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VIII.
Rahel, Bettina, die Stieglitz.


» Rahel, Bettina, die Stieglitz« – so überschrieb am Schluß der hier geschilderten Bewegung Karl Gutzkow ein Kapitel in dem Rückblick, den er derselben 1839 in dem »Jahrbuch der Literatur« gewidmet. Und darunter schrieb er: »Wer einst die organische Entwickelung unserer neuen Literatur zeichnen will, darf den Sieg nicht verschweigen, den drei durch Gedanken, ein Gedicht und eine That ausgezeichnete Frauen über die Gemüther gewannen. Mit Rahel zeichnete sich die höhere Empfänglichkeit, bis zu der es weibliche Wesen bringen können, gegen die Folie der gewöhnlichen Frauenbildung ab. Bettina warf auf das Antlitz zahlloser Frauen den rosigen Abglanz einer freieren Anschauung der Menschen und Dinge, so daß sie wieder etwas Dreistes, Großherziges und Naives zu denken und zu sagen wagten. Charlotte Stieglitz endlich ließ in diese heiteren Gemälde einen dunklen Schlagschatten fallen und zeigte, wie groß die Opfer werden können und werden müssen, wenn man aus dem gewöhnlichen Kreise des Handelns und Fühlens heraustritt und von dem verbotenen Baume der modernen Erkenntniß kostet. Wie durch eine göttliche Verabredung ergänzen sich diese drei großen Gestalten, drei Parzen, die den Faden der neueren Literatur und einer ernsteren Ausgleichung der Bildung mit dem, was die Gesellschaft vertragen kann, anlegten, spannten, abschnitten.«

Die » Gedanken«, mit denen Rahel Varnhagen den Geist der von Heine und Börne beeinflußten literarischen Jugend so mächtig befruchtete, waren kurz nach ihrem Tod, Anfang 1834, an die Oeffentlichkeit getreten in den drei Bänden »Rahel – ein Buch des Andenkens an ihre Freunde«, in welchem ihr trauernder Gatte den Reichthum an Geist, welchen sie freigebig in den Briefen an ihn, an Freunde und Verwandte ausgestreut, zu einer Totalwirkung vereinigt halte. – Das » Gedicht« der Bettina war das wunderbar poetische Herzensverhältniß der jungen Bettina Brentano zum altersreifen Goethe, das nach des großen Dichters und ihres Gatten Achims von Arnim Tod in demselben Jahre 1834 die gereifte Frau widergespiegelt aufwies in dem ebenfalls dreibändigen Werke » Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde«. Aus wirklichen Briefen, die sie in jungen Jahren als Liebling der alten Frau Rath an den Minister-Dichter nach Weimar geschrieben, wobei ihr die Phantasie den bedachtsamen Autor der »Wanderjahre« mit den Eigenschaften ausgestattet vormalte, die der jugendfeurige Dichter des »Egmont« besessen, aus wirklichen Antworten, die sie von Goethe erhalten und aus von ihr erdichteten Briefen, die sie damals wohl an ihn hätte geschrieben und von ihm erhalten haben können, hatte die nun bald fünfzigjährige Frau ihrer naturfrischen Begeisterung, ihrer hingebenden Liebe zu Goethe ein literarisches Denkmal errichtet von so eigenartigem Reiz, daß es einzig in der Weltliteratur dasteht. »Seinem Denkmal«, d. h. dem nunmehr aus Erz und Stein dem deutschen Dichterfürsten zu errichtenden Monument hatte sie ihr Werk gewidmet. – Die » That« schließlich, welche sich den »Gedanken« und dem »Gedicht« anschloß, war kein Buch, sondern – ein Selbstmord. In der Nacht vom 28. zum 29. Dezember desselben Jahres gab sich die achtundzwanzigjährige Gattin des Dichters Heinrich Stieglitz, der in Berlin als Gymnasiallehrer und Bibliothekar angestellt war, in ihrer Wohnung durch einen Dolchstich ins Herz den Tod. Die Motive dieser That waren literarischer Natur und das große Aufsehen, das sie in der literarischen Welt damals erregte, war um so nachhaltiger, als mehrere Monate später der Hausfreund des Stieglitz'schen Ehepaares, Theodor Mundt, diese Motive eingehend in einem Buch schilderte: » Charlotte Stieglitz – ein Denkmal«. Mit tiefer Trauer hatte dieses zartempfindende Weib beobachtet, wie das von ihr bewunderte Dichtertalent ihres Gatten unter dem Druck ihm aufgezwungener Berufsarbeit zunehmend schlaff und welk wurde. Sie wollte ihm die Freiheit wiedergeben und fand den Muth dazu in der Hoffnung, daß der große Schmerz des Verlustes ihn aus dem kleinen Elend des Tages zum mächtigen Pathos der echten Leidenschaft emporheben müsse. Sie fühlte sich ihrem Manne im Wege zu den von ihm gesuchten Gipfeln des Parnasses und trat freiwillig zurück zu Gunsten der Poesie. So wurde von Mundt ihr Selbstmord erklärt und aus diesen Gründen erschien er der poetischen Jugend jener Tage als ein poesieverklärtes Martyrium.

Wie die jungen Schriftsteller, die, von den Ideen des politischen und sozialen Fortschritts erfüllt, sich unter der Nachwirkung der französischen Revolution von 1830 der Literatur gewidmet hatten, diese drei Erscheinungen in einem inneren Zusammenhang auffaßten, haben die oben zitirten Sätze von Gutzkow schon angedeutet. Gleich ihm haben Laube, Mundt, Wienbarg, Kühne und mit ihnen die Tausende, deren Stimmführer sie waren, ihre Wirkung im Zusammenhange begrüßt und empfunden. Rahels Briefe an ihre Freunde, zu denen viele bedeutende Männer der Wissenschaft und Kunst, Helden der Befreiungskriege und einflußreiche Staatsmänner zählten, klärten die jungen Stürmer und Dränger darüber auf, bis in welche Lebenskreise hinauf sich die Unzufriedenheit mit den Zuständen in Staat und Gesellschaft unter dem unheilvollen Regierungssystem Metternichs und seiner Verbündeten verzweigt hatte. Hier offenbarte ihnen eine auf den vermeintlichen Höhen des Lebens und der Bildung stehende Frau als Essenz ihres innersten Wesens dieselbe Sehnsucht, die auch sie erfüllte, nach einem Ausgleich zwischen Ideal und Wirklichkeit, Wahrheit und Leben, Liebe und Ehe, Poesie und Gesellschaft, Recht und Staat, nach Freiheit im Sinne Kants, Fichte's und Börne's. – Durch Bettina's Briefwechsel mit Goethe wurde ihnen weiters der Glaube, daß man durch Literatur auf das Leben, durch Dichtung auf die Verschönerung und Veredelung des Daseins direkt einwirken könne, »zu einer zauberhaften Gewißheit erhoben«. Bettina offenbarte sich in diesen Briefen als ein Geschöpf der Poesie Goethe's. Nicht nur ihr Geschmack, ihr Charakter, nein, ihr ganzes Fühlen und Denken erschienen durch deren Einfluß gebildet. »Welch hehre Ahnung«, heißt es in jener Darstellung Gutzkows, »des zwischen dem Genius und der naivsten Empfänglichkeit möglichen Verkehrs mußte diese Erscheinung wecken! Nie schien der Literatur eine Huldigung dargebracht, die schwärmerischer war … Die Rückhaltsgedanken des im Leben lieblichen und Hergebrachten schlummerten unbewußt ein, wenn das Große und Erhabene sein Auge aufschlug … Waren neue Ideen da oder sollten nur die alten ins Leben gerufen werden, hier sah man ein Beispiel, einen Versuch, der schon gemacht war.« Aber der enthusiastische Dithyrambus auf ein Leben im Geist, im poetischen Schauen und Empfinden, hatte einen elegischen Ausklang. Auch dem sonnigen Wesen Bettina's war die Erkenntniß des Zwiespalts zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht erspart geblieben, auch auf ihre Liebe, ihr Freundschaftsverhältniß zu Goethe waren die Schatten desselben gefallen. – Der Selbstmord der unglücklichen Stieglitz aber, der so bald den Eindrücken jener beiden Briefsammlungen folgte, erschien der jungen Literatur als tragische Konsequenz eines zu starken Bewußtseins dieses Zwiespalts bei mangelnder Kraft, sich über ihn hinwegzusetzen. Bei ihr hatte die Theilnahme für alle höheren Interessen, die einer Rahel für jede Enttäuschung schnell neuen Ersatz brachte, das unverwüstliche Hingebungsbedürfniß an alles Schöne, das eine Bettina immer wieder zur inneren Harmonie zurückführte, sich in einen einzigen Empfindungsstrom, eine einzige Leidenschaft verdichtet, in die Liebe zu ihrem Mann, in dem sie einen bedeutenden Menschen, einen großen Dichter zu besitzen wähnte, bis die Erfahrungen des Ehelebens sie daran irre werden ließen. Diesem Manne hatte sie eine treu theilnehmende Kameradin sein wollen, helfend, fördernd, berathend nach Maß der eigenen Begabung. Als sich Charakter, Bedeutung, Talent des Mannes nicht bewährten, suchte sie die Schuld in den Verhältnissen, in den Lasten, die ihm die Sorge um einen eigenen Hausstand aufgenöthigt; durch ihre Entfernung aus der Welt hoffte sie ihn zu befreien und seiner hohen Bestimmung zurückzugeben. So gaben die jungen Autoren, welche ihren freiheitlichen Ideen die Wirklichkeit erstreiten wollten, auch ihrem Tode eine Deutung auf den Kampf zwischen Idee und Wirklichkeit, sahen in ihr ein Opfer derselben Konflikte, in welche Rahels grüblerische und Bettina's überschwängliche Beurtheilung der Menschen und Verhältnisse hatten gerathen müssen.

Auch ein äußerer Zusammenhang unterstützte das Gemeinsame der Wirkung: als willkommenster Gast am Sterbebette von Frau Varnhagen hatte Bettina von Arnim geweilt; das letzte Buch, in welchem Charlotte Stieglitz vor ihrem Tod gelesen, war das Buch »Rahel«. Dasselbe Jahr, dasselbe Quartier von Berlin sah Varnhagen an der Vorrede zu den Briefen der Rahel schreiben, die Arnim ihren Briefwechsel mit Goethe bevorworten und Charlotte Stieglitz zum Dolche greifen. Varnhagen nannte die Sammlung »ein Buch des Andenkens«, Bettina widmete ihr Goethebuch »seinem Denkmal«, »ein Denkmal« lautete der Titelzusatz aus Mundts Biographie der Stieglitz. Selbst in der äußeren Erscheinung der drei Frauen prägte sich die innere Verwandtschaft aus, die in der gleichen Hinneigung ihres Wesens zu den höchsten Interessen der Menschheit, ihrer großen Empfänglichkeit für Eindrücke geistiger Art, ihrer Begeisterung für Poesie und Musik sicher bestanden hat. Den Eindruck, den Varnhagen von Ense in seinen »Denkwürdigkeiten« von seiner ersten Begegnung mit der damals sechsundzwanzigjährigen Rahel Levin festgehalten: eine leichte graziöse Gestalt, klein, aber kräftig von Wuchs, von zarten, doch vollen Gliedern, Fuß und Hand klein, reiches schwarzes Haar, dunkle Augen, durchgeistigte Anmuth der Züge … dieser Eindruck stimmt bis auf die klangvolle, aus der innersten Seele heraustönende Stimme mit dem Bilde überein, das wir uns von Bettina in dem Alter, da sie Goethe in Weimar besuchte, von Charlotte, da sie die glückliche Braut ihres Dichters ward, nach den über sie vorhandenen Andeutungen machen dürfen. Rahels Rede tönte wie Gesang: Bettina und Charlotte waren kunstgeschulte Sängerinnen.

Aber von dieser Aehnlichkeit hebt sich der große Unterschied ihres Temperaments und Charakters um so lebhafter ab. In Rahel Levin pulsirte orientalisches, in Bettina Brentano südliches Emigrantenblut, Charlotte Willhöft verkörperte die zähe Art des norddeutschen Volksthums. Die drei schönen dunklen Augenpaare, wie so verschieden blickten sie in die Welt! Die klugen Augen Rahels forschend und fragend, die heiteren der Bettina strahlend vom Genusse des Schönen, nachdenklich und sinnend die ernsten der Hamburgerin. Geist, Herz und Gemüth hatten alle drei, aber in jeder führte eine andere dieser Gewalten die Herrschaft. Rühmte man Rahels Gespräch als geistvoll, das Charlottens als seelenvoll, so pries man Bettina's Rede als begeistert und beseligt. Rahel hatte Witz, Bettina Humor, Charlotte war stets geradezu. Rahel, selbst oft leidend, hatte im Mitleid, Bettina, überquellend von Gesundheit, in der Mitfreude ihr unmittelbarstes Verhältniß zur Mitwelt, Charlotte wollte am liebsten mitwirken, aber nur da, wo sie liebte. Während Rahel nervös und von der beweglichsten Empfänglichkeit für Kleines und Großes war, blieb hingegen Bettina ausdauernd im Wiederstrahlen und Nachgenießen des einzelnen großen Eindrucks, und Charlotte, zur Melancholie neigend, strebte nach ruhigem Sichversenken in die Welt des eigenen Gemüths. »Ist es recht?« Nach dieser Frage faßte Rahel ihr Urtheil; Bettina fragte: »ist es schön?« – »ist es wahr?« Charlotte. Rahel war eine starke Zweiflerin, Bettina bei all ihrem politischen und religiösen Freisinn stark im Glauben; Charlotte aber zählte zu denen, die, wenn sie einmal aufgehört zu glauben, nicht nur zweifeln, sondern – verzweifeln …

Doch genug des Vergleichs, wo es sich noch um das Gemeinsame der drei merkwürdigen Frauen handelt. Ihre wesentlichste Gemeinsamkeit im Sinne unserer Betrachtung haben wir noch zu nennen; sie theilen sie mit den Bevorzugten ihres Geschlechtes überhaupt. Die Liebe Charlotte's zu Stieglitz giebt Mundt in seinem »Denkmal« Anlaß zu einem Hinweis auf den Trieb des Weibes, das Allgemeine zu individualisiren, die Idee persönlich zu fassen, sich an die Einzelerscheinung hinzugeben. »Die Idee wird dem Weibe zur Person, und darum liebt sie inniger und gewaltiger, als je ein Mann es vermag, denn sie liebt in der Gestalt, an die sie sich hingiebt, eine Idee ihres Lebens … Der Drang zu den Wissenschaften, zu den Künsten, zu den freien Bewegungen des öffentlichen Lebens, wenn ihm zu entsprechen durch die Umstände oder die soziale Gesittung versagt ist, setzt sich in der Mädchenbrust in die Liebe zu einem Gelehrten, zu einem Künstler, zu einem Helden um. Die Bewegung im Staat, der Sieg in der Schlacht, das Geheimniß in der Entstehung des Kunstwerks und der Trieb der Forschung in ehrwürdigen alten Büchern hängt sich mit dem Reiz, der auch in der weiblichen Natur danach entsteht, fast schmerzlich innig an irgend einen liebwerthen Gegenstand, an dem jener Glanz und Inhalt des Lebens zur Erscheinung kommt. Daher die besondere Zuneigung zu dem Talent bei allen Frauen.« Nicht nur Charlottens Liebe, auch Rahels Seelenbündnisse und Bettina's schwärmerische Hingebung entsprachen diesem Zuge. Und so waren sie auch in den Angelegenheiten des Herzens echt weibliche Vertreterinnen des deutschen Individualismus. Dieser Individualismus wirkte in ihnen nicht nur elementar, – er war ihnen auch – namentlich den beiden älteren, produktiveren Frauen – ein bewußtes Lebensprinzip. Und daß sie in einer Zeit, da auch die Poeten der heranreifenden deutschen Jugend sich beherrscht zeigten von philosophischen Ideen und politischen Doktrinen, von Spekulation und Kritik, vom Streben ins Allgemeine, durch Beispiel und Lehre daran erinnerten, daß alle Poesie im Individualismus, dem Leben von innen heraus, der Freiheit der Persönlichkeit wurzelt, darin erscheint uns heute, was den Jungdeutschen nicht bewußt war, ihr Hauptverdienst um das deutsche Literatur- und Geistesleben der damaligen Epoche. Und alle drei wiesen dabei als auf den berufenen Meister für diese jüngeren Talente auf den einziggroßen Dichter hin, auf Goethe, dessen Geist, wie wir sahen, gerade um diese Zeit begonnen hatte, auch direkt in seiner Bedeutung für die neue literarische Jugend sich geltend zu machen. Dem Einfluß seiner Poesie verdankten die drei Frauen ihre bewunderungswürdige Vorurtheilslosigkeit, ihre geniale Freifühligkeit. Die Erfüllung der poetischen Ideale seiner heldenmüthigen Jugend suchten sie in der Wirklichkeit – das war ihr romantischer Irrthum –; ihr klassisches Verdienst aber ist, daß sie dieselben zu neuer Wirksamkeit weckten in einer neuen Generation junger Dichter. Und je entschiedener sich diese Frauen von der Nothwendigkeit des allgemeinen Fortschritts durchdrungen zeigten, um so überzeugender mußte die Wirkung dieser anderen Forderung sein. Am nachdrücklichsten wurde diese aber von Bettina ausgeübt, diesem Enkelkind der Goethe'schen Geniezeit, das in Frankfurt zu Füßen der Frau Rath dem Märchen von Goethe's Jugend gelauscht, Bettina, in der dessen Jugendgenius wie durch Vererbung als elementare Lebenskraft wirkte, während Rahel, als Kind der Berliner Aufklärungszeit und des Moses Mendelssohn'schen Bildungskreises, ebenso wie Charlotte Willhöft, die Vertreterin der zähflüssigen niederdeutschen Geistesart, nur unter bestimmter Strahlenbrechung sein Licht in sich aufnehmen konnte.

*

Als der Rechtspraktikant am alten Reichskammergericht, der junge Frankfurter Dr. jur. Wolfgang Goethe, im Herbst 1771 starken Entschlusses von Wetzlar schied, um seinem unerträglich gewordenen Verhältniß zu Lotte Buff, der Braut seines Freundes Kestner, eine befreiende Wendung zu geben, machte er zunächst einen Ausflug an den Rhein. Sein Freund und Berather Merck, dessen geistiges Wesen später dem Carlos im »Clavigo« und dem Mephisto im »Faust« Züge geliehen, hatte ihn zu dieser Zerstreuung ermuntert; in Koblenz bei Frau von La Roche wollten sie sich treffen. Dieser Reise gedenkend und der Eindrücke, die ihm damals nach dem Verlassen des Lahnthals wurden, schrieb der rückschauende Dichter vierzig Jahre später in »Wahrheit und Dichtung«: »Da eröffnete sich mir der alte Rhein; die schöne Lage von Oberlahnstein entzückte mich; über alles aber herrlich und majestätisch erschien das Schloß Ehrenbreitenstein, welches in seiner Kraft und Macht, vollkommen gerüstet, dastand. In höchst lieblichem Kontrast lag an seinem Fuß das wohlgebaute Oertchen Thal genannt, wo ich mich leicht zu der Wohnung des Geheimraths von La Roche finden konnte. Angekündigt von Merck ward ich von dieser edlen Familie sehr freundlich empfangen und geschwind als ein Glied derselben betrachtet. Mit der Mutter verband mich mein belletristisches und sentimentales Streben, mit dem Vater ein heiterer Weltsinn, mit den Töchtern meine Jugend.« Mit Entzücken gedenkt er der ältesten dieser Töchter, deren Liebenswürdigkeit ihm hier schnell die unbefriedigte Leidenschaft für Lotte Buff verwinden half; er schildert sie: eher klein als groß von Gestalt, niedlich gebaut; eine freie anmuthige Bildung, die schwärzesten Augen und eine Gesichtsfarbe, die nicht reiner und blühender gedacht werden konnte. Ueber ihre Wirkung auf ihn aber schreibt er: »So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegen gesetzten Seite den Mond aufgehen, und erfreut sich an dem Doppelglanze der beiden Himmelslichter.« Dieser Doppelglanz umspielt die vom jungen Dichter in der nächstfolgenden Zeit geschaffene Gestalt von Werthers Geliebten, der er die schlanke Anmuth von Kestners Braut, die dunklen Augen von Maximiliane La Roche geliehen.

Aber die Bedeutung dieses Besuches im kurtrier'schen Kanzlerhaus am Rhein reicht in Goethe's Leben viel weiter. Hier fand er, wie einer unserer besten Goethekenner, Erich Schmidt, es ausdrückt, was in Deutschland damals selten, wenn nicht einzig war, einen literarischen Salon, dem als Herrin eine gefeierte Dichterin vorstand und wohin anerkannte Größen des geistigen Lebens ihre Schritte lenkten oder verehrungsvolle Briefe sandten. Frau von La Roche stand auf der Höhe der deutschen Literatur, wie vorher im 18. Jahrhundert kaum eine Zeit lang Gottscheds Gemahlin Adelgunde. Englischer und französischer Geist war hier eingebürgert; die deutsche Rousseau-Gemeinde hatte hier ihren Mittelpunkt. Die damals gefeierten Briefromane der Frau, die in frühen Jahren die Jugendgeliebte Wielands gewesen, zeigten – wie die »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« – die moralisirende Sentimentalität Richardsons von den liberalen Tendenzen Rousseau's angefrischt und gekräftigt. Wieland, damals im Zenith seiner Laufbahn, war und blieb ihr ein treuer, hülfsbereiter Berather. Dazu ihr Einfluß auf den Jacobi'schen Freundeskreis. Sie war eine Macht. Das warme Interesse, mit welchem diese Kreise sogleich den Erstlingen der Goetheschen Muse entgegenkamen, ist nicht zu trennen vom Einfluß der Mutter Maximilianens …

Seit jener Rheinreise im September 1772 sind fünfunddreißig Jahre vergangen, Goethe ist längst ein weltberühmter Dichter und der erste Minister des weimarschen Herzogs. Da läßt sich an einem regnerischen Maitag eine junge Dame bei ihm melden. Ein Billet Wielands, frischgeschrieben, vermittelt die Meldung. »Bettina Brentano, Sophie's Schwester, Maximiliane's Tochter, Sophie La Roche's Enkelin wünscht Dich zu sehen, lieber Bruder, und giebt vor, sie fürchte sich vor Dir, und ein Zettelchen, das ich ihr mitgäbe, würde ein Talisman sein, der ihr Muth gäbe. Wiewohl ich ziemlich gewiß bin, daß sie nur ihren Spaß mit mir treibt, so muß ich doch thun, was sie haben will, und es soll mich wundern, wenn Dir's nicht ebenso wie mir geht.« Und es ging Goethe so wie Wieland. Das Mädchen kam, um Großes zu bitten, um seine Freundschaft und Liebe – er mußte thun, was sie haben wollte. Geliebte Schatten rief, gleich einer Zauberformel, der kurze Gruß Wielands vor ihm auf und dieselben führten ihm ihr Kind zu. Bettina Brentano – das hieß: hier kommt das Kind jenes Mannes, nach dessen Eifersucht auf dich, der der Freund seiner jungen Gattin war, du Alberts Eifersucht in Werthers Leiden gestaltet hast; Maximiliane's Tochter – das hieß: sie ist das Kind jener Frau, die ihre Liebe zu dir erst voll erkannte, als sie auf Wunsch ihrer Mutter sich mit dem reichen Frankfurter Kaufherrn Brentano verheirathet hatte; Sophie La Roche's Enkelin schließlich – das hieß: und ihre Großmutter war jene Frau, die für die ersten Entfaltungen deines Genius die förderndste Theilnahme hatte. Der Frühling des eigenen Lebens ging auf in seiner Seele. Und da stand das liebliche Kind plötzlich selber vor ihm: zierlich, anmuthig, schön und dunkeläugig wie einst ihre Mutter, nur südlicher von Gesichtsfarbe und Ausdruck, wie er sich wohl einst Mignon gedacht, mit Mignons Sehnsuchtsaugen. Sie sprach nicht von dem unruhigen Verlangen, das sie zu ihm getrieben, von der Verlegenheit, die sie noch eben bewegte, sie klagte ihm nicht, daß sie durch den vor kurzem erfolgten Tod der Großmutter La Roche nun völlig verwaist sei, rühmte sich nicht der Freundschaft, deren sie die noch lebende Mutter Goethe's würdigte, erklärte nicht die Umstände ihrer Herfahrt, daß sie durch die Gefälligkeit ihres Schwagers von Guaita, der sie sammt der Meline auf eine Geschäftsreise mitgenommen, zu dem Besuch nach Weimar gelangt sei; wort- und fassungslos flüchtete sie nach des Dichters freundlichem Gruß an seine Brust, sich an ihn schmiegend wie das Kind an den Vater und doch auch wieder wie eine Braut an den langersehnten Geliebten. Aus dieser Begegnung erblühte das wundersame Verhältniß, dessen Denkmal achtundzwanzig Jahre später – eben im Jahre 34 – das einstige »Kind« als Wittwe Achim von Arnims herausgab in dem Werke »Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde«. Sie schrieb an ihn nach ihrer Rückkehr in das alte Familienhaus »Der Goldne Knopf« in der Frankfurter Sandgasse über das Befinden der Frau Rath und wie sich diese der angeknüpften Freundschaft freue, sie schrieb an ihn aus dem traulichen Sommersitz der Familie Brentano zu Winkel am Rhein: daß sie seit jenen Stunden bei ihm in Weimar nur in ihm, durch ihn lebe, daß ihr Leben sei wie ein Blühen für ihn, daß sie, wie eine Blume des Thaus, seines Zuspruchs bedürfe. Und obgleich zögernd und nicht im Stande, dem Vollklang ihres Empfindens gleich warmen Tons zu erwidern – er mußte thun, was sie haben wollte. Es war, als ob dies Seelengrüßen aus knospender Mädchenblüthe, das vom sonnigen Rheinesufer in sein stilles Gemach drang, die Morgenröthe seiner eigenen Jugend mische mit dem klaren Licht seines zur Rüste sich neigenden Tages, und er nahm auch diese Fügung dankbar auf als ein freundlich Geschenk gütiger Götter.

Und wie ein voller warmer Lichtstrom aus jener Frühzeit, in welcher das goldene Zeitalter der deutschen Dichtung tagte, wirkte die Kunde von diesem Verkehr auf die jungen Geister der neuen gährenden Werdezeit, welcher Bettina von Arnim nach Goethe's und ihres Gatten Tode, nun selbst eine würdige Matrone, die poetisch ausgeführten Zeugnisse ihres Verkehrs mit Goethe als Pathengeschenk darbrachte. Auch ihnen erschien die Verfasserin dieses idyllisch anhebenden, heroisch aufklingenden, elegisch austönenden Briefromans als: Bettina Brentano, Maximiliane's Tochter, Sophie La Roche's Enkelin –, obgleich Frau von Arnim damals doch schon vierundzwanzig Jahre lang den Namen des romantischen Dichters trug, der mit ihrer und ihres Bruders Clemens Hilfe in frohbewegter Jugendzeit den Schatz der deutschen Volkspoesie in »Des Knaben Wunderhorn« gesammelt hatte. Auch ihre Stimmungspoesie hatte das Rheinland zur Heimath, wie Clemens verkündete sie die Poesie des »alten Rheins«, der noch keine Dampfschiffe kennt, aber während ihr Bruder am Rheinesufer dem gespenstigen Walten der »Hexe« Loreley nachsann, schilderte sie mit den echten frischen Farben der Natur die Wirklichkeit dieser gesegneten Landschaft und die Wirkung ihrer Schönheit auf sie. Frei von jeder Befangenheit bot sie die frischen Sinne jedem Schönheitsreiz und pries dankbar die Sinne als die Vermittler jedes geistigen Genusses. Frei von jedem Vorurtheil wandte sie ihre Seele jedem menschlich-schönen Eindruck zu und machte dadurch unbewußt ihr Denken und Fühlen zu Organen des menschlich Schönen. So frei und unbefangen und schön ist auch ihre Liebe zu Goethe. Und wer da staunte, wie sie – ein theils im Kloster erzogenes, theils ohne regelrechten Unterricht bei der Großmutter in Offenbach aufgewachsenes Kind – zu dieser kühnen Freiheit im Denken, Fühlen und Bekennen gelangt sei, dem antwortete sie: So bin ich durch Goethe geworden! Seine Jugendlyrik war meines regen Jugendfrohsinns klingende Seele …

»Und frische Nahrung, neues Blut
Saug' ich aus freier Welt;
Nie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält« –

Solche poetische Weisheit war ihr wie eingeboren, war in ihr – Natur. Diese Lieder lebten in ihr früher als alle Schulweisheit und die erste Regung der in ihr schlummernden Talente war, daß sie eigene Melodien dazu erfand.

Sie wies auf das alte Kanzlerhaus am Rhein zurück und das Geistesleben, das dort unter Rousseau's Anhauch geblüht, auf den stillen Verkehr mit ihrer ehrwürdigen Großmutter in Offenbach, die so gern, ihrer Enkelin die Locken ringelnd, von ihrer früh verstorbenen Mutter, der »schönen engelsschönen Max« erzählte; sie wies in die Plauderstube der alten ewig jungen »Frau Rath«, deren »alte Schawell« nach ihrem eigenen Ausdruck »wieder zu grünen begann«, wenn das Kind Bettina, zu ihren Füßen sitzend, mit großen staunenden Augen ihren Geschichten zuhörte von des Sohnes blüthenreicher Kindheit und Jugend. »Frau Aja Wohlgemuth«, Goethe's Mutter mit ihrer »Frohnatur«, war es, die ihr den Geist von Goethe's Dichtung erschlossen, Frau Aja, an die sie schrieb: »Im Kloster hab' ich viel predigen hören über den Weltgeist und die Eitelkeit aller Dinge; ich habe selbst den Nonnen die Legende jahraus, jahrein vorgelesen; weder der Teufel noch die Heiligen haben bei mir Eindruck gemacht, ich glaub' sie waren nicht vom reinen Stil; ein solches Lied aber« – sie spricht von Goethe's Gedicht ›Der du von dem Himmel bist‹ – »erfüllt meine Seele mit der lieblichsten Stimmung, keine Mahnung, keine weisen Lehren könnten mir je so viel Gutes einflößen; es befreit mich von aller Selbstsucht, ich kann andern alles geben und gönne ihnen das beste Glück, ohne für mich selbst etwas zu verlangen … Es soll mir keiner sagen, daß reiner Genuß nicht Gebet ist.« An die »Frau Rath« schreibt sie aus dem Sommersitz im Rheingau nach ihrem Besuche in Weimar: »Frau Mutter, aus dem prächtigen Rheinspiegel in Mondnächten dahingleiten und singen, wie das Herz eben aufjauchzt, allerlei lustige Abenteuer bestehen in freundlicher Gesellschaft, ohne Sorge aufstehen, ohne Harm zu Bett gehen, das ist so eine Lebensperiode, in der ich mitten inne stehe. Warum lasse ich mir das gefallen? – weiß ich's nicht besser? – und ist die Welt nicht groß und mancherlei in ihr, was bloß des Geistes harrt, um in ihm lebendig zu werden? – und soll das alles mich unberührt lassen? … Da fühl' ich, daß ich durch die Liebe zu ihm erst in dem Geist geboren bin, daß durch ihn die Welt sich mir erst aufschließt … Was ich durch diese Liebe nicht lerne, das werde ich nie begreifen. Ich wollt', ich säß' an seiner Thür, ein armes Bettelkind, und nähm' ein Stückchen Brot von ihm, und er erkennte dann an meinem Blick, wes Geistes Kind ich bin, da zög' er mich an sich und hüllte mich in seinen Mantel, damit ich warm würde …« So fühlte sich dies Kind, in dem ja italienisches Blut dem deutschen beigemischt war, als eine Blutsverwandte der Mignon; ihre Liebe zu Goethe war, wie die Mignons, so elementar und keusch, so übersinnlich-sinnlich; mit Recht hat darum Börne geschrieben: »Nach vierzig Jahren kam Mignon wieder und nannte sich Bettina.«

Aber von Sterben und Scheiden wollte diese neue wirkliche Mignon nichts wissen; ihre durchgeistigte Liebe wurzelte in einem urgesunden Lebensgefühl, sie liebte das Leben mit gleicher Gluth wie Goethe selbst und wie auf die Schönheit von Goethe's Genius sind ihre Briefe auch ein Dithyrambus auf die Schönheit der Natur und des Lebens. Als zwei Jahre vorher ihre von Hölderlins Poesie unheilvoll beeinflußte, geistig überspannte Freundin, das sechsundzwanzigjährige Stiftsfräulein Karoline von Günderode, unter dem Druck trüber Herzenserfahrungen sich das Leben genommen hatte, da hatte sich ihre gesunde Natur über den Selbstmord der Aermsten innerlich empört. Als sie in Goethes »Wahlverwandtschaften« bei dem Selbstmord Ottilie's weilt, protestirt sie lebhaft gegen die Nothwendigkeit dieser That. Der Irrthum ihres eigenen Herzens, der die hingebende Schwärmerei für Goethe eine Zeit lang für die echte Leidenschaft der Liebe hielt, vermochte sie zwar tief zu betrüben, aber ihren Lebensmuth vernichtete seine Erkenntniß nicht. Nachdem sie die Enttäuschung verwunden, schenkte sie der Werbung des ihrem Alter weit näher stehenden Freundes Achim von Arnim Gehör und ihre Begeisterung für Goethe lebte ungebrochen weiter in einer von ihr bis ans Ende gehegten, aus tiefster Verehrung seines Genius begründeten Freundschaft. Sie blieb sich selber treu. Und auch hierin fühlte sie sich im Einklang mit der Lehre und den Lebensgrundsätzen des Dichters. Die Treue gegen den eigenen Genius faßte sie mit Frau Aja auf als das Grundprinzip seines Wesens. »Das hat die Mutter oft an Dir gepriesen,« schreibt sie ihm einmal, »daß Deine Würde aus Deinem Geist fließe und daß Du eine andere nie habest; die Mutter sagte, Du seist dem Genius treu, der Dich ins Paradies der Weisheit führt, Du genießest alle Früchte, die er Dir anbietet, daher blühen Dir immer wieder neue, schon während Du die ersten verzehrst. Lotte und Lene aber – sie spricht von den altjüngferlichen Schwestern Jacobi's in Düsseldorf – verbieten dem Jacobi das Denken als schädlich, und er hat mehr Zutrauen zu ihnen als zu seinem Genius; wenn der ihm einen Apfel schenkt, so fragt er jene erst, ob der Wurm nicht drin ist.« Echt goethisch war auch ihr Grundsatz: »Wer der Stimme in seiner Natur folgt, wird seine Bestimmung nicht verfehlen.«

Als sie aber merkt, daß der Goethe der Wirklichkeit nicht in allem Stich hält dem Goethe ihres Ideals und seiner Jugend, daß die Würde, die er jetzt zur Schau trägt und die auch der geheimräthliche Stil seiner Antworten ausprägt, bisweilen mehr ein Erzeugniß bequemen Behagens als der Treue gegen seinen Genius ist; als sie sieht, daß er dem »Philisterthum«, statt es zu bekämpfen, Zugeständnisse macht und den Verkehr mit »Philistern«, wie Riemer und Zelter, dem Wettstreit mit genialen Naturen vorzieht, da wird das hingebende Mädchen auch zur ernsten Mahnerin, zum begeisterten Fürsprech seiner eigenen Jugendideale. Sie kann es nicht leiden, daß sich Goethe-Faust so gern mit »trockenen Schleichern« vom Schlage des Wagner umgibt, daß er, wie mit der bildungseitlen Frau von Staël, aus Diplomatie mit Personen Freundschaft hält, die ihrer nicht werth sind, daß er die Menschen gar zu leicht nach ihrer äußeren Stellung schätzt, statt nach ihrem inneren Werthe. Dem pedantischen Musikgelehrten Zelter stellt sie Beethovens tiefe, aus dem Innersten quellende Natur gegenüber und sucht, nachdem sie in Wien dessen Freundschaft gewonnen, einen Verkehr zwischen ihrem Lieblingsdichter und ihrem liebsten Tonschöpfer anzubahnen. Sie sucht Goethe für die literarischen Bestrebungen ihrer bei ihrem Schwager Savigny in Landsberg studirenden jungen hessischen Freunde, die seine begeisterten Verehrer, der Brüder Grimm, zu interessiren, während sie über seine Vorliebe für naturwissenschaftliche Entdeckungen sich allerlei Keckheiten erlaubt. Als ein Aufenthalt in Landshut bei ihrem Schwager, dem berühmten Rechtslehrer, ihr Einblick verschafft in die schmachvolle Art, wie Diplomatenkünste und die Uebermacht der Großstaaten den begeisterten Freiheitskampf der Tiroler unter Andreas Hofer niederhalten und um seine Früchte betrügen, da weicht die sanfte Hingebung Mignons dem feurigen Heldenmuth der Geliebten des »Egmont«. Mit Klärchen singt sie: »Ach hätt' ich ein Wämslein und Hosen und Hut« – hinüber zu den geradherzigen Tirolern würde sie dann laufen – »ich ließ ihre schöne grüne Standarte im Winde klatschen.« Und den Dichter als Wilhelm Meister apostrophirend, ruft sie ihm zu: »Ich möchte zum Wilhelm Meister sagen: komm', flüchte dich mit mir jenseits der Alpen zu den Tirolern, dort wollen wir unser Schwert wetzen, und das Lumpenpack von Komödianten vergessen, und alle deine Liebsten müssen dann mit ihren Prätensionen und höheren Gefühlen eine Weile darben … Die Melancholie erfaßt dich, weil keine Welt da ist, in der du handeln kannst – hier unter den Tirolern kannst du handeln für ein Recht, das ebenso gut aus reiner Natur entsprungen ist, wie die Liebe im Herzen der Mignon. Du bist's, Meister, der den Keim dieses zarten Lebens erstickt unter all dem Unkraut, was dich überwächst. Sag', was sind sie alle gegen den Ernst der Zeit, wo die Wahrheit in ihrer reinen Urgestalt emporsteigt, und dem Verderben, was die Lüge angerichtet hat, Trotz bietet?«

Solche Stellen in Bettina's Briefen und die diplomatisch gedrechselten Antworten, die sie von Goethe darauf empfing oder empfangen zu haben vorgab, waren frischer Wind in die Segel der eingefleischten Goethefeinde Görres, Menzel und Börne, die das selbstgenügsame Einspinnen des großen Dichters in seine Liebhabereien und Arbeiten in den Zeiten, da es den Siegespreis der Befreiungskriege zu sichern galt, als eine Pflichtverletzung bekämpft und getadelt hatten. Auf Bettina's Drängen, seinen Einfluß zu Gunsten der Tiroler geltend zu machen, hatte er wie folgt geantwortet: »Auch deine lyrischen Aufforderungen an eine frühere Epoche des Autors haben mir in manchem Sinne zugesagt, und wüchse der Mensch nicht aus der Zeit mehr noch wie aus Seelenepochen heraus, so würde ich nicht noch einmal erleben, wie schmerzlich es ist, solchen Bitten kein Gehör zu geben.« Seine Kritiker vom Schlage Börne's und Menzels ließen diese Entschuldigungen nicht gelten. Sie haßten Goethe mit Verblendung aus demselben Irrthum, aus welchem Bettina ihn mit Verblendung geliebt hatte. Beide verlangten leidenschaftlich vom Verfasser der Wahlverwandtschaften und der Farbenlehre die Erfüllung der Versprechungen seiner Jugend. Das Schicksal, das ihn nach Weimar geführt, zum Minister gemacht, die Vereinsamung, die ihn den allgemeinen Interessenkämpfen frühzeitig entfremdet hatte, gab ihm Recht, wenn er solche Zumuthungen als Irrthum zurückwies; er folgte auch hierin seiner Natur und wahrte sich die Freiheit, sich dieser gemäß das Leben zu gestalten. So konnte er weder dem Vaterland und dem für die Freiheit kämpfenden Volk noch Bettina die warme thätige Liebe gewähren, die sie von ihm, dem großen Dichter, forderten. Bettina mit ihrem Herzen fand sich darein; ein Börne, der sich in diesem Streite als Anwalt des Volkes und von dessen Ansprüchen auf Goethe's Liebe fühlte, beharrte bei seiner Forderung. Und aus Bettina's Buch, das die Liebe zu Goethe geschaffen, gewann sein Haß die Waffen für den schärfsten Gang in seinem Kampf gegen die Eigensucht des Ministerpoeten von Weimar. Seine Kritik des »Briefwechsels mit einem Kind«, die zuerst in Menzels Literatur-Blatt (Jahrgang 1835, Nr. 127, 28) erschien, ist berühmt, weil sie die letzte und schärfste Abrechnung des deutschen Liberalismus der Restaurationszeit mit Goethe darstellt. Er suchte alle Stellen aus den naiv-offenen Herzensbekenntnissen Bettina's, die für Goethe's Selbstsucht, »Sachdenklichkeit«, Bequemlichkeit charakteristisch waren, zusammen, er stellte Bettina's überquellende Hingebung und Goethe's vorsichtiges Genießen derselben in Gegensatz zu einander. »Bettina« – sagte er am Schluß – »ist ein reichbegabtes, gottgesegnetes Kind, das wir lieben und verehren müssen. Sie ist die glückliche Gespielin der Blumen, Vertraute der Nachtigall; sie verstand die Sprache der Stille, der Goethe taub war, und wußte das Mienenspiel der stummen Natur zu deuten … Aber,« fährt er fort, »wenn jede Liebe blind ist, blinder hat sie sich noch nie gezeigt als bei Bettina. Ihr Buch, bekannt gemacht zur Verherrlichung Goethe's, hat seine Blöße gezeigt, hat seine geheimsten Gebrechen aufgedeckt.«

Ganz anders war die Wirkung des Buches auf die jüngere Schriftstellergeneration, die, zwar auch den patriotischen und demokratischen Idealen hingegeben und um derentwillen gegen den »Alten von Weimar« voreingenommen, sich dem Zauber seiner Jugendpoesie nicht entziehen konnte, wie sie von Bettina's Liebe, Bettina's Buche widergespiegelt ward. Nicht umsonst standen sie selbst noch in der Blüthe des Lebens. Nicht umsonst waren ihre erregten Geister den Problemen der Liebe zugewandt. Hatte Wienbarg schon in seinen »ästhetischen Feldzügen« volles Verständniß für den Dichter erwiesen, »der mit Sophokles und Shakespeare aus einem Becher Unsterblichkeit trank«, hatten er und Laube schon vorher gegen Menzel und Börne und im Einklang mit Heine und Immermann, dem ritterlichen Vertheidiger Goethe's gegen Pustkuchen, den Beweis geführt, daß das Fehlen eines großen national-politischen Zuges in Goethe's Dichtung aus den Verhältnissen sich ergab, in denen dieser erwachsen, so lenkte nun auch Gutzkow ein zu einer gerechteren Beurtheilung des Goethe'schen Werdens und Wesens. Er, ebenso Laube und Mundt, rühmten Bettina's Buch, ihre Begeisterungs- und Liebefähigkeit, die Schönheit und den Schwung ihrer Gedanken, ohne mit Goethe zu rechten; sie erfaßten ihre Liebe zu Goethe in ihrem Kern: als Wirkung seiner Poesie. Das Bild dieser Liebe, wie es ihre Briefe boten, wirkte aber auch mächtig auf der jungen Geister Stellungnahme zu der von Saint-Simon angeregten, durch Heine nach Deutschland verpflanzten Bewegung zu Gunsten der Emanzipation der Liebe von Zwang und Fessel. Die Anregungen, welche in dieser Beziehung von George Sand ausgegangen waren und in Folge des äußerlichen Zurschautragens ihrer Emanzipationsideen verwirrend gewirkt hatten, klärte die deutsche Frau. Bettina lehrte nicht nur die jungen Dichter von Frauenliebe höher denken, sie adelte ihre Begriffe von Freiheit im Lieben. Sie erinnerte sie, daß das Poetische stets am Persönlichen haftet, daß Liebe von Herz zu Herzen sich nicht nach allgemein gültigen Gesetzen, wären sie noch so frei, regeln und regieren läßt. Der Aristokratie der klassischen Literatur ihrer Abstammung nach angehörend, offenbarte sich Bettina als Wortführerin der Ideale der literarischen Demokratie und entfaltete dabei eine echt poetische naive Unbefangenheit, die gerade den reflektierenden Köpfen der jungen Männer fehlte. »Und in unsere Literatur wehte diese Bettina-Kühnheit gar sehr mit Frische«, mit diesem Geständniß schließt Heinrich Laube seine Besprechung ihres Briefwechsels mit Goethe.

Weniger günstig hat sich lange Zeit dem Buche die exakte Goetheforschung gezeigt. Es war bei einem Werke, das einen thatsächlichen Briefwechsel durch Zusätze zu einem dichterischen Ganzen ausgeweitet vorführte, gelehrten Forschern nicht schwer, die Unechtheit solcher Zusätze zu beweisen. Meusebach und andere thaten sich auf solche Nachweisungen wunders viel zu gute; sie schmähten dann das Buch, das sie vorher als »würdig Pergamen« gepriesen; für seine innere Echtheit hatten sie kein Verständniß. Erst in neuester Zeit haben Loeper, Herm. Grimm, Erich Schmidt und Suphan, die zu den Quellen steigen durften, Genaueres über den Grad auch der materiellen Echtheit erbracht. Wir wissen jetzt, daß Goethe viele Angaben über seine Kinderzeit in »Wahrheit und Dichtung« aus Bettina's Briefen geschöpft, daß er sogar vorhatte, diejenigen Briefe, die ihm von seiner Mutter erzählten, ähnlich frei zu bearbeiten, wie Bettina es nach seinem Tode gethan. Wir wissen, daß die Zurücksendung der echten Briefe aus dem Nachlaß Goethe's durch den Kanzler Müller an Bettina diese zu der poetischen Verarbeitung der Dokumente veranlaßt hat und daß Goethe ihr als Mädchen in der That mindestens zwei der Gedichte handschriftlich zugesandt hat, die sich in dem Sonettenkranz an Minna Herzlieb befinden. »Wie sehr die Dinge, die Bettina schildert, dem Thatsächlichen entsprechen, tritt neuerdings immer mehr zu Tage,« schrieb erst kürzlich der Schwiegersohn derselben, Herman Grimm, in der ›Deutschen Rundschau‹; »jetzt erst sehen wir deutlich, wie ›das Kind‹ allerdings oft umgedichtet, oft hinzugedichtet, oft aber Goethe's Briefe zu unverändertem Abdruck gebracht hat,« bestätigte Erich Schmidt nach dem Erscheinen der Loeper'schen Ausgabe der »Briefe Goethe's an Sophie von La Roche und Bettina Brentano«.

Noch weniger ist die Nachwelt bisher den späteren Schriften gerecht geworden, die Frau von Arnim in ihrem Alter herausgegeben und die sämmtlich ihren reichen Lebenserinnerungen ein Denkmal und ihren freien Ansichten und kühnen Gedanken originell geformte Gefäße sind. Und doch ist in ihren patriotischen, im Ausdruck leider oft zu sibyllinischen Prophetieen »Dies Buch gehört dem König« zuerst an das moderne Königthum die Forderung gestellt worden, die dringend nöthige Sozialreform selbst in die Hand zu nehmen, so daß uns Heutigen Bettina als die Sibylle der Sozialpolitik des Reiches erscheinen muß. Enthusiastisch wie einst ihre Liebe zu Goethe, offenbarte sie in diesen politischen Bekenntnissen ihre thatenfrohe und gedankenkühne Liebe zur Menschheit. Als sie am 20. Januar 1850 in Berlin, wohin sie mit Arnim bald nach ihrer Verheirathung 1811 gezogen war, umgeben von Kindern und Enkeln, gestorben war, würdigte der Nekrolog der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« ihr Wesen, indem er ihren Ausspruch »Meine große Anlage ist Lieben« zum Motto der Betrachtung erhob. Es heißt darin treffend: »Der ›Briefwechsel Goethe's mit einem Kinde‹ und die anderen Bücher, die dem Gedächtniß glücklicher Jugendtage gewidmet sind: ›Die Günderode‹ (1840) und ›Clemens Brentano's Frühlingskranz‹ (1843), bewegen sich mit ihrem naturfrohen Uebermuth in einer Sphäre voll sonniger Heiterkeit, die uns nicht ahnen läßt, mit welcher Opferbereitschaft und dienenden Selbstentäußerung einer barmherzigen Schwester das Kind dieser wunderreichen Phantasieheimath die dunklen Stätten des Elends aufsuchen, die Noth der Armen und Kranken, die Trübsal der Verlassenen und Gedemüthigten zum Gegenstand seiner ersten und heiligsten Sorge machen konnte.« In ihren späteren Spekulationen über eine zu stiftende Weltreligion, »bei der es der Menschheit wieder wohl wird«, begegnete sie sich nicht nur mit Wienbarg in der Forderung der schönen That als höchstem Sittengesetz, ihr Leben selbst erschien als eine Erfüllung dieser Forderung, die ihrem idealen Kultus der »freien Persönlichkeit« entstammte. Für alle politisch Verfolgten oder Unterdrückten trat sie ein in ihren Schriften; in dem Kampf für die bürgerliche Gleichstellung der Juden ergriff sie wiederholt beherzten Muthes und im Geist werkthätiger Menschenliebe das Wort; wesentlich auf ihre Veranlassung geschah die Berufung der Brüder Grimm an die Berliner Universität, nachdem sie der Verfassungsbruch des Königs von Hannover und der Protest der »Göttinger Sieben«, denen auch sie zuzählten, aus Göttingen vertrieben hatte; für die Märtyrer der deutschen Volkserhebung, wie Gottfried Kinkel, war sie ein beredter Fürsprech am Throne Friedrich Wilhelm's IV. So war sie nicht nur eine gewaltige Verkündigerin der Liebe, sondern ebenso groß in deren Bethätigung. Und man kann sich in ihr Wesen nicht versenken, ohne vom Geist solcher Liebe ergriffen, diese ihr selbst zuzuwenden.

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Ein ganz anderes Verhältniß zu Goethe's Dichtung und Persönlichkeit als Bettina's Briefwechsel hatte kurz vor dessen Erscheinen die Briefsammlung enthüllt, welche August Varnhagen von Ense zum Gedächtniß seiner am 7. März 1833 verstorbenen Frau zuerst im Herbst 1833 in einer Ausgabe für Freunde, dann Anfang 1834 in größerer Auswahl unter dem Titel » Rahel« der Oeffentlichkeit übergeben. Bettina Brentano hatte in jenen fünf Jugendjahren (1806-11), während deren die Leidenschaft für Goethe ihr ganzes Sein erfüllte, den Dichter geliebt und gepriesen, vergöttert und verketzert ausschließlich in seiner Wirkung auf sie, auf ihr schönheitstrunkenes, genial-naives Ich, das für seine Liebe von ihm auch Gegenliebe verlangte; die Briefe Rahels, beinahe ein Halbjahrhundert (1787-1833) umfassend, Zeugnisse eines Verkehrs mit hundert bedeutenden Zeitgenossen jeden Standes, jeder Richtung, eines leidenschaftlichen Miterlebens aller bedeutenden Ereignisse der Zeitgeschichte, wiesen dagegen auf Goethe hin als den freundlich ausgleichenden, beruhigenden und versöhnenden Vermittler zwischen ihrem eigenen Denken und Fühlen und den Kämpfen und Stürmen der Zeit, als »nie versagenden Berather« in ihrem Ringen nach Wahrheit und Klarheit den Räthseln und Fragen gegenüber, mit denen die Welt ihr den Geist und die Seele erregte. »Durch all mein Leben,« schrieb sie nach Erscheinen des »Faust« 1808, »begleitete der Dichter mich unfehlbar, und kräftig und gesund brachte der mir zusammen, was ich, Unglück und Glück zersplitterten und ich nicht sichtlich zusammenzuhalten vermochte. Mit seinem Reichthum machte ich Kompagnie, er war ewig mein einziger gewissester Freund, mein Bürge, daß ich mich nicht unter weichenden Gespenstern ängstige; mein superiorer Meister, mein rührendster Freund, von dem ich wußte, welche Höllen er kannte! – kurz, mit ihm bin ich erwachsen, und nach tausend Trennungen fand ich ihn immer wieder, er war mir unfehlbar; und ich, da ich kein Dichter bin, werde es nie aussprechen, was er mir war!« Diese Wohlthaten, die ihr Goethe's Weisheit und Dichtung gespendet, auch anderen fruchtbar zu machen, war ihr im Laufe eines einzig reichen Lebens zu einem beseligenden Berufe, und sie selbst darüber ohne systematisches Wirken zur Stifterin einer stillen Gemeinde geworden, deren Glieder, über die ganze gebildete Welt verstreut, sich einig wußten in der freudigen Geisteshingabe an Goethe.

»Schon sehr frühe,« so schildert dies Verhältniß Varnhagen, der als begeisterungsfrischer Student in Berlin gerade auf Grund seiner eigenen Goetheverehrung jene Freundschaft der schon gefeierten Hohepriesterin des Goethe'schen Genius gewonnen hatte, die später zur Ehe erstarkte, »weit früher als irgend eine literarische Meinung derart sich gebildet hatte, war Rahel von Goethe's Außerordentlichkeit getroffen, von der Macht seines Genius eingenommen und bezaubert worden, hatte ihn als ihren Gewährsmann und Bestätiger in allen Einsichten und Urtheilen des Lebens enthusiastisch angepriesen. Jetzt erscheint das sehr leicht und natürlich, und niemand will Goethe's hohes Hervorragen verneinen, allein damals, wo der künftige Heros noch in der Menge der Schriftsteller mitging, und an Rang und Ruhm ganz andere weit voran standen, wo die Nation über den Gehalt und sogar über die Form der geistigen Erzeugnisse noch sehr im Trüben urtheilte und meist an kleinlichen Nebensachen und äußerlichen Uebereinkommnissen hing, damals war es kein Geringes, mit gesundem Sinn und Herzen aus dem Gewirr von Täuschungen und Ueberschätzungen sogleich das Echte und Wahre herauszufühlen und mit freiem Muthe zu bekennen. Die Liebe und Verehrung für Goethe war durch Rahel im Kreise ihrer Freunde längst zu einer Art von Kultus gediehen, nach allen Seiten hatte sein leuchtendes, kräftigendes Wort eingeschlagen, sein Name war zur höchsten Beglaubigung geweiht, ehe die beiden Schlegel und ihre Anhänger, schon berührt und ergriffen von jenem Kultus, diese Richtung in der Literatur festzustellen unternahmen. Gedenkenswerth erscheint es, daß Rahel ihrerseits dabei mit völligem Selbstvergessen verfuhr. Sie hatte Goethe im Karlsbade persönlich kennen gelernt und er mit Aufmerksamkeit und Antheil ihres Umgangs gepflogen, wie auch noch späterhin desselben mit Hochschätzung gedacht, ohne daß sie im geringsten eine Verbindung festgehalten, einen Briefwechsel veranlaßt hätte, im Gegentheil, sie erwähnte wenig der Person, desto beeiferter aber des Genius, und nicht die zufällige Bekanntschaft, sondern die wesentliche, die das Lesen seiner Schriften gab, genoß und zeigte sie mit Stolz und Freude.«

Diese Verdienste um Goethe können aber keineswegs in seiner Allgemeinheit das ungemeine Interesse erklären, das die Briefe der Frau in der literarischen Welt sofort allenthalben erregten, als sie 1834 in drei starken Bänden erschienen. Der eigenthümliche Zusammenhang ihrer Goetheverehrung mit einer Fülle origineller Geistesäußerungen von freiheitlicher revolutionärer Art erklärt erst diese Wirkung auf die jungen Geister der Zeit. Rahel war, als sie starb, ohne je ein Buch geschrieben zu haben, eine literarische Berühmtheit, und zwar weniger um ihrer Propaganda für Goethe und ihrer geistvollen Urtheile über ihn willen, von denen ihres Mannes Buch »Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden« auch gedruckte Proben enthielt, denn als Wortführerin der gährenden Fortschrittsideen, welche das jüngere Geschlecht deutscher Schriftsteller, ob diese nun Heine oder Börne als Führer verehrten, so mächtig erregten. Wichtiger als ihre Beziehungen zu Goethe erschien ihnen, daß Heine in ihrem Salon zu Berlin den letzten Schliff seiner Bildung erhalten hatte, Heinrich Heine, der die »Heimkehr« im »Buch der Lieder« »Friederike Varnhagen« gewidmet hatte. Geflügelter als ihre Urtheile über Goethe's »Meister« und »Tasso« aus früherer Zeit, hatten sich ihre gelegentlichen Beifallsäußerungen über Börne, ihre leidenschaftlichen Verurtheilungen der geistigen und sittlichen Stagnation im öffentlichen Leben der Gegenwart, ihre kühnen Sibyllensprüche über die Reformbedürftigkeit der Ehe in diesen Kreisen erwiesen, noch ehe dieselben nach ihrem Tode in ihren Briefen zum Drucke gelangten. Und nun zeigte sich in den letzteren all dies frondirende kämpfende Denken und Fühlen aufs innigste verwachsen mit einer unerschütterlichen, auf eigenstem Erfassen beruhenden Begeisterung für Goethe. Dieselbe Unzufriedenheit mit der bestehenden Welt, die Börne zu einem so leidenschaftlichen Goethe-Hasser gemacht hatte, erwies sich als Grundlage ihrer Liebe für Goethe. Und während die einseitige Begeisterung Bettina's für Goethe's freiheitsfrische Jugendpoesie unwillkürlich die Anklagen unterstützte, die Börne und Menzel gegen den Dichter des »Wilhelm Meister« und des »Tasso« erhoben, weil er für die allgemeinen Interessen des Volkes und der Menschheit kein Herz mehr gehabt, wies Rahel nach, daß auch die späteren Werke des Dichters aus einem tiefen Gefühl der allgemeinen Zustände beruhten, über deren Reformbedürftigkeit sie sich so scharf aus tiefbewegter Seele äußern konnte. Hatte Bettina mit Goethe gehadert, daß er die liebreichsten Heldinnen seiner Dramen und Romane, statt sie zu Sieg und Triumph zu geleiten, vom Schicksal hatte grausam hinopfern lassen, so sah Rahel gerade hierin eine Offenbarung seines großen Dichterblicks in die wirkliche Welt, denn die allgemeinen Zustände der Zeit seien derart, daß sie ein gesundes Wachsthum starker Liebe in den meisten Fällen niederhalten und ersticken müßten. Vom »Wilhelm Meister« sagt sie wiederholt: »Das ganze Buch ist für mich nur ein Gewächs, um den Kern als Text herumgewachsen, der im Buche selbst vorkommt und so lautet: ›O wie sonderbar ist es, daß dem Menschen nicht allein so manches Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt ist!‹ Mit einem Zauberschlage hat Goethe durch dies Buch die ganze Prosa unseres infamen, kleinen Lebens festgehalten … Daran hielten wir, als er uns schilderte; und an Theater mußte er, an Kunst und auch an Schwindelei den Bürger verweisen, der sein Elend fühlte, und sich nicht wie Werther tödten wollte.« Durch die tragische Poesie, mit der er den Untergang edler Persönlichkeiten im Kampf gegen die Uebermacht der Verhältnisse verklärt, hebe er sich und uns über das eigene Elend hinaus. – Nicht von Eingebungen subjektiven Empfindens bestimmt, sondern von einer verstandesklaren Einsicht in die organische Entwickelung Goethe's und die elementaren Ursprungsgesetze der poetischen Kunst geleitet, wurde sie, wie damals keiner, dem Verhältnisse des Dichters zu seiner Zeit gerecht. Und gerecht werden – den Menschen und Dingen, das war ihre Leidenschaft, das war ihre Kunst! »Zu fühlen, was jedem fehlt,« bezeichnet sie selbst als ihr eigenthümlichstes Talent; so fühlte sie, wie ein eigenes Leid, was jener vaterlandslosen Zeit gefehlt hatte, in der Goethe zum Dichter reifte, fühlte sie alle Krankheiten der Zeitperioden, die sie selber durchlebte. Und darum konnte sie gleich glühend nebeneinander lieben: die Freiheit und Goethe.

Sie hatte viel eigenes Leid zu verwinden gehabt, bis ihre Seele ganz im Miterleben fremden Leids aufging. Die Frau, die in der Zeit von 1819-33, wie Rudolf Gottschall in seiner »Deutschen Nat.–Literatur des 19. Jahrhunderts« sagt – »die ausgesuchtesten Kreise der Berliner Gesellschaft gleich einer Pythia regiert hat« und der im blühenden Jugendalter neben vielen anderen glänzenden Persönlichkeiten Prinz Louis Ferdinand von Preußen eine begeisterte Freundschaft voll berauschender Huldigung gewidmet hatte, war durch frühe Körper- und Seelenleiden zu ihrer vielbewunderten Geistesschärfe hindurchgedrungen. Daher stammte auch die außerordentliche Empfindlichkeit ihrer Mimosennatur, ihre Empfänglichkeit für jeden Reiz physischer und psychischer Art. »Mehr gedemüthigt als ich wird man nicht,« schrieb sie auf der Höhe ihres Lebens, nachdem ihre Seele das Gleichgewicht gefunden, zum Trost an eine Freundin, »größeres Unglück in allem, woraus man den größten und kleinsten Werth setzt, … eine gepeinigtere Jugend bis zu achtzehn Jahren erlebt man nicht, kränker war man nicht, dem Wahnwitz näher auch nicht, und geliebt habe ich. Wann aber sprach die Welt mich nicht an, wann fand mich nicht alles Menschliche, wann nicht menschliches Interesse: Leid und Kunst und Scherz! … Ein gebildeter Mensch ist nicht der, den die Natur verschwenderisch behandelt hat; ein gebildeter Mensch ist der, der die Gaben, die er hat, gütig, weise und richtig und auf die höchste Weise gebraucht; der dies mit Ernst will, der mit festen Augen hinsehen kann, wo es ihm fehlt, und einzusehen vermag, was ihm fehlt. Dies ist in meinem Sinne Pflicht und keine Gabe. Darum wende ich Sie endlich mit Ihren Augen auf das zu sehen, was Sie eigentlich verabsäumen. Dies ist, sich mehr zum Allgemeinen zu erheben, daß nicht Allgemeines Sie immer auf Einzelnes führe.« So sprach Rahel einer Dame von Welt zu, die sich in Liebeskummer an sie um Trost gewendet hatte, sie verweisend auf die Schule des Unglücks, die sie selbst durchlaufen. Ihr schweres Jugendleid führte sie aber darauf zurück, daß sie als Jüdin mit einem liebeverlangenden Herzen in eine Welt sie zurückweisender Vorurtheile geboren worden sei. Jedes Uebel, jedes Unheil, jeden Verdruß könne sie daher leiten. Uns aber lehrt der Eindruck ihres abgeschlossenen Lebenslaufs, daß auch auf diesem Umstand gerade ihre sittliche Größe und ihre historische Bedeutung beruhte. Weil sie die furchtbare Macht des einen Vorurtheils mit ihrer feinfühligen Seele durchempfunden, darum war ihr Gefühl für jede Art anderen Unrechts ein so elementarer, ihr Trieb, dagegen anzukämpfen, ein so mächtiger.

Rahel Levin, die nach ihrer in reiferem Alter erfolgten Taufe den Namen Friederike Robert annahm, ihren Freunden aber immer die alte »Rahel« blieb, wurde im Juni 1771 in Berlin als Tochter eines reichen Geschäftsmannes geboren. Die Lage des Markus Levin'schen Hauses in der Jägerstraße, der Seehandlung gegenüber, sowie alle Erwähnungen seiner Geschäftsbeziehungen lassen den Vater als einen der hervorragendsten Bankiers der preußischen Hauptstadt erscheinen in jener dem Zeitalter Friedrichs des Großen folgenden Periode üppigen Lebensgenusses, in welcher bei Hofe Emigranten aus Frankreich, Verbannte der Revolution, den Ton angaben. Und zunächst muß wohl diese geschäftliche Bedeutung des Hauses zum Anlaß geworden sein, daß bereits in den Jahren, da Rahel den Kinderschuhen entwuchs, seine Salons eine Reihe der angesehensten Persönlichkeiten der Berliner Gesellschaft zu empfangen pflegten. Es waren meist Vertreter der jüngeren Aristokratie, Offiziere und Diplomaten von schöngeistigen Neigungen, glänzende, leichtsinnige, verschwenderische Genußmenschen, die ihren Umgangston nach dem Muster einiger geistreicher Emigranten, wie Graf Alexander Tilly und P. von Gualtieri stimmten, vom Standpunkte des »Esprits« für und gegen die Ideen der Revolution, Voltaire, Rousseau, Mirabeau &c. diskutirten, während der junge Friedrich Gentz, damals noch Regierungssekretär im preußischen Staatsdienst, aber schon beachtet wegen seiner publizistischen Bekämpfung der in Frankreich herrschenden Doktrinen und als Uebersetzer Burke's in diesen Kreisen geschätzt, sowie der schwedische Gesandtschaftssekretär Gustav von Brinkmann, der als Dichter dem Chamisso'schen Nordsternbund angehörte, das deutsche Geisteselement vertraten. Unter diesen Meistern der modischen, nach Pariser Mustern geübten Schönredekunst übte sich der behende graziöse Geist der jugendlichen Haustochter, die aus Rücksicht auf die kränkelnde Mutter früh die Pflichten der Repräsentation zu übernehmen hatte, in der Kunst »espritvoller« Unterhaltung. Mehr noch als am Klavier, das sie gleichfalls mit frühreifer Fertigkeit beherrschte, verblüffte das in geistiger Vereinsamung unter Büchern aufgewachsene Mädchen die verwöhnten Gäste in ihrer Plauderecke durch das virtuose Spiel ihres frühentwickelten behenden Geistes und die galanten Kavaliere, die ursprünglich doch wohl nur in Rücksicht auf die Kreditkonti des Vaters sein Haus betraten, besuchten es bald, angezogen von der dunkeläugigen niedlichen Tochter, um sich unter dem erfrischenden Sprühregen ihres Witzes von der Langweiligkeit ihrer standesgemäßen Geselligkeit zu erholen. Natürlich fehlte es diesem ersten Berliner »Salon« auch nicht an Zierden aus den Kreisen der Kunst und Wissenschaft, der Musik, des Theaters. Wilh. von Humboldt verkehrte in ihm mit seiner Frau, ebenso Fouqué mit der seinen, Sabine Heinefetter vertrat die Bühnenwelt, der ältere Genelli übte hier seinen sarkastischen Witz, Damen von Welt suchten auf diesem Parkett abenteuerliche Beziehungen, exzentrische Unterhaltung.

Natürlich wurde auch der altklugen kleinen Rahel mit dem neugierigen Kinderherzen in der stürmischen, verführerischen Weise jener Kavaliere der Hof gemacht. Sie war nach verschüchterter Kindheit in dem erfrischenden Strom dieser freien Geselligkeit, deren Schattenseiten sie noch nicht erkannt, zur Freude und Lust erblüht: Musik, Theater, Tanz, Gartenfeste, Scherz, Witz, Konversation und gute Lektüre gaben den Sonnenschein für dies schnelle Erblühen. Doch ihr allzu gläubiges junges Herz wurde bald das Opfer schwerer, von ihr nie ganz verwundener Enttäuschungen und Beleidigungen; denn als »Beleidigung« empfand sie bis ans Ende ihrer Tage die Erfahrung, daß einer dieser blonden hochgewachsenen märkischen Ritter – Graf Finkenstein – die Liebe, die sie in ihm als Mädchen geweckt und genährt, schließlich mit Füßen trat, weil dieses Mädchen eine Jüdin war. Varnhagen hat von den nie veröffentlichten Briefen und Tagebüchern, in denen sie dies tragische Erleben mit lodernder Empfindung ausströmte, gesagt: »So mögen die Briefe an Frau von Houdetot gewesen sein, deren Rousseau selbst als unvergleichbar mit allen andern erwähnt.« Sie selbst hat später ihr damaliges Geschick mit der Liebe Tasso's zur unerreichbaren Fürstin verglichen und von ihrem ältesten Bruder gesagt, er wäre ihr weltklug harter »Antonio« gewesen. Mit einem leidenschaftlichen Spanier, dem Granden Don Rafael d'Urquijo, erlebte sie Aehnliches. Sie aber wurde über diesen Seelenkämpfen nicht wie Goethe's Tasso wahnsinnig, sondern gewann gerade durch sie jene Verstandesklarheit, die man an ihr später so viel bewundert hat.

Wie Schuppen war es ihr von den Augen gefallen. Mit dem einen Mißverhältniß, in dem sie sich plötzlich zu der Gesellschaft sah, in der sie harmlos-glücklich aufgewachsen, hatte sie auch das andere begriffen, in welchem überhaupt die Wahrheit zur Wirklichkeit, das sittlich Gute zum herkömmlich Gebilligten steht. Aus der Krankheit, in die sie gefallen war, erstand sie voll mächtiger Sehnsucht, daß die ganze Menschheit von all ihren Krankheiten genesen möge. Die Liebe hatte sie verachtet und verhöhnt, die Gerechtigkeit verspottet, Lüge und Verrath triumphiren gesehen. Von nun an wurde ihr Leben ein Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit, für das Recht der Menschen auf Liebe, der Mädchen und Frauen auf Schutz vor brutaler Willkür der Männer; die Spiele des Witzes, ihren »Esprit«, gebrauchte sie nur noch als Waffen in diesem Kampfe und ein deutscher Geist, dessen Schriften ihr früh in die Hände gerathen, wurde darin ihr Lehrmeister: Gotthold Ephraim Lessing. In ihrem Streben nach Wahrheit zeigte sie sich als eine ihm kongeniale Natur. »Wahrheit heraus!« wurde fortan zur Losung ihres regen geistigen Lebens. Aber dies that dem Ruf ihres Geistes und ihrer Unterhaltungsgabe durchaus keinen Abbruch. Auch jetzt wirkte die Art ihres Urtheilens anziehend und verblüffend auf die Männer von Geist. »Hier fand man das Wunder anzustaunen,« sagt Varnhagen in Erinnerung an diese zweite Aera des Rahel'schen Salons, die er selber noch als Student kennen lernte, in seinen »Denkwürdigkeiten«, »daß Rahel in gleichem Maße, als andere sich zu verstellen suchen, ihr wahres Innere zu enthüllen strebte.« Und da vorurtheilslose, verständnißvolle Aufrichtigkeit Unglücklichen immer wohl thut, so gaben ihre eigenen Herzenserfahrungen und ihr elementarer Hang zur Theilnahme an fremdem Leid ihrem Verhältniß zur Berliner Gesellschaft eine neue eigenthümliche Grundlage. In zahlreichen Liebesromanen, die sich in der Welt der schöngeistigen Aristokratie, der Kunst und der Literatur in ihrer Umgebung abspielten, wurde sie die Vertraute für die Sorgen und Leiden der andern. Zu ihren Freundinnen gehörte jene Dorothea Veit, die sich von ihrem Manne scheiden ließ, um dem damals in Berlin lebenden Schwarmgeist Friedrich Schlegel zu folgen, welchem sie dann zum Modell seiner »Lucinde« wurde, gehörte ferner die schöne Hofräthin Henriette Herz, die zwar des jungen Börne heiße Liebe kühl ablehnte, aber mit Friedrich Schleiermacher jenen platonischen Seelenbund einging, aus dessen Stimmungswelt heraus dieser seine Vertheidigungsbriefe über die »Lucinde« geschrieben. Das Schicksal einer Charlotte von Kalb, Karoline Michaelis, Therese Huber, Jean Paul's platonische Neigungen und Liebesspekulationen, wurden ihr vertraut und sie stand klaren Kopfes und dabei theilnehmenden Herzens inmitten jenes romantischen Lebenskreises, von welchem uns der von G. Waitz herausgegebene Briefwechsel »Karoline« neuerdings so eingehende Kunde gegeben. Auch die im Jahre 1800 vom musikliebenden, genialisch-wilden Hohenzollern-Prinzen Louis Ferdinand mit Rahel geknüpfte Freundschaft wies ihr die schwere Aufgabe einer geduldigen Beichtigerin in Irrungen und Wirrungen zweier leidenschaftlicher Herzen zu. Nach seinem Bruche mit Pauline Wiesel hatte sie diese zu trösten. Aber sie selbst widerstand mit sittlicher Kraft aller Verlockung, sich in einem va banque-Spiel der Leidenschaft zu trösten, sie lehnte das Projekt einer Heirath mit Schelling ab, weil ihr die rechte Liebe für ihn fehle, aus welcher Ursache auch die von den Ihrigen gewünschte Ehe mit dem Hamburger Bokelmann nicht zu Stande kam. Und, wie kühn sie auch von den Rechten der Frau auf Emanzipation von der herrschenden unwürdigen Bevormundung durch das Herkommen dachte, wie unermüdlich sie die geistige Ebenbürtigkeit des Weibes neben dem Manne verfocht, so scharf sie gegen die Ungerechtigkeit anging, welche den Mädchenverführer duldet und sein Opfer verurtheilt, so fern blieb sie in Denken, Reden und Thun jeder Frivolität. Wie sie jenes Vertrautenamt übte, zeigte bereits ein Beispiel. Goethe war ihr gerade auch hierin ein zuverlässiger Helfer. Ihn empfahl sie immer aufs neue als den »besten Vermittler in Erinnerung großer Drangsale«. Als goldene Lehre wiederholt sie den Satz aus »Wilhelm Meister«: »Die Jugend, die so reich an eingehüllten Kräften ist, weiß nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein Verlust erregt, noch so viel erzwungene Leiden zugesellt, als wollte sie dem Verlorenen dadurch noch erst einen vollen Werth geben.« »Glück läßt sich nicht erweinen,« ist einer ihrer Trostsprüche, aus denen sich eine ganze Sammlung für verrathener Herzen Trösteinsamkeit zusammenstellen ließe. »Verwinseln Sie Ihre Jahre nicht,« räth sie einer trostbedürftigen Frauenseele. Ihr Geist ist immer rege, den Kompensationen des Unglücks auf die Spur zu kommen. Auf dem Krankenlager preist sie die Muße, die ihr wird zur Einkehr in sich selbst: »sie wird mir einen Ruck geben zum Bessern, zur Entwickelung.« Ihre Trostesphilosophie gründet sich auf die Erkenntniß der Endlichkeit alles Einzelseins, darum auch jeder Empfindung, und gipfelt in der Betrachtung: »Menschen und ihr Glück sind Bestandtheile des großen Alls, warum sollten sie nach der größten Zerrüttung und Trennung sich nicht zu einem glücklich Organischen auch wieder zusammenfinden zu neuen weiteren Beziehungen.« »Es giebt kein Schicksal,« sagt sie ein andermal. »Es giebt ein Universum, in dem entwickeln wir uns; die Entwickelung ist unser Schicksal.« »Auch das Jetzt ist ein Theil der Ewigkeit.« Jeder Moment hat eine Zukunft, jeder Zustand birgt die Bedingung neuer Zustände. Arbeit, sittliches Wollen rühmt sie als die sichersten Befreier vom Leid. »Das einzige was der Mensch aus sich von den Mitteln zur Macht erreichen kann ist Wissen, und Wissen, d. h. die Erwerbung und Erweiterung von Wissen ist auch eine Quelle des Glücks, die Niemand rauben kann.« In ihrem Philosophiren über Freiheit und Willen folgt sie meist Spinoza. In ihrem Eifer, aus Haß gegen die Lüge der Wahrheit auf den Grund zu kommen, gleicht sie Lessing. Den mächtigsten Einfluß auf ihr philosophisches Denken rühmte sie aber von allen Philosophen dankbaren Herzens dem einen Manne nach, dem sie neben Goethe überhaupt die größte Verehrung gezollt hat, dem Philosophen Joh. Gottl. Fichte.

Und durch Fichte's Einfluß, der im Winter von 1807-1808 in Berlin durch seine im Jahre darauf gedruckten »Reden an die deutsche Nation« weithin wirkte als Erwecker des deutschen Geistes zum Kampf gegen die Napoleonische Herrschaft, erlebte auch ihr Seelenleben einen weiteren befreienden Aufschwung. Auch sie, die inzwischen viel gereist und wiederholt in Paris und in den böhmischen Bädern geweilt, was sie von manchem Vorurtheil gegen die Vorzüge der Heimath abgebracht hatte, war eine Zuhörerin der Fichte'schen Reden. Und wie Fichte selbst von dem idealistischen Kosmopolitismus seiner Weltbetrachtung unter dem Druck des vaterländischen Elends zum Bewußtsein gelangt war, daß der praktischen Humanität Voraussetzung eine thatenfreudige Vaterlandsliebe sei, so ging es auch ihr – der Jüdin. Hatte schon ihr Verkehr mit dem heißblütigen Napoleonhasser, dem 1806 bei Saalfeld gefallenen »Prinzen Louis« dahin wirken müssen, so brachte die glühende Beredsamkeit Fichte's es ihr zu beglückendem Bewußtsein, daß sie auch als Jüdin eine Deutsche sei. Gefördert wurde sie darin durch den gerade jetzt sich intimer gestaltenden Verkehr mit den Humboldts, mit Schleiermacher, Steffens und Fouqué. Aus dem schöngeistig und patriotisch angeregten Umgangskreis ihres jüngeren Bruders Ludwig Robert, dessen Drama »Die Macht der Verhältnisse« ein erfolgreicher Versuch war, sozialethische Gegensätze des modernen Lebens dramatisch zu gestalten, führte ihr das Schicksal gleichfühlende jugendfrische Freunde zu, die ihre Hingebung an Goethe, ihre Begeisterung für Wahrheit und Schönheit in Kunst und Leben mit einer todesmuthigen Vaterlandsliebe vereinigten. Alexander von der Marwitz, Wilhelm von Burgsdorf sind zwei dieser Intimen, die beide den Heldentod im Befreiungskriege fanden. Ein dritter war der junge Westphale Varnhagen von Ense, mit dem sie sich verlobte, ehe er als Freiwilliger, von ihrem Segen geleitet, ins Feld zog. »O, ich habe nie gewußt,« schrieb sie im Dezember 1808, als wieder preußische Truppen in Berlin einrückten, »daß ich mein Land so liebe! … Ja, ich bin von meinem Lande genährt und erzogen; und ich denke, ich bin doch modifizirt über alles wie die Besten darin; dies wäre mir in jedem Lande geschehen: aber ich habe ja in meinem gelebt; sehen und denken und Antheil nehmen lernen: und wahrlich ein jeder ist hier geschützt und das fühle ich immer.« Mit überquellender Dankbarkeit gedenkt sie Friedrichs des Großen, durch dessen großherzige Toleranz den Ihrigen das Glück eines Vaterlandes geworden: »Nichts wär' ich, bei meiner Geburt, ohne ihn; er gab jeder Pflanze Raum in seinem sonnezugelassenen Lande. Und eine Ehre war's, sich daher zu nennen: und wirklicher Vortheil für Leib und Geist.« Von höchster Selbstlosigkeit zeugt das Geständniß: »Auch ohne Gegenliebe muß man sein Vaterland lieben … Könnt' ich doch nur nach meinem Tode mein Land glücklich sehen, das wäre Existenz genug.« Und wie bei ihr alles Empfinden zur That drängt, so bethätigt sie auch ihre Vaterlandsliebe, sobald sich Gelegenheit bietet, in schönster Weise. Der erste Aufruf zu einer Organisation der Frauenhülfe im Dienst der Verwundetenpflege wurde 1813 bei ihr in Berlin berathen, von ihr entworfen. Und als sie in demselben Jahre in Prag weilt, als die armen Verwundeten von den böhmischen Schlachtfeldern eintreffen, ergreift sie in ähnlicher Weise die Initiative, bringt durch ihre reichen Verwandten und Freunde bedeutende Sammlungen zu Stande, wird an die Spitze des sich nun bildenden Komitees gestellt, leitet persönlich die Pflege der Fieberkranken, und als sie selber krank wird, läßt sie vor ihrem Bett ein Bureau aufschlagen und arbeitet im Dienst werkthätiger Menschen- und Vaterlandsliebe weiter. Ueber der Freude an den Siegen kann sie denn auch nicht vergessen, »daß es weiches, schmerzfähiges Fleisch ist, in das man überall hiebt und schießt.« Auf diese Zeiten hochherziger Liebesthätigkeit zurückblickend, bezeichnete sie kurze Zeit vor ihrem Tod, als sie unter den Schrecken der Cholera in Berlin noch einmal ihr Samariterthum bewährte, dieselben als die schönsten ihres reichen Lebens. In solchen Momenten fühlte sich ihre Seele ganz versöhnt mit ihrem Geschick und gehoben von diesem Bewußtsein that sie den Ausspruch: »Jede menschliche Seele ist von Natur eine Christin.« Aus solcher Stimmung heraus ließ sie sich taufen.

Sehr wesentlich unterstützt in dieser humanitär-patriotischen Thätigkeit war Rahel gleich beim ersten Anlauf von dem Manne worden, der wie vorher sein Vater Moses Mendelssohn dem Berliner Lebenskreise, welchem Rahel entstammte, ein natürliches Oberhaupt war. Abraham Mendelssohn, der Sohn des ernsten Gelehrten, der seine Glaubensgenossen die Psalmen deutsch lesen gelehrt und dessen »Jerusalem« Kant und Herder als die Verkündigung der unausbleiblichen bürgerlichen Gleichstellung aller Konfessionen im Staate begrüßt hatten, zugleich der Vater des edlen Tondichters, der aus echt deutschem Gemüth dem deutschen Volksgesange volksthümlichste Weisen erschaffen, verkörperte für sie den Geist jener Aufklärungsperiode, die aus der Freundschaft zwischen Lessing und Moses Mendelssohn als schönste Frucht das Hohelied der Gleichberechtigung der Religionen, die werkthätige Liebe lehren, der deutschen Bildung dargebracht hatte. Und wie sich aus dieser reinen Geistesatmosphäre jener humane Patriotismus entwickelt hatte, welchen, von den Ihrigen unterstützt, in der Zeit vaterländischer Drangsal die Braut Varnhagens so hervorragend thatkräftig bewährt, daß die Anerkennung eine öffentliche und allgemeine war, so erwuchs ihr aus derselben nach dem Kriege eine nicht minder bedeutende Aufgabe. Das ihr und allen Deutschen aus der Aufklärungsarbeit der Lessing, Kant, Herder, Goethe, Schiller, Fichte überkommene Erbe an höchster sittlicher Weisheit, edler Geistesfreiheit und echter Herzensbildung, das Humanitätsideal, galt es zu vertheidigen gegen die Uebergriffe der nun unter der Flagge eines der Humanität sich entgegenstellenden Patriotismus schnell zur Macht anwachsenden Reaktion. Sie, die den patriotischen Manifesten ihrer Jugendfreunde Friedrich Gentz und Friedrich Schlegel gegen Napoleon zugejauchzt hatte, trat ihnen in Schrift und Wort muthvoll entgegen, als sie nach dem Wiener Frieden erkannte, wie die elendeste Furcht vor dem Fortschritt und einer freieren Gestaltung des Lebens dem diplomatischen Wirken diesen im Geist verweichlichten Trabanten Metternichs die Richtung gab. Sie ja fühlte sich ganz durchdrungen von der Gewißheit, daß große politische und soziale Reformen den Zwiespalt lösen müßten, in dem sich die Völker Europas mit ihren natürlichen Lebensbedürfnissen gegenüber dem Zwang der vorhandenen Zustände befanden. In diesem Sinne hat sie in ihrer letzten Lebensperiode, seit dem 27. September 1814 als glückliche Gattin Varnhagens, mit ihrem weitverzweigten Briefwechsel und in ihrem dritten Salon gewirkt, den sie sich 1819 nach der Rückkehr von Karlsruhe nach Berlin daselbst in der Mauerstraße, Ecke der Französischen Straße, einrichtete, nachdem sie nach mehrjähriger Abwesenheit, bedingt durch ihres Gatten diplomatische Thätigkeit in der badischen Hauptstadt und in Frankfurt a. M., wieder dauernd nach Berlin zurückgekehrt war.

Varnhagen von Ense, damals von seinem Gesandtschaftsposten in Karlsruhe wider seinen Willen abberufen und zur Disposition gestellt, weil man mit seiner Stellungnahme in dem bairisch-badischen Streit bezüglich der Pfalz sowie seiner ausgesprochenen Hinneigung zu den Staatsprinzipien des Konstitutionalismus in Berlin unzufrieden war, und nun als Privatmann seinen literarischen Neigungen lebend, hat in seiner »Gallerie von Bildnissen« und »Denkwürdigkeiten« diese Wirksamkeit seiner Frau vielfach wiedergespiegelt. Ihn hatten Bildungsgang und Schicksal, seine geistigen Bedürfnisse und verwandten Geschmacksneigungen frühe schon zum verständnißvollen Kameraden der bedeutenden, von ihm stets gleich bewunderten Frau gemacht. Am 21. Februar 1785, fünfzehn Jahre vor Heine Proelß' Angabe ist hier nicht präzise: Heine ist 1797 geboren. – Anm.d.Hrsg. und wie dieser in Düsseldorf, als Sohn eines Arztes, geboren, war er wesentlich jünger als Rahel, die er als Student in Berlin kennen gelernt und lange Zeit als hoch über sich stehend verehrt hatte, ehe er sich werbend ihr zu nähern wagte. Die gemeinsame Begeisterung für Goethe schlug die Brücke für ihre Intimität, die gemeinsam erlebte Wirkung der Fichte'schen Reden und des patriotischen Aufschwungs knüpfte das Band noch fester. Er war von Hamburg, wohin während seiner Knabenzeit der Vater gezogen war und wo jetzt seine Schwester Rosa Maria als Frau des Arztes Assing lebte, nach Berlin gekommen, um Medizin zu studiren, hatte dies aber bald aufgegeben zu Gunsten seiner Neigung für historische und philosophische Studien. Hier hatte er das Glück, in Chamisso, Theremin, Wilhelm Neumann, Fouqué, Bernhardi Freunde zu finden, mit denen er gemeinsam seine Interessen für Poesie und Literatur pflegen konnte. Noch als Student (1804-6) gab er mit Chamisso die ersten Bände des (deutschen) »Musen-Almanachs« heraus, während er mit Wilh. Neumann und Bernhardi, dem Schwager Tiecks, unter dem Einfluß von Goethe's »Meister« einen Roman »Die Versuche und Hindernisse Karls« schrieb, ein Spiegelbild der Zeit und ihres eignen Strebens. In Halle, wo er seine Studien fortsetzte, ergriff ihn die patriotische Bewegung noch stärker und als 1809 das Heer Oesterreichs gegen Napoleon in die Waffen trat, folgte er dem Rufe zur Fahne; er nahm als Freiwilliger Theil an den Schlacht bei Aspern und Wagram und wurde in letzterer Schlacht schwer verwundet. Nach der Heilung stieß er wieder zu seiner Truppe, jetzt als Offizier. Er wurde persönlicher Adjutant des Prinzen Beutheim, den er auch nach dem Frieden auf diplomatischen Missionen, so 1810 nach Paris, begleitete, wobei er zuerst seine Begabung für staatsmännische Geschäfte bewährte. Als 1813 der Krieg der Alliirten begann, befand sich Varnhagen bei den Vortruppen des Generals Tettenborn als Hauptmann und Adjutant und erhielt in dieser Stellung das Amt eines offiziellen Kriegsberichterstatters, aus welcher Thätigkeit noch während des Krieges die Bände »Geschichte der Hamburger Ereignisse« und »Geschichte der Kriegszüge des Generals Tettenborn« hervorgingen. In Paris zog ihn Staatskanzler Fürst Hardenberg in den diplomatischen Dienst und beim Wiener Frieden befand er sich wiederum an dessen Seite. Zum Lohn für seine Leistungen ward er 1816 Ministerresident in Karlsruhe, aber schon drei Jahre später wurde er abberufen in Folge des reaktionären Umschwungs, dem auch Hardenberg erlag; als Geheimer Legationsrath zur Disposition gestellt, kehrte er nach Berlin zurück. Im Innersten überzeugt, daß das herrschende Regiment nicht von Dauer sein könne und demselben über kurz oder lang eine neue Aera des Liberalismus in Preußen folgen müsse, lebte er jetzt hier seinen literarischen Neigungen und der Pflege eines ausgebreiteten geistigen Verkehrs, dessen eigentlicher Mittelpunkt seine Frau war, und zwar, so lange diese lebte, in ihrer Liebe und diesen gemeinsamen Beziehungen vollen Ersatz für die Enttäuschungen seiner diplomatischen Laufbahn findend. Als eifriges Mitglied der gelehrten »Societät«, die unter Hegels Oberleitung die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik herausgab, als reger Mitarbeiter der »Allgemeinen Zeitung« und des literarischen Theils der preußischen Staatszeitung, die einer der Sänger des Freiheitskriegs, sein Freund A. von Stägemann, redigirte, entfaltete er eine weitverzweigte kritische Thätigkeit, von welcher die Sammlung »Zur Geschichtsschreibung und Literatur« (1833) öffentlich Zeugniß gab. Ein Denkmal des mit Rahel gemeinsam geübten Goethekultus war das Buch »Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden« und einen vollen Nachklang seiner Theilnahme an dem siegreichen Kampf gegen Napoleon hielt er in den »Biographischen Denkmalen« fest, die er hauptsächlich den großen Heerführern der Befreiungskriege widmete. Des Abends aber übernahm er als gewandter Meister geistvoller Unterhaltung an Rahels Seite die Pflichten des Hausherrn in dem Salon, in welchem die Männer und Frauen sich heimisch fühlten, die Berlin den Ruf einer Hauptstadt der Intelligenz erobert, die bedeutendsten Staatsmänner und Philosophen, Dichter und Künstler, die in der preußischen Hauptstadt dem aus den Freiheitskriegen neu erstandenen Preußen den Geist der Friederizianischen Aufklärung auch jetzt noch zu erhalten strebten. Hier im Gespräch mit Männern wie Alexander von Humboldt, Böckh, Gans brachte er auch die Unzufriedenheit mit den deutschen Zuständen lebhaft zum Ausdruck, die er schriftlich nur seinem Geheimtagebuch anvertraute, der späteren Quelle seiner »Denkwürdigkeiten« und der »Tagebücher«, die nach seinem Tod seine Nichte Ludmilla Assing herausgegeben.

In diesem dritten Salon der Rahel empfing Heine die ersten Weihen als Dichter und die feinere Schulung seines Geistes, erhielt Börne, als er die »Wage« schrieb, ein unerwartetes Organ begeisterter Propaganda für seine Ideen, hier fand der Fürst Pückler-Muskau die gewünschte Fühlung mit der bürgerlich-freisinnigen Schriftstellerwelt, hier weilte Cotta am liebsten, als er zum Abschluß der Handelsverträge nach Berlin gekommen war, hier trafen sich Chamisso, Fouqué, Arnim mit dem liebenswürdigen Wilhelm Müller aus Dessau, hier erzählte Bettina von Arnim von ihren Beziehungen zu Goethe, noch ehe sie sie darstellte, hier erschlossen die Humboldts freimüthig ihre universelle Welterfahrung und junge Gelehrte wie Leopold Ranke übernahmen die Tradition, daß auch die Wissenschaft nach schöner Darstellung zu trachten habe und fanden in der Denkweise Rahels verstärkten Antrieb zu realistischem Erfassen der Geschichte und ihrer Zusammenhänge. In dieser vermittelnden Thätigkeit Rahels als Anwalt des deutschen Idealismus in Anwendung seiner Grundsätze auf das in Wirklichkeit und Gegenwart Bestehende und Werdende bestand die eigentliche Bedeutung des Rahel-Varnhagen'schen Salons, der bis zu ihrem Tode thatsächlich einen der Mittelpunkte des deutschen Bildungslebens ausmachte: ein Hort der Aufklärung inmitten des Treibens der katholisirenden Romantik und der – wie Rahel spottete – »neumodischen Empfindsamkeit für das Altmodische«, der »Teutschthümelei«.

In den Zeiten, da Friedrich Gentz, einer ihrer wankelmüthigen Jugendfreunde, dem Metternich'schen System und der heiligen Allianz aus Lug und Trug die Waffen schmiedete zur Niederhaltung der Ansprüche des Volks auf eine freie Verfassung, waltete Rahel in Berlin als gotterfüllte Priesterin des deutschen Idealismus, von dem Fichte erklärt hatte, daß sein Wesen die Freiheit sei. Vom Geiste desselben erfüllt und dabei von dem Streben, die ideale Wahrheit zur Herrin der Wirklichkeit zu machen, sind auch die vielen, der Form nach oft paradoxen, logisch unfertigen Aussprüche, die uns Varnhagen von ihr in Bezug auf wünschenswerthe Reformen der sozialen Verhältnisse, auf die Fortentwickelung der Religion, die Anbahnung eines Völkerfriedens in ihren Briefen überliefert hat. Ihre Bedeutung hat Rudolf Gottschall in seiner Literaturgeschichte treffend gewürdigt, wenn er ihr Urtheil »bei aller Systemlosigkeit wunderbar organisch und treffend« nennt, »das Resultat einer in die Tiefe dringenden geistigen Arbeit, welche Alles, was der Tag und die Gesellschaft brachte, nach seinem echt menschlichen Gehalte maß und wog und in ihren wundersamen Improvisationen mit den Resultaten der wissenschaftlichen Denkbewegung meistens übereinstimmte. Was viele andere nur mit schüchternen Fühlfäden betasteten, das wuchs bei Rahel mit organischer Nothwendigkeit aus ihrem innersten Wesen heraus; sie war eine zentrale Natur mit einer geheimnißvollen Nöthigung des Denkens und Empfindens; es lag in ihr ein geistiges Gemeingefühl, das Alles, was in der Luft der Zeit lag, zusammenraffte und scharf sein Bild auf diese geistige Münze prägte. Der tiefste geistige Inhalt war in der Form des Instinkts in ihr lebendig, und dieser Instinkt sprach sich oft schlagend, oft stammelnd, stets in origineller Weise aus. Sie giebt die geistige Quintessenz ohne jede homöopathische Verdünnung, und giebt sie in einer keineswegs überzuckerten Form. Rahel war keine Schriftstellerin; ihr fehlte sogar jedes Darstellungstalent. Sie griff mit vollen Händen in ihre geistigen Schätze und streute sie aus; es wäre ihr unmöglich gewesen, die Perlen mühsam an einen Faden zu reihen … Aber diese Konvulsionen des Gedankens, der gegen jede Kunstform rebellisch ist, unterscheiden sich von den hysterischen Krämpfen der ›schönen Seelen‹ durch ihre tiefinnere Bedeutung, denn sie repräsentiren den Krampf und die Gährung einer aus ihren Fugen gerissenen Zeit, die ahnungsvoll einem neuen, geistigen Tage entgegengeht. Durch ihre Form war Rahels Einfluß unheilvoll; aber in Bezug auf den Inhalt förderte sie das Kernhafte, Tiefe, Gediegene, den ewigen Herzschlag strebender Geister und empfindender Gemüther.« Gentz, der bei all seiner Charakterlosigkeit sehr geistreich war, hat ihre Aussprüche mit frischen aromatischen Erdbeeren verglichen, an denen noch Sand und Wurzeln hängen. Und die ganze Größe ihrer eigenen Charakterentwickelung, die ihren Aeußerungen diese Erdbeerenfrische erhielt, wird uns mit geradezu dramatischer Wirkung verdeutlicht gerade durch ihr Verhältniß zu Gentz, das, so lange sie lebte, in den Augen scharfkritischer Beobachter wie Gutzkow als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden mußte, weshalb auch der letztere bis zum Erscheinen der Briefe von dem Liberalismus des Rahel'schen Kreises sehr wenig gehalten hatte. Nun aber las er in dem Buche »Rahel« nicht nur die interessanten Geständnisse des inzwischen auch verstorbenen Strategen der Reaktion über die Achtung, die ihm Börne's Geist abgenöthigt, und den Zauber, den Heine's Reisebilder und Lyrik ausgeübt, – wie er seine letzte große Passion – für die junge Fanny Elßler im Herzen – sich Morgens und Abends in den »melancholisch-süßen Gewässern« dieser Poesie gebadet habe; er sah schließlich auch Rahel wider den freiheitsmörderischen Wollüstling – ein weiblicher Posa – sich erheben und auf seine Klage, er verstehe die Zeit nicht mehr, ihm erwidern: er könne dem Fluche des Alters sich nur entreißen, wenn er der Stimme der Jugend einer neuen Zeit Gehör gebe, wenn er vom Geiste der letztern den seinen lenken lasse.

»Die Welt,« schrieb sie, »schwingt sich um: und Sie stehen ihr wieder en face … Der Geist der Zeit ist nichts als die jedesmal allgemein gewordene Ueberzeugung. Horchen Sie dahin: agiren Sie mit der, durch die! – Ich Ihnen Politik! Sie, die allgemeine Ueberzeugung, muß Ihnen dienen, sie sei Ihnen ein Instrument. Ueberwinden Sie den Abscheu; kommen Sie ihr zuvor: Lenker bedarf eine jede … Sehen Sie nicht nur die Unordnung, sondern – eben nach ›den vierzig Jahren Arbeit‹ – was die in der Zeit sich folgenden Menschen nun jetzt zu wollen haben. Denken Sie nicht an das, was Menschen ewig wollen sollten: sondern fassen Sie ins Auge, was Weltwirrwarr, alte Sünden, längst Verfehltes nun erlaubt und wohin eben dies drängt. Sein Sie großartig! … O könnte ich mit dem Munde zu Ihnen reden!« … Auf die Antwort des entnervten Wollüstlings, der bald danach an der Furcht vor der neuen Zeit starb, hatte sie keine Antwort mehr, aber sie schrieb in ihr Tagebuch ein Gedicht, das anhob mit der folgenden Verurtheilung:

»Wo nimmst Du den Muth zu so viel Feigheit,
Solch verbrecherischer Absicht her?«

Das letzte Ziel ihrer »Explosionen«, wie sie selber diese Entladungen ihres grübelnden Geistes genannt hat, ist ein allgemeiner Zustand, der einer immer größeren Zahl von Individuen ermöglicht, schon hier auf Erden glücklich zu werden. Mehr Wahrheit, mehr Natürlichkeit, mehr Freude am Natürlichen fordert sie in der Kunst wie im Leben. Auch sie bekennt sich dabei zum Sensualismus. »O gesegnet, tausendmal gesegnet, liebe Sinne! Mit euch vernimmt man selbst,« ruft sie einmal begeistert. Sie vermitteln uns nicht nur die Welt und all ihre Schönheit, sondern auch uns selbst mit der Welt. – Das meiste Aufsehen machten ihre Aussprüche über die Frauen, deren Beruf und Wesen, über die Ehe. Sie waren um so wirksamer, als ihre Emanzipationsgedanken nur dem Triebe entstammten, die Quelle fremden Leids zu beseitigen, und ihre eigene Ehe mit Varnhagen, wenn auch kinderlos, durchaus glücklich war. »Es ist Menschenunkunde, wenn sich die Leute einbilden, unser Geist sei anders und zu anderen Bedürfnissen konstituirt, und wir könnten z. E. ganz von des Mannes oder Sohnes Existenz mitzehren. Diese Forderung entsteht nur aus der Voraussetzung, daß ein Weib in ihrer ganzen Seele nichts Höheres kennte, als gerade die Forderungen und Ansprüche ihres Mannes in der Welt; oder die Gaben und Wünsche ihrer Kinder: dann wäre jede Ehe, schon blos als solche, der höchste menschliche Zustand; so aber ist es nicht: man liebt, hegt, pflegt wohl die Wünsche der Seinigen, fügt sich ihnen, macht sie sich zur höchsten Sorge und dringendsten Beschäftigung; aber erfüllen können die uns nicht, oder auf unser ganzes Leben hinaus stärken und kräftigen.« Sie dringt darauf, daß Mangel an Liebe zur Scheidung der Ehe genügen müsse. »Ist intimes Zusammenleben, ohne Zauber und Entzücken, nicht unanständiger, als Exstase irgend einer Art? Ist Aufrichtigkeit möglich, wo Unnatürliches gewaltsam gefordert werden kann? Ist ein Zustand, wo jene, also die Wahrheit, also die Grazie, also die Unschuld, nicht möglich ist, nicht dadurch allein verwerflich? Weg mit der Mauer! Weg mit dem Schutt! …« In ihrem Tagebuch von 1820 steht folgender merkwürdige Ausspruch: »Natürliche Kinder werden die genannt, welche keine Staatskinder sind, wie Naturrecht und Staatsrecht. Kinder sollten nur Mütter haben; und deren Namen haben; und die Mutter das Vermögen und die Macht der Familie: so bestellt es die Natur; man muß diese nur sittlicher machen; ihr zuwider zu handeln gelingt bis zu Lösung der Aufgabe doch nie; fürchterlich ist die Natur darin, daß eine Frau gemißbraucht werden kann, und wider Lust und Willen einen Menschen erzeugen kann. Diese große Kränkung muß durch menschliche Anstalten und Einrichtungen wieder gut gemacht werden: und zeigt an, wie sehr das Kind der Frau gehört. Jesus hat nur eine Mutter. Allen Kindern sollte ein ideeller Vater konstituirt werden, und alle Mütter so unschuldig und in Ehren gehalten werden wie Maria.« Die Memoiren der Madame de Genlis geben ihr Anlaß zu folgender Aeußerung über Frauen-Schriftstellerei: Wenn man behaupten könnte: man solle eine gute Schrift ehren und sich ihrer freuen, wer sie auch immer verfaßt hat, so könnte dagegen geantwortet werden: eine Frau aber, hätte die Welt noch so großen Gewinn von ihren Schriften, verfehlte nichtsdestoweniger ihre weibliche Bestimmung, und die Zeit, sie zu erfüllen. Zugegeben! und nicht einmal gestritten über diese Bestimmung: es verfehlen (aber) so viele Weiber ihre Bestimmung, daß es wohl wird mit eingerechnet werden können, wenn einige sie durch Schreiben verfehlen.« »Auf die Stimme der eigenen Natur« verwies auch Bettina die Menschen, damit sie ihre Bestimmung nicht verfehlen; Rahels eigenste Angelegenheit war es, zu zeigen, wie schwer es den Menschen, insonderheit den Frauen, unter den herrschenden Verhältnissen gemacht sei, der Stimme der eigenen Natur zu folgen, oder, wie sie es nannte, sich selber treu zu sein. Daraus ergab sich für sie der Begriff der Freiheit, »Die Freiheit ist das, was wir nothwendig brauchen, um das sein zu können, was wir eigentlich sein sollten … Der erste Mangel an Freiheit besteht darin, daß wir nicht sagen dürfen, was wir wünschen und was uns fehlt.« Die Darstellung der individuellen Wahrheit ist ihr das Wesen aller echten Poesie und Kunst. »Kunst ist die Gabe, die Natur und all unsre Zustände unserm innersten Bedürfniß am angemessensten sehen zu lassen.« Sie verbindet diese Auffassung mit der andern, daß die Kunst Ideale verkörpern soll: »Kunst ist: das mit Talent darstellen, was sein könnte, unserer besseren Einsicht nach.« Auch das Kunstwerk und der Künstler sind ihr Naturprodukt, Produkt der Geschichte und der Zeit: »Kunst kann nicht dekretirt werden, sie muß von unten herauswachsen.« »Niemand kann seiner Zeit entfliehen.«

»Was ich hier seh' getreu berichten,
Das hieße wahrlich dichten« –

schrieb sie 1822 in das Stammbuch des Schlosses Grauppen bei Teplitz. Was sie aber auch von revolutionären Keimgedanken äußert, will sie nicht gewaltsam ins Leben geführt, sondern organisch ins Leben geleitet sehen. »Organische Entwickelung« ist ihr stets das Wesen alles zu erschaffenden Fortschritts. Im Gegensatz zu früheren leidenschaftlichen Aeußerungen sind ihre Urtheile aus der letzten Lebensperiode gemildert vom Geist einer Toleranz, die alles Bestehende aus seinen Ursachen erklärt und versteht. So faßte sie am Schluß ihres Lebens auch ihre Ideen über Liebe und Ehe – im Gegensatz zu den ausschweifenden Forderungen der Saint-Simonisten und deren Schwärmerei für die »freie Liebe« – in das Bekenntniß zusammen: Dies sei überhaupt der Inbegriff höchster Bildung – in der Religion wie in der Ehe: »Einwilligung und Herzensübung durch Einsicht in das Gegebene, Vorgefundene, Mögliche. Anschließen an das, was wir Höchstes kennen.«

Varnhagen hat dem Buche »Rahel« das Motto aus Hölderlins »Hyperion« gegeben: »still und bewegt«; für ein Denkmal dieser rastlosen Wahrheitssucherin würde als Aufschrift vielleicht noch passender sein das schöne Wort der Sophokleischen Antigone: »Nicht mitzuhassen – mit zulieben bin ich da.« Da ihre Ehe mit Varnhagen kinderlos blieb, nahm sie fremde Kinder zur Pflege an; die liebevollen Briefe, in denen sie dem abwesenden Gatten von diesen vorplaudert, sind für sie mindestens so charakteristisch als die geistsprühenden Emanationen ihres kritischen Verstandes. Daß ihr das Verlangen, mitzulieben – alles Schöne im Leben wie in der Natur und vor allem die Menschen, sich so oft in Mitleiden verkehrte, daran war aber nicht nur die Eigenart ihres empfindlichen Herzens schuld, sondern vor allem auch eben jener Hang ihres energischen Geistes, im einzelnen Unglück das Unheil der allgemeinen Zustände mitzuerkennen. Rahel war, wie Theodor Mundt sagt, durchaus »ein mitempfindender Nerv ihrer Zeit«, und darum wurde ihr Schicksal auch so charakteristisch für die Schmerzen der ganzen Epoche. »Alles,« heißt es in Mundts Aufsatz »Rahel und ihre Zeit«, »zitterte in ihr nach und erlebte in ihr, wie der Griff auf die Saite, tausend Schwingungen; sie war, könnte man sagen, das Alles am feinsten durchfühlende Nervensystem ihrer Zeit.« Wo es aber ihr Herz zu zärtlicher Hingabe drängte, begann ihr Verstand vorschnell die Eindrücke auf ihre Endlichkeit und in ihrem Bezug zum »Allgemeinen« zu prüfen und zerfaserte so die Blüthen des Lebens noch während der Dauer des Duftens und Blühens, aus Begier, ihre Struktur zu erkennen. Jeder frohe Gedanke wurde ihr von einem Aber durchschnitten. Auch hierin war ihre Natur typisch für ein Zeitalter, in welchem philosophische Weltkritik und politische Schaffenslust, Goethe'sche Lebenskunst und transscendentale Spekulation, gährendes Freiheitsverlangen und der Selbsterhaltungskampf älterer Machtansprüche durch ihr Gegeneinanderwirken eine allgemein empfundene Unbehaglichkeit und Stagnation im geistigen und gemüthlichen Leben erzeugten. »Die Einheit des Lebens zu finden, in welcher Beruf und Trieb ineinander aufgehen,« das große Sehnziel Rahels, und die Unzufriedenheit über den Mangel dieser Einheit theilte sie mit unzähligen Zeitgenossen. Daß sie, bei ihrer Einsicht in die Unzulänglichkeit aller Verhältnisse, die Gegenwart nur als Durchgangspunkt einer organischen Entwickelung zu besseren Zuständen auffaßte, schützte sie aber vor Verzweiflung und Pessimismus. »Es giebt gewiß eine Kombination, in welcher man auch hier als Mensch noch ganz glücklich sein kann.« Die Vergänglichkeit war ihr nicht nur eine Quelle der Trauer: »Auch der Winter, die Nacht, die trüben Gedanken, die Schmerzen – Alles wird vom Leben verzehrt.« Ihr Glaube an das Gute im Menschen war unzerstörbar: »Nur das Gute ist wahr, das andere Verwirrung und ganz negativ,« schrieb sie im Alter trotz der Verbitterungen ihrer Jugend, auch hierin Schülerin und Verkünderin Goethe'scher Weisheit.

Wie die Wirkung des Buches »Rahel« mehr als irgend eine andere Erscheinung das nächste Schaffen von Gutzkow und Mundt mächtig beeinflußt hat, werden wir später ausführlich zu zeigen haben. Hier wollen wir ein Urtheil Laube's einfügen, des einzigen von der jungen Literatur, auf welchen das Buch, wie sich schon in den »Kriegern« erwiesen, nicht aufregend, sondern beruhigend wirkte. In dem Widmungsbriefe an den Fürsten Pückler, den er der Novelle »Liebesbriefe« voransetzte und in welchem er seine jugendlichen Freigeistereien für die Befreiung der Liebe von den Fesseln des Herkommens auf eine feste Basis zurückführt, schrieb er: »Es hat in Berlin eine Frau gelebt und Briefe geschrieben, eine gewaltige Frau, welche von allen gelesen, studirt werden sollte, die sich unsres sittlichen und geselligen Zustands bewußt werden wollen. Sie haben sie oft gesehen in jenem lichten Hause der Mauerstraße, wo sie waltete und sprach, wo sie die Freunde mit immergleicher Liebe, mit Unterordnung aller eigenen Interessen empfing, jedem Menschen, auch dem unbedeutenden, auch dem unangenehmen, zugänglich, bereitwillig. Ich meine Rahel, die wahrhaftige, welche bei allen äußeren und inneren Stürmen sich frei erhielt von dem verhüllenden Firniß, den Herkommen, Gewohnheit über das Herz und den Geist der Menschen breiten. Wenn auf Jemand appellirt werden kann bei Besprechung menschlicher Zustände, bei Untersuchung über echte, gesittete Existenzen, so ist es Rahel. Wir haben kein so offenherziges Buch in unserer Literatur als ihre Briefe, wenigstens keins, wo so viel Geist und Spekulation der Offenherzigkeit zu Hülfe gekommen wäre. Jeder Mensch, auch der unbedeutendste, ist reich und originell, wenn er nur offen und wahr ist. Aber ich glaube, unter Hunderttausenden ist immer kaum ein ganz wahrer, offner zu finden – das heißt, nicht einmal wahr gegen sich selbst. Die Wahrheit verlernt sich wie die Schönheit. Jene Erscheinung kommt wohl zum Theil daher, daß wir noch auf einer Stufe der Kultur stehen, wo die verschiedenartigsten Individuen nach allgemeinen Prinzipien erzogen werden müssen. Das Individuum muß untergehen in der Allgemeinheit. So wird oft das Fremdartigste zusammengekittet und die meisten Menschen sind gedankenlose Summen unserer zeitigen Kulturrechnung, die unterscheidenden Physiognomien gehen verloren und die Leute lügen stündlich gegen ihr eignes, ursprüngliches Herz, ohne es zu wissen … Rahel hat ihr eigenstes, privates Leben nach allen Richtungen ganz bewahrt, und ihr Leben und somit ihr Buch, denn es ist ein Tagebuch, kommt mir vor wie ein fortwährender Kampf um die ursprüngliche, wahre Existenz … Und dieses echte Weib stimmt an vielen, vielen Stellen in den Hauptgedanken ein, daß die reiche, schöne Liebe der Menschen, das Dokument unsrer Gottverwandtschaft, noch nicht genügenden Raum gefunden habe unter uns. Ich zitire nur eine Sonntagsstelle von allen übrigen: ›Es mag mit oder ohne Bedacht geschehen sein, es ist von einem mächtigen Dichter, daß die drei Weiber im Meister, die lieben, Marianne, Aurelie und Mignon, nicht konnten leben bleiben: es ist noch keine Anstalt für solche da.‹«

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Sowohl in Rahels Briefen als in denen Bettina's finden sich gewichtige Aeußerungen über den Selbstmord.

In ihrer Schilderung der Vorgänge, die dem Tode ihrer unglücklichen Freundin Caroline von Günderode, gesucht in den Wellen des Rheines, bewirkt durch einen Dolchstich ins Herz, vorausgingen, sowie in ihrem Urtheil über den Selbstmord Ottilie's in Goethe's »Wahlverwandtschaften« hat sich Bettina leidenschaftlich gegen den Vorwitz, sich selbst das Leben zu nehmen, ausgesprochen, ihn als Schwäche und Feigheit, Undankbarkeit gegen den Spender des Lebens bezeichnet. In der Fülle ihrer gesunden Genußkraft, ihrer vom Glück gesegneten Daseinslust fehlte ihr das Verständniß für die äußerste Wirkung völliger Verzweiflung an Gott und der Welt. Ganz anders Rahel, die frühe schon selbsterlebend und mitempfindend des Lebens Bitternisse in ihrer ganzen Herbheit durchgekostet.

Wie sie das Schicksal der durch Freitod untergehenden Helden und Heldinnen Goethe's ganz nach ihres Lieblingsdichters Absichten begriffen, so hat sie auch unter direkten Eindrücken des Lebens den Selbstmord vertheidigt als einen letzten Ausweg für die wirklich Elenden aus unentwirrbarem, wahrhaft trostlosem Mißgeschick. Auch sie war durch Freundesschicksal in die Tragik solchen Todes mit ihrem Empfindungsleben verwickelt worden. Zwei ihrer Freunde, bedeutende Menschen, durch Art und Begabung die Menge hoch überragend, verlor sie durch freiwillig gesuchten Tod: den Prinzen Louis Ferdinand und den Dichter Heinrich von Kleist. Ueber die Handlungsweise von beiden hat sie sich mit dem Ausdruck verständnißvoller Sympathie in zweien ihrer Briefe geäußert.

Den Schlachtentod des Prinzen Louis bei Saalfeld als Freitod aufzufassen, war sie berechtigt durch den letzten Vertrauensgruß desselben, den er kurz vor der Schlacht ihr, der Vertrauten seines Herzenslebens, gesendet; der Brief findet sich abgedruckt im 1. Band der »Gallerie von Bildnissen aus Rahels Umgang«, den Varnhagen 1836 der Sammlung ihrer Briefe folgen ließ. Als dann ihr Freund Alexander von der Marwitz nach dem demüthigenden Friedensschluß mit Frankreich ihr seine völlige Verzweiflung an den Hoffnungen klagte, die seinem hochstrebenden Leben bisher Halt gegeben, schrieb sie ihm aus einer an antike Seelengröße gemahnenden Auffassung des Lebens zurück: »Unmöglich kann und werde ich Ihnen sagen, siechen Sie mit. Es giebt edle Gemüther, die lieber sterben, rüstige, die den gesunden Bluttod lieber suchen. So sank Louis.« Und nach Kleists Tod, dessen Leben und Lieben, Hoffen und Dichten an der Nothlage des Vaterlandes wie der Noth des gemeinen Bedürfens gescheitert war, schrieb sie an Marwitz: »Von Kleist befremdete mich die That nicht; es ging streng in ihm her, er war wahrhaft und litt viel … Sie wissen, wie ich über Mord an uns selbst denke: wie Sie! Ich mag es nicht, daß die Unglückseligen bis auf die Hefe leiden. Dem wahrhaft Großen, Unendlichen kann man sich auf allen Wegen nähern; begreifen können wir keinen; wir müssen hoffen auf die göttliche Güte; und die sollte gerade nach einem Pistolenschuß ihr Ende erreicht haben? … Ich freue mich, daß mein edler Freund – denn Freund! ruf' ich ihm bitter und mit Thränen nach – das Unwürdige nicht duldete: gelitten hat er genug.« Und weiter schrieb sie im Hinblick auf alle, »die sich nichts zu erfreuen haben«: »Es ist und bleibt ein Muth. Wer verließe nicht das abgetragene inkorrigible Leben, wenn er die dunklen Möglichkeiten nicht noch mehr fürchtete; uns loslösen vom Wünschenswerthen, das thut der Weltgang schon.«

Wie die allgemeine Wirkung der ganzen Sammlung war auch die Wirkung dieser besonderen Briefstellen eine sensationelle. Aber während überall, wo man dieselben im Zusammenhang auffaßte mit Rahels eigenem, so wahr und offen dargelegten Leben, diese Bekenntnisse ihrem Charakter nur zur Folie gereichten, weil die kühne Zweiflerin selber vor dem Verzweifeln von ihrem tapferen Lebensmuth stets bewahrt geblieben war, knüpfte sich der Widerspruch, den das Buch nicht nur in Pietisten- und Junkerkreisen fand, vielfach gerade an diese Stellen. War die Kritik der literarischen Organe fast durchweg eine enthusiastisch lobende, so weckte in der Gesellschaft die Fülle persönlicher Erinnerungen und rücksichtsloser »Persönlichkeiten« auch lebhafte Opposition. Auf die Begeisterung, mit der z. B. Wilhelm von Humboldt über das Buch geschrieben: »Ich kenne kein Buch, in welchem so wie in diesem kein Buchstabe ein todter ist,« reagirte bald – besonders in Berlin – der Klatsch, reagirte andererseits die Gesellschaft der Privilegirten, die Aristokratie und die Geistlichkeit auf die ihr feindseligen sozialethischen Freigeistereien. Ueber keine Erscheinung wurde 1834 in der Vaterstadt Rahels so viel und erregt hin und wider gesprochen wie über ihren brieflichen Nachlaß. Für Niemanden wurde er aber in gleichem Grade zu einem inneren Erlebniß, wie für ein junges, in Berlin noch halb fremdes Mitglied der von Rahel bis zu ihrem Tode zusammengehaltenen literarischen Gemeinde, welchem im Interesse für Poesie und Literatur die persönlichsten Neigungen, Wünsche und Hoffnungen zusammenliefen: für die junge Frau des Dichters Heinrich Stieglitz, die noch bei Lebzeiten der Rahel aus deren Geistesschatze hatte schöpfen dürfen, die nun im Salon der Frau von Arnim von dem Selbstmord der Günderode und deren Freundschaft zu dem bereits geistig erkrankten Hölderlin, noch vor dem Erscheinen des »Briefwechsels«, erzählt bekam.

Mit welcher Andacht, mit welcher Empfindungsgluth war sie an diese Frauen herangetreten! In ähnlicher Weise, wie diese, auf den Geist großer Dichter einzuwirken, anregend, begeisternd, überwachend, wenigstens auf den Geist ihres hochstrebenden Gatten, den sie zu Großem im Reiche der Dichtkunst berufen glaubte, war ja seit ihrem Erwachen aus der Traumwelt ihrer ersten Jugend zum zielbewußten Leben ihr höchstes Sehnen gewesen. Wie mußte nun auf sie die völlige Enthüllung des fruchtbaren Bezuges der einen Rahel zum weitverzweigten Geistesleben ihrer Zeit wirken. Wie erregt war ihre Theilnahme an den Erörterungen über diese in dem eigenen kleinen Salon, wo sie nun selbst einem jugendlich angeregten Kreis literarisch Strebender zur Muse geworden war. Und wie verstand sie Rahel! »Was Sie über Rahel sagen,« schrieb sie kurz nach Erscheinen der Bände an einen älteren Freund ihres Gatten, »hat uns um so mehr erfreut, als sich jetzt eine entschiedene Gegenpartei gebildet, wahrscheinlich erzeugt durch das Lob der Enthusiasten, wie das gewöhnlich geht. Es möchte noch hingehen, wenn man hier nicht mehr als je den Neid sich ereifern sähe. Frauen, die sich freuen sollten, daß eben eine Frau ein so bedeutendes inneres Leben gelebt und so mächtig es zur Erscheinung bringt, können nicht begreifen, daß man so viel Lärm, wie sie sich ausdrücken, davon machen könne; Männer, die mit ihr im innigsten Freundschaftsverhältniß standen, die Herrn von Varnhagen die schönsten Sachen darüber gesagt, lästern sie geflissentlich in Gesellschaften, daß es zum Empören ist … Enge Seelen hängen sich an den einen Brief, in welchem sie den Selbstmord rechtfertigt und sind fromm außer sich darüber …«

Noch vor Schluß des Jahres, in dessen Beginn die Briefe Rahels erschienen, am 29. Dezember 1834, war die Schreiberin dieser Anklage gegen die »engen Seelen« eine Leiche: mit einem wohlgezielten Dolchstoß ins Herz hatte sie ihrem Leben ein Ende gemacht.

Dieser Selbstmord, der die deutsche Literaturgeschichte um ein Kapitel von einziger Tragik bereicherte – weit tragipoetischer als diejenigen vom Tode der Günderode und Heinrichs von Kleist –, machte in Deutschland und der gebildeten Welt fast noch mehr von sich reden als Rahels »Vermächtniß«. Die Motive, welche die öffentliche Meinung für die grause Selbsthinopferung der jungen schönen Frau angab, wurden in allen einheimischen und ausländischen Blättern eingehend und mit begeisterter Theilnahme für die Selbstmörderin besprochen. Hier hatte sich ein blühendes herrliches Frauenleben der Erde entrückt, um einem geliebten Dichter, an dessen Verkümmerung es sich mitschuldig glaubte, durch einen außerordentlichen Schmerz, gleichzeitig mit der Freiheit, den Antrieb zu außerordentlicher Dichterthat zu geben – wie etwa Dante durch Beatrice's Verlust zum hohen Dichtergang durch Hölle, Fegefeuer zum Himmel veranlaßt worden war. Wohl sprach an ihrem Grabe der Prediger Jonas den Fluch über ihre That. Aber die öffentliche Meinung urtheilte anders. Deutsche, französische, italienische Dichter besangen den Opfertod dieser Frau. Unter den Deutschen befand sich der berühmte Alterthumsforscher Böckh, der sie als »neue Alkeste« feierte, »die zum Heil des Gemahls freiwillig zum Hades hinabstieg«. Aber auch auf diesen Enthusiasmus erfolgte die Reaktion. Der Fall war zu außergewöhnlich, als daß »enge Seelen« ihm hätten gerecht werden können. Und auch diesmal erhob sich die Anklage gegen – Rahel. Sie hatte den Selbstmord vertheidigt – hier sah man die Folgen.

Ein innerer Zusammenhang zwischen dem äußersten Denken der Rahel und dem äußersten Thun Charlotte's war auch gewiß nicht zu leugnen. Aber ein noch stärkerer bestand zwischen letzterem und gerade denjenigen, von welchen jetzt beide todte Frauen gleichzeitig verketzert wurden, den Vertretern der Orthodoxie. Pietistischer Einfluß hatte im kindlichen Gemüthe Charlotte's, da sie noch ein Mädchen war, der Weltverachtung und Todessehnsucht die Stätte bereitet, aus welcher später unter dem Druck des Lebens die Selbstmordgedanken aufkeimten, denen ihr ideal-überspannter Sinn eine so heroische Richtung gab. Der Zufall, daß der intimste Hausfreund des nun jäh und für immer vernichteten Poetenheims in einem dritten Stockwerk an der Berliner Schloßfreiheit, daß Theodor Mundt ein Vertreter der jungen Schriftsteller war, auf die dieser doppelte Zusammenhang mit der Kraft eines historischen Ereignisses wirkte, der Umstand, daß dieser von dem so hart getroffenen Gatten die Erlaubniß erwirkte, die Erzählungen Charlotte's von ihrer Kindheit und ihre Hinterlassenschaft an Briefen und Aufzeichnungen zu einem biographischen Denkmal zu verwerthen, vermittelt auch dem heutigen Geschlecht einen genauen Einblick in diesen Zusammenhang. Ergänzungen hat dasselbe neuerdings noch erfahren durch die Ende 1889 erfolgte Veröffentlichung »Gustav Kühne, sein Lebensbild und Briefwechsel mit Zeitgenossen«.

Charlotte Willhöfft wurde am 18. Juni 1806 in Hamburg geboren. Nach dem frühen Tode ihres Vaters, eines geachteten Kaufmanns, in die Familie einer in Leipzig verheiratheten älteren Schwester aufgenommen, wurde ihr diese Stadt zur zweiten Heimath. Der Verlust des Vaters muß auf das Seelenleben des überaus anmuthigen, aber auch auffallend stillen Kindes tief eingewirkt haben; er gab ihren Gedanken einen Zug zum Ueberirdischen. Sie konnte oft mitten aus lachendem Frohsinn in ernstes Träumen verfallen, bis plötzlich die Augen überflossen und sie sich von einem dunklen Weh aus dem Kreise der betroffenen Gespielinnen getrieben fühlte. Mit einer Maienrose, die sich schon in herbstlichen Träumen wiegt, vergleicht Mundt das zwölfjährige Mädchen. Am glücklichsten fühlte es sich in der Einsamkeit, zwischen den Blumenbeeten im Garten oder in ihrem Zimmer über den Schularbeiten, denen sie mit ernstem Eifer oblag. Am eifrigsten aber gab sich ihr Geist den Empfindungen hin, die der Religionsunterricht in ihr erregte. Er wurde in der von ihr besuchten Bürgerschule von einem Lehrer ertheilt, der, selbst voll pietistischer Schwärmerei, diese Richtung auf seine Schülerinnen übertrug. »Das kleine Mädchen verging in ihrer starken Empfindung, wenn sie an Gott dachte, und ihre Weltanschauung zerriß in jene unheilvolle Trennung zwischen dem Diesseits und Jenseits, aus welcher der Pietismus sein süßes Gift sich saugt. Wie ein Kind vom Vaterhause, so träumte sie vom Jenseits, nach dessen fernblinkenden Sternen sie verlangte, und unter heißen Thränen hatte sie wunderbare Gedanken über den Tod und die Zukunft. Sie wünschte sich, bald zu sterben, und gerieth in Stimmungen, wo sich ihrer der Drang bemeisterte, selbst und freiwillig ein Leben zu enden, das ihr nur als die Schranke einer innigeren Vereinigung mit Gott erschien.« Der Einfluß dieses Lehrers dauerte bis in ihr fünfzehntes Jahr und als derselbe wegen der verhängnißvollen Wirkung seines Unterrichtes desselben enthoben wurde, empfand sie die Entfernung als ein schweres Unglück und einen Raub am Heil ihrer Seele.

Besser als es der lebensfrohe, im Hause ihrer Schwester Julie Sickmann herrschende Ton vermocht hatte, gelang es jetzt der Macht der Musik, befreiend auf das verschüchterte Gemüth zu wirken. Ihrem bereits früh zur Entfaltung gelangten Talent für die Kunst des Gesanges wurde nun eine sorgfältige Ausbildung zu theil. Ihr unbestimmtes Sehnen ins Ueberirdische bekam feste Nahrung durch die Poesie und Musik, deren Inhalt ihre Seele zum Genuß des Schönen dieser Welt zurückführte. Mit dem starken Hingabebedürfnisse und der zähen Energie ihres Wesens gab sie sich ihren musikalischen Studien und der Lektüre unserer klassischen Dichtungen hin. Ihr Gesang war ein ungemein seelenvoller und ihre Auffassung dabei stets die Offenbarung innerster Ergriffenheit der Seele von dem Empfindungsgehalt. »Nun verschmolz auch die dunkle Frömmigkeit ihres Wesens in eine fröhlichere Andacht, und mit der Kunst war ein schönes Stück Welt in ihr Herz gekommen. Sie begann die Allgegenwart Gottes an jeder blühenden Erdenstelle zu empfinden und schaute heiterer hinaus in die unendliche Ferne, an der sie sonst mit Thränen gehangen hatte. Obwohl noch oft tiefen Religionsanschauungen hingegeben, die sich bald zur echtesten Religiosität läuterten und als solche durch das ganze Leben ihr treu verblieben, machte sich doch jetzt auch aller Zauber der ununterdrückbaren Jugend an ihrer Erscheinung geltend … Sie war gesund, frisch, freundlich und beherzt geworden, und wenn ihr tiefsinniger Ernst sie manchmal wieder umschattete, kontrastirte damit lieblich der Scherz anderer muthwilliger Stunden, wo sie sich ganz der Heiterkeit überließ und die originellsten Einfälle haben konnte.« So trat sie im Sommer 1822 dem jungen Heinrich Stieglitz entgegen, der, die weiße Burschenmütze auf dem schwarzen Gelock, von ihrem Bruder ihr vorgestellt wurde als ein junger Dichter, von dessen Zukunft sich seine Freunde Großes versprächen.

Heinrich Stieglitz, geboren 1803 in Arolsen, und wie Charlotte früh des Vaters beraubt, war dank der Unterstützung eines reichen Oheims in St. Petersburg, des Bankiers Ludwig von Stieglitz, zum Studium gelangt, das er in Göttingen begonnen hatte. Dieser Oheim hatte den Grund zu seinem Vermögen auf Reisen im Orient, im asiatischen Rußland gelegt und die Vorstellungswelt, die sich dem Knaben durch die Familiengespräche über den Onkel früh aufgedrängt, hatte in Verbindung mit Rückerts Beispiel und Goethe's Westöstlichem Divan seinen poetischen Anfängen und historischen Studien ihre Richtung gegeben. Sein Geist, der so gern in das Gefühlsleben der Völker des Orients sich versenkte, liebte drum auch Spekulationen, die dem Ideale einer die Gegensätze der Bekenntnisse ausgleichenden Weltreligion zugewandt waren. Und grade auf diesem Gebiete fanden sich zwischen ihm und dem schönen Mädchen trotz ihres grundverschiedenen Charakters und Temperaments intime Berührungspunkte. Der erste Seelenaustausch der in beiden schnell erwachten Liebe war ein religiöses Gespräch. Stieglitz, dessen »Lieder zum Besten der Griechen« zum größten Theil damals schon in belletristischen Zeitschriften erschienen, war ihr gegenüber ein feuriger Apostel jenes poetischen Pantheismus, der in seines Lieblingsdichters Rückert Gedichten so gewinnenden Ausdruck gefunden; dieser beglückenden Weltanschauung erschloß sich freudig ihre Seele. Und die Begeisterung für die Poesie, die er ihr mittheilte, übertrug sie auf Stieglitz selbst, in dessen eigenem Dichterberuf sie ein Höchstes, Heiligstes verehrte. So wurde sie seine Braut – eine Dichterbraut. Die Vorstellung von der Bedeutung des Dichterberufs war in ihr so hoch und gewaltig, daß sie zu ihrem Bräutigam aufblickte, demüthig wie Kleists Käthchen von Heilbronn, als zu einem höheren Wesen. Diese Ueberschätzung wurde leider nicht rechtzeitig von der Erfahrung des wirklichen Lebens auf dasjenige Maß zurückgeführt, wie es dem Epigonentalent ihres Heinrich entsprach, sondern genährt und gesteigert durch die bald eintretende Trennung des jungen Paares und einen Briefwechsel, in dem sich die gegenseitige Liebe voll hoher Hoffnungen und Zukunftspläne mit Ueberschwänglichkeit aussprach. Stieglitz ging bald nach der Verlobung nach Berlin, um seine Studien zum Abschluß zu bringen, sein Staatsexamen zu machen und eine seinen philologischen Studien entsprechende Stellung zu gewinnen. Die Trennung dauerte fünf Jahre bis zur Hochzeit im Juli 1828 und nährte in Charlotte ein Idealbild von ihrem zukünftigen Gatten und der gemeinsamen Zukunft, dem dann die Wirklichkeit nicht zu entsprechen vermochte. –

»Keiner gehe, wenn er einen Lorbeer tragen will, davon,
Morgens zur Kanzlei mit Akten, Abends auf den Helikon.«

Dieser Warnungsruf Platens, gegen Immermann in literarischer Polemik gefallen, ist zwar von einer ganzen Reihe kräftiger Dichternaturen, Goethe an der Spitze, entkräftet worden, an vielen weicheren, meist lyrischen Talenten jedoch, die durch die Ertraglosigkeit ihrer Kunst sich zu der Ausübung eines unsympathischen praktischen Berufs gezwungen sahen, hat sich die halbe Wahrheit, die er enthält, tragisch genug bestätigt. Heinrich Stieglitz, nur für die Lyrik und auch für diese mehr in technischer als in psychischer Hinsicht beanlagt, wie seine von Rückerts und Viktor Hugo's Vorbild beeinflußten »Bilder des Orients« (1831-33) beweisen, war ganz durchdrungen von der Berechtigung jener Klage. Er hatte sie in seinen Briefen an die Braut leidenschaftlichen Tones oft genug variirt, daß dem feinempfindenden Mädchen sein Eintritt in den Staatsdienst als Oberlehrer und Bibliotheksbeamter wie ein großes Opfer erscheinen mußte, welches er ihr und dem gemeinsamen Wunsche nach baldiger Vermählung gebracht. Dies in um so höherem Grade, als der Tod ihrer Schwester und die geplante Wiederverheirathung ihres Schwagers, in deren Hause sie bisher gelebt, als Druck auf Stieglitz gewirkt hatten. Dennoch überschätzte sie sein »Opfer« in ganz ungerechtfertigter Weise, wie sie anderseits die Gegengabe ihrer Liebe und ihres holden Selbsts unterschätzte, und so fehlte der Ehe, die das ungleiche Paar nach kurzer Hochzeitsreise in Berlin begründete, von vornherein das ihr so nöthige Gleichgewicht.

Stieglitz, mit seinen Kräften der zusammenhängenden Dichterarbeit neben anstrengender Berufsthätigkeit als Lehrer und Bibliothekar in der That nicht gewachsen, kam Abends verdrossen, abgespannt, unfroh zu seiner sanften schwärmerischen Gattin heim, die diese Situation, enttäuschend an sich, als ihre Schuld empfand und darüber die Einbildung des Mannes steigerte: er sei ein Märtyrer der Ehe. Er würde wohl ohne diese Frau noch weniger vorwärts gekommen sein. Mit rührender Umsicht und unter Bewähr feinsten Verständnisses für die Bedürfnisse seiner reizbaren Natur ward sie ihm ein treu theilnehmender Kamerad und ein geduldiger Amanuensis bei seinen literarischen Arbeiten; ermunterte, tröstete, ermuthigte ihn, wie und wo sie nur konnte. Ihn von seinem Martyrium zu erlösen, faßte sie als heilige Aufgabe, über der sie dann wirklich zur Märtyrerin ihrer Ehe im strengsten Sinne des Wortes ward. Ihm die volle Freiheit zu erringen, nach der er lechzte als der unentbehrlichen Voraussetzung der einst von ihm erträumten, von ihr – wie sehr! – erhofften großen Dichterthaten, empfand sie als eine Verpflichtung, an die sie den schweren Ernst und die entschlossene Energie ihres Wollens setzte. So wurde für sie die Ehe zu einer Reihe fortgesetzter Versuche, ihren Mann aus den ihn niederhaltenden Ketten zu befreien: mit emsiger Klugheit und opferfreudiger Hintansetzung aller Rücksicht auf sich, auf ihre Gesundheit, ihre Lebensansprüche, ebnete sie ihm den Weg zu der ersehnten Freiheit. Und als sie das Ziel in fünfjähriger Arbeit Schritt für Schritt erreicht, war – Alles umsonst gewesen: Verstimmung, Hypochondrie, verstocktes Blut, ein chronisches Nervenleiden hatten in den wenigen Jahren den Quell des dichterischen Wollens und Könnens in Stieglitz versiegen gemacht. Umsonst hatte ihre eifrige Fürsorge ihm erst Entlastung vom Schulamt, dann Urlaub an der Bibliothek, erfrischende Reiseeindrücke, anhaltende Badekuren, die Beseitigung aller Geldsorgen durch die von ihr heimlich erwirkte Hülfe des reichen Petersburger Verwandten verschafft. Die errungene Freiheit traf einen in seinem Geistes- und Nervenleben zerrütteten Mann, den die Muse bereits aufgegeben.

Dies aber wollte, konnte die entsetzte Gattin nicht glauben. Alles umsonst!? Hoffnungslos? – Sie hatte aus ihrem Goethe, dem Dichter des »Werther«, gelernt, daß die echte Dichtung nur erfließen könne aus persönlichen Erlebnissen, welche die Seele des Dichters mächtig ergreifen; sie hörte die Klagen ihres Mannes, daß es ihm an solchen Erlebnissen fehle; sie sah ihn Zeit und Kraft vergeuden an historischen Studien, auf diesem Wege Anregungen zum Dichten erst suchend. Dabei verfiel er mit Leib und Seele einer täglich wachsenden Neurasthenie. Heiße Sehnsucht, ihm auch noch das fehlende, ihm Herz und Sinn aufrüttelnde Erlebniß zu vermitteln, wühlte in ihrem Geist, glühte durch ihre Träume. Und da stieg es vor ihr auf – das Bild, das sie schon als Kind voll Sehnsucht vor sich gesehen: sie selbst in den Armen des Todesengels gen Himmel getragen! – Das war's! – Nur das konnte noch retten! Vom Tod allein noch konnte ihr jetzt Hülfe kommen: ihr Erlösung und ihm, dem Zurückbleibenden, mit dem großen Schmerz ein endliches starkes Ermannen zur echten rechten Dichterthat, die sein schönes Werden einst so beglückend versprochen hatte.

Jetzt erst, nachdem ihr dieser Entschluß in schweigsamer Seele gereift, erschienen Rachels Briefe, konnten diese auf sie wirken. Daß die so klarblickende, von energischer Wahrheitsliebe durchdrungene Frau von Gottes unermeßlicher Güte gesagt, sie werde gewiß nicht vor der Waffe des Selbstmörders Halt machen, gereichte ihr sicher zum Troste. Auch in ihrem Glauben an die läuternde Kraft wahren Schmerzes, auf den sich ihr Plan gründete, wurde sie durch so manche Briefstelle bestärkt. Rahels Urtheile über Goethe mußten sie an den tiefen Eindruck erinnern, den der Selbstmord Ottiliens in Goethe's »Wahlverwandtschaften« auf ihre Seele gemacht, von dem Mundts Buch uns berichtet. Umgekehrt wirkte der Umgang mit Theodor Mundt, der durch seine Geistesfrische so vortheilhaft von der Dumpfheit des Gatten abstach, und wie wir jetzt aus seinen Briefen an seinen Intimus Gustav Kühne wissen, eine tiefe Leidenschaft zu der schönen Unglücklichen im Herzen hegte, gewiß beschleunigend auf ihren Willen. Es ist, wie wir später sehen werden, jetzt kein Zweifel mehr, daß Mundt, wie Rousseau in seinem Verhältniß zu Frau von Houdedot, im Verkehr mit ihr aus ihrem Tröster und Berather in ihren bestehenden Herzenssorgen, indem er selbst zu ihr in Liebe erglühte, zum Urheber neuer Herzenssorgen für sie geworden ist, daß er ihr Herz mit Geständnissen und Bitten beschwert hat, die ihm ernste Zurückweisung eintrugen. Ihr Herz gehörte ganz dem leidenden Gatten. Als dann eigene Erkrankung mit schlimmer Wendung drohte, hielt sie die Zeit für gekommen. An vorbereitenden Andeutungen ließ sie manches Wort fallen. So sagte sie einmal zu Heinrich: »Ich bin fest überzeugt, verlörest du früher oder später mich an einer langwierigen Krankheit, du vergingest schon an dem Gedanken vorher, gingest wahrscheinlich entmannt und kahl in dir zu Grunde; würd' ich einmal mit einem Schlage dir entrissen, wie vom Blitze getroffen, da erhöbest du dich über deinen Schmerz und erstarktest. Widersprich mir jetzt nicht aus einem bange werdenden Gefühl! Ich kenne dich vielleicht besser als du dich selbst. Auch kann ich dich an deine eigenen Worte mahnen, in dem Schlusse deines Gedichtes ›Verlieren‹:

›Drum laß' nimmer dir die Brust
Um verlor'nes Gut verengen,
Denn das Leben ist ein Drängen
Nach Entbehren, nach Verlust.

Was es fordert, wirf es hin
Schmerzlos aus der schwanken Barke
Aber in dir selbst erstarke
Dir zu dauerndem Gewinn!‹«

Der unglückliche Gatte unterstützte sie noch in dieser Ansicht durch die Erzählung eines bezüglichen Traumes.

Am 28. Dezember 1834, nach einem trostlosen Verlauf des Weihnachtsfestes, schritt sie dann zur That. Nachdem sie ihren Mann zum Besuch eines Konzertes bewogen und ihr kleines Hauswesen in allem geordnet, schrieb sie auf seinem Pulte den Abschiedsbrief an ihn. Dann ging sie zu Bett und führte hier den Dolch, mit dem sie sich längst versehen, mit so sicherer Kraft ins Herz, daß sie ohne äußerlich sichtbaren Todeskampf an der inneren Verblutung verschied. Der Reinheit ihrer Seele entsprach auch der Anblick der Verschiedenen. »Die schönen, schneeweißen Glieder lagen in sanfter Eintracht hingestreckt. Die Wange war noch roth, die Hände leise heruntergezogen, nur einige Finger wenig gekrampft.« Sie hatte voll inneren Friedens vollendet.

Der Abschiedsbrief an den Gatten lautete:

»Unglücklicher konntest Du nicht werden, Vielgeliebter! Wohl aber glücklicher im wahrhaften Unglück! In dem Unglücklichsein liegt oft ein wunderbarer Segen, er wird sicher über Dich kommen!!!! Wir litten beide ein Leiden, Du weißt es, wie ich in mir selber litt; nie komme ein Vorwurf über Dich, Du hast mich viel geliebt! Es wird besser mit Dir werden, viel besser jetzt, warum? ich fühle es, ohne Worte dafür zu haben. Wir werden uns einst wieder begegnen, freier, gelöster! Du aber wirst noch hier Dich herausleben, und mußt Dich noch tüchtig in der Welt herumtummeln.

Grüße alle, die ich liebte und die mich wiederliebten!

Bis in alle Ewigkeit!

Deine Charlotte.

Zeige Dich nicht schwach, sei ruhig und stark und groß

Viele dieser den heimgekehrten Dichter bis ins Mark erschütternden Worte waren von Thränen verwischt. Aber weder die Thränen noch die Worte noch die heroische That konnten den Mann, dem sie galten, stärker und größer machen, als er war. Ihren Zweck erreichten sie nicht; jedoch die edle Dulderin war wenigstens erlöst von einem unerträglich gewordenen Schicksal, in welches reinste Liebe und selbstlosester Wahn ihr schönes Gemüth verstrickt hatten. Sie hatte ihr Ideal von Lebensglück durch Selbstaufopferung erzwingen, durch eine mit Absicht vollzogene poetische That ihren Dichter zum großen Schaffen entflammen wollen: daß beides ein tragischer Irrthum, hätte sie auch aus Rahels Erfahrungsphilosophie herauslesen können.

»Seit dem Tode des jungen Jerusalem und dem Morde Sands ist in Deutschland nichts Ergreifenderes geschehen, als der Tod der Gattin des Dichters Heinrich Stieglitz. Wer das Genie Goethe's besäße und es aushalten könnte, daß man von Nachahmungen sprechen würde, könnte hier ein Seitenstück zum Werther geben.« Mit diesen Worten schloß wenige Monate nach dem Ereigniß Karl Gutzkow seine Beurtheilung desselben. Er und seine Schildgenossen in den Kämpfen des »Jungen Deutschlands« haben wie über Bettina und Rahel verherrlichend über Charlotte Stieglitz geschrieben. Sie haben an deren Schicksal manches den Zeitverhältnissen Schuld gegeben, was doch – wie ich zeigte – auf der besonderen Gemüthsbildung Charlottes beruhte. Das Heroische ihrer That, die Stärke ihres Charakters, der ideale Geist der edlen Frau können dadurch aber nicht beeinträchtigt werden. Indem die Jungdeutschen die Verstorbene gegen die Anklage des Pastors Jonas vertheidigten, der an ihrem Grabe die That als »Verirrung eines krankhaften Gemüths« gebrandmarkt hatte, bewährten sie sich als Ritter für die Ehre einer der edelsten deutschen Frauen. Im Kern hatten sie völlig recht. Und wenn keiner von ihnen in der geistigen Gährung, in der sie sich alle befanden, damals im stande war, ein Seitenstück zum Werther zu bieten, so sind doch Gutzkow und Mundt unter dem direkten Eindruck dieses Freitods zu literarischen Wirkungen gelangt, die in ihrer zeitgeschichtlichen Bedeutung kaum hinter der des Werther zurückblieben.

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Am direktesten und stärksten beeinflußt von den geistigen Strömungen, die in Bettina's Briefwechsel, in dem Buch »Rahel« und im Tod der Charlotte Stieglitz zu Tage traten, ist entschieden Theodor Mundt worden. Unsere Darstellung hat des am 29. September 1808 in Potsdam (Sanssouci) geborenen Schriftstellers bereits gedacht bei Besprechung der Anknüpfung, die im Sommer 1832 der von Stuttgart nach Berlin zurückgekehrte Gutzkow mit ihm suchte. Auch Laube hatte als Redakteur der »Eleganten Zeitung« Beziehungen zu ihm gefunden. Mehr wie bei Gutzkow hatte bei ihm sich Geist und Talent im Element der spezifisch Berlinischen Bildung entwickelt. Die im 1. Kapitel bereits zitirte, von Pierson herausgegebene Zusammenstellung der Denkwürdigkeiten aus dem Nachlaß Gustav Kühne's ermöglicht uns einen tieferen Einblick in das werdende Seelenleben Mundts, denn der innige Freundschaftsbund, der ihn als Schüler und Studenten mit Gustav Kühne verband, war der Wärme- und Lichtheerd seines jungen Daseins. Beide besuchten zusammen das Joachimsthal'sche Gymnasium, machten 1826 zusammen das Maturitäts-Examen, wurden zusammen Studenten der Philosophie, saßen zusammen zu den Füßen Hegels und Schleiermachers, kamen zusammen in den Salon der Rahel und zu denselben literarischen Beziehungen, die ihre Entwickelung zu Schriftstellern förderten und unterstützten.

Kühne war der Sohn eines Rathszimmermeisters von Magdeburg und am 27. Dezember 1806 daselbst geboren. Seine Magdeburger Kindererinnerungen hatten zum Schwerpunkt die große patriotische Bewegung des deutschen Volksgeistes; zwei seiner Brüder hatten am Befreiungskrieg gegen Frankreich theilgenommen und ihre Rückkehr, sieggekrönt und umjubelt, war der größte Eindruck jener Jahre. Als der Junge für das Gymnasium reif war, entzog ihn der inzwischen zum Hauptmann avancirte älteste Bruder der Idylle des Vaterhauses mit ihren lustigen Zimmerplätzen am Elbufer, indem er ihn zu sich nach Berlin und seine Erziehung in die Hand nahm. Ueber eine ähnliche Häuslichkeit verfügte Mundt in Berlin als Schüler und Student nicht, dafür hatte er größere Freiheit als sein Freund Gustav, bei dessen Bruder, dem Herrn Hauptmann, streng militärische Zucht herrschte. In seiner Freiheit entwickelte Mundt, der weichere, empfindsamere und hingebendere von beiden, ein empfindungsfrisches Naturell, das gern romantischen Stimmungen nachhing, während Kühne, der ältere, gesetztere, zu einem sehr verständigen, ordnungsliebenden, fleißigen, aber auch etwas nüchternen und altklugen Jüngling emporwuchs. Beide theilten als Studenten die Begeisterung für Hegel bei poetischen Neigungen und hatten unter Schmerzen den gleichen Entwickelungsgang wie Gutzkow durchzumachen, der sie aus Adepten der abstraktesten aller Philosophien zu realistischen Schriftstellern wandelte. Das nach der Julirevolution auch in ihnen erwachte Interesse für die politischen Interessen des Vaterlandes war ihnen dabei ebenso förderlich wie die geistige Beeinflussung aus dem Rahel-Varnhagen'schen Kreise. Von Gans und Varnhagen protegirt, welche die eigentlichen Redakteure der »Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik« waren, verdienten sie ihre literarischen Sporen auf dem Gebiete der akademisch-vornehmen philosophischen Kritik, wurden aber bald von ihren poetischen Neigungen getrieben, auch auf belletristischem Gebiete Fühlung mit der Literatur zu suchen. Außer für die genannte Zeitschrift schrieben sie kritische Aufsätze für den literarischen Theil der Preußischen Staatszeitung, als dessen Beilage seit 1832 das »Magazin für die Literatur des Auslandes« erschien, in die Brockhaus'schen »Blätter für literarische Unterhaltung«, an welchen im Jahre 1832 Mundt auch Redakteur war, bis er in Berlin eine eigene Zeitschrift »Der literarische Zodiakus« gründete. Kühne war vorher schon Redaktionssekretär der »Wissenschaftlichen Jahrbücher« geworden und 1835 trat er an die Spitze der »Zeitung für die elegante Welt«, die seit Laube's Verbannung aus Leipzig inzwischen der Dichter des Burschenschaftsliedes »Wir hatten gebauet ein stattliches Haus«, A. von Binzer, der unter dem Pseudonym A. Beer manch anderes Gedicht veröffentlicht hat, ohne rechten Erfolg geleitet hatte.

Die Freundschaft zwischen Kühne und Mundt, welche in den Briefen des letzteren an jenen ein Denkmal erhalten, war von Seiten Mundts eine echte Herzbruderschaft, wie sie in solchem Ueberschwang der Freude am Hingeben nur die goldene Jugendzeit den Menschen als beglückendste Gabe gewährt. Die Ausdrucksweise auf Seiten Mundts erinnert wahrlich mehr an die »Herzensergießungen« aus der Frühlingszeit der deutschen Romantik, als an die skeptische Nüchternheit und kalte Berechnung, welche die Oberflächlichkeit einzelner Literarhistoriker allen Jungdeutschen als gemeinsame Charaktereigenschaft nachgeredet hat. Ist auch gewiß nicht zu läugnen, daß der Einfluß der Hegel'schen Philosophie, unter dem die beiden Studenten aufwuchsen, ihrer poetischen Begabung Abbruch gethan, daß er ihre Phantasie gelähmt und der konkreten Welt entfremdet, ihre Denkweise spitzfindig gemacht und der Frische ihrer Empfindung des Gedankens Blässe angekränkelt hat, Mangel an innerlicher Herzenswärme und Gemüthstiefe läßt sich nach diesen Briefen weder dem Schreiber noch dem Empfänger vorwerfen. Dieselben sind vielmehr gar treffende Belegstücke für die interessante Thatsache, welche Haym in seiner Einleitung zur »Romantischen Schule« in Bezug auf die »Verfechter des freien Geistes«, welche die Romantik bekämpften, mit seiner Beobachtung hervorgehoben hat: daß sie im Kampf gegen die Irrthümer der Romantik gleichzeitig einen Kampf der Selbstbefreiung auszufechten hatten gegen den Rest romantischer Vorstellungen, der, ihnen selbst unbewußt, an all ihrer Logik und all ihrem Radikalismus haftete. Die Emanzipation von Hegel war mit diesem Prozeß eng verbunden; wie jener für die Phantasie, so bedeutete dieser für den Verstand eine Rückkehr zur Natur und dem Leben als Wirklichkeit. Daß auch Mundt, der nicht so lange wie Kühne im Dienste Hegels verharrte, sehr früh zu der Einsicht gelangt ist, daß ihm und dem Freunde die doktrinärste aller Philosophien für ihre Laufbahn als Dichter wie überhaupt verhängnißvoll werden müsse, dafür erhalten wir durch den folgenden Brief an Kühne aus dem Jahre 1828 einen ebenso überraschenden wie interessanten Beweis. Derselbe beginnt mit einem Gedicht, das leider in dem Buche in Folge mangelnden Verständnisses völlig verballhornt wiedergegeben ist – die drei letzten Zeilen sind dort, im Druck eingerückt wie ein Motto, an den Anfang gestellt.

»Unbefriedigt strebt zu schaffen
In und an der Welt der Geist,
Das Geschaff'ne neu zu schaffen,
Ist sein Drang, der fort ihn reißt.
Denn der Geist ist stetes Werden,
Und sein Leben ist ein Streit,
Mit dem Endlichen auf Erden
Kämpft er für die Ewigkeit.

Doch in stilles Schau'n versunken
Ruht beseligt das Gemüth,
Das von inn'rer Wonne trunken
Ueberall nur Eintracht sieht.
Das Gemüth, im Glauben lebend,
Schmiegt sich treulich an die Welt,
Nach Versöhnung immer strebend
In sich selbst und mit der Welt.

Nun will ich Dir in Prosa ein Wort tieferer Poesie sagen, nämlich, wie sehr ich Dich liebe und von Deiner Treue gleichsam erhalten werde! Wie es mir sonst geht, Lieber? Mit meiner Gesundheit könnte ich zufrieden sein, wenn es mir nicht, wie Du leicht denken kannst, an Zerstreuung fehlte, denn auch die Einsamkeit kann als Krankheitsstoff wirken. Besonders dienlich zur Genesung, sowohl der körperlichen, als der geistigen, wird es für uns wohl sein, den Hegelianismus uns völlig aus den Gliedern zu vertreiben. Ich denke, es wird nicht viel dialektische Bewegung mehr nöthig sein, um ihn ganz auszuschwitzen. Eine solche, den Hegelschweiß fördernde Motion machte ich mir neulich mit Stahr, mit dem ich lange Gespräche über unsern philosophischen Berlinismus hatte. Er drückt sich fast stärker über ihn aus, als wir es bisher gethan hatten, und faßt ihn gerade von der rechten Seite an, von wo aus man ihn sich abwehren muß, wenn nicht das freie Leben in den dumpfen Kellergewölben des Systems verdunsten soll.« …

Wie es bei Freundschaften dieser Art, noch dazu bei Jünglingen von gleichem literarischem Ehrgeiz und doch verschiedener Begabung unvermeidlich, traten auch vorübergehende Spannungen ein, Gewitter, deren Ausbruch schließlich doch nur erfrischend und befruchtend wirkte. Da schreibt Kühne: »Flieg, poetischer Phönix! Schwinge Deine Flügel! Du wirst doch immer glücklich sein, wenn Du auch immer schwärmst und flatterst! Aber aushalten wirst Du nirgends, denn so treu wie ich liebte Dich noch Keiner.« – Und Mundt antwortet: »Jean Paul hat einmal gesagt: ›Freunde dürfen sich nicht täglich sehen, und am wenigsten zusammenwohnen‹, und ich glaube aus Erfahrung, dies bestätigen zu können. Wir haben den Muth gehabt und uns so stark geglaubt, dies nie zu berücksichtigen, aber dies hat uns eben geschadet … Es ist Dir bis jetzt nie darauf angekommen, Dir auch andere Freunde und Freundinnen zu erwerben, und nun stößst Du noch mit rücksichtsloser Bitterkeit den Freund von Dir, der jahrelang an Dir selbst am meisten bewährt hat, daß er aushalten kann. Glaube nicht, daß Du so viel Stärke hast. Dir selbst genug sein zu können, obwohl Du mir einige Male dergleichen angedeutet. Kein Mensch besitzt diese Stärke, und der Egoist am wenigsten, denn um sein Ich zu nähren, muß er doch andere Menschen haben, von denen er für sein Ich etwas aufnehmen kann. Menschliche Charaktere pflegen großer Veränderungen und Modifikationen fähig zu sein und darum möchte ich um so weniger wagen, über Dein Lebensglück, welches höhere Mächte behüten als unsre Schwachheit ermessen kann, abzusprechen.« Dieser Brief trug die Unterschrift: »Theodor Mundt, Doctor einer genügsamen Weltweisheit, Candidat der Zufriedenheit; überflüssiges, aber vom lieben Gott gern geduldetes Mitglied der menschlichen Gesellschaft, Geborner in Sanssouci.« … Von Leipzig aus schrieb Mundt später an den in Berlin gebliebenen Freund: »Thun wir nicht thöricht, uns für immer von einander zu trennen? … Was hat man denn vom Leben sonst, wenn nicht freundschaftlichen Umgang? Wir finden doch Keinen mehr, mit dem wir so zusammenleben könnten, und wenn wir uns auch oft wehe gethan haben, so kam das daher, weil wir mit einander aufgewachsen und uns mit einander hindurchgerungen haben durch Dorn und Qual des Jugendlebens.« Seine erste politische Schrift kündigte er Kühne Anfang 1832 mit folgenden Worten an: »Ich freue mich darauf, Dir meine Entwickelung der ›Einheit Deutschlands‹ bald vorlegen zu können und Deine Ansicht darüber zu hören. Ich habe selbstständige Studien für diesen Gegenstand gemacht, und besonders die Congreß- und Bundesnoten, die man in der That zur richtigen Beleuchtung der heutigen Zustände näher kennen muß, genau durchgelesen. Mag diese Arbeit Früchte tragen oder nicht, so hat sie mir doch zur eigenen Klarheit in manchen Dingen verholfen.« … »Wir Schriftsteller, mein Kühne,« schreibt er bald danach, »sind die wahren Prediger Gottes! Hat ein Buch auch nur einigen Menschen eine Stunde der Andacht, der Aufregung, des Selbstbewußtseins, des Insichgehens, durch Lebensbilder und Lebensreflexion bereitet, so hat er Ursach, sich seines Daseins zu freuen.«

Mundt hat – noch ehe er mit der politischen Schrift » Die Einheit Deutschlands in politischer und idealer Entwickelung« (Leipzig 1832, Brockhaus) sich an der Stimmabgabe zu den großen nationalpolitischen Fragen der Zeit betheiligte und neben den philosophisch-kritischen Arbeiten, deren Charakter wir bei Erwähnung der Sammlung »Kritische Wälder« (1833) schon besprachen – gleich mit einer modernen Erzählung aus der deutschen Gegenwart seinen Eintritt in die Literatur vollzogen, » Das Duett« (»Duell« steht fälschlich in den meisten Literaturgeschichten zu lesen) erschien bereits 1831 in Berlin bei Ferdinand Dümmler, Das erste Kapitel knüpft sogleich an den ungeheuren Umschwung im Verkehrsleben an und beginnt mit dem Vergleich der unstet-trödelhaften Thespiskarren-Zeit mit dem glänzenden Reisewagen einer gefeierten Sängerin von heute. Die »neuen Postwagen ohne Pferde«, welche von »englischen Dampfwerkzeugen gezogen, sie schnelles Fluges von einem Ort des Triumphes zum andern bringen«, bilden das erste Bild, das er seinen Lesern vorführt, um es sofort zu kontrastiren mit dem langweilig-verdrossenen Leben in einer Kleinstadt, zu welchem sich ein Assessor verurtheilt fühlt, der bis vor kurzem in der Residenz gelebt hat. Die Lust am Reisen ferner ist es, die uns sogleich, in der Gestalt eines Jugendfreundes dieses Assessors verkörpert, entgegentritt, dem Ex-Assessor Arnim, den eine glückliche Erbschaft in den Stand gesetzt hat, das Corpus juris mit der Staffelei zu vertauschen. Dieser Beginn ist ungemein charakteristisch für den Autor, der wenige Jahre später in der »Madonna« der neuartigen Literatur, als deren Repräsentant er sich fühlt, den Namen » Bewegungsliteratur« gab und als Schlagwort ausspielte für die ganze literarische Bewegung, die Gutzkow die »junge«, Laube die »moderne« Literatur nannte. Und charakteristisch für Mundt ist weiter, daß in diesem von Tieck'schen Mustern beeinflußten Roman das ästhetische Gespräch über Poesie und Kunst, die Stimmungs- und Gedankenwelt der Berliner ästhetischen Thees, in der er selber sich so wohl fühlte und von deren Oberpriesterin er selbst die Weihen empfing, die eigentliche Poesie überwucherte. Der Kultus, den die Berliner Bildung in den Jahren, da er dort studirt, der Kunst und der Person einer Henriette Sontag und Sophie Schröder, der Poesie und Persönlichkeit Goethe's, dem genialen Naturalismus Ludwig Devrients, der Freischützromantik Karl Maria von Webers gewidmet hatte, einen Kultus, den er mit lebhafter Begeisterungsfähigkeit getheilt, hatte er hier wiedergespiegelt und reflektirt durch den Kontrast der kleinbürgerlichen Verhältnisse, die in Potsdam die seinen waren, wo sein Vater als Rechnungsbeamter lebte. Die Heldin des Romans ist denn auch eine gefeierte Sängerin der »Residenz« und das »Duett«, auf das der Titel zielt, ist ein musikalisches Duett, das die junge edle geniale Adelaide Winter erst in einem Konzert mit einem fremden Sänger, später auf einem Fest mit dem Assessor Eduard singt, das Liebesduett aus Spohrs Faust im 1. Akt zwischen Faust und Röschen, und als Duett aus F-dur, der »Tonart der Liebe«, wird dann auch die Ehe geführt zwischen ihr und dem musikalischen Assessor, der aus Liebe zu dieser Gesangskünstlerin selber zum Gesangskünstler wurde. Als Lieblingsgegenstände seines ästhetisch-kritischen Interesses wechseln die Musik, deren kosmopolitischer und volksthümlicher, »darum echt moderner« Charakter gerühmt wird, mit Goethe's Kunst- und Geselligkeitstheorien ab, und in Beziehung auf letztere bewegen sich diejenigen Aeußerungen im Buche, in denen der Verfasser mit aller Höflichkeit eines liebenswürdigen Gesellschaftsmenschen gegen das Herkömmliche opponirt. Da klingt die Sehnsucht auf nach einer bewegteren, natürlicheren Verkehrsweise, als sie von Europens übertünchter Höflichkeit für dem guten Ton entsprechend erklärt wird, ein jugendfrischer, doch schnell auch wieder kleinlaut werdender Protest gegen die konventionelle Geselligkeit, »mit etwas Musik, etwas Kartenspiel, etwas Moquiren, viel Essen und viel Langeweile«. Ein weiterer Anklang an die Emanzipationsgedanken der Zeit ist sein Kampf für die Ueberzeugung, daß die durch Sympathie geweckte Liebe höhere Rechte habe als die von der Geburt durch Verwandtschaftsbande dem Menschen aufoktroirten. Ein warmblütiger Idealismus verleiht diesem Erstlingsroman einen durch Frische ansprechenden Charakter, ob derselbe nun im Tagebuch eines alten Professors sich nur pessimistisch äußert, z. B. in einer Parallele zwischen Goethe und Kleist, der die Pistole auf die eigene Brust gedrückt, die jener seinem Phantasiegeschöpf Werther in die Hand gab, oder in einer begeisterten Apostrophe auf die Unverwelklichkeit der Künste und die ewige Fruchtbarkeit der Geschichte, welche der Kunst immer neue Aufgaben, neue Gegenstände stelle. Als einen Widerhall aus Rahels Ideenkreis läßt sich auch die Grundidee der Nebenhandlung erkennen, der Protest gegen die Abhängigkeit schöner Beanlagungen vom Druck der angeborenen Familienverhältnisse. Es fehlt dem Roman nicht an spannenden Scenen und romanhaftem Aufputz und in Einzelheiten bewährt der junge Dichter ein ungewöhnliches Talent für die Festzauberung schöner Stimmungen und die Erfindung poetischer Gegensätze. Das Ganze ist geschickt komponirt, wenn auch in einer konventionellen Technik, die nach »Goethescher Ruhe« des Stils strebt und zu nachgiebig ist gegenüber dem Drange des Dichters, seine eigenen Meinungen über Fragen der Kunst und Lebensphilosophie von den Personen des Romans vortragen zu lassen. Von Politik ist in demselben nicht die Rede und vom Wirbelsturm der »modernen Ideen« zeigt sich der Verfasser noch unberührt.

Die Ergriffenheit von ihnen und die Reaktion seiner bisherigen Ansichten auf sie gelangte zuerst in der schon genannten Schrift über die Einheit Deutschlands zur Darstellung, in welcher er den Individualismus der Deutschen in Einklang zu bringen suchte mit dem Verlangen nach freier Verfassung. Das Verlangen nach einer politischen Einigung des Vaterlandes, wie sie die Doktrinäre des Liberalismus fordern, entspreche nicht dem Urtrieb der Deutschen nach Individualisirung des Lebens. Er führt aus, daß die konstitutionelle Staatsentwickelung in Deutschland, wie sie im Zuge sei, indem sie jedem Einzelstaat eine andere Verfassung zuweise, die sich aus seiner partikularen Eigenthümlichkeit gründet, gerade einer politischen Gesammteinigung unsres Vaterlandes am entschiedensten entgegenwirken müsse. Dies entspräche aber dem Wesen des Deutschthums durchaus. Und es sei zu bezweifeln, ob es durch ein Zusammenfassen seines Lebens in einer deutschen Zentralhauptstadt jene Mannigfaltigkeit der Kulturentwickelung fortsetzen könne, welche die bisherige Sondergestaltung der Stämme und Staatengebilde ermöglicht habe. Seinem engeren Vaterland Preußen prophezeit er die führende Rolle bei einer politischen Wiedergeburt der Nation. Sein Ideal scheint eine Förderativ-Republik zu sein, ähnlich der Bundesverfassung der Schweiz, doch bietet er keine festen Resultate, sondern nur das geistige Ringen nach solchen. Er selbst will sich klar werden über die politischen Ideale der Zeit und ihre Ausführbarkeit und liefert so ein Spiegelbild dieses inneren Klärungsprozesses, dessen Ergebniß leider nicht die Klarheit selbst ist.

In vielen Einzelheiten begegnete er sich mit Gutzkow und auch mit Pfizers Selbsteinwürfen, die dieser seiner Forderung eines deutschen Reichs mit preußischer Spitze voranstellte, und wie der erstere in seinen »Narren-Briefen« begnügte er sich, ein Spiegelbild der verschiedenen Strömungen zu entwerfen, die bei dem Ringen der Nation nach Einheit und Freiheit einander entgegenwirbelten und doch nach Vereinigung verlangten. Charlotte Stieglitz, welche in ihrem Tagebuch die Schrift besprach, schloß ihre Niederschrift mit dem Bekenntniß, daß sie durch die Lektüre in der Frage »Konstitution und Republik der Deutschen« nicht ins Reine gekommen sei. »Das Paradies der Geschichte als Republik steht fast feindlich dem gegenüber, was der Verfasser gerade von der Entwickelung der Individualitäten der Einzelglieder Deutschlands sagt.« Durch das Buch schimmere der ironische Geist der Zeit, der Geist des Widerspruchs durch, in dessen Licht Alles im Werden erscheine.

Und dies eben war der Fluch des Hegel'schen Einflusses auf empfängliche unselbständige Geister, wie Mundt einer war, daß die Methode seiner Dialektik den Verstand schulte, immer in Gegensätzen zu denken, bei jeder Vorstellung zu ihrer Verneinung überzuspringen, vom Sein zum Nichtsein, vom Werden zum Vergehen, vom Glauben zum Zweifel. Der Drill dieser logischen Zucht hatte als Uebung gewiß sein Gutes und hat in jener Zeit der nothwendig gewordenen Zersetzung von so viel Ueberlebtem eine hohe Mission erfüllt. Aber er erschwerte den jungen Geistern die Hingabe an eine Ueberzeugung, die Bildung einer eigenen feststehenden Gesinnung, er trieb sie von Zweifel zu Zweifel, von Meinung zu Meinung, von einer Anschauung zur andern, und nur die Starken vermochten sich aus diesen »Schlangenhäutungen des Geistes« zu einem hieb- und wetterfesten Charakter zu entpuppen. Ein An- und Aufgeregtsein von den Zeiterscheinungen, die ihm die Zeitungslektüre vermittelt, an die er sich verliert, so daß sie ihn zur poetischen Gestaltung anregen, und die er doch wieder, als er diese durchzuführen trachtet, zergliedert, ein Streben nach Realismus, während die Phantasie die Dinge doch romantisch auffaßt, äußert sich auch in den nächsten Novellen »Madelon oder die Romantiker in Paris« und »Der Basilisk oder Gesichterstudien«, die beide sichtlich unter dem Einfluß des gleichzeitigen französischen Romantismus entstanden sind. In der letzteren hat ein Vater sein Weib einem Fürsten verkuppelt. Der Großvater flieht mit dem Knaben, wird Menageriebesitzer und kehrt zurück, um seine wilden Bestien gegen den beim schwelgerischen Mahle überraschten Fürsten zu hetzen. Romantik des Gräßlichen mitten unter modernen Fracks.

Hatten schon Gutzkows »Briefe eines Narren an eine Närrin« diesen Uebergangszustand charakterisirt, so wurde diese letztere Absicht für Mundt geradezu Hauptzweck seines zweiten größeren poetischen Werkes, » Moderne Lebenswirren. Briefe und Zeitabenteuer eines Salzschreibers« (Leipzig 1834, Gebr. Reichenbach), auf dessen Titel er sich nur als Herausgeber nannte. Der Salzschreiber Seeliger sei ein Mensch, der sich in beständigen Widersprüchen bewege, und es deshalb kein Wunder, daß er allen Parteileidenschaften zum Opfer fallen mußte, so erklärt uns die Vorrede, welche »am Pfingstsonntag 1834 in Neu-Schönhausen« bei Berlin geschrieben wurde. Er habe dies Buch deshalb gern herausgegeben, weil es gar keine Resultate habe, sondern nur dazu reize, solche zu suchen. »Es ist gerade so resultatlos, als unsere Zeit selbst es noch bis auf diese Stunde ist, und ein Buch muß und kann nicht klüger sein wollen, als seine Zeit.« Der erste Brief an »Esperance«, die Geliebte des Salzschreibers (wohl symbolisch für die Hoffnung), ist datirt: »Kleinweltwinkel, 1. Mai 1833.« Der Salzschreiber ist ein junger Mann, wie Mundt selbst, der die kühnen Dichterträume seiner Studentenzeit hat aufgeben müssen, und, obgleich die Natur ihn doch zu ganz anderem geschaffen, Salzschreiber beim Salinenamt auf Diäten in Kleinweltwinkel geworden ist. Er klagt der Geliebten seine Leiden. Seit der Julirevolution kranke er an einer schrecklichen Krankheit, dem Zeit-Polypen. Er reißt und kneift an seinem Herzen und nimmt ihm den Athem … »Der Zeitgeist thut weh in mir, Esperance. Kennst Du das? Der Zeitgeist zuckt, dröhnt, zieht, wirbelt und hambachert in mir; er pfeift in mir hell wie eine Wachtel, spielt die Kriegstrompete auf mir, singt die Marseillaise in all meinen Eingeweiden, und donnert mir in Lunge und Leber mit der Pauke des Aufruhrs herum. Vergebens lese ich in jetziger Stimmung meinen alten geliebten Goethe, um mich durch ihn wieder in die gute goldene altväterliche Ruhe eines literarischen Deutschlands einzuwiegen; um sie mir gewissermaßen als Aufruhrakte gegen meine dermalige Zeitaufregung zu verlesen. Es hilft Alles nichts mehr … So viel weiß ich nur, daß etwas Neues mit mir vorgehen muß, – wenn ich leben bleiben soll, und daß ich die Wiedergeburt meines alten deutschen Adam nur in den jetzigen Zeitinteressen finden kann … Wie aber soll ich hier den Sauerteig der Zeit, der noch formlos in mir gährt, zum wahren Brot des Lebens ausbacken?« …

Das Buch besteht fast aus lauter solchen unruhvollen Briefen dieses unglücklichen Zeitkranken an seine Esperance, aus deren ruhigen und bestimmten Antworten nur einige Bruchstücke mitgetheilt werden. In seiner versimpelten Weltwinkel-Einsamkeit, in welcher seinem Geiste keine ernsthaften Aufgaben gestellt sind, die ihn wirklich beschäftigen, verfällt derselbe aufs Phantasiren. In seinem Bureau, auf seinen Spaziergängen und so fort wird der brave Salzschreiber oft von einem Herrn von Zodiakus überrascht, der ihn zu politischen Gesprächen verleitet. In diesen Gesprächen spricht dieser unheimliche Gast einmal für die Revolution, einmal für die konstitutionelle Monarchie, einmal für den liberalen Fortschritt, einmal für die Legitimität und den Absolutismus und immer in so überzeugender Weise, daß der beunruhigte Salzschreiber sich seinen Beweisschlüssen nicht ganz entziehen kann. Wie Gutzkow dies schon in den Briefen eines »Narren an eine Närrin« gethan – an dieses Vorbild lehnt sich das Mundt'sche Buch in vieler Beziehung an, während für Herrn von Zodiakus seine Retortenverwandten in Hauffs Memoiren des Satan und Hoffmanns Elixiren des Teufels, sein Urbild aber in Goethe's Mephisto zu finden sind –, so wird in diese Briefe eines Gespenstersehers allerhand Zeitgeschichte und Zeitkritik hineinverwoben, in welcher letzteren entweder positiv oder durch das Mittel der Ironie der Geist der Opposition sich geltend macht. Schließlich belauscht der Salzschreiber ein Gespräch des Herrn von Zodiakus mit seiner »Altmutter«. Da erfährt Herr Seeliger, daß er mit dem Teufel selber zu thun hat. Er hat ihn durch sein Hin- und Herreden zur Verzweiflung bringen, zum Selbstmord verführen wollen. Er ist nicht mehr der metaphysische Mephistopheles, sondern der Geist des politischen Widerspruchs, – »Zodiakus« genannt, nach dem Thierkreis der Zeit. Die Sonne der Wahrheit müsse durch diese Zeichen des Thierkreises laufen. Die Sternbilder dieses Thierkreises seien die politischen Parteien, in deren Zeichen die Wahrheit wechselnd erscheine und durchgehe. Er verblende die Menschen, daß sie meinen müßten, die Wahrheit sei stets in demselben Sternbild zu finden: sei's im Zeichen des Krebses (wie den rückwärts gehenden Legitimen) oder im Zeichen des Widders (wie den stößigen Liberalen) oder im Zeichen der Waage (wie den Alles abmessenden Justemilieus). »Wenn die Sonne im Zeichen des Widders steht, so sagt der Teufel, beginnt bekanntlich, nach der ewigen Monotonie dieser Erdengesetze, das, was die Menschlein den Frühling nennen, und so glauben denn auch die kampflustigen Liberalen, die im Zeichen des Widders ihre Wahrheit haben, mit Recht den Anbruch eines neuen Völkerfrühlings herauszuführen. Erscheint aber die Sonne im Sternbild der Waage, so ist das Herbstäquinoktium da, und die Justemilieus, diese Herbst-Tag- und Nachtgleichen der Zeit, gehen eifrig an ihr Geschäft, eine Tag- und Nachtgleiche der Meinungen zu verbreiten. Und wenn im Zeichen des Krebses sich die Sonne zeigt, so tritt die Erde ihr Sommersolstitium an, eine Erklärung für das schlechte Wetter, das seit mehreren Jahren auf diesem Planeten zu hausen pflegt. So ist es auch mit dem Altenweibersommer, dessen die unter dem Sternbild des Krebses fechtenden Legitimen sich rühmen können, und ihre Sommersonnenwende, die noch in die Zukunft hineinscheinen möchte, ist falsch und verspätet, da sie nur auf die abgeblühte Vergangenheit zurückweist.« … Auf diese Mittheilungen schreibt ihm Esperance, er solle schleunigst machen, daß er aus dem traurigen Gespensterort Kleinweltwinkel herauskomme. An der Schule, an welcher sie wirke, sei der Posten des Lehrers der Geschichte frei, den habe sie für ihn erwirkt. Er müsse arbeiten seiner Begabung gemäß. Als Dame sei sie zwar nothwendig für das Justemilieu, die passive Rolle, welche zur Zeit den Frauen in allen öffentlichen Angelegenheiten zuertheilt sei, verurtheile sie ja dazu. Aber dessen sei sie gewiß: »Fortschritt, Freiheit, Zukunft! sind und bleiben die schönsten Worte der Menschheit. Sie sind unser Aller Gebot.« So klangen die »modernen Lebenswirren« mit dem Worte »Esperance's« hoffnungsreich aus.

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An den Onkel ihres Mannes, den auch von Rahel geschätzten Bankier Ludwig von Stieglitz, auf dessen Landgut bei Petersburg Charlotte Stieglitz mit diesem im Sommer 1833 längere Zeit geweilt hatte und dem sie von da an ausführliche Briefe aus Berlin sandte mit allerhand Neuigkeiten aus dem Literatur- und Kunstleben, schrieb diese ein halbes Jahr vor ihrem Tod, den 25. Juli 1834: »Unser Freund Mundt hat jetzt ein höchst interessantes und eigenthümliches Buch geschrieben: ›Moderne Lebenswirren‹. An die Stelle der früheren metaphysischen Mephistophele hat er einen politischen eingeführt. Vermöge einer fein angelegten und geschickten Gruppirung läßt er in ihm, dem Mittelpunkte, die verschiedenen Zeitparteien und Zeitbewegungen als geistvolle Controversen sich begegnen; wie es sich denn, wunderbar genug, wirklich in den letzten Jahren oft an Einem Individuum wechselnd dargethan. Unscheinbar hebt es an; aber eine geniale Skepsis zieht sich schwellend durch das Ganze, Hand in Hand mit einem tiefen Humor, und bedeutsame Gestalten steigen hier und da aus dem krausen arabeskenartigen Gewinde. – Jetzt ist Mundt im südlichen Deutschland, nachdem er einige Wochen in Jena zugebracht, wo er im Auftrage des Ministeriums die Herausgabe des Knebel'schen Nachlasses vorbereitet.«

Das platonische Freundschafts- und Liebesverhältniß zwischen Mundt und der unglücklichen Frau stand damals im Zenith seiner verhängnißvollen Entwickelung. Je ungastlicher es durch die Krankheit des Gatten im kleinen Salon der hochstrebenden Charlotte geworden war, je seltener noch ihr herzentquellender Gesang vor einem größeren Kreis von Gästen ertönte, je inniger gestaltete sich die Freundschaft zwischen ihr und dem Getreuen, der sie sich zur Aspasia seiner emporstrebenden Muse erkoren hatte. Schon seine »Kritischen Wälder« hatte er ihr gewidmet und wenn er sich in diesen als ritterlichen Kämpen »der Grazien gegen Hegel« bewährte, so hatte er diese Wandlung nicht zum geringen Theil dem Einfluß seiner künstlerischen Freundin zu danken. Wie aus ihren Briefen an ihn, deren erster vom 7. November 1833 datirt, hervorgeht, hat sie mit vielem Verständniß, mit anregender Anerkennung und, wenn nöthig, auch fein ironisirendem Spott an seiner geistigen Entwickelung Antheil genommen, die Ausbrüche seiner Leidenschaft mild zurückweisend, und doch ihm nie herzlichen Antheil versagend an seinen Hoffnungen, Bestrebungen und Kümmernissen. Sie ließ sich z. B. nicht abhalten, ihm nach Empfang jener Widmung ironisch zu schreiben: »Ich überlese heute Morgen von Neuem Ihre frische, jugendlich hoffende Vorrede, nach der man auf ein erstehendes Griechenland schließen könnte – man denke sich diese geistige Republik, dieses gänzliche Verschmolzensein von Leben, Kunst und Wissenschaft, und dazu eine dicke Monarchie, so giebt das mit der Zeit einen Konflikt, über den Mundt einen höchst geistreichen Aufsatz schreiben und irgend einem absoluten Herrscher unterthänigst widmen könnte!« – Am 7. Januar 1834 schrieb sie: »Sollten Sie, werther Freund, nicht vielleicht Ihre Rezension über Rahel wiedergefunden haben? ich bäte alsdann, sie heut Abend doch mitzubringen. Bedeutend bin ich in der Verinnigung mit Rahel vorgerückt, und wenn es in der Freundschaft nicht abzuleugnende Strömungen giebt, so muß in meinem Verhältniß zu ihr jetzt gerade volle Fluth sein! … Warum aber diese Briefe, bei aller Bedeutendheit, im Anfang nicht wohlthätig auf mich wirkten, hatte seinen Grund in dem so häufigen Aufwerfen großer Fragen, die nicht beantwortet werden – in dem Aufwühlen, ohne wieder zu klären, so daß ich chaotisch aufgeregt wurde, ohne beruhigt zu werden. Da ich nun aber auch oft an Ueberfülle von Fragen leide, so thun mir Antworten bei weitem wohler. – Sie verstehen, wie ich das meine! – Sei es jedoch nun, daß ich in diesem Bewußtwerden jetzt ruhiger lese oder überhaupt in einer empfänglicheren Stimmung dafür bin, oder daß sie selbst im letzten Theile ruhiger wird, genug, ich bin auf das Brillanteste mit ihr ausgesöhnt und halte sie nun für's Leben! – Hierin also wären wir jetzt übereingekommen, Freund! In einer anderen Sache werden wir es wohl schwerlich jemals.« – »Anbei mit herzlichem Danke das Buch zurück. Ich habe die schönsten Lieder Rückerts, die ein wahres Herüber- und Hinüberleben des innern Menschen mit der Natur sind, ausgeschrieben.« – 24. Februar: »– Lassen Sie es immer in sich und aus sich heraustoben – wehe dem Schaffenden, in dem es aufhört zu toben! Ich glaube, jeden packt es und treibt es auf andere Weise, und jeder hat es auf seine eigene Weise zu bewältigen. Ich kostete oft in unserm Garten (in Leipzig) die ätzenden Frühlingsthränen, diesen Ueberschwang des Weinstocks, der im Herbst die süßesten Früchte trieb. Nach Vollendung Ihrer »Lebenswirren« müssen Sie ohne vieles Säumen ihre schöne Reise antreten, nachher wird Sie's schon wieder drängen zu Neuem, Ihnen Angemessenen!« …

Diese Erholungsreise trat denn auch Mundt einige Monate später an. Erst ging's nach Jena, wo ihm Varnhagens Freundschaft die Aufgabe verschafft hatte, den literarischen Nachlaß des alten Knebel zu sichten, den er später mit Varnhagen zusammen in 3 Bänden herausgab. Ueber Dresden reiste er nach Teplitz, wo auch Rahel so gern geweilt und wo ihm die Konzeption eines neuen poetischen Werks aufging, dann ging's über Prag nach Wien, wo er sich an dem bunten Wechsel der Eindrücke, an dem lebenslustigen Wesen der Pragerinnen und Wienerinnen berauschte. Es war die erste größere Reise unseres Potsdamer Kindes. Sie war ihm eine Befreiung aus der ungesunden, unbefriedigt gebliebenen Leidenschaft für die Freundin, welche um dieselbe Zeit mit ihrem Manne in Kissingen weilte. Im August waren beide, über Dresden, Teplitz und Prag, in das Bad gereist. Sie hatten darauf gerechnet, den Freund noch in Prag zu treffen. Vor ihrer Abreise hatte Charlotte an Mundt dort geschrieben: »Möge die Reise, auf der Sie jetzt begriffen, Ihnen herrlich resultiren! Ich sende mit innigem Dank Ihr Tagebuch Ihnen wieder zurück; die Fortsetzung bekomme ich nach unserer Rückkehr am Ende doch noch?! – … Was sagen Sie zu Lamennais? Mir scheint es ein Stück Bibel mit Anwendung auf die neueren Verhältnisse ins Französische übertragen. Die Franzosen, die keine Bibel kennen, sind davon elektrisirt, das steckt die deutschen Schöngeister an, oder ihnen schmeckt der Bibelton auf gut Französisch auch wie ein neues Gericht. – Sein Herz dürfte man eigentlich nie vertheidigen wollen; es ist der Hohepriester, der mit der Waffe gleich entheiligt. Ich kann es auch nie wieder, es hat einen zu niederschlagenden Eindruck hinterlassen, und so müßte ich Sie, geliebter Freund, schon ein anderes Mal bei Ihrer Meinung lassen, so schmerzlich mir es auch sein würde!« Anknüpfend an diesen vorwurfsvollen Schluß schreibt sie dann aus Kissingen: »Sowie ich hörte, ein Brunnengast reise nach Berlin, klopfte auch gleich ein Gedankengruß an Ihre Thür, denn ich fühle mich ja schon längst wieder so ausgesöhnt mit Ihnen, als hätten Sie mir bogenlange Briefe geschrieben, und ich habe doch noch keine Zeile – das besorgen Alles die guten Geister, die hin- und herschwirren und für die es weder Ferne noch Meilenweiser giebt. – – Man muß reisen, um etwas zu erleben,« mit diesem Wort geht der Brief auf einen getreuen Bericht der in Dresden, Teplitz, Prag empfangenen Eindrücke über … und als sie dabei einer Lebensgefahr erwähnt, welcher sie in der sächsischen Schweiz entrannen, folgen die bedeutsamen Worte: »obgleich ich fieberhaft erregt die ganze Nacht war und Stieglitz aufs höchste elend, so war ich kindlich froh und dankbar gegen den Himmel, – warum? um dieses lieben bösen Lebens willen, mit dem wir es so gern noch von einer Zeit zur andern immer versuchen wollen, versuchen, ob man sich denn wirklich mit seinen theuersten Freunden nicht am Ende noch verstehen wird.« Aber die lebensfrohe Stimmung hält nicht an. Sie duldet furchtbar unter dem Mitleid mit ihrem willenskranken Gatten, der jetzt in einen verhängnißvollen Hölderlin-Kultus verfällt. Einen inzwischen eingetroffenen langen Brief Mundts beantwortet sie in melancholischer Stimmung und schließt diese vertrauliche Herzensergießung: »Wie freue ich mich, daß es nach Ihrer Reise aus Ihnen heraufblühen, wachsen und reifen wird!!! Meine ›Kindermemoiren‹ sind in den verwichenen Monaten wahrhaft erstickt. Welcher Ernst liegt zwischen jenem schönen Morgen in Pankow und dem heutigen! Ob ich je wieder so froh werden kann, ich weiß es nicht, es war eine berauschende Sonnenhöhe, von der ich bald, ich weiß nicht, wie viel Schuh, herunterglitt; aber wie man vorsichtig und weise mit der Zeit werden wird! Wie man sich vor seinem eigenen Schwindeln mit der Zeit fürchtet, die Gipfel vermeidet, weil man zu sehr erhitzt und bergab abgekühlt werde, ist wahrhaft rührend!!« Auf einer gemeinsamen Partie nach Pankow hatte Charlotte dem Freund viel von ihren Kindererinnerungen erzählt und dieser sie gebeten, dieselben doch aufzuschreiben. Auch aus den Briefen der vielgeprüften Frau, die sie nach der Rückkehr in Berlin bis wenige Tage vor ihrem Tod an Theodor Mundt schrieb, – der letzte begleitete ein Weihnachtsgeschenk, – enthalten Spuren schwerer Herzenskämpfe, die darauf deuten, daß die zur Leidenschaft angewachsene Empfindung Mundts für sie, neben den von diesem selbst in der Biographie angegebenen Beweggründen zum Selbstmord dazu beitrug, ihren tragischen Konflikt mit dem Leben zu verschärfen.

Am Tage nach ihrem Tode schrieb hierüber Mundt an Kühne: »Gestern, theurer Freund, als ich von Euch schied und nach Hause kam, rief mich noch ein Bote zu Stieglitz. Charlotte Stieglitz ist nicht mehr, ich fand sie todt und stürzte besinnungslos vor ihrem Bette nieder. Ich habe an ihr so viel verloren, daß ich es nicht sagen kann! Ich habe an ihr so viel besessen, als Du nie ahnen konntest! Das Verhältniß zu ihr, das schönste, herrlichste, edelste, erhielt mich aufrecht und heiter! Jetzt ist eine ganze Blüthenstelle in meinem Menschen für immer verödet! Sie war die herrlichste Seele, die gelebt hat! Viele haben sie gekannt, wenige wie ich. Ich habe sie geliebt! …« Und noch ein Jahr später schreibt er: »Morgen wird es ein Jahr, daß das köstlichste, süßeste Leben mir so schmerzhaft entrückt wurde, und ich verhülle in den Erinnerungen dieser Tage mein Haupt und möchte um die Wohlthat einer Thräne betteln. Aber wenn ich auch nicht weinen kann, so bereitet sie nur selbst viel schönere Stunden, indem mich die Gedanken an sie oft mit einer unbeschreiblichen Seligkeit überfallen, mit einem Bewußtsein ihrer Nähe und ihres Wesens, das dermalen meine einzige Erquickung ist.« Da das »Denkmal«, welches er dann der so leidenschaftlich vermißten Freundin setzte, unwillkürlich auch zum Denkmal der gemeinsamen seltenen Freundschaft zwischen ihnen wurde, konnte es nicht an unlauteren Deutungen dieses Verhältnisses fehlen, auf dessen Höhe sich gemeine Naturen naturgemäß mit ihrem Verständniß nicht zu schwingen vermochten. Auch Feinerfühlenden machte es Mundt durch manche Taktlosigkeit im Veröffentlichen seiner Erinnerungen schwer, den im höchsten Sinne des Worts platonischen Charakter dieser Freundschaft gläubig zu erfassen. Selbst Kühne wurde auf Grund einer Anspielung Mundts in einem Briefe an ihn, daß man die Hauptursache des Selbstmords nicht kenne, einmal an demselben irre. Dies riß Mundt zu einem rückhaltlosen Bekenntniß hin, dem wir folgende Sätze entnehmen: »Mein unbegrenztes Vertrauen zu Dir hatte mich verleitet, mich über eine Seite meines Lebens zu Dir auszusprechen, die sonst verhüllt und verschlossen liegt, aber ich sehe, daß sie trotz manches vielleicht zu weit geführten Wechselgesprächs, Dir dennoch eine noch unaufgeschlossene ist und Du wie ein Fremder in den Bildern meiner leisesten Gedanken blätterst. Ich kenne keine ›geheimeren Motive‹ von Charlottens Tod; ich wage keine zu kennen. Sie starb an ihrem Mann und an ihrem Herzen und an der Welt … Daß ich sie geliebt habe? Ich verweise auf das Buch, und wehre nur die unlauteren Deutungen meines Verhältnisses, wie sie in der ›Evang. Kirchenzeitung‹ gemacht worden sind, mit aller Entrüstung meiner Seele ab … Ich gestehe, sie war mir eine Heilige, und ich habe niemals einen unreinen Gedanken zu ihr gefaßt, aber an Keckheit dessen, was ich ihr von meinen Gefühlen sagen und bekennen durfte, hat es vielleicht niemals ein großartigeres und geistigeres Verhältniß gegeben … Meine Liebe zu ihr reicht über den Tod hinaus und hat eine ewige täglich sich erneuernde Wirklichkeit; selbst wenn ich ihr gar nichts gewesen wäre, würde ich doch gebunden sein, sie in meinen Gedanken weiter fort zu lieben. Die Motive ihres Hinscheidens sind lediglich in dem Verhältniß zu ihrem, von jeher mehr dämonisch als glücklich von ihr geliebten Gatten zu suchen; wer aber den ›Opfertod‹ buchstäblich nimmt, irrt psychologisch; es war nur ein Nebengedanke von ihr.« … Und mit Bezug auf sein Buch schließt er: »Die echteste Ueberlieferung ihres schönen Lebens ging in ein treues Herz über, aus dem sie in wahrer Gestalt, wie sie gewesen, sich selbst ein Denkmal, auferstand. Nichts ist dabei Dichtung, und ich habe kein Verdienst, als das der Selbstverleugnung, indem ich ihr dieses Denkmal setzte.«

Als Kühne diese, von Mundts eigenen Briefen an Charlotte begleitete Seelenbeichte empfing, schrieb er erschüttert darunter: »In allen seinen Bekenntnissen ist nichts weniger als Selbstverleugnung, vielmehr eine sehr graziös gehaltene, anmuthige Selbsthingebung, die eben das Poetische seiner Persönlichkeit ausmacht – und hier im Besten, Tiefsten, diese Selbstverleugnung!« – Man kann über solche Art der Selbstverleugnung sehr verschieden denken; mir persönlich will ein Liebhaber, der seine Leidenschaft unterdrückt und dennoch die Geliebte mit den Geständnissen seiner Liebe beunruhigt, keineswegs unbedingt bewundernswerth erscheinen; »Emanzipation des Fleisches« aber kann man diesen Spiritualismus der Liebe gewiß nicht nennen! Mit Recht sagt Wolfgang Kirchbach, der eine ansprechende Vorrede zu dem nicht von ihm bearbeiteten Buche über Kühne geschrieben hat, im Hinblick hierauf und auf ähnliche Charakterzüge, die der Band mittheilt: »Man wird nicht ohne Rührung den begeisterten Edelsinn, die schwärmerische Reinheit der Empfindung, ja die Wertherhafte Rührseligkeit und Gefühlsseligkeit jener jungen Männer bemerken, welchen ihre Gegner die ›Emanzipation des Fleisches‹ als einen Popanz vorwarfen, mit dem man dem Bundestage der uneinigen deutschen Nation einen heillosen Kinderschrecken einjagte. Welche Zeiten! Das also sind die Staatsverbrecher, deren Bücher man verbot, diese harmlosen, gefühlsfrommen, keuschdenkenden, ach so echt deutschen Jünglingsnaturen, die mit gefühlsseligen Frauen zur arglosen Seelenbeichte gingen und wahrlich ›Werthers Leiden‹ und Jean Pauls ›Titan‹ noch nicht vergessen konnten!«

Was im besonderen Mundt in den Augen des preußischen Oberkirchenraths und dann des deutschen Bundestags zum Staatsverbrecher stempelte, war die Frucht jener Reise nach Teplitz, Prag und Wien, die so anregend und ausspannend auf sein von Bücherlust, Gedankenarbeit und der unterdrückten Gluth einer unbefriedigten Leidenschaft überhitztes Wesen gewirkt hatte, war das Buch » Madonna. Unterhaltungen mit einer Heiligen. Herausgegeben von Theodor Mundt«, das Ostern 1835 bei Gebrüder Reichenbach in Leipzig erschien.

Dies Buch ist keineswegs unter dem Eindruck des tragischen Ausgangs seiner Liebe für Charlotte Stieglitz entstanden, sondern vor ihm, auf jener Reise nach Dresden, Teplitz und Prag, aus einem von tausend kühnen Hoffnungen geschwellten Herzen erwachsen. Ein Aufjauchzen der Seele, die zum ersten Mal den Sinnen volle Freiheit gewährt, die sich darbietenden Reize der Welt froh zu umfassen, klingt durch die »Posthorn-Symphonie«, welche das seltsame Werk einleitet, ein wildes Drängen, die Fesseln des Herkömmlichen zu zersprengen, die das Leben so schwer, so trüb, so langweilig machen. »Trara! Trarara! Man muß reisen. Es läßt sich heuer nichts Vernünftigeres thun, als auf die Reise zu gehen, besonders wenn man keine Heimath hat im eigenen Vaterlande. Nicht Heimath, nicht Weib, nicht Kind, nicht Haus, nicht Heerd, nicht Ruhe, nicht Rast, nicht Andacht, nicht Hoffnung – ein windschiefes Leben … Blase, blase, wilder Sturm! könnte ich, wie König Lear, zu diesem Herzen sagen, das mir hier unter dem Reisemantel schlägt und lacht und weint und wieder lacht. Und warum sollte es nicht auch lachen? Die hohe Nacht draußen ist schön, wenn auch stumm, und die Sterne sind hell, wenn auch fern, und meine Liebe ist süß, wenn auch unerreichbar.« Vorwärts bewegen will er sich, während daheim das Leben verstockt. Bewegtes Leben will er suchen, bewegte Menschen, nicht die unbewegte Natur und bewegungslose Ruinen, seien sie noch so schön. »Ja, leben will ich gern und mir mit den Menschen aller Orten zu schaffen machen. Ich will auf den Dörfern spazieren gehen und in kleinen Städten über Nacht bleiben, um die stillen Herzschläge eines armen abgeschiedenen Lebens zu belauschen und nachzusehen, wie es der Weltgeschichte in den Bauernhütten und auf den Wirthshausbänken hinterm Bierkruge ergeht. Ich will dem deutschen Bauer zureden, daß er Abends regelmäßig die Zeitungen liest, und der deutschen Bäuerin, die ihr gesundes Kind an der blühenden Brust stillt, will ich sagen, daß sie den Jungen nicht blos für den Pflug geboren hat, sondern für ein menschlich gefühltes und berechtigtes Dasein. In der nächsten kleinen Stadt will ich mich erkundigen, was die aufgeweckte Schneiderstochter jetzt aus der Leihbibliothek liest, und ob die Stadtpfeifer, als die Julirevolution noch Mode war, niemals die Marseillaise geblasen haben auf der Ressource? Und in großen Residenzstädten werde ich ebenfalls nur das aufsuchen, was die Menschen angeht und aus alten und neuen Zeiten her an sie erinnert. Wie sie in den Theatern lachen, in den Kirchen beten, auf der Promenade sich repräsentiren und in ihren Gesellschaften sich langweilen, soll mir wahres Vergnügen machen. Wie sie von nichts zu reden wissen, was ihre wichtigsten Nationalinteressen betrifft, werde ich in gespannter Aufmerksamkeit mit anhören; denn das, wovon ein Volk nicht spricht, schildert es oft schärfer, als das, wovon es spricht.«

»Schöne Gegenden« wolle er dagegen nicht beschreiben. Der deutsche Geist habe sich durch die romantische Hingabe an die Natur verweichlicht. Goethe habe das Beispiel gegeben, sich dem Menschen und dem Leben hinzugeben, indem er aus der Naturlyrik Werthers einen Wilhelm Meister hervorgehen ließ, den sein Drang weg von dem grünen Wald in das bürgerliche Leben führte, aber es war das bürgerliche Leben des achtzehnten Jahrhunderts, dessen öffentlichstes Interesse das Theater. Jetzt sei die Zeit eine andere geworden. Und flüchte auch noch so manches ihrer Kinder in die Einsamkeit der wehenden Bäume, Heilung finde nur der, welcher dem historischen Trieb in die werdende Welt- und Völker-Zukunft folge, die Alle aufreize, sich zu bilden, zu bewegen und zu versöhnen. »Den Frühling kenne ich; er ist maigrün und himmelblau. Der Menschen Gesichter habe ich noch lange nicht ausgelernt. Der Mensch hat alle Tage ein anderes Gesicht und weiß kaum selbst, wie er eigentlich aussieht. Ich habe ihn verwundert angesehen, wenn er liebte und haßte, wenn er eine Frau nahm und seine Mutter begrub. Ich will ihm nachlaufen, wenn er begeistert ist, eine Fürstin einholt, Revolutionen veranstalten will und sich knechtisch geberdet. Ich will mich zu ihm in den Wagen setzen, wenn er aus Reisen geht, ich will mit ihm anstoßen, wenn er seinen Wein trinkt, ich will seiner Tochter den Hof machen, wenn sie artig ist. Nur fort! Nur fort, Schwager. Nur vorwärts!«

»Unterhaltungen mit einer Heiligen« nennt sich das Buch. Die Heilige ist die Tochter eines böhmischen Dorfschulmeisters. Beim Besuch des Klosters Ossegg bei Teplitz fällt ihm ihre Erscheinung auf im Zug frommer Wallerinnen am Fest von Mariä Heimsuchung. »Sie sah blaß aus, sie schien nicht glücklich zu sein. Auch glaubte ich zu bemerken, daß sie nicht mitsang mit den Uebrigen, sondern schweigend in dem geräuschvollen Zuge fortging, dem sie gewissermaßen nur nothgedrungen gefolgt zu sein schien. Hatte sie ihrer Madonna gar nichts zu sagen und zu singen? Oder hatte sie ihr schon tiefere Geheimnisse des Herzens zu beichten, die sich nicht so vor aller Welt und auf offener Straße heraussingen ließen?« Er lernt das Mädchen später näher kennen, und noch später auch ihr Schicksal. Es ist die Tochter eines bigotten Schulmeisters in Dux, die unter eigenthümlichen Umständen eine bessere Erziehung in Dresden genossen, mit ihrer Bildung wie einer sie bedrückenden Schuld fremd und unglücklich dahinlebt im einsamen Vaterhaus. Mit großer Kunst hat uns der Verfasser ihre Geschichte in dem Kapitel »Bekenntnisse einer weltlichen Seele« erzählt. Diese Maria ist ein Opfer der herrschenden Sittenfäulniß in den Kreisen der Aristokratie. Unter der Vorspiegelung, zu reichen Verwandten zu kommen, ist sie eines Tages als vierzehnjähriges Kind nach Dresden geschickt worden, wohin sie abgeholt wurde von einer fremden Dame. Ein mächtiger Graf dort liebte es, sich die Genossinnen seiner Lust nach eigenem Geschmack erziehen zu lassen; ihre Tante ist die Kupplerin im Dienst dieses Grafen. Sie erhält unter deren Pflege eine »vornehme Bildung«, ein junger Kandidat der Theologie wird ihr Lehrer. Derselbe wohnt im Hinterhaus desselben Gebäudes. Er flößt ihr Vertrauen ein, Neigung. Und als der Graf, da die Zeit gekommen ist, sie nach einem festlichen Ausflug in ihrem Zimmer mit seinen Anträgen zum ersten Male bestürmt, entflieht sie ihm und rettet sich instinktiv zu dem Kandidaten. Um den Verführungskünsten eines Lüstlings zu entfliehen, giebt sie sich dem armen, bescheidenen, sie längst heimlich liebenden Theologie-Kandidaten hin. Dieser verwindet das Bewußtsein der Schuld nicht und mit dem Eindruck seines Selbstmords entflieht sie der furchtbaren Umgebung, Nachts, zu Fuß, in ihr altes böhmisches Heimathsdorf. Trotz ihres Fehltritts feiert sie Mundt als seine Madonna, seine »Weltheilige«.

Fünf Kapitel tragen die Aufschrift »An meine Heilige«. Sie schildern sein Leben in Prag, in Wien, die Eindrücke, die er empfängt, seine Gedanken über »Katholizismus, Legitimität, Wiedereinsetzung des Fleisches«. Charakteristisch sind darin vor allem: seine Phantasie, daß die moderne Poesie in den Städten zu finden sei, seine Parodie auf Egon Eberts romantische Verherrlichung des böhmischen Mägdekriegs und die weltliche Mystik, mit der er seine Auffassung von der Wiedereinsetzung des Fleisches in Einklang zu bringen sucht mit der Grundidee des Christenthums.

In seiner Schilderung Prags nimmt das Lob der Städte den Mittelpunkt ein. »Mir wird wohl, wenn ich das immer näher kommende Geräusch, welches hinter deinen Mauern stündlich wühlt und arbeitet, in seiner bedeutsamen Geschäftigkeit vernehme. Das ist der Mensch mit seinen Bestrebungen, mit seinen Hoffnungen und seinen Wünschen, mit seinen erfindenden und erwerbenden Händen, welcher sich dort in drangvoller Eile des Daseins bewegt und tummelt. Das ist der Mensch, der laut wird in der Angst des Tages, im Jubel der Stunde, in der Athemlosigkeit der Gegenwart! Das ist der Mensch, wie er sich einrichtet und abfindet, wie er sich wehrt und ringt mit den Mächten seines Daseins, wie er pocht und hämmert, zählt und rechnet, webt und zimmert, sich nie genug thun kann und immer auf die unsichere Welle des Augenblicks sein Liebstes hingiebt! Das ist der Mensch mit seinem frohen Gesicht, mit seiner ungeheuren Geduld, mit seinem tragischen Schicksal, mit seinen ironischen Gegensätzen, mit seinem zehrenden Herzen, das immer Wunden hat, sei es aus Liebe oder Haß! Aus allen seinen Bedürfnissen und Bedrängnissen, Gewohnheiten und Tugenden, Freuden und Talenten, aus seinem Wissen und Streben hat er sich da eine Stadt gemacht, das umzäunte Schlachtfeld seiner Bestimmung … Vor der Natur verliert sich der Mensch in das Element, in der Stadt giebt er sich an die Menschen hin und findet in den Andern, in ihrem Irrthum und in ihrer Wahrheit, sich selbst wieder, aus ihrer Verzerrung setzt er sich seine Harmonie zusammen. Die Stadt ist der Pantheonstempel menschlicher Zustände, vor dessen Altar drei heilige Priester stehen, welche den Bund der Gemeinde geweiht und bekräftigt haben. Diese drei sind: das Recht, die Treue und die Sitte. Wo Menschen zusammen sind und zu einem Verein sich gesellen, giebt es auch Recht, Treue und Sitte. Das ist das Große an jeder menschlichen Gesellschaft, daß sie ohne diese drei nicht zu bestehen vermag, sondern von selbst sie wie nothwendige Blüthen aus ihrem Schooß erzeugt. Ja, in der Stadt, wo Menschen sind, suche ich Recht, Treue und Sitte, und ich finde sie, mitten unter ihren Leidenschaften, ich finde sie, wie Edelsteine im schwarzen Schachte. Wenn Menschen sich an Menschen drängen im Trieb des Daseins, wenn ihr Wollen und ihr Können wächst in der Gemeinschaft, wird ihnen in der Brust zugleich das Recht wach, das die Gesetze schreibt für Wollen und Können … Das Recht ist der verständige Kopf des ganzen Gliedervereins, in dem Maß und Gleichgewicht des übrigen Körpers sich zusammengeschlossen halten. Und die Treue ist die Hand, welche der Mensch dem Menschen giebt und woran sie sich fassen über der Woge des Tages, während das Leben schäumend mit ihnen fortstürzt. Und die Sitte ist das Auge, mit dem sie sich gegenseitig anblicken … Die Sitte ist die Poesie der menschlichen Gesellschaft, sie ist der Adel der Form, die Verklärung der Gewohnheit, die Juwelenfassung des Umgangs und die Ehrwürdigkeit der Ueberlieferung … Und so verbinden sich die Menschen mit Recht, Treue und Sitte, die wie das Weichbild ihrer Städte einen heiligen Kreis um ihr Zusammenleben schließen. Das ist die Freiheit der Städte, das ist der Gottesfrieden der Häuser.«

Die Sage vom böhmischen Mägdekrieg benutzt Mundt zu einer Allegorie, welche die allmähliche Emanzipation des Weibes von Knechtschaft und Prüderie versinnlicht. Vor Ausbruch jenes Krieges regierte Libussa in Böhmen, die sich einen Hirten zum Mann gewählt, der nach ihrem Tode aufs Unterdrückung des weiblichen Geschlechtes sann. Wlasta, die Erbin von Libussa's Schönheit, Kraft und Geist, versammelte da die Mägde des Landes um sich, um die Gegenwehr zu berathen. Sie richtet sich auf und ihren Lippen entströmt eine Prophetie. Sie schildert die Zeit des Minnegesangs. Die Frauen werden gefeiert, aber nicht frei. Sie sieht betende Jungfrauen in dunklen Zellen, aber diese Versuche, sich über das gemeine Alltagslos zu erheben zu höherer Erleuchtung des Geistes, machen das Weib nicht frei. Und sie sieht eine liebliche Jungfrau, die erst die Lämmer im Thal weidet, dann vom Geist gerufen, den Helm auf ihr Haupt setzt und gegen die Feinde des Vaterlandes in die Schlacht zieht. Aber die Befreierin des Vaterlandes wird nicht frei, sondern als Hexe verbrannt. »Jetzt sehe ich eine Kirchenversammlung von großen und gelehrten Männern, wo eigens untersucht und mit den genauesten Gründen und Gegengründen gestritten wird, ob die Frauen Menschen seien? Dann dringt mein Auge weiter und weiter durch die Schleier der Jahrhunderte, und ich gewahre milde Zeiten des Familienglücks auf den Gesichtern unsres Geschlechts. Ich sehe ein häusliches Stubenleben, ein bürgerliches Zeitalter der Menschen, in dem die Frauen viel gelten; sie stricken, nähen, schenken den Thee ein und sprechen angenehm. Mir wird kläglich dabei zu Muthe, und ich wende den Blick auf Andere hin, und sehe bücherschreibende Weiber, mit Gelehrsamkeit und Künsten sich abgebende holde Mägdelein, wieder große Versuche, das Weib zu befreien. Aber das Familienglück, das bürgerliche Zeitalter und das Bücherschreiben machen unser Geschlecht nicht frei. Es muß noch immer des Lebens freie Bewegungen den verhaßten Männern überlassen. Nun führt mich mein Geist fern gegen den Norden hin, und ich sehe einen Mann in seiner Studirstube sitzen, der schreibt eifrig und sieht gedankenvoll aus. Ich weiß nicht, ich muß den Mann lieben, es ist mir, als schriebe er mir meine Gedanken auf, und die Gedanken unserer Frau Libussa. Er heißt Hippel, und er schreibt über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, und über die Ehe. Er will, daß das Weib ein Vaterland haben solle und eine Stelle im Staat und seinen schönen Theil an aller Freiheit der öffentlichen Bewegung. Er ist der Erste unter allen Männern, in dem der große Gedanke Libussa's wieder hervortaucht, denn kein Gedanke geht im Meer der Zeiten verloren. Und ich schaue eine mächtige Stadt, die heißt Paris, und eine Straße, die wird die Straße Taitbout genannt. Dort ist ein Saal, in dem Männer mit langen Bärten versammelt sind, die eine besondere Weisheit unter sich verabredet haben, die heißt der Saint-Simonismus … Sie sehen närrisch aus und sprechen über die Weiber. In ihrer Mitte sitzt Einer mit Namen Enfantin, der sich für den obersten Vater der Simonisten hält, und neben ihm steht ein leerer Stuhl, auf dem das freie Weib noch erwartet wird, damit sie, sobald sie erscheine in der Welt, sich gleich setzen könne. Alle Anstalten zu ihrem Empfange sind gemacht, und ihre Unabhängigkeit vom Manne ist ausgesprochen. Was Libussa gedacht, was Hippel geschrieben, wollen die Simonisten ausführen … Die Frau soll Antheil nehmen an den Geschäften des Mannes … Der kühne Vater Enfantin aber hebt die Freiheit des Weibes noch über die Ehe hinaus und erklärt die Ehe nicht für geschlossen. Ein so freies Weib aber will sich gar nicht finden lassen, und darum sehe ich hier und dort Simonisten hinauswandern in den Orient, um das freie Weib da zu suchen. Und es entsteht eine große Verwirrung über die neue Lehre, in der doch Wahrheiten ruhen, an denen ich alle Jahrhunderte arbeiten gesehen. Schriftgelehrte erheben sich, um die Wahrheiten zu reinigen von den Schlacken, aber es scheint, als könne lange Keiner das Wort dazu finden. Aber das freie Weib – doch – ah! – –« Hier hielt die herrliche Wlasta inne und der Geist der Weissagung schien von dem schönen Munde gewichen. Und die Mägdeversammlung kommt überein, daß den Frauen alle Freiheit nichts nütze ohne die Ehe, nur müsse die Ehe auf die Freiheit begründet sein, daß sie ihre Männer selbst wählen. Erst nachdem ihnen dieses Recht von den Männern verweigert wird, rüsten sie sich zum Kampfe und der furchtbare männermordende Mägdekrieg vom Jahre 7 . . nimmt seinen Anfang …

Das Prinzip der Bewegung, des Fortschritts, das gleich einem Evangelium in allen Kapiteln verkündet wird, findet im letzten Brief »an meine Heilige« eine höchst merkwürdige Verknüpfung mit dem Christenthum. Christus, obgleich überirdisch nach Ursprung und Bestimmung, sei aus Liebe zur Menschheit Fleisch geworden und das Fleisch dieser Welt sei durch diese Fleischwerdung Christi geheiligt worden. Seitdem sei ein Zusammenhang hergestellt zwischen Jenseits und Diesseits, vermittelt durch die Erscheinung Christi auf Erden. Nach diesem Vorbild soll auch der Mensch einen harmonischen Zustand anstreben, in welchem Geist und Fleisch sich in einer kräftig zusammenwirkenden Einheit mit einander bewegen und durch Ueberwindung ihrer alten Trennung ein unendliches Glück gewinnen. Daß Geist und Fleisch zur Einheit bestimmt sind, das spiegle sich in der Erscheinung des Menschen. In diesem Sinne fordere er die Wiedereinsetzung des Fleisches. Die Konsequenz derselben sei die Wiedereinsetzung des Bildes in seine Rechte, welche die Philosophie für den abstrakten Gedanken usurpirt habe. Diese Theorie knüpft an die Eindrücke zweier Bilder an, die der Reisende zu Wien in der Esterhazy-Gallerie empfängt: an Rembrandts »Christus vor Pilatus« und die sitzende Venus Tizians. In dem einen Bild herrscht Schönheit des Geistes, in dem andern Schönheit des Fleisches, aber in beiden sei das Geistige mit dem Leiblichen untrennbar verknüpft. In Rembrandts Gemälde sei ein ungeheurer Weltgedanke machtvoll zusammengefaßt. In diesem Christus sei die Menschwerdung Gottes ergreifend versinnlicht, in dem Knecht, der ihn hält, in dem zweifelnden Pilatus, der seine Hände in Unschuld wäscht und dem herkömmlichen Recht seinen Lauf läßt, seien die Dummheit und die Konvention veranschaulicht, welche das gottbeseelte Fleisch, den menschgewordenen Gott wieder ans Kreuz nageln. Und so werde noch heute das Fleisch gekreuzigt, weil der Geist ins Jenseits fliehe und das Diesseits verachte. Wie Seele und Fleisch untrennbar seien, das lehre Tizians Venus nicht nur durch ihre Erscheinung, sondern auch ihre Wirkung. Sie entzücke die Sinne und heilige zugleich die Seele. Wie das Licht nicht ist ohne die Finsterniß und keine Erscheinung ohne beide, so sei der Geist nicht ohne den Körper und der Körper nicht ohne den Geist im Wesen und Erscheinung. »In mir auch ist Diesseits und Jenseits, in mir ist Licht und Finsterniß … Darum bin ich gesund, ich bin heiter, weil ich ein Bild bin und ich würde krank sein, wie ganze Jahrhunderte krank waren, wenn ich auseinanderfiele in Geist und Leib, in Jenseits und Diesseits. – Die Trennung von Fleisch und Geist ist der unsühnbare Selbstmord des menschlichen Bewußtseins.« An den Saint-Simonisten rühmt er, daß ihre Lehre wieder daran erinnert habe, daß die Welt in Gott und Gott in der Welt sei, er verneint aber ihre Behauptung, daß deshalb das Christenthum überlebt sei und einer Umgestaltung von Grund aus bedürfe. Die Verweltlichung Gottes und die Vergöttlichung der Welt, diese Harmonie sei gerade die reinste Blüthe des Christenthums. – Hier sind Gedankenkeime, die in Wilhelm Jordans »Erfüllung des Christenthums«, in seinen »Sebalds« Wachsthum und Reife gefunden. – Und in Langbehns Schrift »Rembrandt als Erzieher« verdiente, ebenso wie Wienbargs »Aesthetische Feldzüge«, Mundts Madonna zitirt zu sein, der hier zuerst die Identitätsphilosophie Hegels, seine Lehre, daß das Sein gleich dem Denken mit der Forderung bekämpfte, das Bild müsse in unserem Geistesleben wieder mehr Geltung gewinnen. Ein Diesseits, wie es Hegel lehre, das nur Geist, Gedanke, Logik, sei seines Kernes beraubt; der Geist verlange nach dem Bilde. Die Reflexion muß wieder durch die kräftig hinlebende Natur verdrängt werden, Philosophie und Poesie eins werden, der Gedanke im Sein aufgehen. Aehnlich hatte »Rahel« gesagt: »Wir können nicht ohne Bild leben. Ohne Hoffen haben wir kein Bild in der Seele; – da ist nichts.«

Das war gewiß keine Propaganda des Saint-Simonismus, es war auch keine bloße Wiederholung Heine'scher Ideen, sondern die eigenthümliche Aeußerung eines Geistes, in dem Alles zu einer realistischen Erfassung des Lebens, zu einer realistischen Uebung der Kunst im Sinne des Fortschritts drängte, der diesem Drange aber doch nicht anders genügen konnte, als indem er gegen die Herrschaft der Philosophie – philosophirte und über die Verderblichkeit eines Lebens in Reflexionen – reflektirte. Denn der Anlauf zu einem Roman, wie er sich in der Erzählung darstellt von seiner Bekanntschaft mit der Weltheiligen in Dux und der Schicksale derselben, verflüchtigt sich im weiteren Verlaufe des Buches fast ganz unter dem Erguß lehrhafter Elemente und der Schluß »Die Heilige schreibt« knüpft die angesponnenen epischen Fäden nicht zusammen. Daß die auf der Flucht vor dem Laster im Drange der Liebe »Gefallene« bei protestantischen Verwandten in München ein trauliches Heim und durch den Uebertritt zum Protestantismus den Frieden der Seele findet, steht in gar keinem Verhältniß zu dem vom Autor in Bewegung gesetzten Apparat, der den Begriff der Wiedereinsetzung des Fleisches und der Emanzipation des Weibes in die vielfältigste Beleuchtung rückt. Wenn wir jedoch beachten, daß sich in Rahels Briefen die kühne Stelle findet: wenn ein Mädchen durch Liebe gefallen ist, sollte die nächste Sorge sein, daß sie mit Anstand und Würde sich wieder erhebe, so entdecken wir nicht nur, woher die Grundidee des Buchs stammt, sondern auch, wohinaus die Tendenz desselben gerichtet ist.

Dennoch macht der Schluß den Eindruck, als sei er ein »Nothschluß«, als habe der Autor hier nur ein Surrogat des ursprünglich geplanten Schlusses geboten. Der Selbstmord der Stieglitz überraschte ihn entsetzensvoll bei der Arbeit. Sollte der Dolch, der die geliebte Frau vom Leben löste, nicht auch die Fäden zerschnitten haben, die den rechten Schluß zu Ende weben sollten? Aus dem vorliegenden haben wir als bemerkenswerth nur nachzutragen, daß Mundts Madonna, jene Lehrerstochter aus Dux, den Mägdekrieg der Wlasta als eine Verirrung vom weiblichen Berufe verurtheilt. In der Beschränkung nur sei das Weib ein harmonisches, in sich befriedigtes Gebilde. In Beziehung auf die angeregte Hauptfrage der Besserung des Frauenschicksals war also auch Mundts »Madonna« ein Buch ohne Resultate. Er selbst schrieb in einem Nachwort, daß es die Niederschrift von Gedanken sei, die einem vagabondirenden deutschen Schriftsteller auf der Landstraße, im Postwagen, im Wirthshaus angeflogen. Es sei weder ein Roman, noch eine Novelle, sondern ein »Stück Leben«. Und wenn es durchaus einen Namen haben solle, so nenne man es ein » Buch der Bewegung«. Nicht bloß, weil es der vagabondirende Verfasser auf Reisen geschrieben habe, sondern weil wirklich alle Schriften, die unter der Atmosphäre dieser Zeit geboren werden, wie Reisebücher, Wanderbücher, Bewegungsbücher aussähen. Die neueste Aesthetik wird sich daran gewöhnen müssen, diesen Terminus ordentlich in Form Rechtens in ihre Theorien und Systeme aufzunehmen. Die Zeit befindet sich auf Reisen, sie hat große Wanderungen vor, und holt aus, als wollte sie noch unermeßliche Berge überschreiten, ehe sie wieder Hütten bauen wird in der Ruhe eines glücklichen Thales. Noch gar nicht absehen lassen sich die Schritte ihrer befriedigungslosen Bewegung, wohin sie dieselben endlich tragen wird, und wir Alle setzen unser Leben ein an ihre Bewegung, die von Zukunft trunken scheint. Und daher das Unvollendete dieser Bewegungsbücher, weil sie noch bloß von Zukunft trunken sind, und keiner Gegenwart voll! – Diese Skizzen werden hoffentlich noch fortgesetzt werden, da die darin unternommene Bewegung der Fortsetzung bedarf. Ich erstaunte, als sie mir der Verfasser, mit dem ich manches Glas zusammen getrunken, übergab, einen solchen Zusammenhang bis in die anscheinendsten Zufälligkeiten zu entdecken, nämlich den Zusammenhang jenes Umwälzungsprozesses, der sich heute vornehmlich in der ethischen Gesinnung der Zeit vorbereitet und durchführt. Ich bin und war immer der Meinung, daß die gestörte Bewegung der Politik in unsern Tagen in die rastlos durch die Gemüther fortgehende und nicht unterdrückbare Bewegung der Gesinnung mit allen ihren Hoffnungen und Wünschen einstweilen übertreten und aus diesem allgemeinen Grunde des Fortschritts doch endlich ihrer größeren Erfolge gewiß werden kann. Denn wenn die Politik nothgedrungen in die Gesinnung zurücktritt, wird die Gesinnung, nachdem sie ihre innere Umgestaltung aus sich vollbracht hat, allmählich wieder in die äußere Politik, und dann unwiderstehlich hinübertreten! Und wer empfindet nicht das Ziehen und Zucken einer ethischen und gesellschaftlichen Umgestaltung eben so scharf und eben so gewaltig in seinem einzelnen Menschenherzen, als es das ganze Weltherz jetzt durchbebt? Wer kann noch aus Wirkung hoffen, wenn er nicht auf die Gesinnung zu wirken unternimmt?«

Und darin besteht der große Unterschied zwischen einerseits Laube, Gutzkow und Wienbarg und andrerseits Mundt, daß während diese im Begriff waren, dem Zersetzungsprozeß, den die politischen Ideen in der modernen Poesie bewirkten, eine Wendung zu geben, welche den gefährdeten Kunstgesetzen, unter Hinweis auf Goethe, zu ihrem Rechte verhelfen sollte, Mundt von poetischen Erzählungen, die von politischem Charakter ganz frei waren, sich unter dem Einfluß von Gutzkows »Narrenbriefen«, Laube's »Jungen Europa«, Wienbargs »Feldzügen« und Rahels Gedanken sein literarisches Wirken jetzt erst der Tendenz unterordnete, politisch-soziale Fortschrittsideen in Bewegung zu setzen. Daß er sich selbst in diese Tendenz mit Berechnung hineingesteigert habe, ist ihm damals schon von seinen begabteren Rivalen vorgeworfen worden; der Zusammenhang dieses Wirkens mit seinem innersten Erleben wie mit den mächtigsten Zeiterscheinungen beweist aber, daß auch er hierin mehr als man bisher zugegeben, ein Organ war, dessen sich der Geist jener Zeit zu seiner Offenbarung bediente.

*

Auch Gustav Kühne's erste Versuche, sich als Dichter zu bewähren, standen unter dem Einfluß dieser Geistesbewegung, welcher die Briefe Rahels, das Buch Bettinens, die That der Stieglitz zu so bedeutsamem Ausdruck verholfen, die von Heine und Börne aber ihre stärksten Impulse empfangen. Auch er ließ einer unpolitischen Novelle im Stil der modischen Belletristik ein Buch folgen, in welchem er die an sich selbst erlebte Gährung der »Zeitideen« poetisch zu gestalten versuchte. » Die beiden Magdalenen, oder die Rückkehr aus Rußland«, welche 1833 (Leipzig, bei Wolbrecht) erschienen, schildern eine romantische Schicksalsverwickelung, welche die Zeit der Napoleonischen Weltherrschaft zum Hintergrund hat. José Castanedo ist der Sohn eines spanischen Edlen, der zu den Verschwörern zählt, die den Abfall Spaniens von Napoleon vorbereiten. Er weiß nicht, daß seine Mutter eine polnische Gräfin, deren Geliebter sein Vater nach langem Werben in Dresden geworden, wo er sich in diplomatischer Stellung aushielt. Sterbend hat ihm dieser einen Brief übergeben, den er der ihm noch unbekannten Gräfin überbringen soll. Er vermuthet sie in Warschau, wohin er unter den Fahnen Napoleons zieht. Auf dem Zug durch Deutschland verliebt er sich in eine sächsische Kantorstochter. Der Zufall fügt es, daß der in der ersten Schlacht tödtlich Verwundete beim Erwachen als seine Pflegerinnen die sächsische Kantorstochter und die polnische Gräfin findet und in ihnen seine Braut und seine Mutter. Die vornehme Frau und das Bürgermädchen heißen beide Magdalena, daher der sensationell wirkende Titel … Einen ganz anderen Stoff hatte das nächste Buch: » Eine Quarantäne im Irrenhause. Novelle aus den Papieren eines Mondsteiners. Herausgegeben von Dr. F. G. Kühne«, welche – die Vorrede aus Berlin, den 1. März 1835 datirt – in diesem Jahr bei Brockhaus in Leipzig erschien. Dies Buch war sichtlich unter dem direkten Einfluß von Gutzkows »Briefen eines Narren an eine Närrin« und Mundts »Lebenswirren« entstanden und war eine Auseinandersetzung eines am Hegelthum verzweifelnden Hegelianers mit den Fragen der Zeit. In Form von Memoiren, die ein Tollhäusler im Irrenhause schreibt, erörtert er die treibenden Fortschrittsideen in ihrem Kern und ihrer Entartung. Im Wahn dieses Mondsteiners schildert Kühne, was er für den Wahn der Zeit hält, der aber nichts anderes sei, als die aus den neuerkannten Wahrheiten mit Nothwendigkeit resultirenden Irrthümer. Der Schreibende ist ein junger Mann, den sein Onkel, ein Regierungspräsident, für verrückt hält und ins Irrenhaus hat bringen lassen, weil seine Ideen ihm als Wahnsinn erscheinen. Diese Ideen sind die Fortschrittsgedanken der Zeit, die ungesunden wie die gesunden. Nun unterhält sich der Einsame mit der Niederschrift seiner Gedanken über Politik und Religion, über Börne und Heine, über die Emanzipation des Fleisches und die Polenfrage – der Einfluß von Hegels Dialektik und Rahels Briefen tritt deutlich hervor. Als der alte Regierungspräsident zum Sterben kommt, hat er sein Unrecht eingesehen. Er läßt seinen Neffen rufen und versöhnt sich mit ihm. Trat die Tendenz des Ganzen in Kühne's Aufruf hervor: »Es ist der Fluch ermatteter Zeitalter, die hüpfende und übersprudelnde Welle des jugendlichen Lebens Tollheit zu schelten« – so bildet das Fazit die Rede des sterbenden Alten, in welcher er »ein großes Deutschland, Tage freiesten Glückes« prophezeit: »Ich glaube an eine schöne Zukunft des Erdenlebens; die Menschheit geht einer großen Frühlingszeit entgegen.« Neu waren beide Gedanken nicht mehr! für Kühne aber war das Buch ein Akt der Selbstbefreiung und Selbstklärung, zu der auch er durch den chaotischen Gährungsprozeß der Zeitideen gedrängt ward. Für uns ist es heute nur ein Beweis mehr in dem Bilde deutscher Geistesgeschichte, daß ihre Abnormitäten nicht das Produkt der Laune neuerungssüchtiger junger Talente, sondern Symptome eines bedeutungsvollen historischen Prozesses waren.

Von Gutzkow und Mundt sind diese beiden Eigenschaften des Buches damals sogleich hervorgehoben worden. Sie durften es als den Nachzügler einer Bewegung bezeichnen, die von ihnen selbst überwunden war. In einem Aufsatze »Die philosophische Bildung der jungen Generation« führte letzterer in seiner Zeitschrift aus, wie dies Buch typisch für den geistigen Mauserungsprozeß sei, zu welchem der Zwiespalt der Hegelschen Philosophie mit einer lebendigen Erfassung des menschlichen und geschichtlichen Werdens eine ganze Reihe jüngerer Zeitgenossen genöthigt habe. »Ich glaube,« schrieb er, »ich war der erste unter dieser jungen Generation, welcher schon im Jahre 1829 in mehreren Aufsätzen das freie Leben der Persönlichkeit, besonders aber die Rechte der Kunst, gegen den alles Individuelle verzehrenden Begriff der Hegel'schen Philosophie geltend zu machen suchte, und sodann strebte ich, was für uns Norddeutsche ein so schwieriger Durchgangsprozeß ist, meine Vergangenheit mit der neuen Gegenwart zu vermitteln, deren ideenschwangere Blitze mich mächtiger getroffen hatten. Kühne ließ sich später noch einmal speziell mit dem Systematischen des Hegelianismus ein und brachte dann zu meinem Erstaunen diesen merkwürdigen Posthumus jener Richtungen ans Licht, dessen geistiger Kraft man gewiß seine hohe Anerkennung nicht versagen wird, sollte man auch die ganze Komposition noch so wenig ansprechend und genießbar finden wollen.« Kühne's »Quarantäne im Irrenhaus« könne ihrem ganzen Wesen nach als Novelle nicht befriedigen. Aber als Geistesprodukt sei sie mit ihren Vorzügen und Schwächen ein sehr treuer und wahrer Abdruck einer wichtigen Zeitstimmung in der Entwickelung des deutschen Geistes. Sie bezeichne auf der einen Seite den Kulminationspunkt eines mit Spekulation getränkten und übersättigten Nationalcharakters, und beschreite auf der andern, an der Geschichte des Individuums, den Weg der Reaktion, die sich vor der Hand wenigstens in der Sehnsucht nach That und Leben andeutet. »So ist die ganze Zeit für jetzt der philosophischen Systeme überdrüssig, die sich auf ihrem eigenen Territorium schon durch Uebervölkerung vernichten, und arbeitet einer Epoche entgegen« (d. i. voraus), »wo der Ueberfluß von Vernunft und Weisheit in unsern Landen in Fülle und Fleisch der Gestalt und in heitre plastische Lebensformen übertritt und darin sich reproduziert.« In jenem anderen Aufsatz über »Rahel und ihre Zeit« hat er diese aber als die eigentliche Treiberin und Führerin in dem Uebergangsprozesse der Generation von der Spekulation zur realistischen Erfassung des Lebens bezeichnet. »Jenes Ziehen, Zucken und Wetterändern in Reflexion, Gesinnung und Gestaltung einer ganzen Menschheitsepoche, mit einem Wort, diese bangen Wehen einer Uebergangsperiode, haben sich in Deutschland wohl in keiner Person so erschöpfend abgedrückt, wie in Rahel« … »Macht das Buch Rahel in seiner äußersten und gewaltsamen Metaphysik menschlicher Selbstbetrachtung zunächst einen aufruhrartigen Natureindruck, so ist doch zugleich hinzuzunehmen, wie die Gedankenstürme, die hier rückhaltslos ausgeschüttelt werden, befruchtend in die Seele greifen, das zum Leben Nothwendigste, mithin das Positive in jeder Zeile berühren, und die größten Fragen der Zeit und Zukunft, denen heute Niemand sich entschlagen kann, schon dadurch, daß sie dieselben nur in Bewegung setzen, der Lösung nahe bringen und zu reifen helfen.« – Aber die nächste Wirkung von Rahels Umgang und Rahels Nachlaß war doch auf ihn wie Kühne gewesen, daß auch sie ihr geistiges Wesen in »Fragen ohne Antwort«, in »Zweifeln ohne Ankergrund« ausströmten.

Ganz anders war die Wirkung, wie schon angedeutet, auf Gutzkow. Während jene nach der Ehre gegeizt hatten, im Salon Varnhagen gern gesehene Gäste zu sein, hatte dieser, dessen Eltern ja in derselben Mauerstraße, aber in ärmlichen Verhältnissen, wohnten, auch dann noch mit Mißtrauen auf das literarisch-gesellige Treiben in dem stolzen Eckhaus geblickt, als er auf Grund seiner Beziehungen zu den Cotta'schen Instituten die freundlichste Aufnahme daselbst hätte erwarten dürfen. Mit dem scharfen Auge des geborenen Volkstribunen hatte er – wie oft! – im Vorbeigehen den verschiedenartigen Verkehr in dem Hause beobachtet, wo sich die Koryphäen der romantischen Schule, Staatsminister mit Ordensbändern, die Opportunisten der liberalen Doktrin und wirkliche Verfechter des demokratischen Gedankens gleich warm bewillkommnet fanden, neben Börne ein Karl Schall und ein Friedrich Gentz. Der Rigorismus seiner Jugend hatte nicht vermocht, an die Echtheit eines Freisinns zu glauben, der dem zur Disposition gestellten Geheimen Legationsrath gestattete, in den Straßen Berlins seine Orden zur Schau zu tragen, er hatte die Toleranz und die Treue gegen theure Jugenderinnerungen in Rahel nicht zu begreifen vermocht, die diese genöthigt, alte Jugendfreunde, deren Gesinnungswandel sie verachten mußte, auch weiterhin als solche zu behandeln. Jetzt, aus ihren Briefen, ward ihm die Lösung dieser Widersprüche; vor dem Eindruck der hier enthüllten Charakterstärke und Wahrheitsliebe schmolz das eingewurzelte Mißtrauen; Gutzkows nachträgliche Sympathie war die letzte große Eroberung, die Rahels Geist machte: in ihrer Skepsis wie in ihrem Verlangen nach positiven Wirkungen erkannte er in ihr eine Geistes- und Gesinnungsverwandte. Die Thatsache, daß ein Weib, eine an den Genüssen des Lebens reich betheiligte, dabei kränkliche, nervöse Frau so kühn, so stark hatte denken können, wirkte ermuthigend und beschwingend auf die Thatkraft des eignen Geistes. Auch in den Angelegenheiten, die ihn gerade neuerdings am stärksten erregt, wie für seine Urtheile über Schleiermacher, seine Empfindungen, welche Rosaliens Liebesschwachheit in ihm hinterlassen, seinen Zorn über den Einfluß der Kirche auf die Herzensentschlüsse der Frauen, auf Liebe und Ehe, fand er in Rahels Briefen Worte der Zustimmung. Aber er empfand auch die Unzulänglichkeit ihres Geistes, die Kurzathmigkeit ihrer Gedankenläufe, das Verhängnißvolle ihrer Sucht, – wie Charlotte Stieglitz es ausgedrückt – große Fragen aufzuwerfen, die nicht beantwortet werden. Er entnahm ihren Briefen für sein ferneres schriftstellerisches Wirken einen neuen Ansporn zu rückhaltlosem Bekennen der eigenen Meinung, ihre Auffassung von Goethe's Wesen wurde ihm zum Anlaß eines vertieften Studiums von dessen Werken, er beherzigte die Lehre, daß die Aussprache des Persönlichsten immer auch ein Allgemeines fördern werde, er entnahm den Briefen aber auch die Warnung, in der Spekulation über soziale Reformen sich nicht ins Allgemeine zu verlieren und an die Stelle innerer Zweifel nicht rastlos immer neue zu setzen. Mannhaft und mit männlicher Energie müsse der reformatorische Geist an die Thatsachen sich halten und an diesen umgestaltende Kritik üben. Nicht nur im vertraulichen Briefwechsel, sondern öffentlich habe er für die Sache des Fortschritts zu kämpfen und die feindlichen Mächte anzugreifen in den Personen, die sie verkörpern. In diesem Sinne begann er jetzt eine neue Aera kritischer Thätigkeit, setzte er die aus eigenen Herzenskämpfen erwachsene Polemik gegen die Orthodoxie fort und klar und bestimmt formulirte er seine Thesen: »der Segen der Kirche kann eine Ehe nicht heiligen, die nicht auf Liebe beruht«, und »der Einfluß der Kirche hat in Liebe und Ehe mehr Unheil angerichtet, als sie verantworten kann.«

Und so haben Rahel, Bettina, die Stieglitz in der That als geistige Führerinnen der jungen Literatur gewirkt gerade in der Entstehungszeit derjenigen Werke, welche die Verfolgung seitens des Bundestags über die Dichter heraufbeschworen. Und bis heute steht das große Hauptthema des Denkens und Fühlens jener Frauen im Vordergrund der Poesie des Jahrhunderts: der Anspruch der Frau auf Verwirklichung ihrer persönlichen Ideale, ihr Kampf ums Recht auf Selbstbethätigung und Selbstbestimmung. So mancher Irrthum aber, der in Bezug auf Richtung und Umgrenzung der Frauenemanzipation als »neu« die Gegenwart erregt, ist durch das Leben der edlen Bahnbrecherinnen schon im Morgengrauen der Bewegung berichtigt worden. Daß Rahel in ihren Spekulationen über die herrschenden Mißbräuche im Eheleben ganz selbstständig zu der Idee des »Mutterrechts« gelangt ist, die neuerdings auf Grund eines erst 1861 erschienenen Werkes von J. Bachofen in den sozialistischen Spekulationen von Engels (Der Ursprung der Familie) und Bebel (Die Frau und der Sozialismus) eine so bedeutende Rolle spielt, ist dabei nicht zu übersehen. Aber die Gesammtwirkung ihrer Anregungen auf diesem Gebiete bestand in einer Zurückdämmung der von Saint-Simon und Enfantin aufgebrachten utopistischen Spekulationen auf das Gebiet der Thatsachen, auf organische Fortentwickelung des in Sitte und Brauch Gegebenen.



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