er hat sich erschossen, gestern. Da, bitte.» – Wir halten. Tauschen Worte aus über den Fisch, handhaben Bestecke. Meine Angst stößt wie ein Falke über die Waldschlucht auf, in den stahlschwärzlichen Himmel, bereit, im Angriff niederzustoßen auf den Feind. Ich äuge, Furchen, Bodenfalten, Schneisen im Tann. Wo versteckt sich das Vögelchen, wo lauert ihm das fremde Raubzeug auf? Nichts. Über das Kornfeld am Hang schwebt ein Schatten. Nichts.

Nach Hause komme ich um Mitternacht. Gaby ist weg.

Ein Brief unter der Lampe. Ruths Schrift. Londoner Poststempel. Lange wage ich nicht zu öffnen. Ich kann nicht allein sein. Ich möchte Hilfe holen, Schutz gegen die Worte, die unter dieser flachen Hülle zusammengepreßt sind, explosiv wie Ekrasit. Zibi springt mir bei. Er postiert sich neben mich. Mit dem Finger schlitze ich die Schmalseite. Ruth stellt mir die Scheidung frei. Sie wäre bereit, würde sich nicht widersetzen. Weiterlesen kann ich nicht. Erregung schleudert mich hoch. Ans Fenster. Schluß machen. Da hinab. Kaum sichtbar das Pflaster. Zeitungsfetzen schürfen im Wind. Oberst Besmertny! Idiotisch, so zu heißen, wenn man sich selber tötet. Herr Ohnetod – hehe! – Flucht – Kurzschluß. Bankrott.

Ein Schatten von Besinnung kehrt zurück. Was ist los? Warum jetzt? Warum schon jetzt? Ruth stimmt doch zu. Ich bin frei. «Für neue Bande», wie sie schreibt. Der Pfeil sitzt. Behutsam versuche ich den Widerhaken aus dem Fleisch zu lösen. Habe ich mich denn schon gebunden? Habe ich nicht freien Spielraum nach beiden Seiten? Die Entscheidung ist nicht gefallen. Ich schiebe sie hinaus. Ich will sie noch nicht. Mag sie heranreifen, langsam, behutsam auf mich zukommen, aber nicht so. Ich lasse mich nicht übertölpeln. Das ist Überfall. Bluff. Ich nehme zwei Schritt Abstand. Noch keine Berührung mit dem Gegner. Zwischen uns Sand. Heller Sand. Jede seiner Bewegungen muß ich sehn. Ich ziehe mich zurück. Mag sein, ich bin zu feig. Aber für Verzweiflung ist es noch zu früh.

Wie scheußlich meine Hände zittern, Nerven behalten. Wessen Nerven zuletzt zusammenbrechen, der ist Sieger. Nichts zu unternehmen, ist hier das Schwerste. Ich trete an den Tisch zurück, lasse die Feder übers Papier gleiten. Gekritzel, Bruchstücke von Buchstaben, plötzlich aufwuchernd in Zeichnung, dann eine verspielte Paraphe um die Halbgebilde geschlungen, hegend, drosselnd. Die Feder läuft, während ich über das Blatt weg in die Lampe starre. Zibi beobachtet mich, um die Tischkante balancierend. Plötzlich stolpert sie, spritzt. Ihre Spitze spaltet sich, bohrt sich fest. Durch das rasende Getümmel spielender Formen zuckt ein Satz.

Diagonal aufsteigend durchquert er das Schriftfeld: Ich will mit dir leben und sie nicht lassen.

Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr (ich gehe auf und ab, ordne und notiere hundert Kleinigkeiten, um nicht ans Telephon zu treten) steht Mariquita vor meiner Tür. «Nur auf einen Sprung.» Ich küsse ihr die Hände, führe sie herein. Gaby setzt sich zu uns. Die beiden machen Bekanntschaft, sie scheinen sich zu gefallen. Etwas wie Bündnis deutet sich bald in ihrer Haltung an.

Sie ist doch gekommen. Unsere Spannung ist abgeklungen. Mariquita plaudert unbefangen, Gaby neben sich, Zibi im Arm. Meine Augen suchen unaufhörlich ihren Blick. Betteln. Nie war sie so schön wie jetzt, wo ich mich ihrer nicht sicher fühle. Sie weicht meinem Blick aus, ist das junge Mädchen, ähnlich wie zu Hause, aber weniger Katze, selbstbewußter, freier. Freilufthaltung, spricht von Sport. Vom Malen nur wie nebenbei, bescheiden aber selbstsicher wie jemand, dem seine Zukunft in der Hand liegt.

Gaby holt sie mit direkten Fragen tüchtig aus. Sie schlägt ihr vor, mit ihr zusammen rhythmische Gymnastik im Dianabad zu treiben. (Das ist ihre Form der Ebenbürtigkeitserklärung für ein Mitgeschöpf.) Mariquita sagt zu – etwas ausweichend für die nächste Zeit. (Im Grunde ist sie zu bequem für jede körperliche Anstrengung.) Sie will ein paar Bilder fertig malen, ausstellen im Herbst. Bald erhebt sie sich. Wir gehn. Die Lifttüre schnappt hinter uns ins Schloß.

«Hast du mir verziehn?» «Was denn?» «Was hast du getrieben?» «Nicht viel.» «Zwei Tage Hölle hinter mir. Oder vielleicht Fegefeuer.» «Du scheinst mir wirklich sehr geläutert.» «Mariquita!» Der Lift stoppt, wir steigen aus.

Sie tastet vor. «Gaby ist reizend.» Ich nicke. «Ein guter Kamerad.» «Eine schöne Frau.» «Findest du?» «Ich verstehe dich nicht.» «Mariquita, ich liebe dich.» «Nicht so laut auf der Straße, bitte. Die Leute sehn sich ja nach uns um.» «Mögen sie doch, mich kümmert nichts mehr.» Ein schräger Blick, zweifelnd. «Du quälst mich wie ein Teufel.» Sie schnippisch, aber mit schlecht verhohlenem Triumph – «Herr Moenboom, Sie reden mit einer Dame.» «Ich bitt dich, laß den Spott. Seit ich bei euch war, gehst du in einer Maske. Das ertrag ich nicht.» Tränen verschlagen mir das Wort. Ihre Linke streichelt mich. «Nicht, nicht.» «Gehn wir ins Atelier.» «Ich hab doch Besorgungen fürs Mittagessen.» «Bitte.» «Also für einen Augenblick.»

Oben angekommen, setzen wir uns nebeneinander. Mariquita nimmt meine Hände in die ihren. «Warst du wirklich nie in Gaby verliebt?» «Seltsamerweise nicht. Vielleicht weil ich sie seit meiner Kindheit kenne.» «Und jetzt?» «Ich denke nicht daran. Du fragst, als wünschtest du es. Als wäre es eine Erleichterung für dich.» «Manchmal bist du wirklich unbegreiflich.» «Verzeih mir, ich bin durch die letzten Tage verwirrt. Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Was hast du denn die ganze Zeit getrieben? Gemalt hast du nicht.» «Ich war überhaupt nicht im Atelier. Ich saß bei Toni in ihrer Werkstatt. Man erwartet uns dort heut abend.» «Schon wieder ein Besuch. Ich fürchte mich.» «Schäfchen. Und du?» Ich erzähle ihr meine Abenteuer und Verrichtungen. «Ist die Aufgabe dort zu Ende?» «Bestimmt nicht. Zur Bank bin ich heute um halb vier Uhr bestellt.» «Man kann dir eigentlich gratulieren.» «Nur zu dir. Meine Arbeit ist ein interessantes Betäubungsmittel, jetzt nicht mehr.» «Die Zukunft?» «Du.»

Ich verschweige mein Erlebnis mit dem chinesischen Sigel. «Also bei den Eltern hast du einen Stein im Brett. Der Vater schwört auf dich.» «Deine Eltern gefallen mir wirklich.» Gegen zwei Uhr trennen wir uns. Meine Glieder prickeln vor Glück. Wie schnell ich mich doch umschmeißen lasse. Auf eine kleine halbe Stunde setze ich mich ins Kaffeehaus drunten in der Gasse. Mariquita zieht mir durchs Blut, strahlend und warm. Wie innig wir uns besitzen: Meine Bangnis klopft nur noch leise und fast angenehm. Wovor muß ich mich fürchten? Ich bin glücklich. Ja, deshalb fürchte ich mich. So viel ist mein. Die Dämonen sind neidisch. Mehr noch als jener, der im Elend ist, muß der Beschenkte und Überschüttete die Maske tragen.

Also die Frankenkrise wütet weiter. Veronal. Gift. Wie weit hinter mir das Kokainschnupfen liegt. Vorüber die Zeit der Verzweiflung und des langsamen, genießerischen Selbstmords, des auseinanderfallenden Bewußtseins; Abbröckeln, Versanden wollen – mir jetzt unbegreifliche Perversion.

Kräftig sein will ich, gedrängte Wucht einsetzen, leben – lange, zäh, unvertreibbar zäh ans Glück geklammert. Mag sein, daß hinter diesem Kräfterausch die Furcht vor dem Nichts steht; gestern stieß es mich, warf mich in die Fensterluke. Ich hörte das Papier auf dem Pflaster schürfen. Mit einem Wort: Überkompensation – im Stil der Kaffeehaus-Analyse. Es bleibt sich gleich. Mögen die Hintergründe im Hintergrund bleiben. Sie sind mir nur Staffage, nur Bühnenzauber; aber warm überglüht vom Rampenlicht umarmt sich das Paar. Es ist Fleisch und Blut, sein Lied ist die Wahrheit zweier Seelen; die Rolle ist überwunden, Taktstock, Kapellmeister, der unruhig dunkle Raum vor ihm nur Illusion. Das Herz ist Duett, verschmolzene Stimme, steigt vereinigt im seligen Yin-Yang.

Unsere Münder runden die Welt. In strahlend goldenen Kugeln schwebt sie aufwärts. Gelitten haben ist gut. Leiden gibt das Gefühl für das Schwergewicht in jeder Erscheinung, prägt Form und zerlöst sie wieder, Vollkommenes in Unendlichkeit verströmend. Nur Übermaß kann dich erwecken. Ausschweifung der Sinnenlust oder des Schmerzes. Die kreisende Scheibe des Daseins muß dich hinaus in den Weltraum schleudern; aus dem Mittelpunkt geworfen, gewahrst du das Ganze. Dann erwacht dir die Kraft. Rücksehnsucht, dich aufschwingend zur Heimat, die du verloren.

Den Nachmittag verbringe ich im Bureau der Bankdirektion. Wieder steht die Zeit unter der Lupe still. Dann bedeckt Abendschatten die beschriebenen Blätter. Ich ordne die Papiere. Die Lösung ist gefunden. Ich gehe nach Hause und ziehe mich um. Die Abspannung des Erfolgs macht mich lässig. Noch wartet die zweite Prüfung auf mich: Tonis Kreis. Verstellung ist dort unnötig. Man weiß Bescheid. Aber irgendwie muß ich mich ausweisen. Es sind alte Freunde, ich bin der Eindringling. Nachsicht ist da nicht zu erwarten. Eifersucht in der Freundschaft ist die zäheste. Grade weil hier alles auf Seelisches und auf moralische Werte gestellt ist, bleibt ein neues, sich einem Dritten zuwendendes Gefühl, bleibt die völlige Hingabe an den andern für den Freund tödlich kränkend. Er fühlt sein Ungenügen; völlig sättigen kann er nicht. Etwas wendet sich ab, verschließt sich. Für ihn Verurteilung, Unwert. Herabsetzung, auch unausgesprochene, auch absichtslose, auch durch doppelte Aufmerksamkeit vertuschte, wird in der Freundschaft nicht verziehen. In der Liebe ist Erniedrigung, eigene und fremde, ein Rausch mehr. Ein Stachel unter den tausend Stacheln zu tieferem Genuß. Martern – Spannungen durch Sättigung unendlich vergolten. Freundschaft kann sich nicht sättigen. Man kann sie verjagen und vergessen, aber nicht zur Ruhe bringen.

Am Neumarkt treffe ich mich mit Mariquita. Wir nehmen einen Wagen, um während der Fahrt zu plaudern. Meine Bedenken drängen heraus. «Deine Freunde müssen meine Feinde sein.» «Weshalb?» «Weil sie dich an mich zu verlieren fürchten.» «Sie wollen mein Bestes. Sie nehmen sich meiner an.» «Gegen mich.» «Du bist ein Ungeheuer an Mißtrauen.» «Ich bin wie alle Männer gutmütig bis zum Läppischen.» «Alexander, du brichst Streit vom Zaun.» «Ich verteidige mich.» «Gegen Schatten.» «Nein, ich greife an wie der Wolf, aus Furcht vor dem Gegenüber. Übrigens, sind Schatten nicht unsere schlimmsten Feinde? Das, was hineinragt, was über den Weg fällt, während es selber hinter der Ecke verborgen ist, das unbestimmt Lauernde? Schatten kann man nicht zertreten, nicht an der Brust zermalmen, nicht ausrotten. Wie gut wär's, sie morden zu können.» Ich ziehe mein Buschmesser aus dem Gürtel, lasse seine breite Klinge im Laternenlicht aufleuchten. «Gib's weg, du machst mir Angst.» «Mariquita, dein Hals reizt mich unglaublich. Ich möchte ein Korallenband hineinritzen, rund herum, wie mit einem Kerbschnitt gleitend. Darf ich?» «Alexander, sei nicht so geschmacklos. Gib's weg, ja.» Ich gehorche. «Hör' mal, Mariquita, was ich vorhin sagte, ist mein Ernst. Ich sagte es aus Liebe.» «Neger?» «Gott sei Dank sind wir Neger. Schlaf ein, und du sackst mit einem Ruck in die Vorzeit. Der Traum ist voller Tiger und Schlangen, voller Greuel und Mord. Was bist du: eine flüchtige Luftspiegelung über dem brodelnden Sumpf, ein schillernder Hauch über dem wütenden Raubleben des uns alle gebärenden Gewässers. Sumpfgezeugte sind wir, hochgeschleuderte Stücke der Weltmasse. Unsere Bahn formt uns, dreht uns für Augenblicke zur Menschengestalt, dann zerschellen wir am Ziel. (Das Ziel ist der Ort, wo das Geschoß zerschellt.) Persönlichkeit – die anmaßende Eitelkeit von Jahrhunderten, die feig vor der einfachsten Parabel ihre Augen zudrückt: vor der Wurfbahn zwischen Geburt und Tod. Ist diese Parabel nicht das eindringlichste Beispiel, das jedes andere überflüssig macht?»

«Ich verstehe dich nicht ganz, aber ich ahne eine neue Dimension hinter deinen Worten. Etwas, was ich durch das Bild auszudrücken suche. Oder eigentlich soll es das Bild vor sich hinwerfen wie der Körper seinen Schatten.» «Weißt du, weshalb ich die Schatten hasse? Weil sie die Schatten von Dingen sind, die wir nicht bemeistern können.»

Wir tasten uns durchs Hochhaus hinauf – Liftgitter wie ein Raubtierkäfig – ungewiß. Die Treppenlampen blaß unter Drahtgeflecht. Mariquita findet sich selber kaum zurecht. Am Ende eines langen Ganges endlich die Tür. Toni öffnet, küßt sich mit Mariquita. Lockiger Bubikopf über etwas sprödem Profil. Der Vorraum kubistisch, ohne Tapete, flüchtige Farbaufteilung, an die Decke übergreifend. Ochsengalle, wechselnd mit einem zu weichen Himbeerton. Aus dem Nebenzimmer Stimmenwirbel und der Duft von Khedive-Zigaretten. Tonis Schwester, ihre Brüder (der Filmregisseur und der andere) erheben sich von den Wandpolstern. In der freien Zimmermitte, auf dem Parkett, der gebunzte Mokkatisch mit Likörgläsern. Wir schütteln uns die Hand und sinken alle auf die Diwanmatratzen zurück.

Das neue Heim, Bohème mit Hygiene. Wellige Frisuren, Russenkittel (aber mit Schleifchen, das ist der Wiener Einschlag) bei Jünglingen und Mädchen. Abstrakt und weich. Beinkleider der Männer und die Krawatten fast süßlich graurot. Emanzipation, unbemerkt rückgleitend ins Kunstgewerbe. Ästheten der neuen Sachlichkeit.

Man spricht vom Film, von einer jungen Schauspielerin, die erst neulich Wien mit Berlin vertauschte, und nun aufsteigt, draußen, in der mächtig tragenden deutschen Welt. Sie spricht dem Kokain und dem Alkohol zu; ihre Stimme ist rauh, ruckweis ihr Spiel wie betrunken. Ihre Liebhaber quält sie, zerkratzt ihnen das Gesicht, sticht sie mit Nadeln. Auf jede Weise versucht sie es, diese Männer zu entwurzeln, aus ihren Angeln zu heben, in den Abgrund zu stürzen. Überschüttet sie mit Verachtung, versucht sie zum Selbstmord zu drängen. In drei Fällen ist ihr das gelungen. Auch mit Frauen wiederholt sie stets dasselbe Manöver. Nur springen sie ab vor dem Letzten, weil sie plötzlich spüren, daß die Partnerin nicht mittut. Ehrgeiz hält sie selbst immer wieder über Wasser.

«Kennen Sie ihr Spiel?» wendet sich Toni an mich. Bis jetzt war das Gespräch unauffällig an mir vorübergeglitten. «Gewiß.» «Ist sie nicht genial?» «Ich weiß nicht. Ein Machtvampir. Intelligente Tierquälerei, die innere Hohlheit mit Siegen übertäubend. Ein entarteter Backfisch, der seiner Brunst die Zügel schießen läßt.» Man schweigt peinlich betreten. «Ihre Schärfe überrascht mich», wendet sich der Filmmann mir zu. «Ein fast persönlicher Haß.» «Nicht im geringsten. Ich spreche von ihrem Spiel. Ich habe die krankhafte Angewohnheit, bei einer Erscheinung das Wesen mitzuspüren.» «Ach gewiß, Mariquita erzählte Erstaunliches», lenkt Tonis Schwester ein. Sie hat das Gesicht einer fleißigen Stickerin. Vorsicht, die Falle der Eitelkeit klappt auf. Nicht fangen lassen. Weitergleiten. «Ihre Räume sind reizend.» «Du solltest erst mal die Werkstatt sehn», schiebt Mariquita ein und zündet sich eine Zigarette am glühenden Stummel der vorigen an. Wir trinken russischen Kirschenlikör – unsinnig süß aus goldüberzogenen Flaschen. Tonis jüngerer Bruder, der Hartnäckige mit den Heiratsanträgen, lehnt mit geschlossenen Augen an der Wand. Ich muß ihn zum Sprechen bringen: «Sie haben ein Auto?» beginne ich aufs Geratwohl. «Ein elender Kasten.» Er öffnet die Augen nicht, scheint witternd die Atmosphäre in sich aufzunehmen. «Mariquita hat davon erzählt.» Er zuckt fast unmerklich bei ihrem Namen, bleibt steif. Keine Handbewegung gegen mich hin. Behutsamkeit dämpft meine Stimme. Kein natürlicher Laut ist möglich, jedes Wort scheint auf einer Waagschale zu federn, abzuspringen und auf dem Parkett zu platzen. Auch die andern ziehn sich von mir zurück. Fremd. Raubtier. Vielleicht zu übertölpeln. Man zeigt sein Unbehagen nicht. Man schließt mich ab. Schiebt mich außerhalb des Rings.

Nicht aufgenommen. Ausgeschlossen. Mariquita spürt das Resultat. Möchte vermitteln. Ist hilflos. «Warum blödeln wir heut abend gar nicht?» Toni zu mir: «Wissen Sie, was das ist?» «Und ob.» Mariquita: «Du, gib acht, er ist berüchtigt für seine Wortspiele.» – Erlöst bricht man von allen Seiten los. «Ein Augenblick, gelebt in Paralyse, ist nicht zu teuer mit dem Tod erkauft», äußert der Filmmann. «Adam kommt vor dem Fall», entgegne ich. «Guter Unrat ist teuer.» «Wer einmal lügt, dem glaubt man.» «Glaube, Liebe, andere Umstände.» Toni begeistert: «O Pallawatschathene, wir sind im Fluß.» Hemmungslos braust der Wortstrom von allen Seiten. «Ein herrliches Material für den Analytiker», meint Mariquita. Ich schlage vor: «Wollen wir das Wort von vorhin nicht abändern: Ein Augenblick, gelebt in Analyse, ist nicht zu teuer mit dem Tod erkauft?» Alle reden durcheinander, jeder überläßt sich dem Wirbel seiner Einfälle. Plötzlich sind wir kindisch gut, beifallsbereit, mitberauscht. Spannungen und Haß sind weggeschwemmt. Unsinn schafft Verzauberung der Welt. «Sie kennen Dada?» «Ich bin vom Tiefsinn der Unmittelbarkeit durchdrungen.» «Er gehört zu uns», höre ich Toni zu Mariquita flüstern.

Spät trennen wir uns, verabschieden uns lachend im Treppenhaus.

«Gott sei Dank, Mariquita.» Ich ziehe sie an mich und küsse sie. «Was, Gott sei Dank.» «Zu Anfang war es doch schrecklich.» «Du warst provozierend. Was hat dich an der Schauspielerin denn so aufgeregt?» «Die allseitige Verhimmelung oder einfach das Protestbedürfnis gegen die wortlose Verschwörung. Nachher haben wir uns alle in unseren Wortspielen verraten. Das gibt einen Boden von Gemeinsamkeit.» «Du glaubst?» «Ja, für die Dauer vielleicht nicht. Aber immerhin ein guter Abgang. Die Menschen sind mir ja sympathisch; was man sich außerdem zu sagen hat, weiß ich nicht.» «Sie bedeuten mir sehr viel; sie sind die einzigen, die mich wirklich verstehn.» Ich verstumme. Ein Nachtomnibus nimmt Mariquita auf. Mit einem Ruck fährt er an. Sie winkt mir hinter den Scheiben zu.

Der Umkreis ist abgeschritten. Das Feld überschaubar. Eltern, Familie neutral. In diesem Fall kommt von da aus die Entscheidung nicht. Auch Irene wirkt mehr stimmungfärbend, nicht richtunggebend. Tonis Kreis ist gefährlicher. Es ist möglich, daß sie Mariquita mit ihrem Bruder zu verheiraten wünscht. Hegemonie-Triebe, Intrigen-Bedürfnis einer aktiven Natur. Als Freundin wird sie nicht auf ihre Macht verzichten wollen. Hier ist Diplomatie entscheidend. Nicht reizen, nichts Jähes; ihr Widerstand darf nicht geweckt werden. Vorläufig erscheinen, unbestimmt, unverbindlich, das ist die Taktik. Und Mariquita selbst? Sie lebt, möchte sich nicht entscheiden müssen. Es muß sich ergeben, zur Reibung ist sie zu schwach. Entscheidung muß über sie kommen – unmerklich. Und ich? Meine Hand schrieb die Formel, die mein Tagesbewußtsein nicht fand: mit Mariquita leben und Ruth nicht lassen. Kompromiß? Wirkliche Lösung? Auf jeden Fall ist diese Einstellung zu verschleiern. Aktivität muß vorgetäuscht werden. Man erwartet etwas von mir. Ich muß handeln, damit das Endgültige übersehn werden kann.

Am Nachmittag treffen wir uns in der Himmelpfortgasse. Mariquitas Züge sind gespannt. Der Ausdruck von Entschlossenheit in ihrem weichen Gesicht ist qualvoll. Ihr Mund ist zugekniffen und scheint zu bluten. Falten legen sich über die Stirn. Vergeblich sucht ihre Hand sie wegzuwischen. Vom gestrigen Abend bei Toni kein Wort. Die Stimme gequält, unnatürlich zwitschernd. Nervös zupft sie das Silberpapier von den Pralinés.

«In drei Tagen ist Pfingsten», beginne ich. «Könntest du dich da nicht freimachen? Ich habe einen Vorschlag.» Sie schweigt. Ihre Hände ballen Kügelchen und feuern sie in die Ecke. «Wir wollen zusammen verreisen.» «Das geht nicht.» «Hör zu. Das geht sehr gut. Offiziell fährst du zu deinen Freunden irgendwohin in die Pfingstferien. Wir verschwinden. Weg von Wien (ihre Augen blitzen auf), nach Venedig.» Sie starrt vor sich hin. «Du malst, ich arbeite. Wir leben ganz für uns.» «Und?» «Erst, wenn du von dieser Stadt weg bist, bist du ein freier Mensch. Du, es wird wahnsinnig schön, zusammen im Süden.»

«Alexander, ich kann nicht mehr lügen, dafür sind meine Eltern zu anständig mit mir.»

«Es handelt sich nur ums Loseisen.» Sie schüttelt den Kopf. «Nur um den Anfang. Sind wir erst fort, so bleiben wir fort.»

«Für ganz, meinst du? Die Schiffe verbrennen?»

«Wir wollen nichts übereilen.»

«Ja, passen wir denn im Grunde zusammen?»

«Mariquita, nehmen wir es als Probe.»

Mariquita ringt nach Atem. Angst wischt ihre Züge aus. Abgehackt bringt sie heraus:

«Ich muß mich besinnen. Das ist Überfall. Du lastest auf mir. Ich kann nicht mehr arbeiten, seit ich mit dir bin. Alles in mir wird aufgebraucht, ich verzehre mich wie eine Kerze. Alles schießt von mir weg an diesen Magneten. Ich fühle mich ganz kahl. Wie ausgeweidet. Zerschlagen. Ich möchte krank sein. Schlafen. Nicht einmal Treppensteigen kann ich mehr. Asthma hab ich. Übrigens, nach Venedig möchte ich nicht. Das ist mir zu sehr Hochzeitsreise.»

«Es soll auch unsere Hochzeitsreise sein.»

«Alexander!» Wir liegen uns in den Armen. Sie flüstert: «Ein Kind möchte ich von dir. Ich mag nicht mehr so . . . ich will ganz, für immer . . .» Schluchzen erstickt ihre Worte.

Zeit versickert. Lange wagt keiner von uns beiden ein Wort. Wir liebkosen uns wie Verzweifelte, die zusammen in den Tod zu gehn entschlossen sind. Mariquita endlich: «Ich kann nicht mehr», und sinkt halb ohnmächtig zurück. «Wann reisen wir ab?» setze ich wieder an, versuche aufs neue Zärtlichkeit und Gewalt. «Bitte, laß jetzt, ich bin zu zerschlagen.» «Mit Venedig hast du recht. Das ist zu dekorativ, zu opernhaft. Lagunenkitsch. Fahren wir an den Gardasee – nach Riva. Übermorgen, gelt?» «Alexander, quäl mich nicht. Ich habe dir schon gesagt, ich will die Eltern nicht mehr hintergehn.» «Warum auf einmal? Was ändert sich denn? Sind wir nicht seit vier Wochen . . .?» «Weil ich nicht mehr will. Überhaupt, es geht so nicht mehr weiter.» Sie sieht, wie ich erschrecke. «Ja, es ist mein voller Ernst. Siehst du nicht, daß ich mich zermürbe zwischen zwei Mühlsteinen?»

«Ich biete dir doch die Entscheidung an. Leben wir zusammen. Wir sind beide verwirrt. Hier ist es unmöglich, zur Klarheit zu kommen. Das Alte wurzelt zu fest. Zuviel Einflüsse sind um dich. Mach dich los. So versuch doch!»

Mariquita antwortet nicht, brütet vor sich hin. Dann hebt sie die Augen – einer plötzlichen Eingebung folgend –, sucht auf dem Tisch. Ich bin aufgesprungen, lehne an der Wand, die ineinander verbissenen Finger auf dem Rücken. Plötzlich starrt sie auf die Tischecke, furchtverzerrt. «Alexander, was hältst du in den Händen?» Betroffen blicke ich sie an. «Gib's weg, oder ich schreie um Hilfe.» Sie macht eine Bewegung nach der Tür. «Dein Gewissen!» brülle ich los und strecke ihr meine leeren Hände entgegen.

So weit sind wir also, na, dank schön. Mariquita stützt sich auf die Tischkante. Die Farbtuben klappern. Ihre Zähne schlagen im Angstfrost aufeinander. Töten, zugreifen, jetzt, gleich. Wie ein Signal flammt es vor meiner Stirne auf. Ich schwanke, meine Hände verkrampfen sich. «Schlag zu», kommt es tonlos, wie ausgeblutet, an mein Ohr.

Hat sie gesprochen? Hat sie laut gedacht? Ich frage ganz leise: «Du sagtest?» Sie schaut mich von unten herauf an: gehetzt, verkrochen, mit den Augen des verwundeten Rehs. Das wirkt. «Laß mich heim. Mir ist übel. Ich muß mich hinlegen. Gib mir den Arm.» Fast leblos lehnt sie an meiner Schulter. Wie eine Verletzte schleppe ich sie die Treppe hinunter, rufe ein Taxi her. Sie steigt ein: «Laß mich allein fahren. Es geht schon. Dank dir. Es ist besser so.»

Ich stehe auf dem Trittbrett, presse heraus: «Fahren wir morgen?»

«Ich schreibe dir noch, gelt?»


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