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Es war in den Nachmittagsstunden eines trüben, regnigten Tages, als das Engelchen sich mit diesem Entschluß aufmachte, das Haus des Meisters zu besuchen. Die Witterung war etwas kälter, als sie bisher gewesen; ein feiner, dichter Sprühregen schlug Angelica'n, indem sie aus dem Portal des Schlosses trat, ins Gesicht, so daß sie den Schleier dichter zusammenzog und sich fester in den weichen Mantel wickelte.
So lange und reiflich Angelica ihren Vorsatz auch erwogen hatte und so fest sie diesmal auch entschlossen war, so konnte sie dennoch, da sie sich jetzt so dicht an der Ausführung sah, ein gewisses Gefühl von Beklemmung nicht unterdrücken. Unwillkürlich, statt geraden Weges auf das Haus des Meisters zuzugehen, lenkte ihr Fuß seitwärts in eine der vielen Gassen, die sich hier durchkreuzen. Sie mußte, so überredete sie sich selbst, ihre Gedanken zuvor noch einmal ordnen und Wort und Ausdruck zum voraus abwägen. Der Aufschub, den sie damit gewann, war außerordentlich gering; allein bei so peinlichen Unternehmungen, wie diejenige, welche das Engelchen jetzt vor sich hatte, ist Einem auch der geringfügigste Aufschub schon von großem Werth.
So, ohne auf ihren Weg eben viel zu achten, schritt sie gedankenvoll, lautlos zwischen Hecken und Zäunen, über Brücken und Brückchen dahin; die Erinnerung ihrer Kindheit diente ihr instinctmäßig zum Führer; auch kam es ihr jetzt nicht darauf an, ob der Umweg, den sie nahm, etwas größer oder kleiner ausfiel.
Alles ringsum war still und einsam. Der Abend dämmerte bereits; hier und da in einer der niedrigen Hütten stammte ein trübes Licht auf. Kein Mensch war zu sehen weit und breit.
Aber ja, da gingen doch zwei Gestalten vor ihr – zwei Gestalten – sie hatten sich des schlechten Wetters wegen ebenfalls bis hoch hinauf vermummt …
Aber wenigstens die eine derselben erkannte das scharfe Auge des Engelchen dennoch; es war der Prediger Waller. Die andere, in abenteuerlich bettelhaftem Anzuge, einen schmuzigen, vielfach gestickten Mantel über Kopf und Schultern gezogen, schien eines jener unglücklichen verarmten Weiber zu sein, wie deren so viele in dem Fabrikdorf lebten. An und für sich betrachtet, hatte das Beieinandersein dieser beiden Personen nicht das mindeste Auffällige; es war bekannt, daß Herr Waller den Schatz seiner geistlichen Tröstungen bereitwillig auch an den Aermsten im Dorf vertheilte und auch in andern weltlichen Dingen, bei Unglücksfällen und Trübsalen aller Art, vielfach zu Rache gezogen ward.
Und so würde auch das Engelchen nicht den geringsten Anstoß daran genommen, ja vielleicht kaum daraus gemerkt haben, wenn nicht das Gespräch, das der Prediger mit seiner Begleiterin führte und bei dem Angelica, indem sie in der engen winkligen Gasse mit ihrem leisen Schritt hinter dem Paare daherwandelte, zur unfreiwilligen Zuhörerin ward, ihre Aufmerksamkeit allerdings aufs Aeußerste in Anspruch genommen hätte.
Das Weib, ohne Zweifel aus Ehrfurcht vor dem geistlichen Herrn, hielt sich zwei ganze Schritte hinter demselben. Vermuthlich durch diesen Umstand genöthigt, erhob der Prediger seine Stimme etwas lauter, als es sonst seine Gewohnheit war. Auch konnte er es ja unbedenklich thun, da die Straße, wie schon erwähnt, im Uebrigen wie ausgestorben war.
Hätte Angelica ahnen können, daß es hier ein Geheimniß zu belauschen gab, sie würde rasch vorübergegangen sein. So aber dachte sie nicht auf tausend Meilen daran; ganz mechanisch, indem sie ihren Weg dahinwandelte, ließ sie die Töne an ihr Ohr schlagen; erst als sie gehört hatte, was sie offenbar nicht hören sollte, wurde ihr klar, daß es sich hier um ein Geheimniß handele.
Und also hat er Euch wieder geschlagen, der Unhold? fragte der Prediger in herzlich bedauerlichem Tone.
Die Gestalt neben ihm, statt aller weitern Antwort, zog die Schultern in die Höhe und schüttelte sich, daß die Fetzen des Mantels wild über ihrem Haupte flatterten.
Und warum hat er Euch wieder geschlagen? fuhr der Prediger fort: weil Ihr ihn gewarnt hattet vor der Rache Gottes, nicht wahr? und ihn aufgefordert, sein schuldbeladenes Gewissen vor dem Ohr des Predigers, dem Geweiheten des Herrn, zu erleichtern?
Das Weib hielt einen Augenblick den Fuß an, mit weit vorgestrecktem Kopfe, als ob sie über das Gehörte erst nachsinnen müsse. Dann mit einer Stimme, so hohl, so klanglos, daß Angelica davor erschrak, doppelt erschrak, weil ihr auf einmal eine dunkle Erinnerung aufstieg, als ob sie dieselbe in früherer Zeit schon einmal vernommen habe –, mit einer solchen hohlen, klanglosen Stimme erwiderte das Weib:
Nein, weil er das Beten nicht leiden kann, sagt er, und weil ich dem Herrn Prediger seine Geheimnisse verrathe.
Das ist der Lohn der Gerechten vor dem Herrn, sagte der Prediger mit Salbung, daß sie von der Welt verfolgt und gemartert werden. Halt aus, fromme Dulderin, und fahre fort, dem Herrn zu dienen in seinem Priester: so wirst du Vergebung deiner Sünden empfangen und die Krone des ewigen Lebens, Amen. Den Fleck also, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, wo er neulich die Papiere vergraben hat, kennst du und bist gewiß ihn wiederzufinden?
Das Weib besann sich wieder einige Sekunden, dann nickte sie heftig mit dem Kopf und stieß ein höhnisches Gelächter aus.
Ich werde ihn wiederfinden, sagte sie, so wie es der Herr Prediger befiehlt!
Die Sache, entgegnete Herr Waller, hat noch keine Eile; der Herr ist langmüthig auch in seinem Zorn, und es dauert lange, bevor sein Arm den Schuldigen ergreift. Aber wenn er ihn ergreift, dann zerschmettert er ihn auch und schleudert ihn hinab in ewige Qual, hörst du, Weib? in ewige …!
Das Weib schüttelte sich wiederum, aber diesmal offenbar vor Frost; eine hagere dürre Hand fuhr zwischen den Lumpen hervor und haschte nach dem Rockzipfel des Predigers, ihn an die Lippen zu drücken.
Mit majestätischer Ruhe wehrte Herr Waller die Zeichen der Unterwürfigkeit ab.
Es ist gut, Weib, sagte er: aber es ziemt sich nicht, wo die Leute es sehen könnten; Ihr müßt erst weit frömmer werden und weit kräftigere Beweise Eurer Buße geben, bevor es Euch gestattet ist, dem Geweiheten Gottes öffentlich den Rock zu küssen. Aber wie steht es mit dem Uebrigen? Seid Ihr noch nicht dahinter, ob dieser sogenannte Maler Schmidt wirklich –
Das Weib ließ den Prediger nicht zu Ende reden; sie warf die Arme in die Luft mit geballten Fäusten –
Dann wieder schüttelte sie das Haupt: Das ist der Punkt, sagte sie, darüber kann ich nicht hinweg; es ist zu gräßlich von ihm – zu gräßlich – Aber ich weiß nichts, Herr Prediger, von dieser Geschichte nichts, bei meiner Seelen Seligkeit …
Es wird sich finden, versetzte der Prediger in strengem Ton, kommt morgen nach dem Frühgeläute zu mir – nicht aufs Schloß, ins Pfarrhaus mein' ich, durch die Hinterthür, rechts am Brunnen, wo Euch Niemand gewahr wird. Euer Mann ist nicht zu Hause, wie?
Wieder eine Pause. Droben, beim gnädigen Herrn, erwiderte das Weib sodann: o sie haben jetzt viel zu thun, ich weiß es, der gnädige Herr und der Alte; es ist ein Gewitter im Anzug, seit Langem, ich weiß es –!
Ihre Stimme wurde ganz laut, indem sie diese letzten Worte sagte, und ganz triumphirend. Der Prediger stand still, indem er feierlich seine rechte Hand auf die schmuzige Schulter des Weibes legte.
Ihr haßt den Alten wohl sehr? fragte er.
Das Weib zauderte einige Augenblicke. Dann mit einem Ausdruck, vor welchem das Engelchen erbebte:
Wenn Gott und mein Herr Prediger es mir erlauben, erwiderte sie, – sehr.
Es war das jedenfalls ein höchst unchristliches Bekenntniß. Aber solch milder Seelenhirte konnte Herr Waller zuweilen sein, daß er es dennoch verzieh.
Das ist das Vorrecht, sagte er, welches Gott den Gerechten verliehen hat, daß sie den Ungerechten hassen und verfolgen dürfen, und ihr Haß und ihre Verfolgung ist keine Sünde, sondern Gott wohlgefälliger als Duft der Brandopfer und liebliches Räucherwerk. Du gehst nun dorthin? indem er auf das Haus des Meisters deutete, das in der Dämmerung, kaum mehr erkennbar, vor ihnen lag.
Seine Begleiterin nickte bejahend.
So thu, fuhr der Prediger fort, was der Herr dir aufgetragen hat durch meinen Mund: es sind verstockte Herzen in dem Hause da, suche sie mürbe zu machen – Gott will uns nicht blos fromm wie Tauben, sondern auch klug wie Schlangen – Geh! und thu, wie ich dir geheißen!
Mit diesen Worten schlug er seinen Mantelkragen noch höher hinauf und verlor sich mit eiligen Schritten in ein Seitengäßchen.
Angelica, vor Ueberraschung über das Gehörte und vergebens einem Zusammenhange darin nachspürend, war unwillkürlich stehen geblieben; ihr Auge wurzelte vor ihr auf dem Boden, als ob sie da die Lösung des Räthsels finden könnte. Wem gehörte diese Stimme, die ihr so widerwärtig klang und dennoch so bekannt? Wer war dies Weib? In welcher Verbindung stand der Prediger mit ihm? Und welcher neue geheimnißvolle Abgrund that sich hier vor ihren entsetzten Blicken auf?