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So war wieder eine Reihe von Wochen ins Land gegangen und das verhängnißvolle Weihnachtsfest stand dicht vor der Thür.
Angelica befand sich in einer Aufregung des Gemüths, die ihr jede Gesellschaft fast unerträglich machte, nur diejenige ihres Bruders ausgenommen. – Die ungewöhnlich milde Jahreszeit übte auf Julian's Gesundheit den glücklichsten Einfluß. Zwar wurde seine Wange mit jedem Tage hohler, seine Blässe immer abschreckender, seine Stimmung dagegen war frisch und muthvoll, wie sie es seit Langem nicht gewesen. Beinahe täglich, bald auf Angelica's Arm gestützt, bald auch allein, machte er kleine Spaziergänge zwischen den herbstlich entblätterten Bäumen des Parks; die feuchte, milde Luft war seiner kranken Brust eben so wohlthätig, als das tiefe Schweigen in der Natur, diese feierlich traumhafte Versunkenheit, welche dieser Jahreszeit eigenthümlich ist, seinem Gemüth zusagte.
Auch hatte er in so weit gute Tage, als weder der Commerzienrath noch Herr Waller sich in dieser Zeit viel um ihn bekümmerten. Herrn Waller ließ die Baronin, deren fromme Eitelkeit in demselben Grade zunahm, je näher der Tag kam, der sie befriedigen sollte, kaum mehr von ihrer Seite: während der Commerzienrath ebenfalls alle Hände voll zu thun hatte, das neue Fabrikgebäude zur Eröffnung in Stand zu setzen.
Dasselbe sollte nach Julian's Namen benannt, gleichsam unter sein Patronat gestellt werden; auch bei den Einweihungsfeierlichkeiten hatte Herr Wolston ihm eine bevorzugte Rolle zugedacht. Wie wir wissen, war Herr Wolston sonst kein Freund von dergleichen Festlichkeiten. In diesem Falle jedoch, wo er es darauf abgesehen hatte, der thörichten Pinselei der Weiber, wie er es nannte, die Spitze zu bieten, und wo es zugleich die Verherrlichung seines einzigen Sohnes und Erben galt, war ihm nichts prächtig, nichts pomphaft genug. Eine Menge Einladungen waren ausgeschrieben; ja damit es an nichts fehlte, was bei dergleichen Festlichkeiten herkömmlich ist und zum guten Ton gehört, vielleicht auch um in keinem Stück hinter seiner Gemahlin zurückzubleiben, hatte der Commerzienrath dem Herrn Florus ebenfalls keine Ruhe gelassen, bis derselbe ihm zugesagt, auch diese Gelegenheit mit einem Festgedichte zu verherrlichen.
Käme es auf mich an, mein bester Herr Florus, hatte der Commerzienrath dabei hinzugesetzt, indem er dem Dichter so starr über die Brille hinweg in die Augen sah, daß derselbe vor Verlegenheit nicht wußte, wohin er die Brille rücken sollte …
Käme es auf mich an, mein bester Herr Florus, ich würde Sie gewiß nicht incommodiren. Denn warum? Ich frage nach der Poesie überhaupt nicht viel, – weit weniger, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das vermuthlich verbindlich sein und die etwas anstößige Offenherzigkeit dieses Geständnisses begütigen sollte, in der That aber sehr malitiös ausfiel: weit weniger jedenfalls, als nach den Poeten selbst. Indessen meine Frau, so wie die hochadeligen Gäste, welche uns beehren werden, sollen doch sehen, daß ich, obgleich nur ein schlichter Fabrikant, ein bloßer herzloser Geldmensch, doch ebenfalls zu leben verstehe; was meine Frau für ihre schmuzigen Bettelkinder veranstaltet, daran darf es meinem Julian zum Wenigsten nicht fehlen. Schonen Sie sich also nicht, mein bester Herr Florus, machen Sie das Verschen recht hübsch, recht nett, recht nach dem neuesten Geschmack. Mein Prediger wird eine Musik dazu setzen und die Chorknaben werden es absingen; dies ist neu und wird meiner Frau imponiren, weil es an ihr eigenes Genre streift. Wie gesagt, schonen Sie sich nicht und rechnen Sie – indem er mit seinem beliebten Manoeuvre den Deckel der Dose gegen den Aermel rieb – auf meine vollste Dankbarkeit.
Kann väterliche Liebe und Fürsorge weiter gehen? Nach den Begriffen des Herrn Wolston gewiß nicht; er glaubte seine ganze Pflicht gegen Julian damit erfüllt zu haben und überließ ihn desto ungestörter dem Umgang mit Angelica.
Allein mit so inniger Zärtlichkeit diese auch an dem Bruder hing und so glücklich es sie für Augenblicke machte, denselben jetzt verhältnißmäßig so gesund und wohl zu sehen, so war der Kummer, der auf ihrem Herzen lastete, doch zu groß, die Angst, die ihr die Seele zusammenschnürte, zu mächtig, als daß selbst der Anblick des lächelnden Julian und sein unbefangenes, heiteres Geplauder sie auf mehr als nur auf Momente hätte davon befreien können. Der Tag, der auf immer über ihre Zukunft entscheiden, der – denn welch andern Entschluß hätte sie noch fassen können? – ihre Trennung von dem Hause, von der Familie und damit also auch von diesem geliebten Bruder selbst auf immer aussprechen mußte, stand dicht bevor; schon wurde er nicht mehr nach Wochen, nur noch nach Tagen gezählt. Der Justizrath war seit geraumer Zeit völlig verstummt; Angelica zweifelte nicht, daß es nur deshalb geschehen, weil er die Unhaltbarkeit ihrer Sache eingesehen hatte und sich ganz davon loszumachen wünschte.
Und doch, so viel Respect sie auch vor der gelehrten Einsicht des Justizraths hatte, so konnte sie doch bei alledem die Stimme ihres Herzens nicht zum Schweigen bringen, die ihr unablässig, in Schlaf und Wachen, zurief, daß hier ein Spiel mit ihr getrieben werde, ein arglistiges, ein verbrecherisches Spiel, ein Spiel mit dem Heiligsten, was es für sie auf Erden gab und selbst noch über die Erde hinaus: mit ihrer Freiheit, ihrer schwesterlichen Liebe und dem geheiligten Andenken ihrer Mutter. Sie mußte, ja ganz gewiß, und ob alle Menschen sie verließen, mußte dennoch das Geheimniß zerreißen, das hier obwaltete und dessen Fäden sich namentlich auch zur kranken Lene hin erstreckten.
Das Befinden dieser Letztern hatte sich in den jüngsten Wochen wiederum verschlimmert. Aber in demselben Grade war auch ihr Benehmen gegen das Engelchen seit einiger Zeit sanfter und gleichmäßiger geworden. Wenn dasselbe in die niedere Stube hineingeschritten kam, zwischen den klappernden Webstühlen hindurch, an dem wortkargen Meister und dem eben so schweigsamen Reinhold vorüber, vor ihr Bette, und der Glanz dieses lieben Antlitzes ging nun klar und still, wie der Mond, über dem armseligen Lager der Kranken empor: da schien es auch, als ob die junge Dame den gewohnten Einfluß wieder gewonnen hatte, die Fluth ihrer Seele legte sich und sanft, freundlich, wie am ersten Tage, nickte sie ihr lächelnd zu und flüsterte:
Bald, nun bald, liebes Engelchen, ich fühl' es, nun ist die Stunde da, nun sollst du bald Alles wissen …
Aber weiter durfte Angelica auch nicht in sie dringen, wenn nicht sogleich wieder ein heftiger Ausbruch der wildesten und abenteuerlichsten Phantasien erfolgen sollte.
In dieser Lage der Dinge, da jede Minute, die ungenützt verrann, die Entscheidung eines ganzen Menschenlebens mit sich führte, entschloß Angelica sich denn endlich zu einem Schritt, von dem sie, wie wir wissen, bisher eine so gerechte wie natürliche Scheu zurückgehalten hatte. Was auch hinter diesen Räthseln verborgen lag und welche Pläne Herr Wolston gegen sie im Schilde führte: Angelica, das schien ihr selbst außer Zweifel, mußte denselben zuvorzukommen suchen; sie mußte gar nicht erst abwarten, bis das Testament von Herrn Wolston gegen sie geltend gemacht ward, sondern sie selbst mußte als Klägerin gegen ihn auftreten und vor Allem die Echtheit des mütterlichen Testaments, oder zum wenigsten doch die rechtliche Gültigkeit der darin enthaltenen Bestimmung anfechten.
Von Anfang an war dies ihre Absicht gewesen; sie hatte für einige Zeit davon zurückkommen können, so lange sie die Hoffnung hegen durfte, sich auf gütliche Weise mit ihrem Stiefvater zu verständigen. Jetzt war hierzu jede Aussicht verschwunden, und zugleich hatte der Argwohn, mit welchem sie das väterliche Haus betreten, in der Zwischenzeit so mannigfache Nahrung erhalten; jetzt gab es nichts mehr zu überlegen und zu zaudern, das Schwert war ihr gleichsam in die Hand gedrückt, sie hatte nur die Wahl, ob sie es gegen ihren Angreifer kehren wollte – oder gegen sich selbst.
Herr Waller konnte ihr in dieser Angelegenheit nichts mehr nützen, der Beistand, den sie brauchte, mußte vor Allem ein rechtsverständiger sein. Und so, trotz alles Widerstrebens, lenkte sich ihr Auge denn immer und immer wieder auf Herrn von Lehfeldt.
Herr von Lehfeldt war Jurist; wen sie noch über ihn gesprochen, hatte seine Geschäftskenntniß, seinen Scharfblick und seine Energie gerühmt. Auch hatte er ihr in den Monaten, die sie jetzt zum größern Theil gemeinschaftlich verlebt, so viel Proben aufrichtiger und ehrerbietiger Ergebenheit geliefert, daß sie es in der verzweifelten Lage, in welcher sie sich befand, nicht nur als ein Recht, sondern auch als eine Pflicht der Freundschaft betrachtete, sich ihm zu entdecken und seinen Rath, seinen Beistand in Anspruch zu nehmen. Auch jetzt noch, sie konnte es sich nicht verbergen, regte sich etwas in ihr – es war nicht Mistrauen, nicht Abneigung, o gewiß nicht: dennoch, so fest ihr Entschluß auch stand, Herrn von Lehfeldt in das Geheimniß zu ziehen, so wußte sie doch selbst noch nicht, wie es ihr nur möglich sein würde, das erste Wort an ihn von der Lippe zu bringen!
Aber eben so fest stand auch noch ein zweiter Entschluß bei ihr: Herr von Lehfeldt sollte alsdann nicht der Einzige bleiben, dem sie ihr Vertrauen in dieser für sie so hochwichtigen Angelegenheit schenken wollte. Es gab noch einen andern, einen ältern Freund, der ihrem Herzen noch theurer war und dem sie unmöglich ein Recht verweigern durfte, das sie im Begriffe stand, einem Fremden einzuräumen. Und wenn Reinhold auch nie eine Sylbe von Dem erfuhr, was zwischen ihr und Herrn von Lehfeldt verhandelt werden sollte, und wenn er selbst auch keine Ahnung davon hatte, welchen Schritt sie zu thun im Begriff stand – sie hätte es sich selbst nicht verzeihen können, ihr Gerechtigkeitsgefühl (so wenigstens nannte sie es bei sich selbst) gestattete ihr nicht, daß Reinhold, der Freund und Gefährte ihrer Jugend, ihrem Vertrauen ferner stehen sollte als eine Bekanntschaft, die von so viel jüngerm Datum war!
Vielleicht kam auch noch etwas Anderes dazu; vielleicht war es auch ein gewisser mädchenhafter Instinkt, der sie dabei leitete, da allerdings das Vertrauen einer jungen Dame, das sich gleichzeitig an zwei Freunde wendet, viel unverfänglicher erscheint und viel gesicherter ist vor jedem Misbrauch, als wo es Einem allein geschenkt wird. So unmöglich es ihr schien, Herrn von Lehfeldt oder gar erst Reinhold allein die unselige Geschichte des mütterlichen Testaments und die wunderliche Bedingung, die sich für sie daran knüpfte, zu erzählen, so leicht fand sie sich in den Gedanken, und ein so natürliches Verhältniß schien es ihr, diese Angelegenheit mit beiden Freunden gemeinsam zu berathen. Verstand Reinhold auch nichts von dem juristischen Verhältniß, so kannte und achtete sie doch übrigens seinen klaren, natürlichen Verstand. Auch war er mit allen Verhältnissen ihres Hauses seit langen Jahren, ja so lange beinahe, als sie selber denken konnte, bekannt. Und sein Herz endlich, das wußte sie, war rein und treu wie Gold; es gab keins, selbst ihren Bruder nicht ausgenommen, das es treuer und inniger mit ihr meinte …
Somit war der Entschluß der jungen Dame denn gefaßt: durch Reinhold wollte sie Herrn von Lehfeldt um eine Zusammenkunft bitten lassen, welcher Reinhold selbst beiwohnen sollte, und in der die drei Freunde alsdann gemeinschaftlich die Maßregeln besprechen wollten, die für den Augenblick zu ergreifen wären.