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Zwölftes Kapitel.
Zwei Weiber

Nachdem Reinhold sich überzeugt hatte, daß die Schwäche, welche die Tante befallen, vorüber, hatte er die Kienfackel angezündet und sich alsdann, da er doch noch immer nicht ganz wegen ihres Befindens beruhigt war, aufgemacht, seinen Vater aufzusuchen. Als Wächter hatte er den Großvater bei ihr zurückgelassen.

Einen vortrefflichen Wächter, wie wir bereits wissen; auch diesmal war Reinhold noch keine hundert Schritte vom Hause, so hatte die behagliche Wärme des Zimmers den durchfrorenen Alten auch schon richtig in den süßesten Schlummer eingelullt.

Lene lag ruhig, wiewohl wachend im Bett. Sie hielt die Augen nach ihrer Gewohnheit fest an die Decke geheftet; nur zuweilen, auf Momente, mit scheuem Entsetzen, richtete sie sie auf das Fenster gegenüber, als ob trotz der dichtverschlossenen Laden ein fremdes Antlitz zu ihr hineinschauen könnte. Er läßt mich doch nicht, murmelte sie vor sich hin, er kommt ganz gewiß noch, er hat es mir mit einem Eidschwur angedroht, und alles Bitten, alles Flehen meines Bruders wird sein steinernes Herz nicht erweicht haben. Ach, wenn das nicht wäre, wie gern, wie ruhig wollte ich sterben! Aber wenn ich denke, daß ich nicht einmal nach dem Tode soll in meinem Sarge liegen wie andere Menschen – daß ich kein Grab haben soll, auf das mein Reinhold ein Kreuz pflanzen kann und arme, kleine Blumen – ja wenn ich denke …

Sie hatte diese letzten Worte, sich selbst unbewußt, halblaut vor sich hingeflüstert –

Du brauchst es ja nicht zu leiden, du kannst dich ja loskaufen, Thörin, die du bist, sagte plötzlich eine dumpfe, rauhe Stimme neben ihr.

Lene fuhr mit einem leisen Schrei in die Höhe, sie erkannte die Stimme sogleich – es war die Stimme der Diebslore. Leise hatte dieselbe die Thür geöffnet, war mit dem katzenähnlichen Tritt, der ihr eigenthümlich war, an dem Schlafenden vorbeigeschlichen – was hatte sie auch von dem Blödsinnigen zu fürchten, selbst wenn er erwachte?– und stand nun dicht an Lenens Bette.

Ich habe es dir schon oft gesagt, sagte sie, du kennst den Preis; was nützen dir die Papiere? Das junge Mädchen wird dir doch nicht einmal Dank dafür wissen, sie wird dich verlassen, wie du schon einmal verlassen wurdest –

Lene schüttelte heftig mit dem Kopfe: Wir wollen ihm Geld geben, flüsterte sie, Alles was wir haben, das ganze Haus soll sein eigen sein …

Was soll ihm die Hütte? spottete das fürchterliche Frauenzimmer: er wird bald so sicher sitzen, sag' ich dir, daß er kein Haus mehr braucht, weder ein eigenes noch ein fremdes. Das tröste dich, arme Närrin; ich will dich rächen, dich und mich!

Sie hatte diese letzten Worte so vor sich hingemurmelt, daß Lene nichts davon vernommen. Auch waren ihre Gedanken anderwärts beschäftigt. Und wenn ich es thäte, sagte sie, offenbar mehr vor sich hin als zu ihrem Besuch – thun könnte, ohne einen Eid zu verletzen und mich der ewigen Verdammniß preiszugeben: ich kenne ihn ja, er hielte ja doch nicht einmal Wort …!

Ah, du kennst ihn wirklich, wie ich merke, sagte die Alte: ganz gewiß hielte er nicht Wort, und eben darum sollst du das Papier mir geben, verstehst du, mir? Er soll es nie in die Hand bekommen, nie; dem Herrn Prediger will ich es geben, dem guten Herrn Prediger, der neulich bei dir gewesen ist – o der Herr Prediger ist sehr gütig, sehr mächtig, der kann Alles, was er will! Auch ein ehrliches Grab kann er dir verschaffen, wenn du ihm gehorsam bist und gibst mir das Papier.

Ich habe kein Papier, weiß von keinem Papier, stöhnte Lene.

Du weißt von einem Papier, du hast ein Papier, erwiderte [Lore] mit fürchterlicher Sicherheit: Hier unter deinem Kopfe hast du es, hier – soll ich hinfühlen? Siehst du – gerade hier …

Entsetzt richtete Lene sich in die Höhe: Um der Wunden Jesu willen, stammelte sie, du bist ein Weib, du kannst mir das nicht thun …!

So laut hatte das geängstigte Weib dabei ihre Stimme erhoben, daß Lore befürchtete, der alte Großvater möchte erwachen, oder es möchte sonst Jemand dazu kommen. Sie horchte hoch auf; es war ihr, als hörte sie ein Geräusch an der Hofwand –

Aber nein, es war Alles still; nur der wahnwitzige Alte war es gewesen, der im Schlafe sprach und vor sich hinlachte …

Was denkst du denn, daß ich dir thun werde? sagte sie kalt, indem sie immer näher und immer dichter an die Kranke heranrückte, ihren langen knöchernen Arm immer fester, immer unwiderstehlicher zwischen die Kissen schob: – Freilich bin ich ein Weib, und eben weil ich ein Weib bin und damit du siehst, daß ich dich lieb habe und es gut mit dir meine, will ich dir etwas sagen, was kein Mensch weiß außer mir und ihm, der es gethan hat. Es ist zu schändlich, zu schändlich von ihm, unterbrach sie leise murmelnd sich selbst: ich kann die arme Thörin nicht so hinsterben lassen, ohne daß sie es nicht wenigstens zuletzt noch erfährt – einer Mutter das! einer Mutter!! Ach, ich habe auch einmal ein Kind geboren, ich kannte selbst nicht den Mann, der sein Vater wäre, es starb in der Geburt – aber genug, ich weiß doch, wie einer Mutter zu Muthe ist, und kann es nicht dulden, daß er ein solches Spiel treibt mit einem Weibe, einer Mutter! Heda, schrie sie Lenen ins Ohr, indem sie sich dicht über dieselbe niederbeugte und sie jetzt fast schon wie ein willenloses Kind in ihre Arme geschlossen hielt –: horch auf, Püppchen, ich will dir was sagen, von deinem Herzblatt, deinem Reinhold – es ist ja doch wohl dein Herzblatt, dein Reinhold, gelt?

Das elende, gemarterte Weib, in Todesangst ringend, die schwere Wucht dieser eisernen Arme immer fester um Brust und Nacken fühlend, vermochte nur noch mit einem dumpfen Röcheln zu antworten.

Lore legte das Ohr dicht an ihren Mund: Ah so, sagte sie, das geht ja rascher, als wir gedacht haben, die Kleine stirbt mir ja, glaub' ich, noch unter den Händen …

Und rasch zufahrend wie ein Tiger, fuhr sie mit der Linken jetzt unter die Kissen, jetzt unter die Decke, durchwühlte das Stroh des ärmlichen Lagers, während sie mit der Rechten wie mit einem Bleigewicht Lenens kraftlose Hände zusammenpreßte –

Erbarmen, Hülfe, Rettung! stöhnte die Unglückliche …

Nur stille, mein Mäuschen, nur ruhig, du könntest deinem Brüstchen Schaden thun, höhnte das entmenschte Weib.

Der Großvater lachte hell auf im Traum; von draußen her schienen sich Tritte dem Hause zu nähern.

Nur schnell, nur hurtig, mein Mäuschen, fuhr Lore fort, indem sie, durch die Tritte von draußen beängstigt, immer heftiger, immer eifriger das Bett durchwühlte – da, jetzt, indem sie dem fast schon stillstehenden Herzen der armen Kranken zunächst kam, da fühlte sie es, das mußte es sein – ganz deutlich, ein Heft Papiere – das war es!!

Warum denn so viel Umstände machen, mein Täubchen? flüsterte sie hohnlachend: bin ja schon gut, ist ja schon Alles vorüber …

In demselben Moment, da Lore das Papier berührte, das so lange zunächst dem Herzen der unglücklichen Lene seine Freistatt gehabt hatte, war es, als ob Bewußtsein und Leben in die schon halb Gestorbene zurückkehrte; mit einem gellenden Schrei riß sie sich in die Höhe, griff mit beiden Händen das Papier, das Lore noch immer mit der Linken fest und sicher hielt – einen Augenblick lang zerrten Beide daran –

Was vermochte der Widerstand der Sterbenden gegen die Uebermacht der furchtbaren Diebin? Ihre Hände sanken kraftlos zurück –

O, nur ruhig, nicht kratzen, höhnte die Diebin, indem sie das Papier völlig aus Lenens Händen wand –

Dann sprang sie rasch in die Mitte der Stube, riß mit einem kräftigen Griff die Kienfackel von ihrer Stelle, zertrat sie mit dem Fuß, daß sofort tiefe Dunkelheit das ganze Zimmer umhüllte, huschte zur Thür hinaus über die niedrige Hofmauer hinweg …

So stolz war sie über den gelungenen Streich und so viel teuflische Pläne, Pläne langjähriger, glühender Rache knüpften sich für sie daran, daß sie, indem sie sich jetzt im Sichern wußte und rasch den Weg nach dem Pfarrhause einschlug, nicht unterlassen konnte, das Papier triumphirend in die Höhe zu strecken und mit leisem Gelächter –: Ich hab' es! ich hab' es! jauchzte sie, aber nicht für ihn, nein, ganz gewiß nicht für ihn!!

Allein bevor noch dies letzte Wort völlig ihrer Lippe entflohen, fühlte sie sich von einer riesigen Faust mit unwiderstehlicher, übermenschlicher Gewalt im Nacken erfaßt und mit einem einzigen furchtbaren Druck gegen die Erde geschleudert; in demselben Augenblick war ihr das Papier entrungen – Nacht und Entsetzen lagerte sich auf die Sinne des entsetzten Weibes, und nur noch wie im Traum hörte sie schwere Tritte, die sich rasch von ihr entfernten. Vergebens suchte sie sich in die Höhe zu raffen, alle Glieder waren ihr wie zerschmettert, mit furchtbarem Wuthgebrüll schlug sie die Nägel in die Erde …


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