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Achtes Kapitel.
Neue Pläne

Eine lange schmerzliche Pause! – Angelica saß da wie eine Bildsäule; alle Farbe war aus ihrem Angesicht, aller Athem aus ihrer Brust gewichen.

Der Justizrath fuhr fort:

Was ich Ihnen bisher erzählt habe, mein gutes Kind, sind, wie ich Ihnen gleich anfangs sagte, Thatsachen, durch übereinstimmendes und unzweideutiges Zeugniß erhärtet. Allein um diese Thatsachen selbst im rechten Lichte zu zeigen, muß ich auch einiger Gerüchte Erwähnung thun, die zur Zeit jenes unglücklichen Vorfalls umgingen und deren Andenken sich bei unsern Gewährsmännern erhalten hat. Kurze Zeit nämlich nach dem beklagenswerthen Ende Ihres Vaters tauchte in wohl unterrichteten kaufmännischen Kreisen die Meinung auf, als ob es mit dem Geschäft Ihres Vaters keineswegs so verzweifelt gestanden habe, wie sein damaliger Buchhalter, Herr Wolston, es ihm in jener verhängnißvollen Stunde dargestellt. Ihr Vater, ich wiederhole es Ihnen, hatte sich um sein Geschäft in den letzten Jahren nur wenig gekümmert, es war ihm fremd geworden, besonders seit die neuen, weitgreifenden Spekulationen des Herrn Wolston dasselbe eben so sehr erweitert als andererseits auch verwickelt hatten. Auf diese Weise, wollte man damals wissen, sei es Herrn Wolston leicht geworden, Ihren Vater mit seinen unglücklichen Nachrichten zu überrumpeln und ihm die unvermeidliche Nähe eines Bankerotts vorzuspiegeln, zu derselben Zeit, da das Geschäft in der That vollkommen sicher und blühend gewesen wäre. Ja das Gerücht ging selbst noch weiter; es behauptete sogar, daß Herr Wolston auch der zweiten, noch traurigern Entdeckung nicht ganz fremd gewesen, mit andern Worten – daß er selbst der verborgene Urheber jenes Briefes, durch welchen Ihrem Vater die verletzte Ehre seines Hauses verrathen ward …

Angelica's Auge flammte hell auf; sie hatte, gleichsam als müßte sie irgend etwas haben, sich daran zu halten, mit beiden Händen den Arm des Justizraths umklammert und sah unbeweglich, starr zu ihm in die Höhe.

Wie viel von diesen Gerüchten wahr, wie viel erfunden ist, erzählte der alte Herr weiter, habe ich natürlich jetzt nicht mehr ergründen können; ich habe dieselben überhaupt nur hier erwähnt, weil ich, einmal so weit gebracht, es nun auch für meine Pflicht halte, Ihnen Alles zu sagen, mein gutes armes Kind, was ich selber weiß, und zweitens, weil auch diese Gerüchte Ihnen zur Kenntniß des Mannes dienen werden, mit dem wir es hier zu thun haben, so wie desjenigen, was Sie, bei Fortsetzung Ihres Eigensinnes, sich von ihm und der Wahl seiner Mittel versprechen dürfen. Eine fernere Thatsache ist es wiederum, daß Herr Wolston sogleich nach dem Tode Ihres Vaters das Geschäft desselben übernahm. Ich wage nicht zu entscheiden, ob er dabei nur die Bestürzung benutzt hat, in welcher Ihre Mutter nach dem plötzlichen Tode des Gemahls und bei der nahen Aussicht auf Armuth und Entehrung sich befand, oder ob ihm dabei vielleicht noch andere intimere Beziehungen behülflich gewesen sind. So wehe es mir thut, mein gutes Engelchen, Ihr Herz in einem so zarten und heiligen Punkte nicht besser schonen zu können, so darf ich Ihnen doch nicht verhehlen, daß die Wahrscheinlichkeit für die letztere Annahme spricht. Denn schon wenige Monate nach dem Tode Ihres seligen Vaters, noch vor Ablauf der üblichen Trauerfrist, war die Witwe Ihres Vaters die Gemahlin des Herrn Wolston …

Eine zweite, noch schauerlichere Pause! –

Es ist mir, hub der Justizrath von Neuem an, der ich Welt und Menschen leider besser kenne als Sie, mein Schatz, nicht unwahrscheinlich, daß wenigstens ein Theil jener, Herrn Wolston so ungünstigen Gerüchte erst nachträglich entstanden ist, zu dem Zwecke lediglich, Ereignisse und Thatsachen zu erklären, welche dem Publicum, nach seiner Kenntniß der Verhältnisse, allerdings unbegreiflich und unerklärlich sein mußten. Genug, dasselbe Geschäft, welches in der Sterbestunde Ihres Vaters nach der Darstellung seines damaligen ersten Buchhalters bankerott gewesen war, zeigte sich, seitdem dieser Buchhalter es als Principal und Eigenthümer leitete, nichts weniger als bankerott; im Gegentheil, alle Verbindlichkeiten wurden prompt und pünktlich erfüllt, und bald stand das Geschäft wieder, in finanzieller Hinsicht wenigstens, so geachtet und ansehnlich da, wie ehemals.

Man soll, fuhr der Justizrath fort, bekanntlich auch gegen den Teufel selbst gerecht sein: und so ist es immerhin möglich, daß dies Ergebniß in der That nur der ganz unzweifelhaften außerordentlichen Geschäftskenntniß, dem kaufmännischen Genie, kann man sagen, Ihres Stiefvaters zu verdanken gewesen ist. Aber wie sich dies nun auch verhalten mag: den kaufmännischen Credit der neuen Firma hatte Ihr Stiefvater allerdings sehr rasch hergestellt und befestigt, mit seinem eigenen moralischen Ansehen dagegen wollte es ihm, wenn ich recht berichtet worden bin, bei alledem nicht so gut gelingen. Man respectirte den Reichthum, respectirte die Klugheit des neuen Handelsherrn; sein moralischer Charakter dagegen konnte sich kein Zutrauen erwerben, und trotz seines Reichthums und seines geschäftlichen Einflusses wurde Herr Wolston doch in gesellschaftlicher Hinsicht mehr gemieden als gesucht. Auch der Ruf Ihrer Mutter – es muß nun einmal heut Alles von der Leber herunter, mein gutes Engelchen, und wenn Sie mir böse darüber werden, so denken Sie nur immer, daß Sie mir selbst keine Ruhe eher gelassen haben – auch der Ruf Ihrer Mutter, sage ich, hatte durch alle diese Vorgänge aufs Aeußerste gelitten; der offenkundige Zwiespalt und das ganze höchst unglückliche Verhältniß, in welchem sie in ihrer neuen Ehe lebte, einer Ehe, die, wenigstens dem allgemeinen Glauben nach, auf so unwürdige, ja verbrecherische Weise, über dem fast noch dampfenden Blute Ihres unglücklichen Vaters zu Stande gekommen war –! konnte natürlich nicht dazu beitragen, ihn wieder herzustellen. Vielleicht war es dies, vielleicht aber auch nur eine gewöhnliche kaufmännische Speculation, was Ihren Stiefvater veranlaßte, kurze Zeit nach der mehrerwähnten Katastrophe sein Geschäft in England aufzulösen und hierher nach Deutschland überzusiedeln. Es war wenige Jahre nach dem Kriege, Industrie und Handel lagen bei uns in Deutschland noch aufs Kläglichste darnieder; einem unternehmenden Kopf, mit Geschäftskenntniß und genügenden Capitalien ausgestattet, stand, vornehmlich in demjenigen Geschäftskreise, welchen Herr Wolston hier cultivirt, die glänzendste Laufbahn offen.

Mit welchem Erfolg, schloß der Justizrath seine Erzählung, Ihr Stiefvater dieselbe eingeschlagen, wissen wir Alle. Sie aber, gute Angelica, wissen nunmehr auch, mit welchen unglücklichen und düstern Begebenheiten Ihr junges Leben frühzeitig verflochten worden ist; Sie werden namentlich einsehen, daß wir, zu Ihrem eigenen Besten, wie zur Ehre Ihrer Familie, nichts mehr zu scheuen und nichts sorgfältiger zu vermeiden haben als einen offenen Proceß mit Herrn Wolston, einen Proceß, der ganz unvermeidlich diese und vielleicht sogar noch schlimmere Dinge zur Sprache bringen müßte. Und mit welchem Erfolg? ja nur mit welcher Möglichkeit des Erfolgs? Alles, was ich Ihnen mitgetheilt habe, mein bester Schatz, sind theils Thatsachen, theils Gerüchte; die Thatsachen beweisen nichts gegen Herrn Wolston und die Gerüchte sind wir nicht im Stande zu beweisen. Ich bin persönlich gar nicht abgeneigt, den Argwohn, mit welchem Sie das Testament Ihrer Mutter betrachten, zu theilen; ich glaube ebenfalls, daß hier nicht Alles völlig mit rechten Dingen zugegangen, und daß das Testament, wenigstens in moralischer, in sittlicher Beziehung, kein völlig freiwilliges, völlig gültiges ist. Ich thue noch mehr; ich gestehe Ihnen zu, daß der Commerzienrath, abgesehen von der hinlänglich bekannten Abneigung, welche er gegen Sie hegt, noch sein sehr ausreichendes praktisches Interesse daran hat, daß das Testament Sie, wie es thut, auf Gnade oder Ungnade in seine Hände liefert. Ist nämlich das Gerücht begründet, hat Herr Wolston Ihrem seligen Vater die Zerrüttung seines Geschäfts nur vorgespiegelt und ist vielmehr sein Vermögen die eigentliche Grundlage, das wahre Betriebscapital gewesen, mit welchem der Commerzienrath seinen gegenwärtigen enormen Reichthum erworben hat: so muß ihm, ich gestehe es Ihnen völlig zu, allerdings recht sehr daran gelegen sein, jede Erbtheilung mit Ihnen, die ganz unvermeidlich zu nähern Erörterungen über Ursprung und Herkommen dieses Reichthums führen müßte, zu vermeiden. Aber das Alles bringt uns nicht vom Fleck. Es sind Möglichkeiten, zum Proceß aber brauchen wir Wirklichkeiten; nicht das moralische Verhältniß unterliegt dem Spruche des Richters, sondern lediglich das juristische. Dieses ungewisse, seinem Inhalte nach so zweideutige, mit der Zärtlichkeit, welche Ihre selige Mutter jederzeit für Sie gehegt hat, so unvereinbare Testament ist nichtsdestoweniger juristisch unangreifbar. Ich habe auch in dieser Hinsicht die sorgfältigsten und genauesten Nachforschungen anstellen lassen; aber alle haben nur dazu gedient, die Aussagen Ihres Stiefvaters in Betreff des Testaments zu bestätigen. Daß die Unterschrift echt ist, von der Hand Ihrer Mutter, lehrt der Augenschein: und selbst wenn ein Betrug damit vorgefallen, so fehlt es uns an allen Beweisen, nicht nur für den stattgefundenen Betrug, sondern selbst nur für die Möglichkeit desselben. Die Zeugen, vor denen es abgefaßt ist, und durch deren Unterschrift namentlich erhärtet wird, daß Ihre Mutter zur Zeit der Abfassung ihrer Sinne vollkommen mächtig und in jedem Betracht dispositionsfähig gewesen ist, sind noch am Leben. Sie gehören allerdings zu den wenigen persönlichen Freunden, welche Herr Wolston sich in England erhalten hat, und genießen, sowohl in kaufmännischer als in geselliger Beziehung, allerdings nicht des besten Rufes. Aber das sind Privatmeinungen; in rechtlicher Beziehung stehen sie völlig untadelhaft da, Niemand darf sich unterfangen, ihr Zeugniß zu verwerfen oder auch nur anzuzweifeln, aus keinem andern Grunde und auf keinen andern Beweis gestützt, als blos weil es ihr Zeugniß ist. Geben Sie mir einen einzigen Beweis, gutes Kind, rief der Justizrath, indem er leidenschaftlich in die Höhe sprang, nur einen einzigen Zeugen, ein einziges Document – und ich setze Ihnen meine Ehre zum Pfand, daß ich Ihnen den Proceß nicht blos führen, sondern auch gewinnen will! So aber müßte ich ein gewissenloser, elender Rechtsverdreher sein, wollte ich Ihnen zum Processe rathen. Ihr Stiefvater – Alles, was wir von seinem Charakter und seinen Schicksalen kennen, muß uns gut dafür sein – würde denselben nur benutzen, alte, schmuzige Geschichten aus der Vergangenheit heraufzuwühlen und das Herz einer Tochter zu brechen, die er haßt, indem er das Andenken einer Frau preisgäbe, welche er – ich behaupte es, und die Erinnerungen Ihrer eigenen Kindheit, gute Angelica, müssen ja meine Behauptungen bestätigen – entweder niemals geliebt hat, oder doch sehr früh aufgehört hat zu lieben. Und darum muß ich nach allem diesem einfach wieder zurückkommen auf den Vorschlag, den ich Ihnen im Beginn unseres Gespräches gemacht, so sehr derselbe Sie auch gekränkt und erbittert hat: Sie müssen entweder binnen hier und fünf Tagen heirathen, kleiner Trotzkopf, oder müssen sich mit Herrn Wolston zu vergleichen suchen; jedes Dritte könnte nur zu Ihrem Verderben ausschlagen.

Angelica hatte der langen Erzählung des Justizraths mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört; sie war jetzt vollkommen gefaßt und ruhig.

Ich danke Ihnen herzlich, sagte sie, mein theuerster Herr und Freund, für diese neuen und vielfachen Beweise Ihrer Güte, die Sie mir so eben wiederum gegeben haben; ich undankbares Geschöpf glaubte mich vergessen und verlassen von Ihnen, während Sie sich doch in der That so viel Mühe um meinetwillen gemacht haben. Von dem, was Sie mir so eben mitgetheilt, war mir Einiges bereits bekannt, wenn auch nur durch die dunkeln Erinnerungen meiner Kindheit; Anderes findet in diesen Erinnerungen wenigstens seine Bestätigung; ich darf Sie versichern, daß ich mir niemals ein besseres Bild von Herrn Wolston gemacht habe, als wie er jetzt in Ihren Erzählungen dasteht. Nur in zwei Punkten muß ich mir bei alledem erlauben, Ihnen zu widersprechen. Und wenn die ganze Welt sich gegen das Andenken meiner Mutter erhöbe, und wenn Herr Wolston selbst mit eigenem Munde sie und sich für schuldig bekennte – mein Herz, das Herz der eigenen Tochter, stellt ihr ein anderes Zeugniß aus! Ich bin nur noch ein unerfahrenes Kind, ich wage weder, noch sehne ich mich danach, mich an Erfahrung und Weltkenntniß mit Ihnen, theuerster Justizrath, zu vergleichen. Auch mag es wahr sein, was die Leute behaupten, daß die Leidenschaft blind ist und unwiderstehlich zugleich, und daß, einmal von ihrer gewaltigen Hand ergriffen, Niemand bestimmen kann, wo er stille stehen, wo er einhalten will. Aber Eines sollen Sie mir mit all Ihrer Weltkenntniß dennoch nicht erschüttern: daß ein edles Herz auch nur edle Leidenschaften hegt. Und das Herz meiner Mutter war edel! Es war von Kummer erdrückt, von Sorgen zerfleischt, zerrüttet, wenn Sie wollen: aber rein und edel – das fühle ich aufs Neue in jedem Augenblick, da ich mir den Ton ihrer Stimme, den Blick ihres Auges ins Gedächtniß zurückrufe – rein und edel war es dennoch! Meine Mutter kann gefehlt, sie kann geirrt haben; aber von jenem Verbrechen, von jener gemeinen ekelhaften Schuld, die das Gerücht auf das Andenken meiner armen Mutter wälzt, hat niemals auch nur der leiseste Schatten auf ihr gehaftet. Ha, rief sie, indem sie in die Höhe sprang, mit einer Geberde, so heftig und so edel zugleich, als stände die Lüge leibhaftig vor ihr, und sie dürfte nur die Hand erheben, ihr die Maske vom Antlitz zu reißen –: eine Frau, eine Mutter, an der Seite eines Mannes, den sie sich auf eine solche Art erworben, einem Kinde gegenüber, an dessen väterlichen Namen sich solche Erinnerungen für sie knüpften – und sie hätte mich so lieben können, wie sie es that? hätte diese unerschöpfliche Fülle reiner, mütterlicher Zärtlichkeit für mich gehabt, die sie hatte? Nein, nein, rief sie, Justizrath, Ihre Rechnung, wie fein auch angelegt, stimmt dennoch nicht! Lassen Sie sich, Sie weiser, gelehrter Mann, von einem Frauenzimmer belehren, einem Weibe, welches die Welt nicht kennt, aber das eigene weibliche Herz, das kennt sie –: meine Mutter hat mich geliebt, hören Sie? in den trübsten, jammervollsten Stunden bin ich, ich es gewesen, bei der sie Trost und Beruhigung gefunden, mein kindisches Lallen, meine Liebkosungen und Schmeichelworte haben sie beruhigt und getröstet in Augenblicken, wo sich kein Anderer ihr nahen durfte – alter Herr, bei diesem grauen Haar, das Ihren Scheitel so ehrwürdig macht, reden Sie selbst: wäre das möglich gewesen, hätte sie das vermocht, hätte sie nur mein Antlitz sehen, meine Stimme hören können, wenn sie sich schuldig gewußt?!

Das junge Mädchen, indem sie diese Worte ausrief, wuchs gleichsam vor den Augen des Justizraths in die Höhe, so stolz wurde ihre Miene, so majestätisch ihre Haltung. Ihre Gerüchte, rief sie triumphirend, sind falsch, Ihre Zeugen lügen – meine Mutter war unglücklich, aber nicht schuldig!!

Der Justizrath begnügte sich, statt aller weiteren Antwort auf diese leidenschaftliche und schwungvolle Anrede, etwas in den Bart zu brummen von einfältiger Herzlichkeit, thörichter Schwärmerei und jugendlichen Narrenspossen.

Doch war Angelica viel zu sehr erregt, um darauf zu merken; sie stand noch immer stolz vor ihm, und preßte die Hand, wie betheuernd, auf das stürmisch klopfende Herz.

Nun, und zweitens? brummte der Justizrath endlich: Sie wollten mich ja in zwei Punkten belehren, Sie grüne Weisheit Sie, und so viel Logik werden Sie in Ihrem heißen Köpfchen doch hoffentlich noch haben, um zu wissen, daß nach der Nummer Eins die Nummer Zwei kommt? Also was geben Sie mir weiter zum Besten?

Ich leugne, erwiderte Angelica ruhig, die Folgerungen, die Sie aus allem Bisherigen ziehen; ja es ist gerade das Gegentheil, was ich daraus folgere. Statt mich abschrecken zu lassen durch die notorische Verworfenheit des Mannes, den meine Mutter, ich weiß selbst noch nicht, durch welches Verhängniß gezwungen, so unglücklich war zu meinem Stiefvater zu machen, finde ich darin vielmehr die nächste und dringendste Aufforderung, gegen ihn aufzutreten. Bestärkt nicht Alles, was Sie mir so eben erzählt haben, die üble Meinung, die ich von Herrn Wolston hege? Ist der Argwohn, ein Testament verfälscht zu haben, so ungerecht gegen einen Mann, den die öffentliche Stimme solcher Abscheulichkeiten zeiht, wie sie Herr Wolston gegen meinen Vater begangen haben soll? Und mit welcher Stirn wollen Sie, Mann des Rechts, es über sich gewinnen, dieses langjährige, dieses bodenlose Unrecht ungestraft zu lassen?

Ueble Meinung – Argwohn – öffentliche Stimme, murrte der Justizrath: ei zum Kuckuk, sind das auch Argumente, mit denen sich ein Proceß führen läßt? und nicht blos führen, sondern auch gewinnen? Sie sind ein unverständiges, thörichtes Kind, und ich schäme mich bald vor mir selbst, daß ich Ihrem Geschwätz noch so geduldig zuhöre. Ein für alle mal denn: ich führe Ihnen diesen Proceß nicht; wollen Sie processiren, gut, so thun Sie sich wenigstens nach einem andern Advocaten um.

Damit wollte er, der jetzt ernstlich böse geworden war, das Zimmer verlassen.

Aber Angelica vertrat ihm den Weg; sie hob flehend die Hände in die Höhe, ja es fehlte nicht viel, so neigte sie das Knie vor dem alten zürnenden Manne.

Nein, sagte sie mit einer so weichen, so innigen Stimme, daß der Groll des Justizraths unmöglich Stand halten konnte: Sie können das nicht thun! Sie werden mich nicht verlassen, nicht jetzt! Sie können nicht so viel Sorgfalt und Theilnahme an mich verwendet, können nicht diese Reise hierher gemacht haben, um mich nun so rathlos, so elend zurückzulassen! Schelten Sie das Herz nicht thöricht und spotten Sie nicht seiner geheimnißvollen Weissagung, Sie, der Sie selbst so warmen, so edlen Herzens sind!

Und in geflügelter Eile, mit kurzen, eindringlichen Worten, stellte sie ihm noch einmal die ganze Sachlage dar, wie dieselbe ihr wenigstens erschien. Sie hob namentlich den Haß hervor, mit welchem ihr Stiefvater sie verfolgt hatte von Kindesbeinen an, sogar noch vor Julian's Geburt, und der sich ohne ein geheimes verbrecherisches Motiv überhaupt gar nicht erklären lasse; sie schilderte ihm die vielfachen Intriguen und Anschläge, von denen sie sich im väterlichen Hause umsponnen fühlte; sie legte namentlich den größten Nachdruck auf das Gespräch zwischen dem Commerzienrath und dem alten Sandmoll, welches sie in der Nacht ihrer Ankunft belauscht hatte, so wie auf das räthselhafte Benehmen der kranken Lene, das damit ganz unzweifelhaft in irgend einem unheimlichen, unlautern Zusammenhänge stehe.

Sie hätte auch noch die abenteuerliche Begegnung zwischen dem Prediger und der Diebslore mit anführen können. Aber so sehr dieses Ereigniß auch ihre eigene Meinung von Herrn Waller erschüttert hatte, so hielt sie in ihrer strengen Gewissenhaftigkeit sich dadurch gleichwohl noch nicht berechtigt, auch Andern eine ungünstige Meinung über den Prediger beizubringen, oder, wo eine solche Meinung, wie bei dem Justizrath, bereits vorhanden war, dieselbe ihrerseits noch zu bestärken.

Der Justizrath hatte anfangs nur mit halbem Ohre zugehört. Wie Angelica jedoch auf die nächtliche Scene zwischen dem Commerzienrath und dem alten Falschmünzer zu sprechen kam, ließ er die Thürklinke, die er bereits in der Hand hatte, wieder los; als sie mit ihrer Erzählung von der kranken Lene zu Ende war, stand er bereits wieder mitten in der Stube.

Aber da sieht man es ja, rief er, ich habe es ja immer gesagt: Geschäfte mit Frauenzimmern zu haben, ist das unglückseligste und miserabelste Ding von der Welt, der beste Kopf wird zu Schanden, so wie er sich auf die Aussagen und Erzählungen eines Frauenzimmers verlassen muß! Ei zum Teufel doch, Sie kleiner verruchter Grasaffe, warum haben Sie mir denn das nicht längst gesagt? Da haben Sie mir Briefe geschrieben über Briefe, alle acht Tage einen, und so lang, daß, wenn Sie nicht solch allerliebstes Pfötchen schrieben und wenn ich alter Thor nun nicht einmal in Sie vernarrt wäre bis über die Ohren, ich hätte sie mit Fug und Recht gar nicht einmal zu Ende gelesen. Und was stand in all den schönen Briefen darin? Weibergewäsch, Klagen, Seufzer, Vorwürfe, daß ich dem Herrn Wolston nicht schon die Execution ins Haus gelegt – o gehen Sie doch, Sie kleine verwetterte Hexe! Tausend unnützes Zeug haben Sie mir geschrieben, und das einzige Vernünftige und Wichtige, was Sie mir hätten schreiben sollen – bauz, da ist sie still davon, da hat sie ein Schloß vor dem Munde, da will es aus dem flinken Federchen nicht heraus! Ihr Advocat? Ei ja doch: eher will ich ja zehn Straßenräuber und Spitzbuben vom Galgen loslügen, als die beste Sache führen für solch ein unverständiges, vergeßliches, liebes, leichtsinniges, allerliebstes Kind!

Angelica verstand sich auf die Manier des alten Herrn zu wohl, um nicht zu wissen, daß er, wenn er auf diese Art fluchte und wetterte, innerlich eben am allervergnügtesten war und den allerbesten Muth und Willen hatte. Auch mußte sie sich jetzt wohl selbst sagen, daß sie einige Schelte verdient hatte; es war allerdings unverzeihlich, ja unbegreiflich von ihr gewesen, daß sie Umstände, die für die Beurtheilung dieser Sache so wichtig waren und auf die sie bei sich selbst auch wirklich so hohen Werth legte, gleichwohl bisher in den Verhandlungen mit ihrem Rechtsanwalt so völlig außer Acht gelassen hatte. Doch war das keineswegs blos, wie der Justizrath ihr Schuld gab, aus Leichtsinn oder Vergeßlichkeit geschehen: sondern theils hatte sie einen viel zu hohen Begriff gehabt von der Gelehrsamkeit und der juristischen Strenge des Justizraths, als daß sie ihm hatte Dinge mittheilen mögen, die sie selbst doch nur erst für Vermuthungen halten durfte, noch dazu ziemlich ungewisse und unklare, theils auch waren ihr dieselben zu unheimlich gewesen, um sie dem Papier anzuvertrauen.

Der Justizrath hatte sich in die Sophaecke geworfen und fuhr sich eifrigst mit den zehn ausgespreizten Fingern durch die buschigen weißen Haare; es war dies sein Lieblingsmanoeuvre, wenn er über etwas recht angestrengt nachdachte oder irgend einer Sache recht tief auf den Grund kommen wollte.

Und Sie haben wirklich deutlich gehört, sagte er, daß das Wort Papiere zwischen dem Commerzienrath und jenem alten Gaudieb, von dem Sie sagen, gefallen ist?

Papiere, bestätigte Angelica, die noch irgend wo sein müßten; er erinnere sich genau, sagte Herr Wolston, daß er sie noch an etwas Anderm habe schreiben sehen, das er bis jetzt noch nicht gefunden …

Sie! sie! brummte der Justizrath, aber diesmal bei weitem nicht in dem unzufriedenen Ton wie früher: wer ist das – »Sie«? Es gibt viele » Sie«, mein Schatz; wer mir das beweist, daß das » Sie« Ihre selige Frau Mutter ist, das soll mir ein ganzer Kerl sein, vor dem will ich die Segel streichen!

Doch machte der Justizrath diesen Einwand sichtlich nur, um Angelica nicht zu allzu raschen Hoffnungen zu verleiten. Daß er dem eben Gehörten selbst großes Gewicht beimaß, das zeigte sich am besten an der sorgfältigen Art und Weise, mit der er sich nach allen Nebenumständen erkundigte und ein völliges Verhör über die betreffenden Vorgänge mit Angelica anstellte.

Und Sie waren in jener Nacht, sagte er, da Sie den Commerzienrath belauschten, also wirklich noch gar nicht zu Bett gewesen? Waren nicht etwa verschlafen, oder im Traum, oder vielleicht gar nachtwandelnd, was sehr romantisch läßt für junge Damen, besonders bei Processen, und auch an sich recht interessant sein soll? Völlig klar, nüchtern, verständig? Sie hatten eine große Alteration vorher gehabt bei Ihrer Einfahrt ins Dorf: spukte davon nichts mehr nach im Köpfchen? Kein Fieber? Keine Phantasien? He?

Angelica mußte lächeln über die Ausführlichkeit und Ernsthaftigkeit, mit welcher der alte Herr sie examinirte; er saß da, so nachdenklich und machte solch überlegsames prüfendes Gesicht, nicht anders als ein Arzt, der einem recht gefährlichen Kranken an den Puls fühlt. Doch konnte sie seine sämmtlichen Fragen mit gutem Gewissen bestätigen.

Und Ihre selige Frau Mutter, fuhr der Justizrath fort, war mit der Person, dem Frauenzimmer, Dings da, wie heißt sie? dem kranken Weibsstück, wirklich bekannt? vertraut bekannt? so daß sich allenfalls denken läßt, sie könnte ihr wichtige Briefschaften oder sonstige Geheimnisse zur Aufbewahrung anvertraut haben?

Auch dies konnte die junge Dame, die ihre Mutter ja als Kind so unzählige male an das Bett der kranken Lene begleitet hatte, nur der Wahrheit gemäß bestätigen.

Hm, hm, so, so, ei, ei, murrte der Justizrath, indem er sich immer eifriger in den Haaren zauste – Nun gut, rief er endlich, sprang empor, nahm das überraschte Mädchen in die Arme und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf die weiße Stirn: – Wenn das Frauenzimmer, die Lene, nicht etwa hysterisch ist, oder mit Visionen behaftet, oder sonst nicht recht bei Sinnen, so wollen wir der Sache jetzt schon auf den Grund kommen. Machen Sie nur, daß ich sie selbst zu sprechen bekomme; wo wohnt sie? wo steckt sie? Alle Wetter, mein Kind, die Sache hat Eile, wir haben nur noch wenige Tage bis zu Ihrem Geburtstag: auf Sie und Ihre Aussagen, Schatz, verlasse ich mich nun nicht mehr, das ist nun vorbei: aber verschaffen Sie mir ein ungestörtes verständiges Gespräch mit dem Frauenzimmer, Sie können meinetwegen selbst dabei sein – noch heute wo möglich, diese Stunde noch – und wenn der Fuchs wirklich da im Loche sitzt, geben Sie Acht, Schatz, ob wir ihn heraus kriegen, wir!


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