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Von Arndts Idee eines Zusammenschlusses der Gleichgesinnten zur Herbeiführung der Wiedergeburt des Vaterlandes, von den Grundprinzipien der Burschenschaft war Gutzkows bereits im »Forum« hervorgetretener Gedanke ausgegangen, daß die deutsche Literatur der neuen Zeit das Organ werden müsse solcher Verbrüderung gleichgesinnter Geister. Von Menzels Idee, daß die Literatur die Aufgabe habe, eine ideelle Vertretung der nationalen Interessen zu sein, war Gutzkows Gedanke in den »Narrenbriefen« ausgegangen: die deutsche Literatur der Epoche habe die Nation für den Genuß der Freiheit und die Ermöglichung der Einheit zu erziehen und aus Börne's Lehre, wie man in Zeiten der Unterdrückung der Presse die Poesie zum Mittel politischer Aufklärung machen müsse, hatte er sich dabei berufen, wiederum unter Bezug auf die Gemeinsamkeit einer neuen literarischen Jugend. Diese Anregungen Gutzkows waren von Laube mit Jubel in der »Zeitung für die elegante Welt« aufgenommen worden, die Uebereinstimmung hatte zur Annäherung, zum brieflichen Verkehr, zu der gemeinschaftlichen Reise nach Italien geführt und das Ergebniß hiervon war eine lebhafte Auseinandersetzung zwischen ihnen und ihren literarischen Freunden über die Aufgaben, Mittel und Grenzen der poetischen Literatur, schließlich eine kräftige Wendung von der Politik zur Kunst, eine Abkehr von Menzel und Börne zu – Goethe. Jetzt ward für ihr gemeinsames Streben zur Richtschnur die Forderung Laubes: die Verfechter des nationalen Fortschritts, soweit sie Poeten seien, sollten nicht Prediger der neuen Lehren, sondern Gestalter von neuen Menschen und neuen Schicksalen sein. »Bilde Künstler, rede nicht«, diese Goethe'sche Kunstweisheit trat beiden Dichtern mit sieghafter Kraft ins Bewußtsein, freilich ohne hindern zu können, daß das vorhandene Bedürfniß, mit direkter Rede an der Gestaltung des Lebens, an den Fragen des Tags, den allgemeinen Interessen des Vaterlandes theilzunehmen, sich mit dem erstarkenden rein künstlerischen Streben in mancherlei Form kreuzte. Als Gutzkow im »Sadduccäer von Amsterdam« sein innerstes Erleben zur Darstellung brachte, als Laube im »Literaturblatt« zur »Eleganten« begann, seine ästhetischen Ansichten fester zu formuliren, nachdem ihre Klärung sich namentlich auch im 1. Theil des »Jungen Europa« vollzogen hatte, da fühlten sich beide als Jünger Goethe's.
Dieser Sieg des Goethe'schen Genius über ein Geschlecht widerstrebender junger Geister, die gelehrt worden waren, von Goethe gering zu denken, weil er für die politischen Ideale der deutschen Jugend kein Interesse gehabt, weil er sich ablehnend verhalten zu den Ideen, die ihre Jugend begeistert, drückt dem Jahre deutscher Literatur, das die eigentliche Geschichte einer literarischen Vereinigung »Das junge Deutschland« umfaßt – was bisher nicht beachtet wurde – seinen Stempel auf.
Am 22. März 1832 – zwei Monate vor dem Hambacher Fest – war Goethe gestorben. Der Aufschwung der politischen Leidenschaften, der in jenen Tagen alle anderen Interessen zurückdrängte, hatte zunächst dem bedeutungsvollen Ereigniß das gebührende Echo im Bewußtsein der Nation versagt. Schiller, der Dichter des Tell, war der Abgott des Volkes, nicht Goethe. Erst als den Tagen von Hambach die Reaktion der Gewalt und die Ernüchterung des Volksgeistes folgte, als die jungen Schriftsteller, soweit sie nicht fliehen mußten oder in Kerker geriethen, sich nothgedrungen von der Politik ab- und rein literarischen Fragen und Bestrebungen wieder zuwenden mußten, wurden auch sie und mit ihnen weite Kreise des Verlustes inne. Die Thatsache seines Todes wurde für sie zum Anlaß, sich die Totalität seines Wirkens, vor allem das leuchtende Bild seiner heißen Jugend vor die Seele zu führen und mit Ausnahme seiner überzeugtesten Widersacher, wie Menzel und Börne, beugten sich auch die Gegner des »Alten von Weimar« in Bewunderung vor dem Genius des Dichters, der als unsterblicher Geist aus dem frischen Grabe in strahlender Schönheit erstand. Und mit Genugthuung vernahmen sie, daß der große Dichterpatriarch, der nacheinander Uhland und Heinrich von Kleist, Platen und Gustav Pfizer so kühl abgelehnt hatte, der von den Burschenschaftern und den patriotischen Schriftstellern der Freiheitskriegszeit nichts hatte wissen wollen, daß er für sie, für die poetische Jugend, die nach ihm kam, dennoch ein besonderes Testament neben dem unermeßlichen Erbe seines Wirkens hinterlassen hatte – in jenen Worten » Für junge Dichter«, die er im letzten Jahr seines Lebens geschrieben und nun im fünften Nachlaßband seiner Werke erschienen. Hier fanden sie ihre Ansicht bestätigt, daß der Weg zur Größe für den Dichter einer neuen Jugend unmöglich in der Nachahmung der Klassiker der vorausgehenden Epoche bestehen könne. In diesem Sinne, erklärte Goethe, sei er Niemandes Meister gewesen. Die Wahnvorstellung, die bis heute so viele begabte Köpfe beherrscht und irregeführt, daß die Fortentwickelung der deutschen Poesie nach Goethe an die Nachahmung seiner Kunstformen hätte gebunden bleiben sollen, lehnte er mit Entschiedenheit ab. Wenn er aussprechen solle, was er den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden, so dürfe er sich wohl ihren Befreier nennen: denn sie seien an ihm gewahr geworden, »daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich wie er will, immer nur sein Individuum zu Tage fördern wird.« »Worauf alles ankommt,« fuhr er fort, »sey in Kurzem gesagt. Der junge Dichter spreche nur aus, was lebt und fortwirkt, unter welcherlei Gestalt es auch seyn möge; er beseitige streng allen Widergeist, alles Mißwollen, Mißreden und was nur verneinen kann: denn dabei kommt nichts heraus … Poetischer Gehalt aber ist Gehalt des eigenen Lebens … Ihr habt jetzt eigentlich keine Norm, und die müßt ihr euch selbst geben, fragt euch nur bei jedem Gedicht, ob es ein Erlebtes enthalte, und ob dies Erlebte auch gefördert habe.« Und er schloß mit der Mahnung: »Man halte sich an das fortschreitende Leben, und prüfe sich bei Gelegenheit, denn da beweist sichs im Augenblick, ob wir lebendig sind, und bei späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren.«
Das Streben, das Laube in seinen »Poeten« bekundet hatte, das Gutzkow zur Gestaltung seines Sadduccäers getrieben, entsprach diesen »letzten Worten« Goethe's mit Ausnahme der Forderung: »er beseitige streng allen Widergeist, alles Mißwollen, alles Mißreden und was nur verneinen kann.« Sich an das » fortschreitende Leben« zu halten, dies war ja ihr oberster Grundsatz schon immer gewesen, nur daß sie dabei die allgemeinen, nicht die persönlichen Zustände im Auge hatten; auch sie hatten auszusprechen gesucht, »was lebt und fortwirkt«, nur daß ihnen die allgemeinen Zustände, die Goethe abgelehnt hatte, als persönliches Erlebniß, als fortwirkende Mächte erschienen. Und aus diesem Unterschied hatte sich mit Notwendigkeit ergeben, daß Widergeist und Widerrede, gerichtet gegen die allgemeinen Zustände, die der Jugend ein persönliches Ausleben des Individuums im Goethe'schen Sinne unmöglich machten, ein unentbehrlicher Faktor ihres Dichtens geworden war. Der Widergeist gegen das Bestehende war ihnen die Muse gewesen, die sie zu Schriftstellern geweiht, das Mißreden und Widerreden eines Börne, Menzel und Heine war ihnen zunächst als leitendes Beispiel erschienen. Aber hatte nicht Goethe – der junge Goethe, da er so jung noch wie sie – auch solchem Widergeist gehuldigt; hatte er nicht gegen die sozialen Zustände und den Fluch der Konvenienz im »Werther«, gegen die Anmaßungen der Privilegirten im »Götz«, gegen das Herkömmliche im Liebesverkehr im »Egmont«, gegen eine ganze Welt des Bestehenden im »Faust« geeifert, ja gegen Gott selbst, gegen den Herrschergott im Himmel, wie ihn die Kirche lehrt, im Fragment des »Prometheus« … »Bedecke deinen Himmel Zeus mit Wolkendunst!«? Ja – auch Goethe hatte widergedacht und widergesprochen, mit Entfaltung eines heldisch-kühnen prometheischen Titanentrotzes wie seit Aeschylos kein anderer Dichter, aber stets war der lohende Flammengeist gebändigt und geläutert und zu fester Form gestaltet hervorgetreten – als Wesen eines Kunstschönen. Und wie weit sie alle zurück waren in dem, was das Dichten zur Kunst macht, das fühlten sie jetzt mit Beschämung. Den Trieb ihres Geistes, den allgemeinen Zuständen im Vaterlande den Spiegel der Dichtung vorzuhalten, durch künstlerische Gestaltung ihrer politischen und sozialreformatorischen Ideale an der Umgestaltung des Bestehenden mitzuwirken, wollten sie jetzt den künstlerischen Pflichten unterordnen, welche Goethe's Beispiel sie lehrte. Hand in Hand damit ging das Bedürfniß, sich laut und vernehmlich zu Goethe zu bekennen und durch die Anknüpfung an Goethe der literarischen Bewegung, die sie vertraten, einen neuen Charakter zu geben.
In diesem Sinne hatte Laube nach der Rückkehr aus Italien das »Literaturblatt« der »Eleganten Zeitung« geleitet, hatte er sich mit Schlesier und Wienbarg zu einer solidarischen Vertretung desselben geeinigt, hatte er in dem Band seiner »Reisenovellen« von der italienischen Reise, bei der Ankunft an dem Gardasee, ein Kapitel »Goethe« eingefügt, ein Kapitel zum Preise der Goethe'schen Objektivität. »Wenn ein Deutscher nach Italien reist, so denkt er an Goethe. Es hat noch kein Schriftsteller das Land so treu geschildert wie er, er hat es porträtirt. Goethe war das größte historische Talent, das wir besessen haben, seine Augen waren so unbefangen wie das Sonnenlicht: er sah nicht mehr und nicht weniger als da war, und aus diesen Augen beruht seine Größe, wenn er Geschichte oder Reise beschreibt. Die Gelehrten nennen solche Augen Objektivität.« Diese Objektivität habe in den Jahren, da deutsche Vaterlandsliebe Deutschland aus seiner tiefsten Er niedrigung befreite, viel scharfe Verurtheilung, bürgerliche Entrüstung erfahren. Ludwig Börne's langer Sündenzettel habe denn auch seinen Zorn erregt gegen Goethe's Selbstsucht und aristokratisches Wesen. Eine wilde Jugend habe nach seinem Tod sogar den Fluch des Vaterlandes auf seine Asche gerufen, weil er die freie Volksentwickelung aufgehalten, die Knechtschaft besungen habe. »Da bin ich schweigend zurückgetreten und ich protestire hiermit feierlichst gegen solche Weltgeschichte des Augenblickes. Wolfgang Goethe hat einen so weiten Blick in die Dinge zwischen Himmel und Erde gehabt, und seine Worte über das, was er gesehen, sind so tief in das Innere unsrer Nation gedrungen, daß er das deutsche Wesen mehr als tausend Andre fortgebildet hat. Seine Poesie ist so wahr und ächt, wie das unzweifelhafte Gold in der Erde Schooß – laßt uns anhalten, wenn wir auf dem historischen Wege an seinen Namen kommen. Nicht von heute zu morgen gehen die wichtigsten Samenkörner auf – es werden noch Blumen und Bäume seines Geistes und Herzens aus der Erde wachsen, wenn die Stätte nicht mehr zu finden sein wird, wo man seinen Sterbetag in Stein gegraben hat … Goethe ist wie eine Geschichtsperiode nicht nach Einzelheiten zu beurtheilen, sondern als ein sich entwickelndes Ganze. Man wird alsdann leicht die innere Nothwendigkeit seines Wesens erkennen; sein Leben schuf seine Werke, und nicht diese allein, sondern seine Werke und sein Leben bilden seine Geschichte.« Von diesem Gesichtspunkt aus bespricht er Goethe's Werke im Zusammenhang mit Goethe's Leben, soweit es ihm bekannt ist. Er sucht allen gerecht zu werden, am wärmsten klingt sein Lob stets, wo die einzelne Dichtung sich unmittelbar darstellt als Gestaltung erlebter Wirklichkeit. Bezeichnend für seine Richtung ist sein Lob der Jugendlyrik, des Werther, des Clavigo, des Wilhelm Meister, der römischen Elegien. Bemerkenswerth ist sein Ausspruch über »Hermann und Dorothea«: »Wären die Verhältnisse größer, so hätten wir vielleicht darin das größte dem Homer verwandte Gedicht; denn es existirt kein Kunstwerk, was so volksmäßig einfach gehalten und zugleich so künstlerisch geläutert ist.« Selbst für den »westöstlichen Divan« hat er verständnißvolle Würdigung. »Als er daran geschrieben hatte, war die Welt voll Krieg, Goethe aber voll Ruhe und Befriedigung gewesen, und da hat er es für gut gehalten, den Leuten in Gegensatz zu ihrem Treiben die ewige Heiterkeit solchen Zustands zu schildern. Es ist dasjenige von den besten Büchern Goethe's, das am wenigsten anerkannt worden ist, weil es wenige objektiv hinnahmen und hinnehmen wollten.« Das sei überhaupt das größte Unglück gewesen, daß er mit seiner ruhenden, forschenden, betrachtenden Sinn- und Denkweise in eine Geschichtsperiode gerieth, wo der Gedanke geflügelt, die That alltäglich geworden war. Das sei aber nicht sein Unrecht, sondern sein Schicksal gewesen. Seine bequeme Kontemplation habe unter den Zeitgenossen gerade den Troß der thatlosen unfruchtbaren Gourmands zu einer Gemeinde werden lassen, die sich namentlich auf ihn berief. Diese haben mehr denn alles Andre beigetragen, ihn während der letzten Zeit in so großen Mißkredit zu bringen. Seine Freunde, die auch noch die Natürliche Tochter, die Wanderjahre für lebensvolle mustergültige Offenbarungen seines Genies erklärten, hätten ihm mehr geschadet als seine Feinde. Die meisten Dichtungen seien plastische Darlegungen seiner eigenen Irrthümer. Er wollte poetische Schönheit geben, nicht moralische Vorbilder. Die schöne Menschlichkeit ist bei ihm an sich sittlich. Darüber gerieth er in ein Kreuzfeuer von zwei Seiten, die ihn aus moralischem Prinzip angriffen. »Die äußerste biblische Rechte und die junge menschenrechtliche Linke hatten sich in ihrer Feindschaft gegen ihn die Hände gereicht.« So Laube in den Reisenovellen, die er nach seiner Rückkehr von der mit Gutzkow unternommenen italienischen Reise schrieb.
Vorher aber schon – Anfang April 1833 – hatte Heinrich Heine seine Schrift » Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland« über den Rhein geschickt und eines der Exemplare war direkt an Laube gerichtet, der bereits acht Tage später Auszüge aus diesem »Programm« des ihm von allen »Modernen« am höchsten stehenden Dichters in der »Eleganten Welt« veröffentlichen konnte. »Es war nöthig,« hatte ihm Heine in seinem Begleitbrief geschrieben, »nach Goethe's Tode dem deutschen Publikum eine literarische Abrechnung zu überschicken. Fängt jetzt eine neue Literatur an, so ist dies Büchlein zugleich ihr Programm, und ich, mehr als jeder Andere, mußte wohl dergleichen geben.« Und an der Spitze der Schrift fand sich dementsprechend der Satz gestellt, daß der Tod Goethe's den Abschluß der aristokratischen Literatur bedeutet habe, das alte Deutschland sei mit ihm zu Grabe gegangen, und eine ganz neue Literatur, die demokratische, habe begonnen. Geplant als solche Programmschrift war dieser Essay zwar nicht, da bei seinem Entwurf der Dichter an ein französisches Publikum gedacht und von dem Wunsche geleitet war, den Franzosen ein Gegenstück zu dem Buche De l'Allemagne der Frau von Staël zu liefern, wie denn auch als sein Hauptzweck erscheint, der durch den Einfluß Fr. Aug. Schlegels in das Staël'sche Buch gelangten Verhimmelung der deutschen Romantik, welche er im Geistesleben einzelner Pariser Romantisten fortwirken sah, eine Darstellung der romantischen Schule Deutschlands entgegenzustellen, welche Klarheit und Wahrheit über dieselbe in Frankreich verbreiten könnte. So war die Schrift zunächst unter demselben Titel wie das Buch der Staël in der Europe littéraire erschienen, ehe ihm die aktuelle Bedeutung des Buchs als eines Programms für die neue Literaturbewegung in Deutschland aufging, was ihn nun sofort zur Vorbereitung einer deutschen Ausgabe veranlaßt, die er in der Pariser Filiale der Hoffmann und Campe'schen Buchhandlung, Heideloff und Campe, in jenem Frühjahr erscheinen ließ. Die beabsichtigte Wirkung blieb nicht aus. Die Unterscheidung Heine's zwischen den Prinzipien des Spiritualismus und Sensualismus, die er hier in Anwendung auf die klassische und romantische Literatur strikt durchführte, die Charakteristik der klassischen Kunst, als derjenigen, welche eine Identität zwischen dem Kunstwerk und der durch sinnliche Anschauung der Natur gewonnenen Idee des Künstlers anstrebt, und der Romantik, welcher das Kunstwerk nur Symbol ist für übernatürliche spiritualistische Vorstellungen und Bezüge, vor allem die Folgerungen daraus, die in einer Verherrlichung Lessings, Goethes und Schillers, in einer vernichtenden Kritik der spiritualistisch-reaktionären Tendenzen der deutschen Romantik gipfelten, wurden in Deutschland nicht nur von den jugendlichen Neuerern mit lautem Beifall begrüßt. Ein Programm für die Zukunft enthielt die Schrift aber nicht; der entsprechende Abschnitt, welcher jetzt das Buch »Die romantische Schule« schmückt und von einer neuen Literatur spricht, deren Jünger sich als Apostel des Fortschritts fühlen, wurde erst zwei Jahre später, Ende 1835, hinzugefügt. Jedoch in der Art, wie Lessing, Schiller und Goethe gefeiert waren: Lessing als Johannes der fortschreitenden Humanität und Vernunftreligion, der das Prinzip der Denkfreiheit auf alle Gebiete des geistigen Lebens übertrug, Schiller als der große Dichter der politischen Freiheit, der an dem großen Tempel baute, welcher alle Nationen gleich einer einzigen Brüdergemeinde umschließen soll, Goethe aber als Hoherpriester des Pantheismus, der Naturgöttlichkeit in Kunst und Leben, gab er die Richtung an, welche eine neue poetische Jugend nach dem Sieg über die Romantik einzuschlagen habe. Ebenso in der Angabe der Fehler, die jene Großen im Banne einer älteren Zeitbildung dennoch begangen. Lessings Hinneigung zur Nachahmung der Alten, Schillers Rhetorik und Schwäche in der poetischen Gestaltung des natürlichen Lebens, Goethe's Absonderung seiner Kunstwirklichkeit und Naturerfassung von der zeitgeschichtlichen Welt, deren Hoffnungen und Bedürfnissen – in all diesem fand sich angedeutet, welche Fehler die neue Literatur zu vermeiden habe. Und in den herrlichen Sätzen über Goethe's Faust tauchte das positive Grundprinzip seiner Lehre wieder auf, das Prinzip einer Poesie, welche der Leiblichkeit des Menschen wieder ihre natürlichen Rechte einräumt, die ihr geraubt worden seien vom asketischen Spiritualismus der mittelalterlichen Kirche, welche die Materie durchgeistigt und den Geist durchsinnlicht, die Ansprüche des gesunden Geistes wie des gesunden Körpers versöhnt, Gedanken, die dann im nächsten Jahr in dem zweiten Buche de l'Allemagne: »Zur Geschichte der Religion und Philosophie«, ihre weitere Darlegung fanden und von Laube und seinem Anhang wie andrerseits von Gutzkow mit lebhaftem Beifall aufgenommen wurden.
Im Sinne einer Rückkehr zur Kunst und einer Anlehnung an Goethe's Vorbild hatte auch Gutzkow nach der Heimfahrt aus Italien jenen vertraulichen Brief vom 2. November 1833 an Georg von Cotta geschrieben, in welchem er die erste Aeußerung von einem literarischen jungen Deutschland, einer jeune Allemagne fallen ließ, das reif sei, wie die junge Literatur in Frankreich »konzentrirt« zu werden, und gleichzeitig ausführte, daß die jungen poetischen Begabungen, welche bei ihrem Hervortreten der Politik und der Journalistik gedient, nunmehr über die Kritik, die Negation, die Verzweiflung und Prophetie hinausgehen müßten zur positiven plastischen Gestaltung des Lebens. Wir haben im Verfolg der inneren Kämpfe, welche die zwiespältige Neigung zur Politik und Poesie, die verlockenden Anerbietungen Cotta's und der anspornende Verkehr mit Laube und Schlesier in dem jungen Autor des »Maha Guru« erregten, bereits dessen Laufbahn bis zum Schluß des Jahres 1834 geschildert und gesehen, wie er um diesen Zeitpunkt der Versuchung, sich ganz der politischen Journalistik zu widmen, durch Uebernahme der Redaktion eines eigens für ihn gegründeten Literaturblatts zum Frankfurter »Phönix« definitiv entging, wie er andererseits bei Uebernahme dieser Stellung gleichzeitig als politischer wie als poetischer Schriftsteller Produktionen an die Oeffentlichkeit brachte, die ihn ins erste Glied der zeitgenössischen Literatur stellten, indem er als Nachfolger von Heine und Gagern die »öffentlichen Charaktere« für die Beilage der Allgemeinen Zeitung schrieb und im Morgenblatt den »Sadduccäer« darbot. Nicht ohne Grund konnte er sich jetzt, zumal sein unglücklicher Freund und Rivale den von ihm so siegesfroh durchtummelten Kampfplatz inzwischen mit dem Demagogenkerker hatte vertauschen müssen, als Führer der Bewegung fühlen, deren Entstehen er zuerst empfunden und vorausgesagt hatte; als solcher ergriff er nun das Wort in seinem »Literaturblatt« im Frankfurter Phönix. Und wie Heine Goethe's Pantheismus und Sensualismus, Laube Goethe's Objektivität gepriesen hatte, so legte er in seinen Berufungen auf Goethe den Nachdruck auf die Humanitätsidee, die seine Dichtung beseele. Und indem er sich Mühe gab, das neue Literaturblatt zu dem von ihm seit langem erträumten Organ des literarischen jungen Deutschlands zu machen und auf seine Weise das Programm einer solchen Gemeinsamkeit zu entwerfen, führte er in der That einen Zusammenschluß von Gesinnungsverwandten herbei. Es war die geistige Verbrüderung einer Anzahl liberaler junger Autoren thatsächlich im Werden, als der Bundestagsbeschluß gegen das »junge Deutschland« die Hauptbetheiligten traf. Das aber ist das Tragische ihres Schicksals, daß man ihre Bestrebungen, die vor dem Hambacher Fest in der That politischen Charakters gewesen waren, jetzt noch darum unterdrückte, weil man den Geist der politischen Revolution in ihnen zu treffen vermeinte, während doch das Gemeinsame an ihnen in einer Abkehr von der Politik, einer Rückkehr zur Kunst und zu denjenigen Lebensinteressen bestand, die von jeher den Hauptgegenstand der neueren Poesie gebildet, den Bezügen der Geselligkeit und Liebe, das revolutionäre Element ihrer Gemeinsamkeit also in der That einen rein literarischen Charakter trug. War es aber Gutzkow vorbehalten, dieser von ihm hauptsächlich angeregten Vereinigung und Bewegung das so erwünschte Organ zu schaffen, so war es dem bisher nur beiläufig erwähnten Ludolf Wienbarg gegönnt, ihr nicht nur den Namen, sondern auch durch die vertiefteste und geistvollste Kodifizirung ihrer Grundsätze den Stempel seines Geistes zu geben, während Heinrich Laube im Gefängniß die erste größere künstlerische Leistung, welche diesen Grundsätzen wirklich entsprach, ins Leben rief.
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Als Gutzkow und Laube gemeinsam von München nach dem Gardasee fuhren, brachte ein junger Privatdozent der Aesthetik in Kiel ein Kolleg populärer Vorlesungen zum Abschluß, in denen er es gewagt, Heine's eben erst erschienenes Buch »Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland« zum Ausgangspunkt von ästhetischen Feldzügen gegen die herkömmliche Kunstorthodoxie im literarischen Leben zu machen. Und gleichzeitig mit dem Reisenovellenband, der Laube's Verherrlichung von Goethe's »Objektivität« enthielt, erschienen diese Vorträge unter dem Titel: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet von L. Wienbarg. Während Gutzkow noch vergeblich sich mühte, der » jeune Allemagne«, von der er Cotta geschrieben, ein Organ zu gewinnen, »stickte« hier Wienbarg – wie es dieser selbst zwei Jahre später bezeichnete – »den fröhlichen und hoffnungsreichen Namen: junges Deutschland auf die Fahne der jungen Literatur.«
Von allen Denen, die damals mit und neben ihm dem von der Romantik verdrängten Realismus in der Dichtung die verschütteten Pfade frei zu legen und neue Wege zu bahnen suchten, erscheint Wienbarg als der urwüchsigste, von der Skepsis der Zeit in seinem Denken am wenigsten beirrte Idealist. Auf ihn hatte Hegels Philosophie keinerlei ungünstigen Einfluß geübt, weder seine Dialektik, noch seine abstrakte Schulsprache; dagegen war Hegels Idee der Entwickelung wie in Heine's in Wienbargs Geiste zu selbständigem Leben erstarkt. Sein Temperament war ein sanguinisches, enthusiastisches, sein geistiges Wesen, obgleich unproduktiv für die Kunst, war bedingt von ästhetischem Empfinden, Seine Begeisterung für die Ideale des politischen, sittlichen und geistigen Fortschritts, für die revolutionären Ideen der Zeit, sein nationaler Standpunkt hinderten ihn nicht, die Schönheit der poetischen Meisterwerke aller Völker und Zeiten zu genießen. Denn im klassischen Alterthume hatte, wie für Gutzkow, die Schule seines Geistes gestanden; er hatte Pindars Hymnen übersetzt, ehe auf ihn als Studenten Heine's Lieder und Harzreise von berauschender Wirkung gewesen; er war in Plato's Ideenwelt heimisch, ehe er zum Kultus der »modernen« Ideen gelangte. Seine Wiege hatte in einer Schmiede gestanden, seine Kindheit hatte den Nordseestrand zum Spielplatz. An die Kunst des Schmiedes muß man denken, wenn man seine im Funkensprühn eines feurigen Geistes scharf und rein geformten Sätze liest, an den Trieb des Strandbewohners zum weiten Ausblick, wenn man die Neigung seines Geistes verfolgt, sich in weiten Perspektiven der Geschichte zu ergehen. Wienbargs literarische Begabung war spröde; er konnte nur schreiben unter dem zwingenden Antrieb der Begeisterung; dann aber theilte sich auch der hochgestimmte Zustand seiner Seele dem Ton seiner Rede mit, verlieh seinem Pathos Glanz und Schwung und seinen Gedanken die innere Gluth heiliger Ueberzeugung. Aus solchem Zustand stammen die Reden, die er im Sommersemester des genannten Jahres zu Kiel vor einer großen, schnell enthusiasmirten Studentenschaar über die Voraussetzungen und Aussichten einer neuen Blüthezeit der Poesie in Deutschland hielt: der begeisterte Apostel eines neuen Glaubens.
Wienbargs Werdegang bis zu diesem Zeitpunkt ist kurz erzählt, obgleich er damals schon – der älteste vom Jungen Deutschland – das 30. Jahr überschritten hatte. Die natürliche Vermittelung seines hochstrebenden idealistischen Schönheitssinns mit den realpolitischen Forderungen der Sozialreform verwirkte auch bei ihm das persönliche Erleben der Armuth. Als Sohn eines Schmieds, in dessen Familie dieser Beruf erblich gewesen, kam er am Weihnachtstag 1802 in Altona zur Welt. Seine erste Erziehung war darauf gerichtet, ihn später übers Meer zu einem Vetter in Baltimore zu senden, der dort ein begüterter Kaufmann war. Seiner Neigung zu den Wissenschaften ward aber doch Raum gegeben. Mit 13 Jahren kam er in das Gymnasium zu Altona und 1822 konnte er die Universität der damals zu Dänemark gehörenden deutschen Nordmark, Kiel, beziehen. Mit einer Rede in deutschen Versen über die bildende Macht der Poesie nahm er seinen Abschied von der Schule. Wie Laube und Gutzkow wiesen auch ihn die Familienverhältnisse auf das billigste Studium, das theologische. Wie diese bahnte auch er seinem Geist aus dem Bannkreis der Dogmatik und Exegese einen Weg zur freien Wahl der Kollegien. Auch er wurde gerade durch die Theologie und unter dem Anhauch unserer großen Dichter aus einem unruhigen Bezweifler der christlichen Dogmen ein gläubiger Pantheist. Wie in Gutzkow wurde in ihm die romantische Auffassung des Mittelalters durch gediegene Studien im Bereich der aufblühenden Germanistik beseitigt. Mit ganzer Seele ergab er sich aber vor Allem in Kiel dem Kultus der burschenschaftlichen Ideale; der reckenhaft gebaute Holste mit der blonden Löwenmähne war auf der Kneipe wie dem Fechtboden, als Sprecher und beim Pokal eine Hauptstütze der Kieler Burschenschaft. »Die Urschichten seiner Begriffe,« sagte später Gutzkow von ihm, dem Schicksalsgenossen in schwerer Bedrängniß, »wurzeln in dem schönsten Theile der burschenschaftlichen Ideale, vor deren einseitiger Ausbildung, etwa nach der Seite einer leeren Vergötterung Arndts, Jahns, Fichte's und anderer Namen hin, ihn seine wissenschaftliche Forschung, das Studium Schleiermachers und Goethe's und später die geschmackvolle Hingebung an Heine's Originalität schützte.« Noch vor Abschluß seiner Studien sah er sich genöthigt, eine Hauslehrerstelle zu suchen. Wie Laube erhielt er eine solche in einem Herrenhaus in ländlicher Gegend. Drittehalb Jahre lang war er Hauslehrer bei den Kindern des Grafen Bernstorff-Gyldenstern, eines Enkels des berühmten dänischen Staatsministers. Das Schloß desselben lag im Lauenburgischen, umgrenzt von den alten Eichen und Föhren des Sachsenwaldes und jener Haide, deren stiller Reiz in Theodor Storm später seinen Dichter gefunden. Das einsiedlerische Leben hier ward unterbrochen durch Reisen nach Kopenhagen und den dänischen Inseln, öfter auch durch ein lebhaftes gesellschaftliches Treiben auf dem Schloß und seinen Jagdrevieren, wobei sich der deutsche und dänische Landadel in freundnachbarlichen Beziehungen mischte. Während aber Laube unter ähnlichen Verhältnissen an der schlesisch-polnischen Grenze eine Freude am adeligen Sport, am Reiten und Jagen, den Trieb, es den Kavalieren gleich zu thun, empfunden, blickte Wienbarg mit zurückhaltendem Trotz und dem Mißtrauen des Demokraten und Burschenschafters in das lärmende leichtsinnige Treiben und fand sein ausschließliches Glück im Lesen der Dichter und in idealen Spekulationen, Heine's Jugendlyrik, die Poesie seiner Nordseebilder ging damals mächtig in ihm auf – und wenn wir Gutzkows Andeutung in den »Rückblicken« beachten, daß der Klingsohr des 1. Bandes vom »Zauberer von Rom« den jugendlichen Wienbarg mit zum Modell gehabt habe, so dürfen wir annehmen, daß ein damaliges Herzenserlebniß dieser lyrischen Stimmungswelt entsprach. Den äußeren Abschluß seiner Studien verfolgte er dann in Bonn, indem er sich in Platos Werke, die von Schleiermacher so klassisch übersetzten, zum Zwecke einer Doktorarbeit mit Ausschließlichkeit vertiefte; eine Abhandlung über die ursprüngliche Natur der Platonischen Ideen ( de primitivo idearum Platonicarum sensu) war die Frucht dieser Studien. Doch machte er sein Examen selbst in Marburg, da eine Verwickelung mit der westfälischen Landsmannschaft ihn nöthigte, auf Anrathen des Universitäts-Kurators von Rehfues die rheinische Universität zu verlassen.
Ehe er aufs Neue eine Hauslehrerstelle annahm, lebte er als Privatgelehrter in Altona und knüpfte durch Beiträge modern-kritischer Art Beziehungen zu den Hamburger Journalen an, die ihn auch mit dem kleinen Hamburger Schriftstellerkreis, der Professor Zimmermann, den Aesthetiker, zum Mittelpunkt hatte und in welchem damals – es war im Jahre 1830 – der aus Berlin zurückgekehrte Heine wieder einmal den Ton angab. Lewald, Maltitz, Merckel, Töpfer, Dr. Assing waren weitere Mitglieder dieses Kreises, der sich im »Pavillon an der Alster« gern zusammenfand. In seinen »Skizzen aus den Hansastädten« (Hanau 1836) hat Ed. Beurmann, einer der Schildknappen des Jungen Deutschlands, die äußere Erscheinung des Wienbarg jener Tage entworfen: eine lang aufgeschossene Figur mit blondem Haar, einem nonchalanten, aber doch charakteristischen »Pli« – eine Mischung von Student und Professor mit holsteinischem Anstrich. »Er reckt die Arme, als stehe er auf der Mensur und sei im Begriff, den Schläger in die Hand zu nehmen, er krämpt die Rockärmel auf, als wolle er an der Tafel mit der Kreide doziren. Seine Rede ist kurz und aphoristisch, aber an geistigen Blitzen reich. Wenn er in Eifer geräth, so erhebt er sich zu hinreißender Suada in ciceronianischer Eleganz.« Als Wienbarg Heine zuerst gegenüber trat, war er überrascht, in ihm statt einer kräftigen, burschikosen, feurigen Natur einer feinen, stillen, vornehmen und freundlichen Persönlichkeit zu begegnen. Diese persönliche Bekanntschaft mit Heine änderte nichts an seiner Verehrung für den Dichter, dessen erste Lieder er früher gekannt hatte als seinen Namen. Er erzählte bei diesem Besuch auf dem Neuenwall, wie er diese Gedichte in Kiel als Student schon kennen gelernt. Freunde von ihm hatten bei ihren geselligen Zusammenkünften so manchen pikanten Vers jener Lieder zitirt, die dem ersten Theile der »Reisebilder« vorausgehen, und sich bei der herkömmlichen burschikosen Reiberei am Philisterthum höchlichst an dem Aerger ergötzt, der keuschen Philisterohren durch solch übermüthige Weisen bereitet ward. In den »Wanderungen durch den Thierkreis«, wie er 1835, um den Zensor irre zu führen, eine Sammlung kleinerer Aufsätze zur modernen Literatur nannte, findet sich dieser Besuch im Aufsatz »Skorpion« geschildert. Auch seiner gedenkt Wienbarg dabei. »Ich kümmerte mich während meiner Studienjahre bitter wenig um die erscheinende neueste Literatur. Madame Schwers in Kiel wird im Folioregister ihrer Leihbibliothek meinen Namen kaum anders als mit der Nummer Goethe'scher Werke, die ich las und wieder las, auf einer Linie erblicken. Dieses geschah nicht aus Verachtung des Neuesten, denn ich kannte es nicht. Auch nicht aus Prinzip oder übermäßig gelehrtem Eifer, sondern wohl hauptsächlich deswegen, weil ich als Knabe und Gymnasiast schon das allgemeine Lesefieber so ziemlich überstanden, ferner weil in mir durch frühere Versuche und derzeitige poetische Anlässe und Aufregungen der eigene Schöpfungstrieb in voller Blüthe stand, und endlich, weil ich zu lebhaften Geschmack und Antheil an der burschikosen Tagesgeschichte nahm, um mich in fremde, fernliegende und noch dazu papierene Phantasiewelten eben sehr neugierig einzudrängen. Der Kreis, in dem ich mich bewegte, bestand aus lebhaften und geistreichen jungen Leuten, die sich zum Theil weniger literaturscheu zeigten, als ich selber. Auf Spaziergängen nach dem Düsterbrooker und Wiburger Holze und im weindustigen tiefen Schacht, in den wir des Abends fröhlich hinabfuhren, hörte ich so manchen ›göttlichen Witz‹, so manche Phrase, ›die wahrhaftig auch nicht von Haferstroh‹, so manche Lieder und Liederverse rezitieren, daß ich so ungefähr die neue Literaturglocke läuten hörte, ohne sie zu sehen und zu wissen, wo sie hinge.« Höchst charakteristisch für seinen von Haus aus aufs Klassische gerichteten Geschmack ist es, daß eine seiner ersten Schriften die Frage erörterte: »Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden?« und im letzteren Sinn entschied; er konnte nicht ahnen, daß einer seiner Gesinnungsgenossen, der Mecklenburger Fritz Reuter, der um dieselbe Zeit sein Burschenthum mit schwerer Festungshaft büßen mußte, die aufgeworfene Frage später durch die That mit entscheidendem Erfolg zu Gunsten des Plattdeutschen entscheiden, daß der plattdeutsche Roman »Ut mine Festungstid«, der damals erlebt ward, zum geistigen Eigenthum der ganzen Nation werden sollte. Er selbst befand sich zur Zeit der Julirevolution mit seinen Arbeiten vorwiegend unter dem Einfluß Platos und der klassischen Schönheitswelt, der Poesie von Alt-Hellas. Der Zug der Russen über den Balkan unter Führung des Generals Diebitsch regte ihn zur Uebersetzung einer Episode aus Pindars vierter pythischer Siegeshymne (Jason) an. Heine sagte ihm mit Bezug auf diese: »Professor Zimmermann hat Ihre Verse gelobt, der Bau ist schwungvoll und elegant, aber das hat in meinen Augen weniger auf sich. Ihre Vorrede hat mich entzückt, ich beneide Sie um Ihre Prosa.« Als der Belobte ihn mit etwas spöttischem Unglauben ansah, rief Heine aus: »Nein, nein, das ist kein Kompliment von mir, das ist meine aufrichtige Meinung. Sie sind noch ein freies Roß, ich – habe mich Schule geritten.« Nicht zum wenigsten wird es neben der auch ihn mächtig aufrüttelnden Julirevolution, deren erste äußere Wirkung auf deutschem Boden ja eine Aufstandsbewegung in Hamburg war, dieser Theilnahme Heine's zu danken sein, daß Wienbarg sich jetzt in derjenigen Gattung mit einem größeren Werke versuchte, in welcher Heine's Prosa, da auch sie noch ein »freies Roß« war, die unbestrittensten Triumphe gefeiert, der Reiseschilderung. Ein zweijähriger Aufenthalt in Holland als Erzieher im Hause des dänischen Gesandten im Haag, Baron von Selby, gerade in den Jahren, da Belgien sich von Holland durch siegreichen Aufstand löste, gab ihm mit seinen mannigfaltigen Eindrücken dazu Anlaß und Stoff zugleich. Das zweibändige Werk » Holland in den Jahren 1831 und 1832«, erschienen in zwei Bänden zu Anfang und zu Ende des Jahres 1833, ist heute noch als eines der besten Bücher zu bezeichnen, die über das moderne Holland erschienen sind, ganz abgesehen von der geistreichen Frische des Vortrags, der Heine gegenüber viel mehr Selbständigkeit des Stils aufweist als Laube's Reisenovellen. Als es bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschien, fand es bei der Kritik allgemein eine freundliche Aufnahme. Wie seine günstige Besprechung durch Laube nähere Beziehungen zwischen diesem und Wienbarg zur Folge hatte, die dessen Mitarbeit an der »Eleganten Zeitung« bewirkten, in der auch einige Abschnitte aus dem zweiten Bande des Holland-Buches erschienen, ist schon im vorigen Kapitel erwähnt worden. Auch Menzel lobte das Buch im Literaturblatt (17. Januar 1834). »Mit sehr guter Laune geschrieben,« dekretirte er. »So muß man in Holland reisen, um sich nicht zu langweilen, mit viel Einbildungskraft und einem guten Vorrath Witz. Die einzelnen Schilderungen sind sehr lebendig.« Eine gewisse Ueberhebung, wie sie in Deutschland bis in unsere Tage, wo »Rembrandt als Erzieher« das Gegentheil lehrt, den Holländern gegenüber hergebracht war, verleugnet auch er nicht. Doch giebt er sich Mühe, ihrer Geschichte und dem in ihr bewährten festen Bürger- und Gemeinsinn, ihrer Treuherzigkeit und Arbeitslust volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Poesie ihres Wesens geht er in den Bildern ihrer Maler wie in den Liedern des Volkes mit seinem Verständniß nach. Auch er war ein Rembrandtverehrer, aber kein Vergötterer desselben. Eine geistreiche Parallele zwischen Rubens und Rembrandt schließt er mit folgendem Satze: »Rembrandt war ein großer Maler – der Antike, den Italienern, dem Idealen, den Grazien und der Schönheit selber zum Trotz.«
Einige Proben, welche Wienbargs Betrachtungs- und Ausdrucksweise, sein Verhältniß zur Natur und zur Gesellschaft charakterisiren, mögen die Berechtigung dieses Lobes veranschaulichen. Ueber die Nordsee und den holländischen Wasserstaat sagt er: »Ich kam vom königlichen Antikenkabinet, mir war so klassisch ruhig zu Muth, ich hatte die schönsten griechischen Idealformen vor Augen; ich ging nach Schevelingen, ich sah die See, die brandende brausende Nordsee und verweht waren meine griechischen Ideale und ich fühlte mich im Kern meines Wissens ganz ein anderer Mensch als ein Grieche. Der Athem der See fuhr mir durch die Brust, ihre Wellen brachen sich an meinem Herzen, wie an ihrem Ufer. Woher dieser Zauber? Der Süden kennt ihn nicht, der Franzose fühlt ihn nicht, der Grieche ahnte ihn nicht. Ueber seiner jonischen See, seinem Mittelmeer schwebt epische Ruhe – blauer Himmel, blaue Fluth; glückliche Inseln, goldene Aepfel, hesperidische Gärten. Die Nordsee ist lyrisch, leidenschaftlich, voll Klippen, Untiefen, Stürmen, Strudeln, Gefahren, Abenteuer. Im jonischen Meer sieht der Schiffer von Insel zu Insel den wirklichen Rauch der Hütten aufsteigen, in der Nordsee schweift der Blick über eine unermeßliche wüste Fläche, und Land und Menschen ahnen sich nur in weiter Ferne. Im jonischen Meer ziehen die Schiffe wie stille Schwäne durch die Fluth, in der Nordsee kreisen sie wie Möven mit flatternden Flügeln am Horizont. In beiden lebt die Seele der Menschen und die Seele des Nordens ist, wie ihre See, wetterwendisch, ungestüm, sehnsüchtig, sich verlierend ins Unermeßliche. Die Nordsee wird nie zum Mittelmeer und der Nordmensch nie ein Grieche trotz Winckelmann und Goethe. – Der größte und beste Theil Hollands liegt unter dem Spiegel der See zur Fluthzeit, liegt daher zwischen den beiden Extremen der durch Ebbe und Fluth alle sechs Stunden veränderten Wasserstände, würde also alle sechs Stunden unter Wasser und alle sechs Stunden wieder aufs Trockene gesetzt werden, ohne das Vorhandensein jenes natürlichen Bollwerks und andererseits der künstlichen Dämme und Deiche, womit die Einwohner die Ufer ihrer Flüsse, der Südersee u. s. w. beschirmen.« Es folgt eine sachlich-anschauliche Beschreibung dieses künstlichen Schleußensystems und die Einrichtung der Ueberwachungskommission der Hemradschapij. »Gleiche Noth, gleiche Gefahr vereinigt alle Kräfte für diese wichtigste Angelegenheit des Landes, dieses kleinen Landes, das so große Dinge durchgesetzt hat. Die Noth hält sie beständig in Athem. Sie gleichen Matrosen auf einem lecken Schiffe, die Tag und Nacht pumpen müssen, um nicht unterzugehen.«
Von Leiden erzählt der Reisende: »Die erste Frage, die ich bei meinem Besuch in Leiden that, war: ›Wo habt Ihr Schills Kopf?‹ Der Leser muß wissen, daß der Kopf des unglücklichen Mannes schändlich zerhauen, wie er ihn in seiner Todesstunde sinken ließ, von Stralsund durch die holländischen Truppen nach Holland kam, wo er zu Leiden, in eine Spiritusflasche gesetzt, unter Mißgeburten aufbewahrt wurde. Auf der Anatomie von Leiden hat er gestanden noch im Jahr 1817, und der König, für den dieser Tollkopf fiel, hatte ihn bis dahin noch nicht abgefordert. ›Wo habt Ihr Schills Kopf?‹ fragte ich also den Famulus. ›Er ist seit einigen Jahren aus der Anatomie verschwunden, man weiß nicht wie, durch wen und wohin; vermuthlich hat ihn Jemand gestohlen.‹ Es ist immerhin merkwürdig und für den deutschen Nationalstolz tief beschämend, daß Schills Kopf ein solches Schicksal haben konnte. Man kann nur fragen: sind die deutschen Köpfe nicht mehr werth, als von Holländern in Spiritus gelegt zu werden. Oder ist Deutschland keines Kopfes werth, da die Nation auf diese schmachvolle Weise mit ihren Köpfen umgehen läßt?« … Charakteristisch, wie das Vorstehende für seinen entschieden nationalen, ist für seinen entschieden demokratischen Standpunkt das Urtheil, welches er über die damalige liberale Bewegung in Holland fällt. Dieselbe entspräche keiner natürlichen Volksregung, sie sei ein künstliches Machwerk der Regierung und der mit ihr verbündeten altrepublikanischen Aristokratie. »Ueberdies besteht die zweite Kammer dem größten Theil nach aus dem aristokratischen Element reicher Mynheers, auf deren Wahl nach den bestehenden Wahlgesetzen die Regierung bedeutenden Einfluß übt. So lange die jetzigen Wahlgesetze fortbestehen, wird nicht leicht irgend eine Absicht des Ministeriums in den Kammern scheitern, und die Konstitution wird hier, wie anderswo, nur das geduldige Saiteninstrument sein, worauf die souveräne Gewalt ihre Volkslieder setzt und spielt.« In der belgischen Frage steht er ganz auf Seiten der Belgier, deren Recht auf Selbständigkeit er gegen die rein dynastischen Interessen, die sie mit Holland verknüpften, wiederholt vertritt. Und gleiche Bemerkungen finden sich zu Gunsten der Polen.
Mit besonderer Sympathie weilt Wienbarg bei dem gemeinnützigen Vereinswesen, in welchem sich der aristokratisch-republikanische Geist der Holländer von der vortheilhaftesten Seite offenbare. Die Maatschapij van weldagiheid rühmt er mit folgenden Worten: »Aus ihr gingen die berühmten holländischen Armenkolonien hervor. Der Fleiß findet dort Mittel und Wege etwas vor sich zu bringen. Der tüchtige Arbeiter kann mit der Zeit freier Eigenthümer werden, kann den Besitz, den er mit seinem Schweiße gedüngt hat, beim Tode seinen glücklicheren Kindern überlassen. Das lasse ich mir gefallen. Sonst, ich hasse diese Hungergaben, diese Haide-Sibirien, diese Zuchthäuser in freier Natur, diese Armen-Kolonien mit ihren todblassen Gesichtern, die muthlos auf den Boden starren, mit ihren gespenstigen Weibern, die, ihre Säuglinge an der welken Brust, die langen dürren Hände zum Betteln ausstrecken, mit ihren Hütten, die das menschliche Elend selbst gebaut und aufgezimmert zu haben scheint, um sie von ihrer leibeigenen Tochter, der Hoffnungslosigkeit, bewohnen zu lassen; ich hasse diese Kolonien, wo das Land kein Wasser, die Mutter keine Milch, der Vater keinen Muth in der Seele und kein Mark in den Knochen hat. Dagegen bin ich überzeugt, daß die meisten von den 2200 Menschen, die in den holländischen Kolonien einen Grund von 1100 Pundem Land ur- und fruchtbar machen, Schullehrer, Prediger und Bücher haben, die Wohlthat der Gesellschaft dankbar anerkennen und segnen. Sie haben nicht viel, aber sie haben die Hoffnung, sie sind arm, aber sie sind keine Bettler, sie wohnen einsam, aber sie sind nicht ausgestoßen von der Gesellschaft, sie werden von ihren Nachbarn vielleicht nicht beneidet, aber auch nicht bemitleidet, sie haben einen Weg hinter sich, einen Weg vor sich, und niemals, wenn sie nur wollen, Noth und Kummer an ihrer Seite. Da läßt es sich leben. Und selbst jene zwei andern Kolonien, welche die Gesellschaft außerdem errichtet hat, um eine wohlthätige Scheidewand zu ziehen zwischen dem Fleiß der Armuth und der in Faulheit versunkenen Bettelei, selbst diese beiden Kolonien sind menschlich, sind mit menschlichem Sinne auf menschliche Bedürfnisse berechnet, lassen der Furcht und der Hoffnung eine Thür offen und gewähren dem Bettler, der arbeitet, die nahe und gewisse Aussicht, kein Bettelkolonist zu bleiben, sondern in die achtbare Gesellschaft der drei oberen Landbaukolonien einzutreten.« …
*
In demselben Frühjahr, in welchem Wienbarg mit diesem ersten größeren Werke hervortrat, habilitirte er sich in Kiel als Privatdozent für deutsche Literatur. Er las Gothisch und Mittelhochdeutsch, Geschichte der deutschen Literatur und jenes collegium publicum über Aesthetik, das im Druck den Titel » Aesthetische Feldzüge« erhielt. Diese Vorträge fanden ein großes empfängliches Auditorium, das den geistigen Nährstoff moderner Ideen, den sie enthielten, begierig aufnahm. Es ist überliefert, daß er »trotz dieser Ausnahme« die von ihm nachgesuchte Anstellung als Professor nicht erhielt; nach Prüfung des Inhalts dieser »Feldzüge« muß wohl richtig gesagt werden: »wegen« ihres Erfolgs; denn diese Feldzüge richteten sich nicht nur gegen die ästhetischen Schuldoktrinen, welche die akademische Weihe hatten, der hier kämpfende Geist ging auch keck und kühn gegen den Geist an, der die Fakultäten damals überhaupt meist beherrschte, gegen den »Kultus der Vergangenheit«. In den » Worten der Zueignung« des Buchs an » das junge Deutschland«, worunter er zunächst die deutsche akademische Jugend verstand, gab er dann dieser Tendenz noch einen schärferen Ausdruck,
»Dir, junges Deutschland, widme ich diese Reden, nicht dem alten,« hebt diese geharnischte Vorrede an. »Ein jeder Schriftsteller sollte nur gleich von vorn herein erklären, welchem Deutschland er sein Buch bestimmt und in wessen Händen er dasselbe zu sehen wünscht. Liberal und illiberal sind Bezeichnungen, die den wahren Unterschied keineswegs angeben. Mit dem Schilde der Liberalität ausgerüstet sind jetzt die meisten Schriftsteller, die für das alte Deutschland schreiben, sei es für das adlige, oder für das gelehrte, oder für das philiströse alte Deutschland, aus welchen drei Bestandtheilen dasselbe bekanntlich zusammengesetzt ist. Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeutschen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche todte Gelehrsamkeit in die Grabgewölbe ägyptischer Pyramiden verwünscht, und daß er allem alldeutschen Philisterium den Krieg erklärt und dasselbe bis unter die Zipfel der wohlbekannten Nachtmütze unermüdlich zu verfolgen Willens ist.
Dir, junges Deutschland, widme ich diese Reden, flüchtige Ergüsse wechselnder Aufregung, aber alle aus der Sehnsucht des Gemüths nach einem besseren und schöneren Volksleben entsprungen. Ich hielt sie als Vorlesungen auf einer norddeutschen Akademie, hoffe aber, sie werden den Geruch der vier Fakultäten nicht mit sich bringen, der bekanntlich nicht der frischeste ist. Ich war noch von der Luft da draußen angeweht und der Sommer 1833 war der erste und letzte meines Dozirens. Universitätsluft, Hofluft und sonstige schlechte und verdorbene Luftarten, die sich vom freien und sonnigen Völkertage absondern, muß man entweder gänzlich vermeiden oder nur auf kurze Zeit einathmen. Riechflaschen mit scharfsatirischem Essig, wie ihn z. B. Börne in Paris destillirt, sind in diesem Fall nicht zu verachten …
Preußen trägt sich mit dem Plan, die alten Universitäten umzuschmelzen. Immerhin, und mag das gelehrte Deutschland auch Blut über den Frevel schwitzen. Ich traue freilich dem neuen Gusse nicht, weil ich nicht einsehe, woher Preußen das rechte Metall dazu nehmen will, es wäre denn preußisch-evangelisches Kanonen- und Glockengut. Aber auch dieses halte ich für besser als die alte tonlose Mischung, die selbst unter Thors Hammerschlägen keinen Klang mehr von sich geben würde.
Zur Zeit der Reformation waren die Universitäten Stützpunkte für den Hebel des neuen Aufschwungs. Gegenwärtig bewegen sie nichts, ja sie sind Widerstände der Bewegung und müssen als solche aus dem Wege geräumt werden.«
Es war das Thema, welches Heinrich Heine in seiner Harzreise als Göttinger Student angeschlagen. Er hatte mit graziöser Hand Narrenschellen an die Zöpfe geheftet, während sein klatschender Pritschenschlag den Puder aus ihnen hervorklopfte. Die Pritschenschläge des leichtlebigen Rheinländers hatten scheinbar noch wenig genutzt, jetzt rückte der wuchtige Niederdeutsche mit anderen Waffen heran und warf dröhnend die Wurfgeschosse seines entfesselten Pathos gegen die alten Gemäuer,
An Heine's Vorbild knüpfte auch der Gedankengang an, den Wienbarg in seinen, weit wissenschaftlicher gehaltenen Vorlesungen verfolgte. Das Buch schließt nicht nur mit einem Zitat aus Heine; eine Stelle aus der »Anti-Romantik« ist in den beiden Hälften, in die das Buch zerfällt, wiederholt und beide Mal zu einem Mittelpunkt des Rückblicks in die Vergangenheit und des Ausblicks in die Zukunft erhoben. Und bezeichnend für den Geist, der diese Reden durchdringt, ist vor allem die Beziehung dieser Stelle auf den größeren Dichter, der sich selber am Ende seines Lebens auch einen »Befreier der Deutschen« genannt hat, auf Goethe. Es ist die Stelle, in welcher Heine von Goethes »Faust« spricht, ihn die »weltliche Bibel« der Deutschen nennt und als eine That bezeichnet, die an Bedeutung neben die Protestationsthat Luthers zu stellen sei. Wie Luthers That die Befreiung des Geistes aus den Fesseln des starren Kirchenglaubens eingeleitet habe, so sei Goethe's »Faust« der gewaltigste Protest gewesen gegen die Tyrannei des Geistes zu Gunsten des Anrechts des sinnlichen Menschen an das Leben. Der Doktor Faustus, den am Ausgang des Mittelalters die Phantasie des deutschen Mittelalters gestaltet und am Ausgang der kirchlichen Aufklärungsperiode von Goethe zum Helden seiner mächtigsten Dichtung gemacht worden ist, der Doktor Faustus, »der nicht nur die Erkenntniß der Dinge, sondern auch die reellsten Genüsse vom Teufel verlangt hat«, sei das deutsche Volk selber: »es ist selber jener Spiritualist, der mit dem Geiste endlich die Ungenügbarkeit des Geistes begriffen, und nach materiellen Genüssen verlangt, und dem Fleische sein Recht wiedergiebt«. Wienbarg hat diesen Heine'schen Vergleich sammt der leitenden Idee, daß die moderne Kultur von dem Kampf zwischen Sensualismus und Spiritualismus bedingt sei, sowohl in den ersten geschichtlichen Theil seiner Ausführungen wie in den zweiten eingeflochten, welcher Gesichtspunkte für die Kunstentwickelung in Gegenwart und Zukunft aufstellt. In beiden Fällen bezeichnet er den jungen Goethe, den Goethe des Götz und Faust und Egmont als den Führer einer neuen Bewegung in Literatur und Kunst, welcher die unmittelbare Beziehung zum Leben, zur Wirklichkeit, ein realistisches Prinzip innewohnt. Er hat in beiden Fällen den Vergleich und die Idee Heine's weiter ausgeführt und tiefer begründet.
Sein historischer Rückblick, der die Kultur der Inder, Ebräer, Griechen und des christlichen Mittelalters durchfliegt, mündet in der Darlegung, daß Leben und Kunst immer dort der Schönheit ermangelten, wo die herrschenden Ideen das Recht der Menschen auf Genuß der Reize des Lebens verkümmert, daß sie da sich zur Blüthe entfaltet, wo die Bedürfnisse des Geistes und der Sinne sich in Freiheit und Harmonie entwickeln durften. Er schließt mit der begeisterten Prophetie: »Behauptung der Rechte des Verstandes und des sinnkräftigen Gemüths, darauf drängt der Geist der neuen Zeit. Ueber unserer Asche wird sich ein neues europäisches Griechenthum erheben, angemessen dem geistigen Fortschritt, den das Christenthum vorbereitet hat. Nur zweimal hat der Erdball die Erscheinung erlebt, daß Menschen in sinnlich-geistiger Eintracht organische Monaden bildeten und ein Leben der Frische und Gesundheit führten. Von dem einen berichtet uns die Sage des Paradieses, von dem andern die Geschichte Griechenlands. Indien vernichtete das Sinnliche, Palästina überhob das Geistige, zwischen beiden blühte Griechenland wie zwischen zwei Abgründen, deren bodenlose Tiefe es ahnungslos mit Rosen und Lorbeern überstreute. Aber die Menschheit mußte hinüber und dem germanischen Stamm war es vorbehalten, in die tiefste Tiefe hinabzuschauen und selig den zu preisen, ›der lebt im rosigen Licht‹. Dem germanisirten Europa bleibt die dritte Entwicklungsstufe vorbehalten, in der das Sinnliche durchgeistigter wie bei den Griechen, das Geistige durchsinnlichter wie bei den Christen zur Erscheinung kommt.«
Als das Haupthinderniß zu diesem Ziel bezeichnet er den Irrthum, daß das Sittlich-Gute und das Sinnlich-Schöne Gegensätze seien, die sich ausschließen. Kunst und Moral hätten den gleichen Zweck, die Organisirung der einzelnen Elemente zu einem gebildeten Ganzen, das bei der größten Mannigfaltigkeit seiner Theile von einer Grundidee durchdrungen und zur Einheit verknüpft werde. Jeder Einzelne habe die Aufgabe, sein Leben zu solcher Harmonie zu gestalten, jedes Volk habe die gleiche Pflicht seinem Staat, seinem Zeitalter gegenüber. Nur wenige seien zu Künstlern geboren; alle aber, um Selbstkünstler, Bildner ihrer Persönlichkeit zu sein. Die Moral sei wie der Schönheitsbegriff nichts Feststehendes; wie anders war bei den Aegyptern, wie anders bei den Griechen, was sie gut und schön nannten. Beide Begriffswelten entwickeln sich in Wechselwirkung mit einander, mit den politischen und religiösen Anschauungen des Volkes und Individuums; bei den Griechen hätten sie sich in Einklang mit einander entwickelt, die Kirchenlehre des Christenthums habe diesen Einklang zerstört. Statt einer Moral, die nur verbietet, nur negirt und vernichtet, die alles Treibende und Liebende in uns für sündhaft erklärt, fordert er im Namen des jungen Geschlechts, dem er angehört, eine Moral der That, die statt uns die Flügel zu beschneiden und unsere Fortschritte zu hemmen, uns beflügelt und zur Ausübung alles Outen und Schönen anleitet. Diese Moral, welche der Idee des Fortschritts entspräche, sei das Ideal der nun zu erstrebenden Bildung des Menschen und der Menschheit; ihr Walten darzustellen sei die Aufgabe der Poesie. Schon einmal sei sie zum Volkseigenthum geworden – bei den Griechen; und in neuerer Zeit sei sie in einer einzelnen Persönlichkeit, in der Goethe's, Ereigniß geworden. Wienbarg untersucht, wie das »schöne Gute« der Hellenen in Deutschland zum bewegenden Prinzip der Bildung gemacht, und wie das Schönheitsgefühl, das wir in Goethe's Schaffen und Leben wirken sehen, Gemeingut einer zukünftigen Generation glücklicher Deutscher werden könne. Der Einfluß der Kunst und Poesie habe hier reformatorisch zu wirken, und diese Bestimmung giebt ihm den Maßstab für seine Beurtheilung ihrer Produkte. Begeisterung für die schöne That wie für die schöne Erscheinung ist ihm ebenso unentbehrliche Voraussetzung für das bedeutende Kunstwerk wie für ein menschenwürdiges Dasein. Die innere Freude an der schönen That, der Abscheu vor der häßlichen sind die besten Wegweiser zur wahren Tugend. Sie vermitteln die sittliche Freiheit des Denkens und Fühlens. Nur die aus diesen Elementen erwachsende Kunst könne wieder die Begeisterung für die schöne That und das schöne Sein im Leben der Menschheit und des Einzelnen hervorrufen. Denn das sei die gewaltige Zaubermacht der Kunst, daß sie das einzelne Schöne in That und Sein des Lebens, indem sie es zum dauernden Bildwerk forme, für neue Generationen erhalte und durch dies Medium in Tausenden von Nachgeborenen die Sehnsucht nach Verwirklichung dieses Schönen im Leben, die Freude an der schönen That, am Guten, erwecke.
Als Hauptgebrechen ihrer eigenen Zeit schildert er seinen jungen Zuhörern, wie sehr gerade ihr das Gefühl für den Zusammenhang zwischen Kunst und Leben, Schönheit und Sittlichkeit abhanden gekommen sei. »Was nennt man heute,« ruft er, » unisono eine schöne That? Denken Sie an den Aufstand der Polen! – Daß vor vielen Jahrhunderten die Schweizer sich von Oesterreich losrissen, daß Tell den Geßler erschoß, daß Winkelried der Freiheit eine Mauer war und die feindlichen Lanzen in seine eigene Brust schob, das finden wir allerdings unisono schön und es ist jedem Deutschen sowohl polizeilich als ästhetisch erlaubt, darüber in gelinden Enthusiasmus zu gerathen. Allein, daß ein schändlich zerstücktes und unterdrücktes Volk vor unsern Augen die Eisdecke der Tyrannei in die Luft sprengt, daß es eine Nacht gab, wo wir ruhig in unseren Betten schliefen und Gott weiß, von welcher Oper träumten, eine Nacht, wo eine Handvoll kühner Jünglinge den Palast zu Warschau stürmten und nach der Flucht und dem Tode von wenig feilen Kreaturen einer Morgenröthe zujauchzten, welche die gesprengten Ketten einer großen und edelmüthigen Nation beleuchtete, dieses Ereigniß – und alle die glänzenden Thaten und Opfer, die es nach sich zog – fand es so allgemeinen Anklang, riß es so allgemein und wahrhaft die Gemüther hin, oder hörte man nicht, wo Zwölf zusammenstanden, den Einen verabscheuen, den Andern bewundern und Zehn mit den Händen klatschen, als wohnten sie nur im Theater der Welt der Aufführung eines schönen Stückes bei? … Hier sehen Sie eine That, von deren Schönheit man durchdrungen sein muß, wenn man einen Tropfen Römerblut, einen Hauch aus Timoleons Seele in sich spürt, wenn nicht Alles Lüge und Schulgeschwätz ist, was wir der alten Geschichte nachrühmen, der kontrastirendsten Beurtheilung anheimfallen. Ein solches Schicksal, meine Herren, wird jede andere schöne That unter uns erleben: Viele werden sie schön finden, nicht als Ereigniß der Geschichte, nicht als sittliche Handlung, nicht als wiederbegeisternde Begeisterung schöner Seelen, sondern als ein schönes Natur- oder Kunstprodukt, dessen bequeme und ruhige Betrachtung wohl eine angenehme Wärme im Herzen verbreitet, aber eine Wärme, die für das Herz so flau und unschuldig ist, wie eine Tasse Thee für den Magen; immer nur Wenige wird es geben, denen die That auf's Herz schießt, wie ein Blitz, entzündend, begeisternd, zu ähnlichen Thaten beflügelnd, kurz, aus deren Gemüth die geschichtliche, lebendige Schönheit, wie es in ihrem ursprünglichen Wesen liegt, geschichtlich und lebendig wirksam ist…« »Aber,« fährt er fort, »lassen Sie ein Dichtergenie, gleich dem des Shakespeare, die Polenrevolution, den Kampf und Untergang der Freiheit, großartig poetisch in ruhiger Zeit auf die Bretter bringen, welche nicht die Welt sind, sondern die Welt bedeuten, wie Schiller sagt, dann werden Sie hören, wie alle Urtheile sich vereinigen, wie das Parterre klatscht, wie die Fähndriche sich in die Brust werfen, wie die Kritiker ihre Brillen wischen, welcher Enthusiasmus sich in die Logen verbreitet und wie vielleicht selbst ein erstarrtes Amts- und Ministergesicht am Schluß des Stücks und der Freiheit – Thränenwasser und einen Rest von Mitgefühl und Wehmuth auf den Wangen hat … So durchläuft die Schönheit einen doppelten Kreis und bringt zweifache Wirkung hervor, einmal im Leben, als sittliche, poetische, historische, gesellschaftliche, das andere Mal in der Dichtung, als künstlerische, dramatische, epische. In beiden Fällen wirkt sie ein ästhetisches Gefühl, aber im ersten mehr ein thätiges, im andern mehr ein leidendes, im ersten mehr ein unmittelbar, im zweiten ein mehr mittelbar rückwirkendes. So sollte, wollte ich sagen: die Schönheit einen doppelten Kreis durchlaufen und sowohl auf den Willen wie auf das Gefühl ihren zaubervollen Einfluß ausüben; allein wir gingen mit Recht davon aus, daß der Zauberstab der Schönheit, womit sie die Zuschauer und Hörer schöner, großer Thaten, selbst wieder zu schöner und großer Thal bewegt, leider keine Macht über uns ausübt, und daß nur das Lustigere der Kunst unsere Gemüther bewegt und zur passiven Mitempfindung anreizt.«
Aus diesem Zusammenhang von Kunst und Leben ergiebt sich Wienbargs Auffassung vom Wesen der Schönheit. Dieselbe ist durchaus realistisch. »Es kann ebensowenig eine abstrakte Kunst geben, die dem menschlichen Geschlechte angehörte, als eine solche Moral; dagegen findet sich das Elementarische der Kunst, die ästhetischen Ideen, in den Kunstwerken aller Zeiten und Völker wieder, und nur der individuelle Komplex derselben, der organische Zusammenhang und Alles, was zur konkreten Lebendigkeit gehört, macht das Unterschiedliche und Eigenthümliche in der Kunst der Völker aus. So unterscheiden wir zunächst in der Einen Moral und Kunst die besondre Weltanschauung, welche im Ganzen und Großen ihren Zeitcharakter bildet. Allein hierbei bleiben wir noch nicht stehen. Die eine Moral und Kunst der besonderen Weltanschauung spaltet sich nun wieder tausendfach in ihrem Kreise, nach dem Naturell der Völker, der Individuen, welche sich mit ihrer Ausübung beschäftigen. Hier verschmilzt sich der Volkscharakter mit dem Charakter des Einzelnen zu einer Kraft, der Einzelne, auch der Talentreichste und Größte, bleibt immer ein Kind seiner Zeit, ein Sohn seines Volkes, und als solcher steht er zwischen ihm und der Menschheit und empfängt die Aufgabe, seine Individualität geltend zu machen, ohne weder dem rein Menschlichen, noch dem Volksthümlichen den gerechten und nothwendigen Tribut zu versagen.« Was so von Kunst und Moral gilt, habe auch von der Schönheit überhaupt zu gelten. Sie sei von Ursprung nichts Ideelles und Abstraktes, sondern stets etwas Konkretes und Besonderes, das an einem bestimmten Stoffe – sei's That, sei's Marmor, sei's Fleisch und Blut – zur Erscheinung kommt. Ebenso individuell wie die Schönheit selber müsse das Auge sein, das sich ihrer erfreut, und so sehen wir es im Wesen der Schönheit selbst begründet, daß sie nicht Allen schön ist und daß sie in verschiedenen Anschauungskreisen verschiedene Wirkungen hervorruft. Jedes Auge aber werde das, was es schön findet, um seiner besonderen und individuellen Eigenschaften, um seines Charakters willen schön finden. Goethe habe dies Charakteristische das » Bedeutende« genannt: wo Bedeutendes zu einer glücklichen Behandlung gelangt sei, sei Schönheit. Ebenso ließe sich von der Natur sagen: der höchste Grundsatz der Natur sei das Bedeutende, ihr glücklichstes Resultat aber das Schöne. Jedoch die Natur sei in ihrem Streben nach Bedeutung und Schönheit viel mehr behindert als die Kunst. »Die Kunst gehört dem Reiche der Freiheit, die Natur dem Reiche der Nothwendigkeit an; die Kunst kann nur wollen, und ihrem Willen gelingt das Schönste, die Natur aber, beim besten Willen, sieht sich nicht selten genöthigt, durch den Schrei der nackten Existenz innerlich gezwungen, ihren auf das Schöne gerichteten Willen zu brechen und zunächst nur die ärmlichen Forderungen des Daseins zu erfüllen. Die ganze Organisation ist ja nur die Frucht eines Kampfes der bildenden Natur mit den rohen Kräften des Chemischen, Unorganischen, Chaotischen, das von allen Seiten auf das Organische eindringt, tückisch auf jede Blöße lauert, welche dasselbe darbietet, und dann sogleich den nagenden, zerstörenden Zahn unmittelbar auf den Nerv der kranken Stelle heftet. Licht, Luft, Erde, Wasser, Wärme, Kälte u. s. w. behindern unaufhörlich die ideale Thätigkeit der Natur, und was zu den schönsten Formen berechnet war, kann der Zufall in die ärmlichsten und schlechtesten hinabdrücken.« Dagegen sei die Kunst in dem Streben, organische Einheiten von Bedeutung und Charakter zu bilden und dieselbe mit dem Reiz der Schönheit anzuhauchen, durch nichts als die Unzulänglichkeit der Mittel und der Talente gehindert. Diese Freiheit, ungehindert aus der Fülle der Einzelheiten das Vollkommene in seiner Bedeutung, im Charakter des Individuellen zu bilden, sei ihr größter Vorzug. Jede Kunst habe nach ihren Mitteln und Absichten eine andere Auffassung des Bedeutenden, sie suche das malerisch, das plastisch, das dramatisch Schöne. Dieser Umstand bedinge die Wahl der Objekte. An das Wirkliche müsse sich der Künstler halten, aber er habe es nicht als wirklich nachzuahmen, sondern dem Wirklichen, seiner natürlichen Bedeutung gemäß, eine künstlerische Bedeutung zu geben. So ist Wienbarg Realist und doch auch ein Gegner jenes Naturalismus, der sich zum Abschreiber der zufällig gegebenen Natur erniedrigt. In diesem Sinne zitirt er Schelling: »Die Forderung zu idealisiren, die Manche an den Künstler machen, scheint aus einer Denkart entsprungen zu sein, nach welcher nicht die Wahrheit, Schönheit, Güte, sondern vor Allem das Gegentheil das Wirkliche ist. Wäre das Wirkliche der Wahrheit und Schönheit entgegengesetzt, so müßte es der Künstler nicht idealisiren, sondern vernichten, um an dessen Stelle die Schönheit hinzupflanzen.« Aus diesen Forderungen ergiebt sich für die Poesie als Aufgabe: Darstellung des Schönen im wirklichen Leben in seiner individuellen Bedeutendheit. Der Stoff der Poesie ist das Seelenleben der Menschen, die poetische Schönheit ist die Offenbarung der reinen menschlichen Natur im seelischen Handeln einer besonderen Persönlichkeit im Gegensatz zur konventionellen Moral. Er umschreibt hiermit, was er in seiner Theorie der Moral die »schöne That« genannt hat. Das Streben in der Natur, sich durch Ueberwindung des Unorganischen, des Unwesentlichen, Störenden, Feindlichen zur Gestaltung des Organischen und Bedeutenden durchzuringen, wie es sich auch in der sittlichen Welt, im Kampf der menschlichen Willenskräfte, vollzieht, ist als Wesen der sittlichen Schönheit Gegenstand der poetischen Kunst. Darum wurzle die Poesie zwar ganz im Individuellen und erhebe sich doch über alle Unterschiede der Religion, der Nationalität und Gesellschaftsordnung. »Die Poesie ist die Vermittlerin aller Zeiten und Völker, die Vermittlerin aller Menschen, die Dolmetscherin aller Gefühle und Bestrebungen, und sie ist es dadurch, daß sie unmittelbar aus dem Herzen dringt, aus jener unergründlichen Tiefe, wo die Kraft neben der Leidenschaft schläft, aus jenem Kern des menschlichen Wesens, der, wenn er verwitterte, die ganze Menschheit in Staub zerfallen ließe. Nicht als ob die Poesie in ihrer Aeußerung bei diesem, jenem Volke, diesem, jenem Menschen keine persönlichen, volksthümlichen, charakteristischen Elemente und Beisätze enthielte – es giebt ebensowenig eine abstrakte Poesie, als überhaupt etwas abstrakt Lebendiges –, sondern es hat die Poesie vom Himmel die Gabe empfangen, trotz ihrer beschränkt-geschichtlichen Aeußerung im Tiefsten das Reinmenschliche, allen Verständliche, allen bis zu einem gewissen Grade Genießliche für ewige Zeit aufzubewahren; eine Gunst, der sich weder Philosophie noch Religion zu rühmen vermag.« Und er preist die Poesie als die Offenbarung der reinen Natur, der ursprünglichen Menschheit, die sich mit jeder besonderen Erscheinung auf dem Felde der Geschichte gattet und daher, so allgemein menschlich sie in ihrer Quelle ist, doch jedesmal einer besonderen Menschheit, einem bestimmten Zeitalter angehört. Mit sieghaften Worten wendet er sich gegen die quietistische Irrlehre der Schulromantik, daß die Poesie nur ein Spiel der Phantasie sein solle, das uns über die Rauheiten und Bitternisse des Lebens hinwegtäusche.
Befreiung des individuellen wie des nationalen Lebens vom Joche einer konventionellen Moral, die der Wahrheit, Schönheit und Freiheit des Handelns widerstrebt, sei auch das Ziel von Goethe's Poesie gewesen, ehe er »Kunst und Alterthum« als Prinzip der Natur und Jugend gegenüberstellte. Der junge Goethe, der den Werther, den ersten Theil des Faust, den Egmont, den Prometheus und die Lieder an Friederike geschrieben, sei »der Luther seines Jahrhunderts gewesen, dessen Bibel die Natur und dessen Schüler und Anhänger die Jahrhunderte selbst sind, die nach ihm kommen.« Seine Poesie sei seinem eigenen begeisterten Herzen entströmt und sein Empfindungsleben sei tausendfach verflochten gewesen mit dem Empfindungsleben seines Volks und seiner Zeit, mit ihren Ahnungen und Hoffnungen, mit ihren Leiden und Schmerzen, Seine Werke spiegelten diesen Zusammenhang in organischer Einheit. »Es ist wahr, Goethe war ein Aristokrat in der Politik, ein Verehrer des Hof- und Fürstenwesens, ein Panegyrist der angestammten Macht, ein Protektor der leidlichen Mißbräuche, bei denen es sich immer noch ziemlich behaglich leben läßt, ein Freund des Manierlichen und äußerlich Distinguirten, ein strenger Vertheidiger des äußeren Unterschiedes der Stände, des Herkömmlichen, Anstandsvollen; aber in dieser Charakteristik Goethe's liegt so wenig Charakteristisches für sein Genie, daß es auf jeden Kammerherrn und Hofmarschall im deutschen Reiche paßt. Derselbe politische Aristokrat, dieser Mann, der das große geschichtliche Element der Völker von einem so kleinen höfischen Standpunkte betrachtete, übersah das religiöse, sittliche und wissenschaftliche Leben mit den Blicken eines Adlers, und vom Standpunkte einer Zeit, den Gott weiß welche Generation unserer Urenkel erst mühsam erklettern wird … Goethe trug als Jüngling die ganze neue Zeit, die kommende Weltanschauung in seiner Brust, und was ihn damals im tiefsten Grunde bewegte und womit er die Welt und seine Zeitgenossen überraschte, das wird früher oder später die Welt bewegen und Deutschland politisch und moralisch umschaffen. Allein Goethe gehört zu denjenigen Charakteren, welchen nicht die unmittelbare Gestaltung der Außenwelt, sondern zunächst die Bildung ihrer eigenen Persönlichkeit von der Natur zum Grundgesetz gemacht zu sein scheint; daher er sich auch bald aus der Gewitterregion, welche aus dem Innersten und Tiefsten der Leidenschaft Blitze in die Welt schleudert und deren Stärke einzig und allein den Luther, den Demagogen macht, zurückzog in die klarere Region eines mehr ruhigen, um die Welt scheinbar unbekümmerten Selbstbewußtseins, das, nach Außen durch eine freie und würdige Stellung befriedigt, nach Innen in stetem Bildungsprozeß zu immer größerer Kraft und Klarheit beschäftigt wurde. Eine solche Persönlichkeit ist ganz durchaus auf sich basirt; daß Andere es ebenso machen, sich ebenso unabhängig in der Welt hinstellen, mag und kann ihr nur recht sein, aber sie sucht nicht durch Umwälzungen die sittlichen und politischen Fundamente fremder Persönlichkeiten zu basiren, sie schließt sich egoistisch in ihrem Kreise ab und begrüßt Jeden, der diesen durchbrechen will, unwillig mit elektrischen Schlägen. So denke und erkläre ich mir den ganzen Goethe und es sagt mir ein Etwas, daß ich dieses hohe Ziel nicht zu weit verfehlt habe.«
Das Streben der neuen Zeit dagegen suche jene sittlichen und politischen Fundamente zu schaffen, die nöthig sind, daß die allgemeinen Zustände allen Edelwollenden ein Leben in Freiheit und Schönheit gestatten, wie es Goethe für sich erstrebte. Noch sei es eine Zeit des Uebergangs, das Alte habe noch Gewalt über das Neue, aber die Jugend dränge unerschrocken vor. Und aus dem Charakter dieser neuen Zeit, in welcher sich in qualvollem Kampf und schmerzlichem Ringen der Geist einer neuen Zeit aus der Welt des Bestehenden emporlöse, erklärt er den Charakter der Literatur seiner Tage. »Die Schriftstellerei ist kein Spiel schöner Geister, kein unschuldiges Ergötzen, keine leichte Beschäftigung der Phantasie mehr, sondern der Geist der Zeit, der unsichtbar über allen Köpfen waltet, ergreift des Schriftstellers Hand und schreibt im Buch des Lebens mit dem ehernen Griffel der Geschichte. Die Dichter und ästhetischen Prosaisten stehen nicht mehr, wie vormals, allein im Dienste der Musen, sondern auch im Dienst des Vaterlandes und allen mächtigen Zeitbestrebungen sind sie Verbündete. Ja, sie finden sich nicht selten im Streit mit jenem schönen Dienst, dem ihre Vorgänger huldigten, sie können die Natur nicht über die Kunst vergessen machen; sie können nicht mehr so zart und ätherisch dahinschweben, die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrungen, und mit dieser, das ist ihre Schicksalsaufgabe, mit dieser muß ihre Kraft so lange ringen, bis das Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegengesetzte ist.« Als Führer dieser Bewegung feiert er nach Goethe Byron, Jean Paul, Börne und Heine, ihre Größe und Schwäche aus dem Wesen ihrer Herkunft und des Uebergangszustandes charakterisirend. Den Goethe dieser neuen Zeit müsse die Zukunft bringen. Die Propheten desselben seien durch den Kampf gegen das Alte an dem rein künstlerischen Gestalten des Neuen gehindert. Die Zeiten des Epos seien vorüber; »an die Stelle des Epikers ist der Romandichter getreten, der mit Entäußerung der epischen Maschinerie und des Rhythmus sich im allerfreiesten Elemente bewegt und den in moderne Prosa, moderne Gesinnung überpflanzten Epiker darstellt«. Die Lyrik der neuen Zeit sei das Ausströmen des Revolutionären; am unmittelbarsten aber offenbare sich der Geist der Zeit in der subjektiven Prosa, deren Meister vorläufig Heinrich Heine. Und damit klingt der Schluß – eine Verherrlichung der Satire und des Humors, die »über der Tiefe des Ernstes« das Strahlenspiel des Witzes schweben lassen – aus in demselben Ton, auf den auch der Anfang gestimmt ist, vor allem in folgenden Sätzen: »Wie sich aber unser nationales Leben in Zukunft gestalten und entfalten wird, so viel scheint gewiß zu sein, daß die Hoffnung der Zukunft einerseits beruhe auf der Jugend, andererseits auf der Wahl desselben Weges, auf dem Luther den ersten Riesenschritt machte und auf dem ihn die Pygmäen der Folgezeit im Stich gelassen haben. Ich meine auf dem Wege des Protestirens, des Protestirens gegen alle Unnatur und Willkür, gegen den Druck des freien Menschengeistes, gegen todtes und hohles Formelwesen, Protestiren wider die Ertödtung des jugendlichen Geistes auf unsern Schulen, wider das handwerksmäßige Treiben der Wissenschaften auf unsern Universitäten, Protestiren wider die Duldung des Schlechten, weil es herkömmlich und historisch begründet, wider die Reste der Feudalität, wider die ganze feudal-historische Schule, die uns bei lebendigem Leibe ans Kreuz der Geschichte nageln will, und vor allen Dingen protestiren gegen den Geist der Lüge, der tausend Zungen spricht und sich mit tausend Redensarten und Wendungen eingeschlichen hat in alle unsere menschlichen und bürgerlichen Verhältnisse.« Unsere Zeit vergleicht er an anderer Stelle mit der des Kaisers Julian. Auch er habe gegen den neuen Glauben, der damals tagte, eine »heilige Allianz« geschlossen, und überall, wo dieser aus dem webenden Dunkel hervortrat, ihn zu vernichten gesucht. »Die neue Weltanschauung aber behielt den Sieg.« Darum habe die Jugend mehr Ursache zur Hoffnung als zur Furcht. Auch davor brauche die Nation keine Furcht zu hegen, daß der Verstand der neuen Zeit alles Heilige zum Gespötte, alle Ahnung zum Kindertraum, alles Schöne zum Bedürftigen herabwürdigen werde. Wohl sei der Verstand ein Handelsherr, ein Maschinenmeister, ein Konstitutionsschmied, und an sich mehr Feind als Freund des Gemüths und des poetisch sinnlichen Lebens. Aber ihm gegenüber mache sich geltend ein poetischer Sinn, der in der Kraft der Jugend wurzelt, der dem Verstande allerdings dankbar ist für die in der Befreiungssache geleistete Hülfe, keineswegs aber gesonnen, sich von ihm als einem neuen Despoten unter ein neues Joch spannen zu lassen. Fürchten soll man auch nicht, daß die neue Jugend im Ueberschwang der befreiten Sinne menschliches Maß überschreiten werde. »Nie wird die Liebe aus der Welt gehen, nie der Heroismus, nie der Glaube, daß in Gott alle Dinge leben, weben und sind. Aber eben darum, und weil noch immer in der zertrümmerten Welt Heroismus, Glaube und Liebe die Wache halten, giebt es eine neue Geschichte, giebt es Märtyrer der Freiheit und des Glaubens, giebt es Enthusiasten und Opfer, giebt es Hochgefühle in unserer Brust, die erhabener und reiner sind als die, welche der verwitterte Glaube und die erkaltete Liebe der Vorzeit zu erregen im Stande sind.«
Flüchtige Ergüsse wechselnder Aufregung, aber alle entsprungen aus derselben Sehnsucht des Gemüths nach einem besseren und schöneren Volksleben: hat Wienbarg selbst diese Reden an das junge Deutschland genannt. Ihre Schwäche, der Mangel einer tieferen Begründung seiner Gedanken, die Hast der Beweisführung, der Ueberschwang im Behaupten, hat er damit ebenso eingestanden, wie angedeutet ihre vorzüglichste Eigenschaft: jeder Satz in ihnen ist geboren aus einem begeisterten Gemüth voll des innigsten Antheils für die Schmerzen der Mitwelt, voll des herrlichsten Frühlingsglaubens an die einstige Herrschaft der Schönheit im irdischen Leben. Die Forderungen der Zeit, ihr Durst nach Freiheit im politischen und sozialen Leben, ihr Ringen nach einer Kunst von unmittelbarster Lebendigkeit und befruchtender Wechselwirkung mit dem Leben waren hier in Zusammenhang gebracht mit den erhabensten Ideen der edelsten Menschlichkeitslehre, mit dem Ideal des »schönen Guten« und der Weltharmonie bei Plato, mit Schillers Lehre vom Berufe der Kunst, die Menschheit »zur Freiheit zu erziehen«, vor allen mit Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, die nach ihrem Erscheinen ja auch einem Zensurverbot in Oesterreich erlagen. Bei Herder, dem großen Bildner des modernen Humanitätsideals, das sich unter Rousseaus Einfluß aus den Geisteskämpfen der deutschen Stürmer und Dränger im Aufklärungszeitalter losrang, findet sich bereits der Ansturm gegen die Herrschaft von abgelebten Ideen und von Institutionen, die der Geist des Mittelalters geschaffen, findet sich die Lehre, daß alle Humanität durch die Nationalität und diese durch den Charakter der Individuen bedingt sei; findet sich der realistische Zug aus Wirklichkeit und Gegenwart, der ja auch die von ihm beeinflußten Dichter zunächst erfüllte und in Goethe's Werther und Schillers Kabale und Liebe die unvergänglichste poetische Form gewann, bei ihm, dem Humanitätsapostel aus dem deutschen Nordosten, findet sich dieselbe warme Liebe zum Vaterland und die Ueberzeugung, daß jede Nation den Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit in sich selber habe. Auch von Wienbargs »ästhetischen Feldzügen« hat zu gelten, was Kant von seinem kühlen Standpunkt von Herders Ideen sagte, daß sie oft dort durch die beflügelte Einbildungskraft geleitet, wo die »behutsame Vernunft« die Führung hätte übernehmen sollen. Dies ist aber im Wesen solch kühner Ausblicke in die Menschheitsentwickelung bedingt. Es war die Nutzanwendung des Herder'schen Grundsatzes, daß jede echte Poesie der Wirklichkeit entquollen sei und entquellen müsse, der Wirklichkeit einer stark empfindenden Persönlichkeit, die in sich die Empfindung ihrer Zeit und ihres Volksthums trägt, wenn Wienbarg für die deutsche Poesie der eigenen Zeit eine revolutionäre Lyrik und satirische Prosa, erfüllt von dem Geist des Protestes gegen alles Unlebendige und Lebensfeindliche in Gesellschaft, Staat und Kirchenthum, forderte und als ihr gemäß pries. Er fühlte sich und das deutsche Volk von einem leidenschaftlichen Freiheitsdrange, von politischen Ideen erfüllt, und fand den wünschenswerthen Zusammenhang zwischen Poesie und Leben darin, daß die erstere auch von diesem leidenschaftlichen Freiheitsdrange und den politischen Reformbedürfnissen der Zeit und Nation sich erfüllt zeige. Indem er so der Poesie seiner Zeit eine bestimmte Tendenz vorschrieb, verstieß er andererseits gegen einen Herderschen Grundsatz, den, daß der Zweck einer Sache stets in ihr selbst liege und durch ihre Mittel bedingt sei, also ein Kunstwerk nach Zweck und Mittel künstlerischer Natur sei. Wie Heine im gleichen Verhältniß, war auch Wienbarg viel zu einsichtsvoll und kunstverständig, als daß er diesem Satz hätte widersprechen wollen. Da sie aber doch von dem Bewußtsein durchdrungen waren, daß der Dichtung, dem höchsten Ausdruck lyrisch gesteigerter Beredsamkeit, dem mächtigsten Mittel der Veranschaulichung von Ideen eine hohe Aufgabe zufalle im Kampf der Völker um Selbstständigkeit und Freiheit, weil sie sich und ihre Zeit in einem Uebergangsprozeß begriffen fühlten, dessen Prinzip im Kampf des Neuen gegen das Alte zu Gunsten der Freiheit bestand, so fanden sie den Ausweg, für solche Uebergangszeit der Poesie ein Ausnahmegesetz zu erwirken, nach welchem der Tendenz eine höhere Bedeutung zufiel, als es sonst im Wesen der Kunst, ihrer Mittel und Zwecke begründet sei. Hieraus ist auch der Gegensatz begründet, in den sich Wienbarg zu Schiller stellt, der zuerst der Kunst und dem Schönheitsgefühl die Kulturaufgabe nachgerühmt, den Menschen zum Genuß der Freiheit zu erziehen, in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung an seinen fürstlichen Freund, den letzten Herzog von Holstein-Augustenburg, einen Landsmann Wienbargs. Denn während Schiller der Meinung ist, erst müsse die Menschheit durch den Einfluß der Kunst und des Schönen sittlich und geistig wiedergeboren werden, ehe die Politik den freien Staat für wahrhaft freie Bürger schaffen könne, verficht Wienbarg die Ansicht, daß in einem geknechteten, von Willkür regierten Staat, in welchem Presse und Bühne durch Gewaltmaßregeln ihrem natürlichen freien Beruf entzogen seien, die ästhetische Erziehung der Nation zur Freiheit unmöglich sei. 1795 hatte Schiller aus der Reife seiner Einsichten heraus ganz im Geiste seines Jugendenthusiasmus, seines Marquis Posa geschrieben: »Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das herrlichste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen und das große Zentrum der Kultur – aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grunde eines veredelten Charakters aufführen, man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu schaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.« Jetzt, nachdem vier Jahrzehnte verflossen, in welchen die Ernte der großen Kunstblüthe von Weimar im Sinne dieser ästhetischen Erziehung hatte wirken können und auch gewirkt hatte, jetzt, wo Deutschland nicht mehr der Bürger für eine freie Verfassung, die Mehrzahl der Bürger aber noch immer der Verfassung entbehrte, wandte Wienbarg die Forderung um und führte aus: weil von den absoluten Machthabern, aus egoistischer Sicherung ihrer Macht, Schranken errichtet wurden, die eine Entwickelung zu schönen Daseinszuständen im Vaterland unmöglich machen, brecht diese Schranken nieder und, ihr Poeten, singt, wie einst Tyrtäus, Kriegslieder zu dem Sturm, damit die Göttin der Schönheit ihre milde Herrschaft unter den Völkern endlich beginne. Schillers Predigt vom befreienden Charakter der ästhetischen Wirkung war so in Wienbarg, wie in unserer Einleitung dies schon angedeutet wurde, zum ästhetischen Feldzug geworden, in dem die Freiheit der Schönheit das Banner entgegentrug, um nach erfochtenem Sieg ihrer friedlichen Hand es anzuvertrauen.
*
Auf einen historischen Nachweis des Ursprungs seiner Ideen hatte es Wienbarg nicht abgesehen. Er berief sich gelegentlich auf Herder wie auf Goethe, auf Schelling und Heine, er polemisirte gelegentlich gegen Schiller und Kant; mehr ließ der Charakter der Reden, spontanen Improvisationen seines Geistes, nicht zu. Sie selbst standen im Dienst der Tendenz, die sie der zeitgenössischen Literatur als ideale Aufgabe zuertheilten. Wirken wollten sie auf diese, und diesen Zweck erreichten sie auch allein. Denn die größere allgemeine Wirkung der vielen fruchtbaren, zeitgemäßen Ideen eines für den Realismus in der Kunst begeisterten Idealisten wurde ihnen abgeschnitten durch das Verbot des Buchs, die Konfiskation der noch bei Hoffmann & Campe lagernden Exemplare, welche noch im Jahre 1834 dekretirt wurde. Vieles, was in einer vielbesprochenen Erscheinung unserer Tage, der Schrift »Rembrandt als Erzieher«, sich als neu giebt, im Besonderen der fruchtbare Grundgedanke, daß die Kunst im Individuellen und im Nationalen wurzeln müsse, würde ohne diese Unterdrückung schon damals auf das Bildungsleben der Nation im Weiteren eingewirkt haben.
Das nationale Prinzip, das Wienbargs Ausführungen überall beherrschte, war vornehmlich das Unterscheidende zwischen ihnen und Heine's gleichzeitigen Schriften von ähnlicher Tendenz. In dem Freiheitskampfe des Jahrhunderts wies er dem deutschen Vaterlande die Rolle des Führers zu. Eine warmblütige Vaterlandsliebe ist überhaupt ein Grundzug in Wienbargs geistiger Physiognomie. Er war in den Tagen des Befreiungskampfes gegen Napoleon bereits alt genug gewesen, um die Franzosenherrschaft in Hamburg in ihrer Schmach zu empfinden und als daß nicht der patriotische Schwung der ihr folgenden Jahre bestimmend an der Bildung seines Geistes mitgewirkt hätte. Die Hoffnungen der deutschen Liberalen auf Frankreich vermochte er auch nach der Julirevolution nicht zu theilen. Gerade im Jahre 1830 gab er für die vaterländische Lyrik den Ton an, auf welchen später auch Nikolaus Beckers Rheinlied und Schneckenburgers »Wacht am Rhein« gestimmt waren. Kurz nach der Julirevolution ließ er im »Norddeutschen Merkur« das folgende Lied erschallen, ein Appell an das Selbstbewußtsein der Deutschen:
»Mag der Franke den Marseiller singen,
Schlürfen den Champagner der Gesänge,
Der, weil ihm die Flasche ward zu enge,
Ließ den Kork bis an die Newa springen.
Deutsche, schlürfet nicht den fremden Schaum!
Dürstet, dürstet nach dem Rheinweinliede,
Das für künft'ge Luther, Winkelriede
Wächst auf eurer eignen Berge Saum.
Mag der Franke seine Trikolore
Wehen lassen über Frankreichs Lande!
Ha, er trug sie einst in unsre Thore
Und sie flatterte um unsre Schande.
Deutsche, holt des Reiches Fahne her,
Wo sie modert, aus dem Arsenale,
Daß der junge Morgen sie bestrahle,
Und sie flattre über Land und Meer.«
Und als er nach Ausgabe der »Aesthetischen Feldzüge« in Hamburg ein Dutzend kleinerer Arbeiten zu den » Wanderungen durch den Thierkreis« zusammenstellte, und in einem derselben »Der Krebs« (oder ›Das Unvermögen der Zeit, zu glauben oder zu handeln‹) dieses Gedicht zum Abdruck brachte, schrieb er darunter: »Die Deutschen, mitsammt den übrigen Europäern haben sich einmal daran gewöhnt, die Axe des europäischen Lebens sich vom Schicksal so gezogen zu denken, daß Frankreich den positiven Freiheitspol, Rußland den negativen darstelle. Allein diese französisch-russische Polarität, so lebhaft sich dieselbe namentlich in den Julitagen aufdrang, ist nur eine flüchtig vorübergehende Erscheinung im erhabenen Prozesse der europäischen Freiheitsentwicklung. Der Russe, einzeln und persönlich genommen, läßt sich so leicht französiren, und der einzelne Franzose, ja die ganze Nation, wie unter Napoleons autokratischem Scepter so hastig russifiziren, daß ihre beiderseitigen Polaritäten sich austauschen können, ehe man die Hand umdreht. Deutschland, das ewige, natürliche Zentralland der Bewegungen Europas, sieht seinen nationalen Genius, trotz seiner Selbstverkennung, weder mit dem russischen noch mit dem französischen Volksgeiste verwandt und wird daher weder dem Russenthum, noch dem Franzosenthum, weder seinen östlichen Fürsten, noch seinen westlichen Demagogen dauerhaften Vorschub leisten … Von Deutschland, oder wenn man will, von der skandinavischen Halbinsel ging (durch die Gothen) die neueuropäische Bewegung aus. In der pyrenäischen Halbinsel fand sie ihr Ende … Wenn nun die Freiheit durchaus nur aus dem Geiste der Nationalitäten hervorblühen kann, wie ich's behaupte, so sollte man die Axe des europäischen Lebens in jener Richtung ziehen, wie Spanien und Skandinavien sich polarisch gegenüber stehen, und Deutschland als die Zentralkraft begrüßen, welche, wenn irgend das im göttlichen Plane liegen sollte, einen neuen Lebensumschwung bewirken müßte.« Auch in der Frage der Emanzipation des Weibes erwartet er keine Hülfe aus Frankreich; er verspottet die Doktrinen der Saint-Simonisten vom freien Weibe und der freien Liebe und knüpft seine Forderungen zu Gunsten einer würdigeren, minder rechtlosen Stellung des Weibes an diejenige an, welche der Jungfrau und Frau die alten Germanen einräumten. Wir schließen aus den »Aesthetischen Feldzügen« als weiteres Beispiel einige Sätze hier an, welche dem Ruhm der deutschen Sprache geweiht sind. »Freilich, an äußerem Reiz ist manche ihr überlegen, heitrer, anmuthiger, gesellschaftlicher ist die französische, grandioser die spanische, sangreicher die italienische, allein seelenvoller und herzinniger, gestaltreicher und gedankendurchsichtiger als alle ist und bleibt die deutsche. Die französische und alle abgeleiteten Sprachen mehr und minder sind mehr rhetorischer, die deutsche und alle ursprünglichen Sprachen mehr poetischer Natur. In jener hat sich die Sprache abgelöst vom sprachschaffenden, sprachbildenden Genius, vom Herzen, vom Bewußtsein der Nation, sie ist ein Aeußeres und Fremdes geworden, und wer sich ihrer bedient, nimmt sie nicht aus sich, sondern aus dem Vorrath konventioneller Formeln und Redensarten, die für alle Zeiten gestempelt sind. In dieser, der ursprünglichen, ist Sprache und Seele eins, wer deutsch spricht, spricht es aus seinem eigenen Innern heraus und bedient sich der Sprache nicht wie einer bloßen Konvention, sondern als eines Naturprodukts, das in seinem eigenen Lebensblute Wurzel faßt und seinen Geist vielastig mit Blüthen und Früchten durchwächst … Herz und immer wieder Herz muß dringen und klingen aus deutscher Rede, ob sie einfach-prosaisch dahin fließt, oder rhythmische Echos hören läßt. Wir haben eine Natursprache, die sowohl an den Gedanken als an die Empfindung sich anschmiegt, ohne der gallonirten Kleider zu bedürfen: Natur, Wahrheit, Herzlichkeit, das sind die drei Farben, welche dem Deutschen so wohl stehen und die keine Kunst der Rednerei, der Witzelei, der Phantasterei ersetzt.« Die Freude, mit Deutschen ein Deutscher zu sein – trotz all der Kläglichkeit der herrschenden Zustände –, hat noch an manch andrer Stelle des Buchs feurigen Ausdruck gefunden, der in dem jungen Deutschland, das er begrüßte, freudigen Wiederhall fand. »Ein Glaubensbekenntniß« hat er darum mit Recht in der Vorrede zu dem nächsten Buch, eben jenen »Thierkreis-Wanderungen«, sein Werk genannt, »das in vielen kühnen Herzen ein lebhaftes Echo gefunden.«
Dies Echo kam vornehmlich aus literarischen Kreisen, auf welche später das Wort vom jungen Deutschland als Name – je nach Dem, der es aussprach, als Ehrenname, als Schmähname oder als Verbrecherbrandmal – überging.
Sowohl Gutzkow als Laube, Mundt als dessen Freund Gustav Kühne haben es später ausgesprochen, daß diese »Aesthetischen Feldzüge« damals von ihnen als Kodex ihrer eigenen ästhetischen Ueberzeugung begrüßt wurden.
Gutzkow, der, wie wir schon sahen, von Mai bis August 1834 in Hamburg weilte und dort mit Wienbargs Verleger, Campe, in geschäftliche Unterhandlungen trat, die auf die Gründung eines Organs für die junge Literatur abzielten, war in der Lage, die empfundene Gesinnungsgemeinschaft im persönlichen Verkehr zu besiegeln und einen Freundschaftsbund anzuknüpfen, der im nächsten Jahr zu der Verbindung beider in der Redaktion der »Deutschen Revue« führte. Er vermittelte oder stärkte auch die Beziehungen, welche Wienbarg weiterhin bis zur Bundestags- Katastrophe mit den literarischen Freunden Gutzkows in Leipzig und Berlin unterhielt. »Ich habe mir Freunde erworben,« schrieb er, »und den Kreis meines Strebens erweitert. Kann man sich anders befestigen, als durch die Hand der Freundschaft und im Bunde mit Gleichgesinnten? Und mir ist dieses Glück zu Theil geworden. Meine Hand hat sich geweiht und gestählt durch den Druck der Freunde, und mein Auge schaut kühner in die Welt, indem es rings umher am Horizont die Wachtfeuer unserer Bundesgenossen unterscheidet.« … »Demokrat, deutsch,« so schilderte Gutzkow einige Jahre später (Jahrbuch der Literatur 1839) den Eindruck, den er empfing, »fortschreitend von Plato's Idealen zu Schleiermacher und Fries, wählerisch in seinen ästhetischen Hingebungen an Goethe, wo ihm der Stern des Ministers nicht des Dichters früheste Jugend und Geniusoffenbarung verschloß, innigst vertraut mit der neuzeitlichen Anschauung durch seine Vorliebe für Heine, erschreckend vor keiner Gefahr, die der Gesellschaft aus dem freien Gedanken kommen könnte, hat L. Wienbarg theoretisch am reinsten die Grundzüge einer Literatur gezeichnet, welche wir als die eigentlich neue begrüßen sollten. Er drang auf eine Schönheit der ästhetischen Gebilde, die nicht erstorben wäre, sondern auf der die blutvollen Adern des Lebens sich hinschlängeln müßten, wie auch die Thaten der Geschichte ein Schönheitsgesetz abspiegelten. L. Wienbarg war bestimmt, die unmittelbare bessere Fortsetzung W. Menzels zu werden; denn, demselben Boden wie dieser entsprossen, dieselben demokratischen Neigungen und Urtheile über die Gesellschaft in sich vereinigend, übertraf er ihn dadurch, daß er einen ästhetischen Takt sich erworben hatte, Goethe's Genius zu würdigen, und das Neue, ohne es auch in seinen Auswüchsen zu billigen, doch selbst in diesen noch zu genießen verstand.« Bedingter ist das Lob, mit welchem Heinrich Laube die Zusammenfassung seines Urtheils 1840 in seiner »Geschichte der deutschen Literatur« durchsetzt hat; aber auch er bekennt, daß diese Feldzüge als rasche muthige That wirkten, die auch auf Publikum und junge Schriftwelt sehr eindrucksvoll gewesen sei. Die Einzelheiten der Forderungen wären zwar meistentheils schon von anderen in vereinzelter Kritik ausgesprochen gewesen; Wienbargs Buch sei aber der erste entschlossene Versuch gewesen, die jüngeren Literaturbestrebungen in einem größeren Zusammenhange zu zeigen. Vor allem habe er durch den Zauber überzeugungsvollen Ernstes, eine energische dogmatische Strenge in dogmenfeindlichen Dingen, die Jugend enthusiasmirt. Wenn Laube dabei Wienbarg den Vorwurf macht, er habe nur Theorie geboten und bei den eigenen Versuchen, diese in Thaten umzusetzen, ein karges, unzulängliches Talent bewiesen, so war er damit leider ganz im Rechte. Aber im Ausdruck dieses Tadels ließ er die frohe Unbefangenheit vermissen, die er früher, in der ersten Zeit seiner Redakteurschaft an der »Eleganten Zeitung«, wenn es sich um das Streben Gesinnungsverwandter handelte, entfaltet hatte. Recht hatte er, wenn er schrieb: »Die Behauptung an sich hat noch wenig geholfen in der schönen Welt, sie wird erst etwas, und bleibt, wenn sie mit und hinter der That kommt. Die Fahneninschriften, welche jede neue Schule vor sich hertrug, sind niemals der ganze Gewinn für die Literatur, so wie Schößling und Wurzel des Baumes kaum Garantie für einen Baum, aber nicht der Baum sind. Erst dasjenige, was den Muth und die Kraft hat, über den theoretischen Anfang hinauszugehen in die unberechenbare Möglichkeit des thatsächlichen Kreises, was hinausgeht selbst auf die Gefahr, die äußerliche Anknüpfung mit dem theoretischen Anfange zu verlieren, erst das wird wahrhaft lebendig.« Recht hatte er mit dieser allgemeinen Einschränkung und ihrer Nutzanwendung auf den Programmdichter des jungen Deutschlands gewiß; aber der tragische Irrthum Wienbargs, seine Begabung eine Zeitlang für die schöpferisch-gestaltende des Dichters zu halten, berechtigt uns nicht, von ihm zu fordern, daß er ein großer Dichter hätte sein müssen, weil er der Dichtung der neuen Zeit, mit prophetischem Tiefblick in ihre Lebensbedingungen und Aufgaben, die Bahnen der Entwickelung vorgezeichnet und dabei vielfach das Rechte getroffen.
Dieser ernste Prophet eines dereinstigen Reichs der Freiheit und Schönheit auf Erden hatte in der That etwas vom Tiefblick in die großen Zusammenhänge des Lebens, auf denen die Prophetie beruht, deren Besitz den alten Barden des deutschen Nordens von Sagen und Geschichten nachgerühmt wird. Diesen Tiefblick des Geistes anzuwenden in Besprechung der Zukunftsideale des Vaterlands, dies war seine Bestimmung. Daß die liberale Neugestaltung des Vaterlands sich nur in der Beschränkung auf die eigenen Kräfte vollziehen könne und dürfe, haben andere deutsche Demokraten ja auch damals schon – trotz Börne und Heine, Rotteck und Siebenpfeiffer – geäußert, so Wirth auf dem Hambacher Fest und W. Schulz in »Das Eine, was noth thut«. Aber die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit eines politischen Zusammengehens von Rußland und Frankreich, wie unsre Tage es zeigen, den Beruf des skandinavischen Nordens als Wegbereiter der Freiheit, wie er inzwischen zu Tage getreten, das waren im Jahre 1833 wirkliche Prophetien. In Erfüllung gegangen ist alles, was er für die Literatur der anbrechenden Zeitperiode damals prophezeit: »Jeder große Dichter, der in unserer Zeit auftritt, wird und muß den Kampf und die Zerrüttung aussprechen, worin die Zeit, worin seine eigene Brust sich findet.« Die Lyrik wurde revolutionär und sog aus der politischen Ideen- und Vorstellungswelt die Kraft zu einem neuen glänzenden Aufschwung, sie wurde revolutionär, wie in politischer, so auch in sozialer und religiöser Beziehung. Sie wurde revolutionär nicht nur in Heine und Chamisso, Dichtern von lebhaften politischen Instinkten wie Anastasius Grün, Karl Beck, Freiligrath, Kinkel, Herwegh, Dingelstedt, Moritz Hartmann, sie wurde revolutionär auch in Naturen, deren Talent in subjektiver Abgeschlossenheit groß und stark geworden, in Rückert, Platen und Lenau. Wienbarg hatte ferner dem Drama und dem modernen Epos, dem Roman, die Aufgabe zugesprochen, treue, lebensvolle Spiegelbilder der Zeit mit ihren Leiden und Freuden, ihren Entbehrungen und Hoffnungen, ihren Verwickelungen und Konflikten, zu bieten und dabei – soweit es die Wahrheit gestatte – auf Darstellung der schönen That zu dringen, in welcher die Humanität, ein großes Wollen für das allgemeine Beste, über den Egoismus triumphirt. Wo die Wirklichkeit aber solches Streben unmöglich mache, da möge in der gegenwärtigen Zeit des Uebergangs zu besseren Zuständen der Protest gegen konventionelle Moral und Tyrannisirung des Lebens den Werken Charakter geben. Auch auf diesen Gebieten hat die Entwickelung der neueren Literatur den Forderungen Wienbargs entsprochen. Natürlich nicht in Folge seiner Rathschläge; den Bedürfnissen der Volksseele, denen dann die Dichter mit der That entsprachen, hat er nur zuerst mit voller Entschiedenheit Ausdruck in Worten voll Ueberzeugungskraft verliehen.
In Bezug auf den Roman, den Zeitroman, wie er ihm als Ideal vorschwebte, hat er im letzten Aufsatz der »Thierkreis-Wanderungen« Ausführliches geäußert, in dem er unter dem Doppeltitel »Die Fische« – »Faule und frische Romane« gegen die Herrschaft des damals in Mode stehenden historischen Romans ankämpft. »Mein Held müßte ein Zeitgenosse sein, mein Roman ein zeitgeschichtlicher,« bemerkt er gleich im Anfang in Opposition zu Walter Scott und seinen deutschen Nachahmern. »Junge Dichter, fühlt ihr Talent und Trieb, nach der höchsten Palme zu ringen, einen Roman zu schreiben, wandelt nicht die verfallene menschenleere Straße einer abgestorbenen Zeit, klopft nicht an die Gräber, um die Todten aufzuwecken – sie haben für euch nie gelebt, euer Herz kennt sie nicht – sie gehören entweder der Geschichte an, oder der Vergessenheit. Greift in die Zeit, greift in euren eigenen Busen. Vor allem aber, greift nicht eher zur Feder, werdet nicht früher Schöpfer, Gestalter, als bis ihr selber gestaltet … Greift in die Zeit, haltet euch an das Leben. Ich weiß, was ihr entgegnet. Nicht wahr, es ist verdammt wenig Poesie in dieser Zeit, in diesem Leben, das wir in Deutschland führen? Woher der Stoff zu einem zeitgeschichtlichen Roman? Ich frage aber dagegen, woher entnahm Goethe ihn für Wilhelm Meister? – Versteht mich recht. Um alles in der Welt keinen Wilhelm wieder. Der ist abgethan, der ist Goethe's und seiner Zeit. Was und wer ist euer? Welcher Idee könnt ihr Leib und Seele verleihen? Was habt ihr erlebt und gestrebt? Welche Bekanntschaften, Ansichten und Lebensverhältnisse vermögt ihr in die Region der Poesie mit hinüber zu nehmen? Ich gebe zu, und mir blutet das Herz dabei, ja wir leben in einer Zeit, wo der matte Quell der Poesie kaum über die ersten sechszehn Jahre unseres Lebensalters hinausspringt. Aber gut. Haltet einmal Abrechnung mit der Zeit, entzieht einmal durch einen herzhaften Entschluß dieser heutigen deutschen Literatur den Schimmer poetischer Lügen, deckt einmal auf, ihr Dichter, was ihr schauet, laßt einmal den Staub wirbeln in der Wüste und zählt die Grashalme, die auf grünen Inselfleckchen wachsen, zeigt uns den Himmel, wie er grau und schmutzig über uns niederhängt, und fangt die Sonnenstrahlen auf, die sich auf euren Scheitel stehlen, reißt der Zeit den Mantel der Heuchelei, der Selbstsucht, der Feigheit vom Leibe und macht mit dem Kusse eures Mundes aller Welt bemerklich, wo nur noch ein ächter Faden, der rothe Faden der Poesie hinzieht, klopft, hämmert an alles taube Gestein und sucht die Erzadern zu erforschen, wie sparsam, tief und versteckt sie auch fortlaufen. Noch einmal, haltet Abrechnung mit der Zeit, mit eurem eigenen Leben! Das bischen Poesie, das sich darein verzettelt, das bischen aufzuweisen bringt euch Ehre und der Zeit Schande. Jetzt müßt ihr euch schämen. Wendet das Blatt. Die Philister nennen euch Lügner, Schaumbläser, Puppenspieler, Romanschmierer, und bei Gott, die Philister haben Recht.«
Und nun bekennt er, daß er sich selbst mit dem Plane zu solch einem zeitgeschichtlichen Sittenroman trage. »Er sollte den Lebenslauf eines meiner Freunde darstellen, eines Unglücklichen, der, mit einer Liebe und Reinheit begabt, wie sie kaum noch in Träumen blüht, jammervoll unterging und in dem Norddeutschland, wie es ist, untergehen mußte. An innerem, psychologischem Interesse würde ich seiner Person zuzuwenden suchen, was ihr an äußerem mangelt – welcher Glanz von Begebenheiten fiele auch auf einen armen dunkeln Schüler, Studenten, Kandidaten der Theologie. Aber ich würde zum Leser sprechen: verachte nicht mein kleines Licht. Die Luft, die seinem Flämmchen Nahrung giebt, ist dieselbe, in der wir beide athmen, die unser eigenes Lebenslicht entzündet, unterhält und verzehrt … Ich würde im Johannes Küchlein einen nicht unbedeutenden Abschnitt meiner eigenen Vergangenheit abspiegeln. Die Freunde meines Helden sind zugleich die meinigen. Die Orte in Norddeutschland, die er besucht, sind plastische Orte für meine Erinnerungen. Ich kenne die Gassen, in denen er wandert, die Giebel der Häuser, die ihn aufnehmen, winken mir vertrauliche Grüße zu. Stadt- und landbekannte Leute zeigen sich ihm wie mir im Lehnstuhl, auf dem Lehrstuhl, auf der Kanzel. Alte Lindenalleen, die noch blühen, und junge Mädchen, die schon verblüht sind, erkenne ich an Wuchs, Blüthe, Schleier aus weitester Ferne. Auch sie – auch ihr kleines rothseidenes Hütchen, so welthistorisch für mein Herz, sähe ich nicken und vorüberschweben, es drängten sich grüßend heran die Bilder der geliebten Jugendfreunde – Mitglieder eines ohnehin phantastischen und seltsamen Lebenskreises wie des studentischen, die den brausenden Most junger Thorheiten in die alten Universitätsschläuche füllten, herrliche Gesellen damals auf dem Platz, nun in alle vier Winde zerstreut, Bursche, deren Herz einmal im Leben für Liebe, Freundschaft und Vaterland warm geschlagen und in deren Erinnerung drei Jahre flammen, wo sich die Schlange Selbstsucht noch nicht um ihre Brust geringelt. – Seht Dichter,« so schließt Wienbarg diese Apostrophe, die zugleich den Schluß des Buches bildet, »ich würde mehr als die Hälfte meiner Reichthümer, mein bischen Lebenspoesie zu Markte tragen, wenn ich meinen Wunsch ausführte. – Und wann wirst du deinen Vorsatz ausführen? – Wenn die unsichtbare Hand, die mir die Feder leitet, die Erlaubniß dazu ertheilt.«
Ach, er hat den Vorsatz nie auszuführen vermocht! Ueber Anläufe zu einer solchen Schöpfung, über novellistische Fragmente ist er nie hinausgekommen. Was ihm aber als Ideal eines deutschen zeitgeschichtlichen Sittenromans damals schon vorgeschwebt, das hat bald darauf in Immermanns »Epigonen« und »Münchhausen«, in Gutzkows »Blasedow und seine Söhne«, dann den »Rittern vom Geist« und dem »Zauberer von Rom«, in Holteis »Christian Lammfell«, in Reuters »Ut mine Stromtid«, in Freytags »Soll und Haben« in Berthold Auerbachs, Levin Schückings, Spielhagens ersten Zeitromanen, in Gottfried Kellers »Grüner Heinrich« und hundert andern Prosadichtungen Gestalt gesucht und in verschiedenster Weise gefunden.
*
Der erste aber, der einen modernen Zeitroman von realistischer Ausführung und künstlerischer Komposition den romantisch-historischen Romanen entgegenstellte, war Heinrich Laube. Der zweite Theil von »Das junge Europa«, ein selbständig abgerundetes Werk, »Die Krieger«, entstand kurz nach dem Erscheinen von Wienbargs »Aesthetischen Feldzügen«; den ersten Theil, »Die Poeten«, in Bezug auf poetische Kunst hoch überragend, ist derselbe die bedeutendste dichterische That jener Sturm- und Drangzeit junger Fortschrittsgeister, die wir das »Junge Deutschland« nennen, wie Wienbargs Buch die bedeutendste Fassung der von allen gehegten literarischen Reformgedanken. Während aber der letztere diesen Ruhm unbestritten genossen hat, blieb jenem die Anerkennung und gerechte Würdigung seiner viel bedeutenderen Leistung vorenthalten.
In fast allen Literaturgeschichten findet sich »Das junge Europa« in seinen drei sehr verschiedenwerthigen Theilen obenhin als Ganzes besprochen und die Fehler des ersten formlosen Bandes »Die Poeten« dem Ganzen aufgebürdet. Es erklärt sich dies daraus, daß das Erscheinen der »Krieger«, wie des letzten Theiles »Die Bürger«, erst in die Zeit nach dem allgemeinen Verbot aller Schriften Laube's, auch der künftigen, fiel und daß im Jahre 1837, dem Erscheinungsjahr, das Ende 1835 ergangene Verbot noch in Geltung war. Die Bände drangen nicht ins große Publikum und sind den späteren Literarhistorikern offenbar schwer zugänglich gewesen. Erst ganz neuerdings – in Hellmuth Mielke's »Der deutsche Roman des 19. Jahrhunderts« – ist den »Kriegern« Laube's in gewissem Maße die Anerkennung geworden, die sie verdienen. Mielke (der bei der sichtlichen Kenntniß des Werks den unbegreiflichen Irrthum begeht, als Gesammttitel desselben den Titel des ersten Laube'schen Buchs »Das neue Jahrhundert« anzugeben) nennt das Werk das Zeugniß einer merkwürdigen Reise seiner Anschauungen und Gedanken. Die Zerrissenheit der Komposition, die dem ersten Roman »Die Poeten« eigen gewesen, sei hier überwunden. Noch heutigen Tages könne man den Roman nur mit Vergnügen lesen. Von diesem Buch könne man sagen, daß eine jetzt schon halbverwehte Spur zu den kommenden Romanen Spielhagens und Freytags führe. Der jungdeutsche Ueberschwang zeige sich in ihm zu männlichem Ernste verklärt. Jedermann, der Laube's »Krieger« mit Interesse und ohne Voreingenommenheit prüft, wird diesem Urtheile Mielke's zustimmen müssen. Aber auch dieser verlegt die Entstehung in eine zu späte Zeit. Auch er hat übersehen, daß Laube in seinen »Erinnerungen« ausdrücklich hervorgehoben, daß der Roman bereits im Jahre 1834 entstanden, im Gefängniß entstanden sei, eine Thatsache, die doch schon 1838 in Nowacks Schles. Schriftsteller-Lexikon (Heft 3) nach Laube's Angaben festgestellt worden war. Die Verzögerung des Erscheinens erklärt sich sehr natürlich durch das Vorgehen des Bundestags gegen die Schriftsteller des jungen Deutschlands; noch ehe die Schlußbände des »Jungen Europa« druckfertig waren, wurden sie im voraus verboten. Dieser Zusammenhang ist aber für die Charakteristik Laube's wie die seines besten Jugendwerks von gleicher Wichtigkeit. Nicht weniger ist es charakteristisch, daß der beste Roman des Jungen Deutschlands aus der Zeit, da die Bewegung Gegenstand politischer Verfolgung wurde, im Kerker entstanden ist.
Wir haben Laube verlassen, als er sich von Leipzig mit der Schnellpost nach Berlin begab, um der aus Veranlassung des preußischen Gesandten in Dresden an ihn ergangenen Ausweisung zu genügen. Er stieg unter den erforderlichen Vorsichtsmaßregeln im Hotel de Russie ab, wo ihn ein günstiger Zufall die persönliche Bekanntschaft von Glaßbrenner machen ließ, der den forschen Verfechter der Fortschrittsideen, der ihm aus der Eleganten Zeitung bekannt war, mit lebhafter Theilnahme begrüßte und dessen Interessen zu den eigenen machte. Dem Verfasser des »Eckensteher Nante«, dem übrigens damals auch eine eben erst gegründete Zeitung unterdrückt worden war, gelang es leicht zu erfahren, daß der Berliner Polizei noch keine Weisung vorlag, auf einen pp. Laube zu fahnden; insofern hatte dieser ganz Recht gehabt, wenn er meinte, am Sitze seiner Verfolger noch die größte Sicherheit zu finden, weil man eine Flucht dorthin am wenigsten erwarten würde. Varnhagen, der ihn freundlich aufnahm, warnte ihn jedoch dringend, diesem Frieden zu trauen, und rieth ihm, nach Paris zu Heine zu gehen. Aber wie dies thun ohne Paß? Da er von der Absicht des Fürsten Pückler unterrichtet war, eine Reise nach Aegypten anzutreten, wofür derselbe einen literarisch gebildeten Reisegenossen suchte, empfahl er dem jungen Schützling weiter, sich um diesen Posten zu bewerben, was dieser auch that. Als aber die bejahende Antwort eintraf, hatte ihn bereits das Schicksal ereilt und er saß hinter Schloß und Riegel. Vorher hatte er eine Flucht in die Heimath versucht, denn der Aufenthalt in Berlin, wo selbst das Rauchen einer polizeilichen Ueberwachung ausgesetzt war, war ihm immer unheimlicher geworden. Er war nach Sprottau gefahren, zum erstenmal seit vielen Jahren. Aber kaum war er in sein Vaterhaus getreten, da ließ auch schon der dortige Polizeiinspektor sich nach seinem Paß erkundigen und als der Paß ausblieb, da that er es selbst. Hier in der Vaterstadt schienen die Herren in Berlin ihn also erwartet zu haben. Er wartete eine Reklamation nicht ab, sondern floh weiter – wie er es im dritten Bande der »Reisebilder« und später mit geringer poetischer Ausschmückung in dem Roman »Die Böhminger« erzählt hat. Damals hatten die Zeitungen die ersten Nachrichten von der neuen Heilmethode des »Wasserdoktors« Prießnitz in Gräfenberg gebracht; das weltentlegene Dorf an der schlesisch-österreichischen Grenze erschien dem einer Nervenfrischung sehr bedürftigen Flüchtling als ein geeigneter Schlupfwinkel. Er kam auch unangefochten hin und ließ alle Beschwerden der noch sehr primitiven Kurmethode duldsam über sich ergehen, erkaufte er sich doch damit die Freiheit. Eines Tages aber trat Prießnitz in die Bauernstube, welche Laube bewohnte und brachte die geheimnißvolle Mittheilung, daß die österreichische Regierung seinen Patienten unter polizeiliche Spezialüberwachung gestellt und er selbst am Abend zuvor die Anzeige erhalten habe, daß in den preußischen Grenzorten Befehl ergangen sei, ihn festzunehmen, wenn er die Grenze passire. Auch von seiner Verbannung aus Sachsen zeigte sich der besorgte Naturarzt unterrichtet, der ihn zum Schluß einlud, nur ruhig seine Kur in Gräfenberg fortzusetzen. Ruhig – unter solchen Umständen, nach der aufregenden Wirkung der bisherigen Wasserheilkünste! Briefe aus Breslau gaben den Ausschlag; jetzt läge auch in Berlin die Ordre für seine Verhaftung vor. Auf einem Bauernwagen, nur ein Bund Stroh zum Sitz, trat er in nächtlicher Stunde aufs Neue die Flucht an, jetzt mit der Absicht, auf österreichischem Gebiet bis zur sächsischen Grenze zu fahren und dann in Dresden beim dortigen Ministerium Lindenau-Karlowitz, das doch, nachdem es mit der konstitutionellen Verfassung ins Leben getreten, immerhin noch liberal war und Preußen gegenüber nach Möglichkeit seine Selbständigkeit wahrte, Schutz zu suchen. Er erhielt auch die Erlaubniß, vorläufig in Dresden zu bleiben, jedoch in einer Form, die er für eine Ablehnung nahm, und so schloß er sein Anliegen mit der Bitte, wenigstens noch vierzehn Tage lang in Leipzig bleiben zu dürfen, damit er seine Geschäftsangelegenheiten ordnen könne. Damals erschien jener Abschied in der »Eleganten Zeitung«. Allmittäglich wurde im Hotel de Bavière berathen, was zu thun sei, und das Resultat war wiederum Laube's Entschluß, sich selber in Berlin der Verhaftung zu stellen. Die Freunde waren einig, daß, wohin er sich auch wenden würde, er doch keine Ruhe finden und schließlich doch ausgeliefert werden würde: dem Gehetztwerden wollte er aber ein Ende setzen; er hatte genug und die ihm in Berlin drohende Untersuchung konnte nach seiner Meinung doch kaum eine erhebliche Bestrafung ihm zuziehen. Varnhagen war freilich anderer Meinung. Seit der Einsetzung der neuen Zentraluntersuchungsbehörde hatten Demagogen das Schlimmste von der Untersuchungshaft zu befürchten.
Nun aber war jeder Rath zu spät. Am Morgen nach seiner Ankunft wurde Laube verhaftet; der Polizeirath Dunker vollzog in Begleitung zweier Geheimpolizisten die Verhaftung persönlich. Er führte auch die erste Untersuchung im Verhörzimmer der Stadtvogtei. Der unglückliche Gefangene erfuhr nun, daß einige inkriminirte Stellen in seinen bisher erschienenen Büchern und in Artikeln der »Eleganten Zeitung« Anlaß zu seiner Verfolgung gegeben hätten. Auch der Verlauf der ersten Verhöre bestärkte ihn in der Hoffnung, daß er mit einer gelinden Strafe davon kommen werde. Denn der Polizeirath Dunker, der von der Berliner Verbrecherwelt allgemein gefürchtete Inquirent, schien die Sache selbst nicht gar ernst zu nehmen. Dies war freilich nur ein Symptom seiner Geringschätzung dieser Art von Prozessen; der berühmte Kriminalbeamte interessirte sich nur für wirkliche Verbrecher. Das ganze System der »Demagogenverfolgung«, das ihm die Gefängnisse mit gebildeten Männern anfüllte, deren Versündigungen ganz außerhalb des eigentlichen Verbrecherthums lagen, war ihm zuwider. Er ließ in dieser Beziehung nach den Verhören sogar sehr freimüthige Aeußerungen über seinen Chef, den Geheimrath Tzschoppe, fallen, welcher die eigentliche Seele des Systems war und aus Strebersucht noch die Absichten seiner Vorgesetzten, des Ministers von Rochow und des Fürsten Wittgenstein übertrumpfte. So führte Dunker das Verhör über Laube's schriftstellerische Sünden mit einer verhaltenen Ironie, die diesen ermuthigen mußten. Die »Erinnerungen« haben uns davon ein szenisch lebendiges Bild überliefert. »Dunker sagte es nicht, daß er auf meiner Seite stünde, aber er handelte auf meiner Seite. Endlich kam das einmal zum Ausbruche bei einer Stelle in den ›Reise-NoveIlen‹. Sie lautete: ›Um die Kirchen ist immer viel Wind.‹ – ›Wie können Sie das verantworten?‹ fragte Dunker mit einer Strenge des Tones, welche seinem weichen Organe gar nicht natürlich war. Ich berief mich auf die örtliche Stellung der Kirchen, welche immer auf freien Plätzen stünden, und auf freien Plätzen herrsche immer Zugwind; ich hatte aber das Wort Zugwind noch nicht ganz ausgesprochen, da überraschte uns ein schallendes Gelächter. – Hatte uns Jemand zugehört? Nein, wir waren allein; wir Beide hatten so unwillkürlich gelacht. – Trotzdem wurde der diskrete Lustspielton zwischen uns nicht geändert, es folgte keine platte Erklärung des Gelächters, sondern Dunker sagte, nachdem er sich die überfließenden Augen mit dem Taschentuche getrocknet: ›Diese topographische Begründung ist werthvoll, aber einseitig. Was meinen Sie zu dem Beisatze: Friedrich der Große hat dergleichen oft gesagt?‹ Ich entgegnete sehr ernsthaft, daß ich für alle ähnlichen inkriminirten Stellen zu Protokoll gäbe, sie stammten aus dem Studium der Schriften, welche der preußische König Friedrich der Zweite in Druck gegeben, und ich glaubte deshalb nicht, daß sie im Königreiche Preußen strafbar sein könnten.« Da auf einmal änderte sich das Bild. Man hatte in seinen Papieren die alte Universitätsmatrikel mit dem Vermerk gefunden: »Der Burschenschaft verdächtig«. – »Unglücklicher,« rief ihm nach den ersten sechs Wochen der Untersuchungshaft Dunker zu, »Sie sind in Halle Burschenschafter gewesen!« – »Nun?« – »Das hat man jetzt nach sechs Wochen entdeckt, und nun hat man hinreichenden Grund zu längerer Haft. Jetzt werden Ihre Schriften Nebensache, jetzt beginnt eine Kriminal-Untersuchung gegen Sie.« – »Wegen einer Burschenschaft?« – »Ja wohl! Wer der Theilnahme an der Burschenschaft überwiesen ist, wird zu sechs Jahren Festungsstrafe verurtheilt.« – »Mehr nicht?« – »Diese Gesetzesbestimmung existirt. Sie ist entstanden in Folge der Ermordung Kotzebues, in Folge der langen Mainzer Untersuchungskommission, in Folge des Hambacher Festes, in Folge des Sturmes auf die Konstablerwache in Frankfurt, in Folge der politischen Tendenz in der Burschenschaft, welche seit der Juli-Revolution auf den Universitäten ausgebildet worden ist.« – »Aber ich bin ja drei, vier Jahre vor der Julirevolution auf der Universität Halle gewesen, und damals – es sind sieben Jahre her – hat kein Mensch, auch kein Burschenschafter an eine Revolution gedacht.« – »Einerlei. Burschenschaft, sagt man, ist Burschenschaft. Dies Wort ist eine kriminelle Parole, und mit dieser bloßen Anklage sind Sie uns, der Polizei und der Stadtvogtei, entzogen, sind Sie der Hausvogtei verfallen; ich muß Sie hinüberbringen, der Wagen wartet schon unten.« Tzschoppe triumphirte. Laube gegenüber verfolgte er den doppelten Zweck: einen unbequemen Stimmführer der Opposition auf möglichst lange Zeit mundtodt zu machen, womöglich aber auch seinen Zusammenhang mit der revolutionären Propaganda der vermutheten Geheimverschwörung nachzuweisen. Jetzt konnte man seine Untersuchung mit dem großen Demagogenprozeß verknüpfen, dessen Fäden bei der Bundes-Zentral-Kommission in Frankfurt zusammenliefen und der in Preußen mit solcher Strenge geführt wurde, daß bereits einige Hundert politische Untersuchungsgefangene in der Hausvogtei, dem Berliner Kriminalgefängniß, saßen, dem nun auch der unglückliche Dichter des »Jungen Europa« überwiesen ward. Hier war nicht Dunker der Untersuchungsrichter, sondern Dambach, der düstere Torquemada der Burschenschaft, Dambach, »der preußische Reim auf Hambach«, wie die Mitgefangenen in der Hausvogtei sagten. Dambach verstand es, durch Hinausdehnen der Untersuchung, durch Verschärfung der Haft, durch hundert Mittel geistiger Tortur die vermeintlichen Verschwörer zum Geständniß und zur Verzweiflung zu bringen. Auch für Laube begann eine Leidenszeit voll unbeschreiblicher Qualen, welche gleich damit begann, daß er in ein lichtloses dumpfes Verließ gesteckt wurde, das von den Gefängnißwärtern selbst das »Loch« benannt war, um – ohne Bücher, ohne Zigarren, ohne Nachtlicht – Wochen lang dem ersten Verhör entgegenzuharren. Man wollte ihn mürbe machen. Sechs Monate dauerte im Ganzen diese zweite Untersuchungshaft.
Noch ehe der Dichter diesen gräßlichen Verlauf ahnen konnte, kurz nach seiner Verhaftung durch den Polizeirath Dunker, dessen milde Untersuchungsart ihm die Hoffnung auf baldige Befreiung gelassen, war Laube an den von Anfang an projektiven zweiten Theil seines Jungen Europa gegangen. Als Trösterin war ihm die Muse genaht und hatte ihm gelehrt, die ihn umstarrende grabesdumpfe Wirklichkeit über der Darstellung einer lebensvolleren zu vergessen. Er ging an die Fortsetzung der »Poeten«. Waren aber die Gespräche und Briefe der Helden dieses ersten Bandes bewegt gewesen von fieberhafter Erwartung eines erlösenden Umschwungs in allen höheren Angelegenheiten des Lebens, wie sie den jungen Autor selbst erfüllte, so wurden » Die Krieger« zum Organ einer resignirten Stimmung. Sein romantisch-phantastisches Freiheitsschwärmen war auf allen Gebieten mit der rauhen Wirklichkeit gar hart zusammengestoßen. Mehr als es gewiß im ursprünglichen Plane des Gesammtwerks gelegen, wurde jetzt sein Dichten von dieser Erfahrung gelenkt.
Hatte der erste Band damit geschlossen, daß Valerius Grünschloß verläßt, um an dem Freiheitskampfe der Polen theilzunehmen, und bald danach das Gerücht von seinem Tode auf dem Schlachtfeld von Grochow die Zurückgebliebenen erschreckt, so war von vornherein für den zweiten Theil die Aufgabe reservirt, in Valerius einen Vertreter der für die Freiheit begeisterten deutschen Jugend an der polnischen Revolution von 1831 in ihrem ganzen Verlaufe theilnehmen zu lassen. Wienbargs Theorie der »schönen That« gerade angewandt auf die polnische Revolution, wie dieser es beispielsweise in seinen Vorlesungen gethan, war ihm zur selben Zeit bereits Gegenstand eines poetischen Planes geworden, als dieser vom Kieler Universitätskatheder herab dieselbe verkündigt hatte. Die Poesie der schönen That, wie sie sich im Aufstand der Polen für ihre nationale Freiheit offenbart, hatte in den »Kriegern« dargestellt werden sollen; nun schlich sich ein Zug der Resignation in die Ausführung des Bildes. Laube's dämmerungsgraue Einsamkeit füllte sich mit den Gestalten der Helden der polnischen Revolution, mit Männern des Volks, aus dem Walde von Wawre, mit russischen Soldaten und Vertretern des polnischen Reichstags, wie er sie vor drei Jahren in Salzbrunn von seinem Freund, dem verwundeten polnischen Offizier, mit frischester Anschaulichkeit geschildert bekommen; von nichts unterhalten, von nichts zerstreut, lebte er – als sei er persönlich dabei – noch einmal alle die Hoffnungen und Enttäuschungen der polnischen Freiheitskämpfer durch, die Schlachten und Truppenmärsche, die politischen Umtriebe in der Bevölkerung Warschaus und die lärmenden Reichstagsscenen vor der Belagerung und Eroberung der Hauptstadt, die begeisterte Erhebung Polens und die schmähliche Niederlage, mehr herbeigeführt durch eigene Schuld, durch die Uneinigkeit der Führer, den Ehrgeiz der Demagogen, das Mißtrauen des gemeinen Volks gegen den Adel, die Unfähigkeit des Adels, die eigenen Vorrechte für die Freiheit des Vaterlands zu opfern, kurz, alles was er mit frischer Hand damals in seinem ersten Buche geschildert, als er in Leipzig im Verkehr mit Spazier die mündlichen Berichte namhafter Polenflüchtlinge zur lebendig sprudelnden Quelle hatte.
Dabei machte sich aber die Situation des Gefangenen in einer unerwarteten Weise geltend. Die Wirkung der veränderten Lebenslage äußerte sich nicht nur in der resignirten Weltanschauung, sondern auch in einer vervollkommneten Darstellungsweise. Hatte er früher das in der Wirklichkeit Gegebene unterschätzt, weil sein Geist in lauter Zukunftsidealen lebte, so lehrte ihn jetzt die Gefangenschaft all das wirkliche Glück schätzen, das ihm die Wirklichkeit draußen gewähren könnte, wenn er nur frei, nichts als frei wäre. Von den grauen Kerkermauern ganz auf sein geistiges Auge angewiesen, während die leiblichen nach Licht und Farbe lechzten, steigerte sich dessen Vorstellungskraft zu einer Energie des Schauens, die es bisher nie entfaltet, mit seinem rastlosen Lebensdurst auf ein Leben in der Phantasie beschränkt, versetzte er sich in die Zustände seines Helden mit einer Hingabe, daß er sie wie eigenstes Erleben erzählen und schildern konnte, und so gewann er im Gefängniß und durch das Gefängniß die Konzentration des echten epischen Schaffensprozesses, der nicht redet, sondern bildet in der Form geschlossener Erzählung; der nicht willkürlich bunte Abenteuer an einander reiht, sondern die Erlebnisse einer Persönlichkeit in ihrer Folge erzählt: ein Abbild des organischen Wachsthums des Lebens. Nicht mehr in einem bunten Durcheinander von hastig hingeworfenen, erregte Stimmung wiedergebenden Briefen entwickelte sich der Roman, sondern in der objektiven Form einer gleichmäßig fortschreitenden, in schönem Verhältniß sich aufbauenden Erzählung.
In seinen »Erinnerungen« hat Laube später dieses Vorgangs gedacht unter Hervorhebung eines Romans von Tieck, der ihm zum Muster geworden sei. »Woche auf Woche verging. Draußen war ewiger Sonnenschein; jener wunderbare Sommer des Jahres 1834 war im Gange: nur in meine gen Norden gelegene Zelle drang kein Sonnenstrahl. Ich ertrug indessen mein Loos mit leidlicher Fassung, weil mich Dunkers Aeußerungen trösteten. Künstlerische Bestrebung kam mir zu Hilfe: ich hatte eine Roman-Anlage in mir, und es war mir ein Genüge, daß ich in meiner Gefängnißstille ganz und gar in den bewegten Fluß einer Erzählung hineingeriethe. Die Tieck'schen Novellen, damals fast die einzige epische Produktion, welche feineren Geist athmete, hatten die volle Romanform ziemlich verdrängt. Der Geist sprang immer vorlaut heraus aus der Form, er schwenkte die Solger'sche Freiheit der Ironie, die burschikose Ueberhebung der Romantiker, wie eine Fahne literarischer Freiheit. Nur einmal, in seinem ›Griechischen Kaiser‹, war Tieck jener künstlichen Novellenform untreu geworden und hatte zu großer Ueberraschung einen kleinen Roman gebracht, statt einer großen Novelle. Die geschwätzige Untersuchung jener Zeit: ›Worin unterscheidet sich die Novelle vom Roman?‹ hatte einen unerwarteten Stoß erlitten, denn der Novellen-Vater Tieck hatte auch diesen ›Griechischen Kaiser‹ Novelle genannt. Mir aber hatte dieser kleine Roman Tiecks einen viel stärkeren Eindruck gemacht, als irgend eine seiner Novellen, mir erschien jetzt, was ich bisher Novellistisches geschrieben, zu unrein, zu flatterhaft in der Form, und ich meinte, einen guten Schritt vorwärts zu thun, wenn ich einfach erzählte. Das that ich denn in den langen Stunden der Stadtvogtei.«
Die allgemeine literarische Reminiscenz in diesen Bemerkungen fordert zu einigen Einschränkungen heraus, da auf dem Gebiet der historischen Novelle und des historischen Romans, ganz abgesehen von Frankreich und Deutschland, neben Tieck unter den deutschen Nachahmern Walter Scotts, wie schon in Kleist, Hauff, Spindler, die Erzählungskunst sich auf ihre natürliche Aufgabe beschränkt und von der romantischen Ironie emanzipirt hatte. Doch wollen wir auf das Gebiet des Allgemeinen nicht abschweifen. Was Laube's eigenen Uebergang zur geschlossenen epischen Erzählungsform betrifft, so können wir natürlich den von ihm selbst zugestandenen Einfluß von Tiecks »Griechischem Kaiser« nicht abweisen. Aber was in Laube's »Kriegern« meinen Blicken als ein ganz neues Prinzip realistischer Erzählungskunst auffällt, was ihnen in der deutschen Literatur eine ähnliche Stelle anweist, wie Millets »Säemann« vom Jahre 1849 in der Geschichte der französischen Malerei, dessen scheint er sich selber nicht mit voller Deutlichkeit bewußt worden zu sein, das stammte aus seinem Innern und beruhte auf der Steigerung seiner inneren Vorstellungskraft und literarischen Ausdrucksfähigkeit für die sinnliche Erscheinung der zu schildernden Menschen und Oertlichkeiten, Auftritte und Ereignisse, auf dem erwachten Bedürfniß, sich nicht nur an den Verstand und die Phantasie, sondern ganz besonders an die Sinne des Lesers zu wenden: bei der Darstellung einer Situation auch an das Spiel von Licht und Schatten, von Luft und Dunst, an die Welt der Geräusche und Gerüche zu denken und durch die Beachtung all dieser Elemente die Lebenswahrheit, den Schein der Wirklichkeit unendlich zu steigern. Und wir gehen sicher nicht irr, wenn wir dies Neue als Ergebniß der Entbehrungen auffassen, zu denen die genußdurstigen Sinne des Dichters im Kerker verurtheilt waren, die nun mit Hülfe der Einbildungskraft zu genießen suchten, was ihnen das Leben versagte. Oder sollte es Zufall sein, daß er damals im Gefängniß als sein größtes Unglück das Entbehren der Sonne beklagte, daß er sowohl in den Klagen des gefangenen Valerius, die seine eigenen Gefängnißstimmungen unmittelbar wiedergaben, als auch später in den »Erinnerungen« diese Sehnsuchtsklage gipfeln läßt in dem Aufruf: »Und ich liebte von Jugend auf wie ein Perser die Sonne!« – daß er in dem Roman, der im Halbdunkel des Gefängnisses entstand, keine Scene beschreibt, ohne mit lebhaftem Sinn für die feinsten Wirkungen des Lichts das Walten der Sonnenstrahlen, das Dunkel der Nacht, den Antheil der Gestirne am Leben, den Zustand der Atmosphäre und deren Zusammenhang mit unserem Nervenleben zu einem wesentlichen Element der Schilderung zu machen? Als er in den Poeten die poetischen Rechte der Sinne verkündet und die Sinnlichkeit als hohe Lebenskraft der Jugend verherrlicht, lachte ein ewig blauer Theaterhimmel antheillos über den Scenen. Jetzt hatte jede Scene einen anderen, ihren eigenen Himmel mit all den wechselnden Eigenschaften, wie sie der ewig wechselnden Naturerscheinung entspricht, die wir jeweils Himmel nennen. Und weiter: sollte es Zufall sein, daß er, da er sich anschickt, die Finsterniß seines Kerkers mit farbigen Bildern, mit Licht und Glanz und freudiger Bewegung zu beleben, kraft seiner Dichterphantasie, die Reihe der Bilder sich auch aus dunkler Nacht losringen läßt, ganz entsprechend den seelischen Vorgängen, die er zunächst schildert auf dem nächtigen, leichenbedeckten Schlachtfeld von Grochow, wo aus todesähnlichem Zustand sich auch Leben und Hoffnung losringt, daß er immer wieder und wieder die Wechselwirkung betont, die zwischen den Stimmungen der menschlichen Seele und der Sonne, den Sternen, der Finsterniß und all den Vorgängen in der elementaren Natur besteht? All dies vergegenwärtigte er sich in einer schmalen engen Zelle, die nur von oben durch ein kleines Fenster etwas Tageslicht erhielt, das aber wieder durch eine Blechblende von außen verfinstert wurde. Nur bei künstlichem Lichte konnte er schreiben, so lange ihm dieses überhaupt gewährt wurde. Bei solchem Zustand wird man zu einem Robinson Crusoe allen kleinen Veränderungen gegenüber, die mehr Licht in das Halbdunkel bringen. Mit inbrünstiger Leidenschaft wird der erste Sonnenstrahl begrüßt, wird der Aufhellung des kleinen Lichtstreifens entgegengesehen, wenn – ach – Tage lang trübes Gewölk an die Stelle der freundlichen blauen Himmelsfarbe in dem Guckviereck der Wand getreten war. Der blaue Streifen da oben ist ja die schmale Brücke, die den Gefangenen mit Gottes weiter schöner Welt verbindet. Im Banne solchen Streifens wurde Laube damals ein Maler mit der Feder, der bald wie Rembrandt das Licht aus Dunkel hervorhob, bald wie Millet die Sonne in ihrem freien, farbenschöpferischen Walten darstellte.
Das aber ist Laube's größter Ruhm, daß er gleich hier, bei dem ersten Wurf, dies technische Verfahren in vollsten Einklang mit dem seelischen Inhalt zu bringen wußte. Dem Wechsel von Schatten und Licht, das seine Bilder so stimmungsvoll bewegt, dem Kampfe zwischen Licht und Finsterniß, entspricht die Stimmungswelt seines Helden, der Wechsel zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen idealistischem Träumen und nüchterner Betrachtung der Wirklichkeit in dem von den Zuständen in Polen schwer enttäuschten Freiheitskämpfer. Und wie er immer daran mahnt, daß der Mensch nur so Schatten wirft, wie es die Sonne will, so weist er einen ähnlichen Zusammenhang auch zwischen dem Menschen und dem Boden, aus dem er stammt, den Umständen, die ihm der Tag bringt, den realen Bedingungen des Lebens nach. Der der Freiheit beraubte Freiheitsschwärmer wird wie als Dichter, so auch als Politiker – ein Realist. Und auch dieser Realismus findet einen harmonischen Ausdruck in den »Kriegern« und der Schlußfortsetzung des Ganzen »Die Bürger«.
Aus der Reihe der jungen liberalen Brauseköpfe, die in den »Poeten« das schlesische Herrenhaus Grünschloß als Gäste belebten, ist nur Valerius, der bedeutendste unter ihnen, ein »Krieger« für die Freiheit geworden. Als Ulanenoffizier unter Kicki hat er in der östlichen Ebene vor Warschau, bei Grochow, im Heere der Aufständigen gefochten. Ein früherer Studiengenosse Valers, Sohn eines jüdischen Arztes, der in einem polnischen Dorfe ein seltsam zurückgezogen Dasein führt, Joel mit Namen, ist sein Waffengefährte geworden. Beide sind für todt neben einander auf dem Schlachtfelde liegen geblieben, Joels Vater, Manasse, der in Warschau den Ausgang der Schlacht abgewartet, benutzt das Dunkel der Nacht, die Leiche des Sohnes zu suchen. Gleich die ersten Sätze des Kapitels sind im Geiste der gekennzeichneten neuen Kunstweise geschrieben.
»Es war spät am Abende, ja die Nacht brach schon herein, als ein kleiner polnischer Wagen vor einem Gehölz hielt. Die kleinen Pferde pruhsteten angegriffen, denn es war kein eigentlicher Weg, auf welchem sie dahergekommen waren, und der Boden war halb feucht und halb gefroren. Dazu herrschte eine undurchdringliche Finsterniß, die Thiere schienen selbst voll Angst zu sein; wie denn bekanntlich das Pferd eines der sensibelsten Geschöpfe ist und fast überall nur Eindrücken der Furcht nachgiebt. Dazu knallte bald hier, bald da noch ein Schuß, plötzlich und unerwartet jagte ein Reiter oder ein Fuhrwerk vorüber – es war nicht zu verwundern, daß man dicht neben ihnen den warmen Dampf spürte, welchen sie ausströmten. – Aus dem kleinen Wagen kroch eine Figur und schritt in das Gehölz, Dort schlug sie Feuer, zündete in einer alten Laterne ein Lichtstümpfchen an und schloß die kleine blecherne Thür sogleich wieder. Die Wände der Laterne waren trübes, schmutziges Horn, das Licht gab also nur einen sehr matten, unsicheren Schein, bei welchem kaum die äußeren Umrisse des Mannes zu erkennen waren.
Er trug einen langen Mantel, sein Gesicht war durch eine tiefe Mütze halb verhüllt – nur wie er mit der Laterne am Gesträuche herumsuchte, kam er einmal mit dem Lichte bis in die Nähe der Brust, und man sah einen dichten grauen Bart aus dem Mantel herausgucken.
Sein Bestreben ging dahin, einen Zugang ins Gehölz zu finden, und bald fuhr er auch seinen Wagen mitten in eine kleine Birkenschonung hinein, deren junge Stämme und Zweige Pferden und Rädern nachgaben.
Darauf barg er die Laterne unter dem Mantel und schritt eiligen Fußes auf der entgegengesetzten Seite aus dem Hölzchen. Man kann eigentlich nicht sagen, er schritt, es war mehr ein geräuschloses Hinschlüpfen. Im Freien angekommen, kauerte er sich zusammen und horchte mit angehaltenem Athem. Aber der Wind fuhr eben rauh über die Fläche und warf harten, eisigen Regen durcheinander. Es war kalt und schauerlich. Als jedoch der heftige Windstoß vorüber war, drang es wirklich wie ein leises Geräusch von allen Seiten her, aber das Geräusch war wunderbar und ungewöhnlich, bald war es ein Wimmern, bald dem Hufschlag von Pferden, bald dem Gestöhn eines Thieres ähnlich – ein neuer Windstoß, und es war nichts zu vernehmen.
Der graubärtige Mann schien befriedigt und huschte weiter fort auf der nassen Erde, ohne die Laterne hervorzubringen. Plötzlich strauchelte er und fiel auf die Seite. Lautlos raffte er sich wieder zusammen, öffnete den Mantel ein wenig und suchte mit dem trüben Lichte seiner Hornleuchte, was im Wege liege.
Es war ein Mensch, der aus dem Angesicht lag …«
Nach langem Suchen auf dem Schlachtfelde zwischen den Leichenhaufen, bei vorsichtiger Umgehung der russischen Streifpatrouillen, findet der alte Manasse dann glücklich seinen Sohn – nicht todt, nur schwer verwundet. Er will ihn, nachdem er ihn verbunden, in seinen Wagen bringen, doch Joel willigt nicht eher ein, als bis er den Vater bewogen, vorher seinen aus einer Kopfwunde blutenden Freund Valerius auch zu verbinden und in den Wagen zu schaffen. Die Flucht des Alten mit der kostbaren Ladung auf schneeverwehten Waldpfaden, bei beständiger Sorge, auf Russen oder Wölfe zu stoßen, was auch wirklich geschieht, der Kampf der Fliehenden in Wintersturm und Schneegestöber, ihre Rast in einem verwahrlosten Haidedorf, wo Valerius und Joel sich als Bauern verkleiden, ist mit demselben bestimmten Farbenauftrage, demselben lebhaften Sinn für das Walten der Naturkräfte, für Licht und Schatten, die Reize der Beleuchtung erzählt. Manasse rettet den Sohn und dessen Freund in ein entlegenes Herrenschloß, das mitten im Walde von Wawre liegt, dem Herd der revolutionären Bewegung unter den Bauern. Eine geistesschwache, steinalte Gräfin, der noch Kosciuszko die Hand geküßt und die im Lande wie eine Sibylle der Wiedergeburt Polens verehrt wird, ihr Sohn, ein von Podagra gepeinigter, echt polnischer Edelmann von ungezügelter Leidenschaftlichkeit, der dem Trunke ergeben, und die Tochter desselben, ein wild aufgewachsenes, blühendfrisches Geschöpf, das in dem verlotterten, halbzerfallenen Edelsitz wie eine Blume der Wildniß in unschuldsvoller Schönheit und natürlicher Freiheit aufgewachsen, sind die Bewohner des Schlosses. Der Graf hat alte Verpflichtungen gegen Manasse und dafür sich Joels angenommen; Joel kennt Hedwig seit Langem und liebt sie mit geheimer, schwer zu bergender Leidenschaft; sie erwidert dies Empfinden mit harmloser Freundschaft, die sie auch sogleich dem Gaste aus Deutschland vertrauensvoll entgegenbringt. Valerius verfällt in ein hitziges Wundfieber. Genesen, hilft er bei der Vertheidigung des Schlosses gegen einen russischen Ueberfall, bei welcher der Graf seine innere Brutalität offenbart, und geleitet dann mit Joel, den Dienern und der zu Hülfe geeilten Schaar des gefürchteten Bauernführers, des Schmieds von Wawre, die Damen und den alten Grafen auf der nächtlichen Flucht durch die Wälder nach Warschau.
Die Charakteristik des Grafen und seiner Mutter erinnert noch an den früheren heinisirenden Metapherstil. Um den Mund des alten Grafen läßt er »schnell wechselnde Falten« fliegen, »die wie ein unbekanntes Alphabet aussahen, dessen Buchstaben man nicht zusammenreimen kann«. Und in dem starren, mageren Gesicht der Gräfin findet er »angefangene Erzählungen von früherer außerordentlicher Schönheit«. In der Schilderung der »polnischen Wirthschaft« auf dem Schlosse, kurz und anschaulich wie sie ist, zeigt er sich als Meister streng realistischer Kunst. Freytag hat in »Soll und Haben« kaum Besseres geboten. Ebenso klar und bestimmt und dabei doch stimmungsvoll ist er in der Charakteristik der Hauptfiguren und der stets belebten Staffage. Immer ist er geschäftig, die inneren Zustände seines Helden, die auch hier den eigenen Erlebnissen nachgebildet sind, im Zusammenhang darzustellen mit den Eindrücken von außen. »Die äußeren Dinge erhalten erst ihre Augen und ihre Sprache von unserem Herzen!« – »Es kommt nur auf die Beleuchtung an, ob die Dinge ein schauerliches oder ein lustiges Ansehen haben« – »Demselben Lichte jauchzt der Eine wie einer Hochzeitsleuchte entgegen, während der andere eine Begräbnißfackel darin zu sehen glaubt« – Sätze dieser Art bilden den Text zu diesen fein gestimmten, scharf beobachteten Seelenmalereien, welche andererseits zeigen, welche erlösende Macht über das Gemüth des Menschen der Sonne und den nächtlichen Gestirnen innewohnt. Als wunderbares Belebungselement rühmt er wieder und wieder die Sonne. Wiederholt zeigt er, wie sie es ist, die Trost und Muth »in das Herz des deutschen Freiwilligen bringt«. Seinen eigenen Zustand im Gefängniß überträgt er auf den Verwundeten. »Es war ihm aber auch dieser Trost (die Sonne)« – heißt es an einer solchen Stelle, die für seinen Roman wie für die geistige Krisis, aus der er entstammt, gleich charakteristisch ist – »nöthiger als je, es that ihm mehr als je noth, ins Auge, in die Seele der Welt hineinzublicken. Er befand sich auf jenem traurigen Standpunkte menschlicher Entwickelung, wo der graue Zweifel, die aschfarbene Ungewißheit Herz und Geist anfüllt, wo bei leidenschaftlichen Menschen die Verzweiflung ausbricht, bei ruhigeren aber jene tödtliche Gleichgültigkeit des Unbehagens. Sogar die Vergangenheit war ihm verleidet: sein eigenes sicheres, abgemachtes Wesen, das ihn früher ausgezeichnet hatte, war jetzt seiner Erinnerung ein Gräuel. Abgeschmackt, eitel, thöricht erschien ihm diese knabenhafte Sicherheit, dies ganze, gesetzte Wesen, das ihm stets ein so großes Uebergewicht über seine Umgebung eingeräumt hatte.
Und doch waren es nicht jene Freiheitsgedanken an sich, die er jetzt bezweifelte, es waren die Verhältnisse im Großen, die allgemeinen historischen Entwickelungen, die ihm den Geist mit Dämmerung bedeckten. Er ahnte das Tausendfältige der menschlichen Zustände, die tausendfältigen Nüancen der Weltgeschichte, die millionenfachen Wechsel in der Gestalt eines Jahrhunderts und in der Gestalt seiner Wünsche und Bedürfnisse. Er sah die Armuth des menschlichen Geistes, der reformiren will, neben dem unabsehbaren Reichthume, der unendlichen Mannigfaltigkeit dieser Welt und ihres verborgenen ewigen Gedankens. Wie ein Prisma schimmerte ihm aus dem Dunkel seiner Seele jener ewige Gott der Welt mit seinen Farben. Und dies Gefühl der Schwäche, daß er nicht eine einzelne bestimmte Farbe herausblicken konnte, das Gefühl der Ohnmacht, sie nicht im Geiste alle vereinigt halten zu können, das Gefühl der menschlichen Beschränktheit drückte ihn zu Boden …
Das sind die trostlosesten Momente im Leben, wo wir den Fuß erhoben haben von einer früheren Entwickelungsstufe, und noch keinen festen Boden unter uns fühlen. Wir sehen mit Schrecken, wie tief jene Stufe noch gelegen, wir erinnern uns mit Schrecken, wie weit wir uns schon vorgeschritten glaubten, als wir auf jener Stufe standen, und der Gedanke zerknirscht unser stolzes Herz, daß wir beim nächsten Ruhepunkte wieder in denselben Irrthum verfallen und uns für fertig, für vollendet halten werden. Wir sehen ängstlich fragend zum Himmel: wo ist das Ende, wo ist der Gipfelpunkt des Menschen? Aber der blaue Himmel ist endlos für das menschliche Auge, und wenn wir noch so hoch gestiegen sind, wir wissen's nicht, ob es höher Stehende giebt, die uns verlachen. Da bricht das Herz, und wir greifen nach jener Milde und Toleranz für Andere, damit wir Versöhnung in das Leben bringen. Valerius seufzte tief auf nach solchen Gedanken und sah schmerzlich lächelnd in die Sonne: Nun denn, du mildes Licht, ich will eben weiter gehen und jeder deiner Strahlen soll mir Muth verleihen. Es war ihm sanft zu Sinne, als habe er sich recht ausgeweint, und er ging leichten Schrittes in den Hof hinunter, um einen Ritt ins Freie zu machen. Er wollte mit der Sonne schwelgen.«
Was neuestens als Aufgabe des modernen Gesellschaftsromans bezeichnet und erfüllt worden ist, den Menschen und sein Schicksal darzustellen als Ergebniß seines Herkommens und der Einwirkung seiner Umgebung ( milieu), hat Laube also bereits damals schon bis auf die Umgebungen elementarer Art ausgeführt, aber er hat noch mehr gethan und die Mehrzahl der heutigen Naturalisten in Erkenntniß der Natur und des Menschen in ihr, in Erkenntniß der Wirklichkeit, wenn wir darunter den ewigen Werdeprozeß von Ursache und Wirkung verstehen, vielfach übertroffen. Denn er hat dem Trieb der menschlichen Willenskraft, sich dem persönlichen Charakter gemäß zu bethätigen, seinen vollen Antheil an der Schicksalsbestimmung gesichert und neben der Abhängigkeit der Persönlichkeit von ihren Umgebungen zugleich gezeigt, daß nicht nur sie, sondern auch der Kampf gegen sie, die Behauptung des persönlichen Willens der Natur gegenüber, Glück und Menschenschicksal bestimmen. Die weitere Fortsetzung des Romans »Die Krieger« und der ihm folgende Schlußband des »Jungen Europa« hat sich sichtlich die Aufgabe gestellt, am Beispiel Valers dies Verhältniß bedeutsam zu veranschaulichen.
In Warschau, wo Valerius zu seinem Regimentskameraden Graf Stanislas, dem Hedwig von klein auf anverlobt ist, sowie zu dessen feingebildetem Vater in ein freundschaftliches Verhältniß geräth, schlagen die Wogen des politischen Parteitreibens bald über seinen Kopf zusammen. Die Stellung seiner Gastfreunde läßt ihn als einen Parteigänger der Aristokraten erscheinen, während sein Gemüth bei der Sache des Volkes weilt. Auch in den Kreisen der Volkspartei unterhält er Beziehungen; er besucht die Versammlungen des patriotischen Klubs und wird Zeuge einer zündenden Rede Lelewels. Aber der verwirrende Rausch einer Liebesleidenschaft zieht ihn immer aufs Neue in die Kreise des Adels. Die Fürstin Constantie, die wir aus den »Poeten« als Geliebte des heißblütigen Hyppolit kennen, inzwischen Wittwe geworden, weilt bei Verwandten in Warschau. Er begegnet ihr in den Salons des flotten Reitergenerals Kicki, seines Chefs, in einer Gesellschaft, »wo die glänzendste Jugend Polens im Mazurek den Triumph der polnischen Freiheit tanzt.« Das verführerische Weib, dem er früher stets spröde begegnet, sucht den jungen ernsten Krieger an sich zu fesseln, und das Heimweh in seiner Brust drängt ihn, der Lockung zu folgen, die in deutscher Zunge an sein Ohr klingt. Aber sein demokratischer Stolz macht ihn mißtrauisch gegen die Fürstin. Er fürchtet, vom Glanz ihrer gesellschaftlichen Stellung geblendet zu sein. »In unserem Zeitalter wächst mit einem großen Theile der niedriger Geborenen ein verborgener irdischer Himmel auf, in welchem die höheren Stände sich bewegen, nach welchem der Geist strebt, ohne es zu wissen.« Auch der bürgerliche Valerius fühlt, daß ihm solche Schwächen anerzogen sind. Und der geistige Kampf gegen sie vermag ihn nicht von dem Zauber zu befreien, den die Liebe der Fürstin auf ihn ausübt. In leidenschaftlichen Auftritten schließt sich das Verhältniß fester. Als sie aber den Schwur der Treue an die Bedingung knüpft, daß er bei ihr bleibe – gerade als die Regimenter auf's Neue in den Kampf ziehen, da siegt in ihm die Kriegerehre und die Sache der Freiheit, die ihn nach Polen geführt, er verläßt die Fürstin und zieht mit ins Feld. Die Schilderungen des Bivouaclebens ergänzen das Bild der socialen Elemente und Gegensätze, die sich zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den Russen, vereint haben. In der mörderischen Schlacht bei Ostrolenka erhält Valerius eine zweite Wunde und mit Skrzynecki's langsam zurückweichendem Heer gelangt er wieder nach Warschau, das jetzt vom Siegesjubel jäh ernüchterte. Seine Zwischenstellung als Fremder zwischen dem Adel und dem Volk von Polen zieht ihm, als die Umtriebe Krukowiecki's in einem Pöbelaufstand offen hervortreten, den Verdacht zu, er sei ein Spion, und nur einem glücklichen Zufall hat er es zu danken, daß er, der freiwillige Krieger für Polens Freiheit, dem Henkertod des Verräthers am Laternenpfahle entgeht. Dies geschieht um dieselbe Zeit, da er sich mit seinen adeligen Gastfreunden überworfen, weil sie aus Vorurtheil gegen die Juden seinem Waffenkameraden und Universitätsfreund Joel schmählich die Thüre gewiesen, nachdem dieser gewagt, offen um die Hand der schönen Haustochter Hedwig zu werben. Inzwischen geht Warschau an die Russen über, verrathen von einem Ehrgeizigen, der vorher die Einigkeit der Polen im Kampf für die nationale Freiheit durch demagogische Umtriebe gesprengt, aufgegeben von dem in seinem Enthusiasmus allzufrüh erschlafften Adel. Unter den Flüchtlingen, die das von den Russen eroberte Warschau verlassen, befindet sich dann auch er, von der Ueberzeugung erfüllt, daß jedes Volk seine politische Freiheit und nationale Unabhängigkeit nur aus eigener Kraft erkämpfen könne, diese aber nicht eher erringen werde, als bis der Ausgleich der socialen Gegensätze innere Einheit und Kraft geschaffen. Er sucht die Heimath wieder auf und in ihr ein Glück, das sich nicht im blinden Eifer für unerfüllbare oder nur langsam erfüllbare Zukunftsträume, sondern im kräftigen Wirken für die in der Gegenwart und in der Heimath gegebenen Aufgaben nach Maß seiner Kräfte erfüllen soll.
*
In den » Bürgern« griff Laube auf das Hauptthema der »Poeten«, die Befreiung der Liebe vom Zwange der Konvenienz, und formell auf die lockere Form des Briefwechsels zurück. Auch dieser Theil des »Jungen Europa« ist im Gefängniß entstanden und zum großen Theil ausgeführt worden. Die Briefe, die hier lose aneinander gereiht sind, flattern aber nicht mehr die Kreuz und Quer'; sie werden nur zwischen Valerius und Hyppolit getauscht, Valerius schreibt anfangs aus dem Gefängniß, in das er dahin wegen seiner Theilnahme an der polnischen Revolution gerathen, Hyppolit aus Brüssel, Paris, Amerika. Dieser lebt sein wildes Genußleben weiter, bis er darüber zu Grunde geht; jener gelangt im Gefängniß auf allen Gebieten seines bisherigen Geistesstrebens zur Resignation, dann aber in der Beschränkung eines angemessenen praktischen Wirkungskreises zu einem in Selbstbescheidung sicheren Glücke.
Die Briefe und Gedichte, die Valerius dem fernen Freund aus dem Gefängniß schickt, sind zugleich unmittelbare Abdrücke der Stimmungen, die Laube erfüllten, als seine Haft immer länger und länger, die Untersuchung immer qualvoller ward, als man ihm das Schreibzeug entzog und ihn die unstillbare Sehnsucht, sich wenigstens schriftlich äußern zu dürfen, fast wahnsinnig machte. »Kein Buch, kein Blatt Papier, ich war lediglich auf mich angewiesen in diesem düsteren Raume, auf meine Gedanken. Eine fürchterliche Anweisung, wie ich bald erfuhr. Wenn die Gedanken gar keinen Abfluß, gar keinen Abschluß finden, so verwirren sie sich, so fallen sie einander gleichsam in die Haare, man faßt seinen Kopf in beide Hände, als wollte und könnte man verhindern, daß er im Wahnsinn auseinanderspringe.« Die Resignation, welche den Gefangenen anfangs niederdrückt und fast zur Verzweiflung bringt, erstarkt allmählich zu der klaren Einsicht, daß auf allen Gebieten des Lebens der Satz Geltung habe, den Goethe in Bezug auf die Kunst dahin gefaßt, daß erst in der Beschränkung sich der Meister zeige. Und Goethe selbst wird dabei als Lehrmeister eingeführt: »Es tröstet nur, was der Tröstende selbst glaubt; darum war mir Goethe allein von Erquickung: da war nichts Ueberspanntes, Uebertriebenes …, das Verlangen an die Welt war immer gemessen – diese Lektüre allein gab mir Ruhe.« Schon die »Krieger« waren mit dem Bekenntniß Valers ausgeklungen: »Wer sich thöricht unterfängt, in Schnelligkeit die Weltgeschichte meistern zu wollen, wie wir in den letzten Jahren als eine Kleinigkeit versuchten, der beklage sich nicht, wenn er zu Grunde geht. Handle, wer sich berufen fühlt, aber Keiner wage ins Einzelne vorauszubestimmen, was werden soll; wir kennen die Welt nur einen Schritt weit. Ich will in meine Heimath gehen, mir eine Hütte bauen, das Weite auch ferner betrachten, aber nur für's Nächste wirken.« Jetzt wird im brieflichen Verkehr zwischen Valer und Hyppolit dies Thema weiter ausgeführt, indem die zügellose Subjektivität des letzteren und die maßvolle Selbstbeherrschung Valers zu einander in Gegensatz treten. Die Briefe Valers bieten einen treuen Abdruck der Stimmungen, die Laube selber in der Gefangenschaft und nach seiner Entlassung beseelten.
»Hinter jenen Eisenstäben
Liegt das weite offne Feld,
Liegt die Freude, liegt das Leben,
Gottes große, schöne Welt. –
Thränen, Thränen, ach, ihr brechet
Jene harten Stäbe nicht –
Ferne Sonnenstrahlen, sprechet
Von der schönen Welt mir nicht!
Denn es schmerzt mich so unsäglich,
Daß das Herz mir stille steht –
Und so kommt die Welt mir täglich,
Bis die Sonne untergeht.«
*
»Wie gehen die Stunden langsam hin,
Ich glaube, der Tag steht still;
Mein müder, abgehetzter Sinn
Weiß nicht mehr, was er will –
Hat Alles zehnmal schon durchirrt,
Was jemals er erlebt,
Was nur vorüber ihm geschwirrt,
Was er gehofft, erstrebt –
Er weiß nichts mehr, und dumpf und todt
Liegt Alles vor ihm da –
Mein Gott, erbarm' dich dieser Noth,
Der Wahnsinn tritt mir nah!«
Diese und ähnliche Gedichte, die den »Bürgern« eingefügt sind, enthalten den unmittelbaren Aufschrei der Verzweiflung, die den Gefangenen in der strengen Hast der Hausvogtei dem Wahnsinn nahe brachte, als ihm die Einsamkeit immer unerträglicher, seine Lage immer hoffnungsloser wurde. Es gehörte zu Dambachs Methode, die nie ganz ersterbende Hoffnung auf Freiheit in den Gefangenen je nach Bedarf zu beleben oder zu ersticken. Da er Laube für einen hartnäckigen Leugner hielt, so that er ihm gegenüber das letztere. »Bei den ersten Verhören, ja monatelang war er mir gegenüber ganz Kreatur Tzschoppe's: Inquisitor eines heimlichen allmächtigen Gerichtes. Ein schwarzer Schleier lag auf der ganzen Welt; unter diesem Schleier gähnten Abgründe links und rechts, in welche man stürzt, wenn man nicht der Regierung ganz zu Willen ist. Man brach nicht gerade den Hals, wenn man hinunterstürzte, nein, vom Schaffot sprach er nicht; er hatte moderne Inquisitions-Allüren, aber ewiges Verweilen unten in einem dieser Abgründe, ewiges Gefängniß war die Losung, welche er nicht verschweigen zu dürfen glaubte. Aus Menschlichkeit wollte er nicht verschweigen, was ein armes Menschenkind treffen könnte, welches, wie ich, nicht schleunigst seinen Frieden besiegeln wollte mit der Regierung. Er senkte sein bleiches kleines Haupt auf die Brust, rieb sich die Hände und sprach halblaut vor sich hin: ›Mein Gott, darin haben Sie ja Recht, Herr Laube, bei dieser Anklage gegen Schriften wie die Ihrigen und gegen Theilnahme an einer alten Burschenschaft kommt nicht gar viel heraus an Festungsstrafe, etwas immerhin, aber nicht gar viel. Das weiß ja die Regierung! Und weil sie's weiß, muß sie zu ihrer eigenen Sicherheit dafür sorgen, daß ein ihr unbequemer Schriftsteller so lange wie möglich verhindert werde, wieder in die Freiheit zu kommen. So lange wie möglich! Was ist denn aber nicht möglich bei Untersuchungen? Es findet sich immer neuer Anlaß. Wer weiß, ob der Anlaß je für Sie endet; ich, an Ihrer Stelle würde beizeiten meinen Frieden machen und besiegeln …‹« Die Gefängnißkapitel der »Bürger« sind ein getreuer Abdruck der Seelenstimmung jener eigenen Gefängnißzeit und die »Erinnerungen« enthalten auch die ausdrückliche Bestätigung, daß die Blätter des Kerkertagebuchs selbst damals entstanden sind, als alle Einzelheiten dieses wüsten Leidens noch lebendig waren: »Ich saß noch im Gefängniß, ich saß im sechsten Monate, und die Feder, welche ich endlich erhielt, konnte frisch alle peinlichen Eindrücke auf's Papier zeichnen.« So ließe sich aus diesen Auszeichnungen des gefangenen Valerius noch Vieles ausheben, was den Werth von biographischen Dokumenten hat. Wir beschränken uns auf eine Prosastelle über seine Stellung zur Gottheit:
»Wenn sie auch Dir nicht nahe liegt, denn Du bist ein gottloser Mensch, aber andern Leuten ist die Frage natürlich: Warum suchst Du keinen Trost bei Gott, warum flüchtest Du nicht, von aller Welt verlassen, in den Schooß der Religion? Darauf muß ich gestehen, daß ich nach der allgemeinen Ausbildung jetziger Jugend Alles auf die Festigung meines Charakters verwendet, alle höheren Bezüge da hinein gewoben habe, und daß es mir nichts hilft, ein Außenliegendes zu suchen. Ist es mir nicht gelungen, was die Menschen Gottheit oder Religion nennen, in meine innersten Fasern aufzunehmen, dann bin ich wirklich verlassen, wenn die Welt mich verläßt. Also ist es mir aber niemals geworden, meinen inneren Halt haben nicht Leid, noch Entbehrung erschüttert, und in so weit hat mir der jetzt ziemlich allgemeine Zustand, welchen die Theologie beklagt, Probe gehalten. Ist er ein falscher, so wünsche ich denen Glück, welche im Stande sind, einen andern mit sich in Einklang zu bringen; ich glaube es gern, daß der Traditionsgläubige festeren Anhalt nach dieser Seite hin finden mag, aber ich fürchte, die übrigen selbsteigenen Stützen des Charakters, die selbstgezimmerten, sind ihm schwächer und unkräftiger. Ich bin zu trocken vernünftig, um einem Dogma anzugehören, das mir nicht aus dem Wege meines Gedankens zukommt, und fühle mich zu sehr in poetische Ahnungen hineingedrängt, um mir das Unsichtbare vordefiniren oder wegdefiniren zu lassen. So glaub' ich an die Kraft und Macht des Gebetes, aber wenn es ein Unglück ist, so habe ich es, die Kraft und Macht des Gebetes nur darin zu finden, daß es mir selber Kraft und Macht gewährt … Ich konnte Gott nicht bitten, daß er eingreifen möge in mein traurig Schicksal; solches ruckweises Regieren der Welt mag für Viele ein segensreicher Trost sein, wehe dem, der ihn leichtsinnig den Menschen rauben wollte; für mich ist er ein Fremdes. Ich habe mit Gott gesprochen, aber mein Individuum ist dabei für mich selbst unverloren geblieben. Denn es ist eben mein Glaube, daß ich nichts in mich aufnehmen kann, was meiner besten Innerlichkeit nicht zupassen will, und daß ich nicht im Stande bin, ja, es für frevelhaft halte, gegen mich selbst zu lügen.«
Nicht minder wichtig für unser Entwickelungsbild als diese Seelenstimmungen des gefangenen Laube-Valerius ist die Entscheidung, welche der letztere, als ihm endlich die Freiheit geworden, in seinem Verhältniß zu Camilla trifft, die er am Schluß der »Poeten« verlassen. Camilla hat seinen Aufenthalt endlich erfahren und ihn aufgesucht. Sie will auch ohne das Band der Ehe sein Leben theilen. Da er aber nicht mehr Liebe, sondern nur noch Dankbarkeit für sie empfindet, zieht er ein Leben in Einsamkeit vor. Eheliche Liebe aus bloßer Dankbarkeit sei ohne Lüge nicht möglich. An Hyppolit aber richtet er, ehe dieser an den Folgen eines frevlen Liebesabenteuers zu Grunde geht, die folgende Mahnung:
»Ja wohl, wir haben uns einst Alle erhoben für die Freiheit, aber die Freiheit für Zivilisirte ist nur ein freies Gesetz; ja, wohl haben wir uns erhoben für den wahrhaften echten Verkehr zwischen den Geschlechtern und gegen die lügenhafte Ehe, aber nur gegen die lügenhafte; wo in Wahrheit zwei Wesen in Eines aufgehen, da ist eine Erfüllung des Menschenthums gewonnen! … Schüttelt die Personen, welche durch Lüge mit dem Institute Frevel treiben, schützet diejenigen, welche von der Unwahrheit einer Verbindung gefesselt und zertrümmert werden, kämpft gegen und für die Verehelichten, haltet die Thür der Erfindung offen, doch vermengt damit nicht die Ehe selbst.«
Auch dies waren Laube's eigene Ansichten über die von ihm im Jahre vorher mit so viel jugendlichem Ueberschwang vertheidigte freie Liebe, als er im Frühjahr l835 das Gefängniß verlassen durfte. Seine Ansichten hatten sich in Qual und Einsamkeit der Haft ebenso wie seine Kunst geläutert. Wohl war er ein ungebeugter Fortschrittsmann trotz aller Seelenstürme geblieben, aber er zählte sich jetzt zu jenen »Demokraten«, die »nicht alle Unterschiede aufheben, sondern sie mildern und auf richtigere Unterschiedsmerkmale gründen« wollen, vertrauend auf »eine einstige völlige Ausgleichung«, auf »ein zukünftiges Aeußerstes der menschlichen Zivilisation«. Auch in der Frage einer Reform der Ehe dachte er jetzt so. Als er sich von der Krankheit erholt hatte, in die er bald nach der Entlassung aus der Haft verfiel und deren Merkmale Schlafsucht und Kräfteverfall waren, als er wieder im Vollbesitz seiner Geistes- und Willenskraft war, bethätigte er diese zuerst gerade damit, daß er dort freite, wo er liebte, und den Hafen der Ehe für sein künftiges Herzens- und Lebensglück als schönste Sicherung erstrebte.
Laube's »Krieger« waren der erste deutsche Zeitroman von sozialpolitischer Tendenz bei streng realistischer Durchführung; sie leiteten eine literarische Bewegung ein, deren bedeutendstes Denkmal auf ganz nationaler Grundlage Gutzkows »Ritter vom Geist« später wurden.
Das künstlerische Prinzip aber, welches den Menschen als das Produkt seiner besonderen Herkunft und seiner realen Umgebungen darstellt und zu diesen schicksalwirkenden Umgebungen auch Luft und Licht zählt, ist demnach keineswegs so neuen Datums, wie die Wortführer des modernen Naturalismus annehmen. Wir Deutschen haben es weder den Franzosen noch den Skandinaviern und Russen als etwas Neues zu danken.
Und das Merkwürdigste an dieser Thatsache ist, daß dieses auf scharfe Beobachtung der Naturwirklichkeit dringende Prinzip nicht wie bei Zola auf Grund absichtsvoll für einen bestimmten Zweck gesammelter › documents humains‹ in dem deutschen Dichter ins Spiel trat; daß es diesem vielmehr gerade dann zum künstlerischen Bedürfniß wurde, als er sich abgeschnitten von aller anregenden Wirklichkeit fand, als er sich in einsamer Gefängnißzelle mit der Inbrunst junger Herzenskraft nach Licht, Lust, Farbe, Leben! sehnte und die ganze Wirklichkeit, die ihn umgab, aus kahlen Kerkermauern bestand und elendem Kerkerhausrath. Zu photographischen Momentaufnahmen, zum Sammeln von realistischen Studienblättern war da keine Gelegenheit; die starken klammernden Organe seiner Sinneskraft hatten keinen anderen Gegenstand als die Vorstellungen der vom Lebensdurst mächtig erregten Einbildungskraft. Der erste moderne Zeitroman von sozialrealistischer Ausführung trat somit ins Leben als unmittelbares Erzeugniß einer schöpferischen Phantasie und ihrer größten Hülfskraft, der – Erinnerung.
Hatte in dieser Beziehung die Gefängnißzeit Laube's ein sehr erhebliches Resultat, so hat doch andererseits durch sie sein geistiges Wesen auf Jahre hinaus die frische Energie eingebüßt, die diesem ursprünglich zu eigen war und dies war ein großer Verlust für die Sache der Freiheit in Deutschland. Um sich als Mensch und Schriftsteller zu retten, trat Laube, nachdem er die persönliche Freiheit wieder erlangt, nicht wieder in die Reihen derer, die den Kampf für die allgemeine Freiheit, für die Verwirklichung ihrer politischen Ideale zum Beruf sich erkoren. Er verrieth seine Ideale nicht; aber er resignirte seinerseits darauf, sein Talent in dem hoffnungslosen Kampf gegen die als übermächtig erkannte Staatsgewalt aufzureiben. Das ist ihm von Vielen verargt worden, obgleich wahrlich nur wenige von denen, die ihn nun als Abtrünnigen verschrieen, ein Recht dazu hatten und es sich erst mit einer gleichen Prüfungszeit hätten erkaufen müssen. Es wäre aber auch sicher mit größerer Gerechtigkeit geschehen, wenn die beiden Schlußtheile des »Jungen Europa« gleich in den nächsten Jahren für den künstlerischen Ernst seines dichterischen Wollens wie von dem geistigen Entwickelungsprozeß hätten zeugen können, die er im Gefängniß bewährt und erlebt. Der Bundestagsbeschluß, welcher das infame Verfolgungswerk gegen Laube krönte, verhinderte es. So fehlte der öffentlichen Meinung, wie auch den Genossen vom Jahre 1833, die Vermittelung zwischen dem kecken Uebermuth und stürmischem Freiheitsdrang des Redakteurs der »Eleganten Zeitung« und dem, eines vornehm-kühlen Stils sich befleißigenden Salonnovellisten, als welcher er im nächsten Jahr die Novellen »Liebesbriefe« und »Die Schauspielerin« herausgab, von denen die eine Varnhagen von Ense, die andere dem Fürsten Pückler gewidmet war. Als man aber einige Jahre nach den Zeitungsfehden, die sich hieraus entwickelten, das »Junge Europa« im Zusammenhang las und das Ganze als organisches Produkt von Laube's Wesensentwickelung und Schicksalsgang ohne persönliches Vorurtheil aufgefaßt wurde, da ging es Vielen wie dem jungen Ferdinand Lassalle, der in seiner Frühzeit 1841 in sein Tagebuch schrieb: »Ich lese die Schriften Laube's. Merkwürdig ist es, wie viel Vorurtheile der Mensch doch hat und wie grundlos sie entstehen. Ich hatte gegen Laube eine Abneigung gefaßt, ohne irgend eine seiner Schriften zu kennen, ich glaube, um einer Aeußerung willen, die ein Schriftsteller, den ich verehre, that. Und jetzt waren es einige Aeußerungen Heine's, die mich veranlaßten, an die Lektüre dieses Schriftstellers zu gehen. Gott, wie bitter Unrecht habe ich dem Manne gethan! Er gehört unter Deutschlands beste Männer. O hätte es noch tausend solche wie er! Er betet die Freiheit an mit aller Gluth seiner Seele. Sein Wille ist der beste und auch seine Kraft ist gewaltig. Mit den ernsten schlagenden Worten Börne's und seiner Persiflage vereinigt er Heine's Ironie, und obwohl er hierin jene Beiden nicht ganz erreicht, so übertrifft er dennoch den Ersten an Kunstsinn, den Zweiten an Willen, oder wenigstens an Klarheit des Willens.«
Nach neunmonatlicher Haft unter Verhältnissen, die heute auch dem schweren Verbrecher erspart sind, und Qualen, die nie ein solcher erduldet, weil er keine Poetenphantasie hat, wurde Laube entlassen. Es geschah gegen juratorische Kaution, daß er sich dem Urtheilsspruch nicht entziehen wolle, und der Verpflichtung, sich sogleich zum Polizeipräsidenten zu begeben. Dieser erschrak, als der bleiche, im Aeußern vernachlässigte Sträfling, der doch auf das Prädikat Herr Doktor Anspruch hatte, mit verwildertem Bart und Haupthaar bei ihm eintrat. Laube war gewiß über sein Aussehen noch weit mehr erschrocken gewesen, als er sich zum ersten Male wieder in einem Spiegel sah, doch hatte man ihm nicht die Gelegenheit gegönnt, sich wieder »menschlich« zu machen, ehe er vor dem hohen Beamten erschien. Zu seinem Entsetzen erfuhr er nun hier, daß er noch immer keineswegs ganz frei sei. »Sie müssen unmittelbar von hier in den Postwagen steigen und in Ihre Vaterstadt Sprottau heimkehren, wo Sie Ihren nächsten Aufenthalt nehmen.« Die Vorstellung: mittellos, verkommen, entstellt, sogar im Aufzug eines Verbrechers, in die Vaterstadt abgeliefert zu werden, schmetterte ihn nieder. Diese Schande den Eltern anthun! Nimmermehr! »Lieber ins Gefängniß zurück«, erklärte er. Nicht ohne Mitgefühl verwies ihn der Beamte an den Minister. Er gab ihm noch den guten Rath, vorher seinen Bart abnehmen zu lassen.
Varnhagen nahm sich auch jetzt wieder theilnehmend seiner an. Er versah ihn mit den nöthigen Geldmitteln, um wieder das Aeußere eines gebildeten Menschen anzunehmen und sich einzumiethen. Seine eigene Baarschaft hatte man ihm in der Hausvogtei abgenommen. Als er zur Audienz in der Wilhelmstraße beim Minister von Rochow vorgelassen wurde, empfing ihn dieser – den kurze Zeit später die Nemesis tragisch ereilen sollte, indem er, der Demagogenverfolger, dem Verfolgungswahnsinn verfiel – mit einer Fluth von Scheltworten gegen den Liberalismus und die liberale Schriftstellerei. Der Mann, welcher die Petitionen ostpreußischer Städte um Gewähr einer konstitutionellen Verfassung mit dem Wort vom »beschränkten Unterthanenverstand« zurückgewiesen hatte, haßte die politische Opposition mit persönlicher Leidenschaft. Schließlich, nachdem er sich übernommen und dadurch ins Unrecht gesetzt hatte, zeigte er sich doch bereit, einen anderen Aufenthaltsort für Laube in Frage zu ziehen. In Berlin zu bleiben, dieser Wunsch des gefährlichen Skribenten wurde als unglaublich dreistes Gelüst mit Empörung zurückgewiesen. »Naumburg an der Saale?« – Nein, klang es zurück, in der Mitte zwischen Leipzig, Halle und Jena, zu viel Versuchung für erneute Schriftstellerei. – »Aber, Excellenz, ich bin nun doch Schriftsteller.« – Nein! – war der Schlußbescheid. Aber er solle noch einmal vorfragen.
In den nächsten Tagen brachte Varnhagen seinen Schützling in Beziehungen zu den Koryphäen des liberalen Berlins. Ein kleiner Salon in der Charlottenstraße diente seit dem Tode der Gattin Varnhagens diesem als Rendezvous. Fräulein Solmar war die Dame, welche dort Abends zum Thee Männer, wie Eduard Ganz, Böckh, Humboldt und Varnhagen empfing. An dem liberalen Ministerialrath im Kultusministerium Altensteins, Johannes Schulze, hatte dieser Kreis einen Rückhalt in der Regierung. In Fräulein Solmar, einer liebenswürdigen Repräsentantin des von Rahel Varnhagen geschaffenen Bildungskreises, gescheit, an der Hand guter Bücher sicheren Trittes vorwärts schreitend, dabei gutmüthigen, wohlwollenden Herzens, fand der Verfolgte einen warmen Fürsprech. In der nächsten Audienz beim Minister wurde ihm die Erlaubniß zu Theil, Naumburg zum Aufenthalt für die weitere Ortshaft unter Aufsicht des dortigen Landraths zu nehmen. Es geschah unter besonderer Verwarnung vor jedwedem ungebührlichen Gebrauche der Feder und entsprechender Strafandrohung.
Den alten Plänen eines gemeinschaftlichen Wirkens im Dienst der modernen Ideen als Literaturreformer, wie er sie mit Gutzkow, dann mit Schlesier und Wienbarg gepflogen, war mit dieser Wendung seines Geschickes auch für weiterhin seine Mitwirkung entzogen. Wienbargs Theorie der schönen That fand er als Theorie noch immer sehr schön, aber für die Praxis seiner nächsten literarischen Bestrebungen hielt er weitere Betheiligung an ästhetischen Feldzügen gegen die politischen Gewalten von seiner Seite für unzweckmäßig und die »historische Objektivität«, deren Varnhagen in seinen Kritiken und Biographien mit sichtlicher Anlehnung an den Altersstil Goethe's sich befleißigte, wurde ihm jetzt zum Vorbild, wie er überhaupt diesem Patrone, dem er sich mit Recht tief verpflichtet fühlte, einen bedeutenden Einfluß über sich einräumte. Wahrend aber dieser Einfluß auf den schwergeprüften Dichter im Zusammenhang mit der Verfolgung, die er noch immer erlitt, temperirend wirkte, vermittelte gleichzeitig Varnhagen den von der Verfolgung nicht berührten Genossen der jungen Bewegung einen Einfluß, der revolutionirend wirkte und dazu beitrug, das Band zwischen Wienbarg und Gutzkow nun fester zu knüpfen: dieser Einfluß ward ausgeübt durch den Geist seiner verstorbenen Frau – Rahel.