Paula von Preradović
Pave und Pero
Paula von Preradović

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Die Tafel

Das venezianische Land der fruchtbaren Ebenen und breiten Flußmündungen, der tiefen Hohlwege und Hecken kochte in der Sommersonne. In der feuchtsiedenden Hitze der Flußniederung lagen die Weizenfelder reif zur Ernte, hoch und großblättrig mit nun lichtgrünen Trauben standen die Rebstöcke in den unendlichen Weingärten, riesige Kürbisse und Melonen, die dickbäuchig auf der fetten Erde lagen, begannen sich gelblich zu färben; und die Maulbeerbäume schatteten breit mit ihren dunkelgrünen dichten Kronen. Die langen Pappelalleen, die allenthalben das strotzend saftige Land durchzogen, streckten ihre spitzen, hellen Wipfel in das weiße Sonnenlicht.

Auf den Gräbern des Friedhofes San Giovanni blühte es verschwenderisch. Aus dichten Rosenhecken schauten die schön gemeißelten Grabsteine der erbeingesessenen Geschlechter, und auf den Gräbern lief der Sommermorgenwind durch bunte und üppige Teppiche von Stiefmütterchen, Federnelken, Vergißmeinnicht und Kapuzinerkresse.

Der Totengräber und seine sieben Kinder umstanden eifrig jene Stelle der Friedhofsmauer, wo sie sich in schön gerundetem Bogen von Westen nach Süden wendet, und von der aus man gerade in die lange Allee hineinsehen konnte, die nach Motta führt. Zwei Maurer waren dort damit beschäftigt, eine Grabplatte in die weißen Quadern einzulassen.

»Ihr befestigt sie zu hoch!« schrie plötzlich der Totengräber. »Soll das vielleicht schön sein?«

Die beiden Arbeiter begannen ein dröhnendes Lachen. »Mischen wir uns in dein Maulwurfsgewerbe? Machen wir dir Vorschriften, ob eine Grube zu schmal oder zu breit ist? Nein! Wir verstehen das nicht und wollen das nicht verstehen. Ecco! – Also muß der Herr Maulwurf uns auch in Ruhe lassen.« 376

Der Totengräber war mit Recht erzürnt, und seine Kinder fingen an, den Maurern die Zunge herauszustrecken, kleine Steinchen auf sie zu werfen und ihnen die Feige zu machen. Im Herzen des Vaters jedoch überwog das sachliche Interesse.

»Es ist zu hoch, wenn ich es euch sage!«

»Maledetto vecchio!« gab der jüngere der Arbeiter unhöflich zurück. »Hat uns denn nicht der Herr Doktor genau gesagt, wie hoch wir sie anbringen sollen? Die Platte ist ja groß. Solange sie nur so da lehnt, kann man's nicht sehen.«

»So, der Herr Doktor?« brummte der Totengräber; seine brennende Anteilnahme an der Amtshandlung verbot ihm jedoch, sich grollend zurückzuziehen. Nur seine Kinder scheuchte er ins Haus.

»Hat Maestro Sbisà in Portogruaro die Tafel gemacht?« fing er wieder an, während die beiden Maurer die flache Vertiefung, die sie ausgebrochen hatten, zu glätten begannen.

»Sbisà?! Keine Rede von ihm. Aus Triest ist die Platte gekommen. Dort hat sie der Witwer bestellt.«

»So, in Triest? Den Witwer kenne ich. Er ist ein Herr Major. Sehr gut kenne ich ihn.«

Die beiden Flegel lachten schon wieder.

»Das können wir uns vorstellen, wie gut du den Herrn Major kennen wirst. Hat er Bruderschaft mit dir getrunken, wie?«

Der Totengräber machte ein empfindliches Gesicht, hielt aber achselzuckend stand.

»Bruderschaft getrunken nicht, ihr Hundesöhne. Aber sehr oft lang und höflich mit mir geredet, und zweimal mir viel Geld gegeben.«

Der eine der Hundesöhne sah jetzt ohne Spott herüber, während er in seinem Eimer Mörtel anrührte. »Und die Frau, die da«, er zuckte mit der Achsel gegen die klaffende Wunde in der Mauer, »hast du die auch gesehen? Ist es wahr, daß sie so schön war?«

»Und ob ich sie gesehen habe! Sie hatte doch ihr 377 kleines Mädchen hier bei uns«, er zeigte nach einem Grab neben der Tür zum Campanile. »Fast jeden Tag ist sie gekommen und hat Blumen hingelegt. Schön war sie freilich, sehr schön. So eine richtige Herrschaftenschönheit, nichts für unsereins, viel zu zart und fein.«

Die Maurer begannen wieder zu gröhlen. »Für dich wird sie freilich zu fein gewesen sein, Maulwurf.«

Sorgfältig hoben sie die Platte auf und fügten sie in die Vertiefung, die sie mit Mörtel ausgestrichen hatten. Dann traten sie ein paar Schritte zurück und betrachteten wie zwei Künstler das Ergebnis ihrer Bemühung.

»Nun, sagst du noch, daß es zu hoch ist?«

Der Totengräber grunzte etwas Undeutliches. Die Platte aus ungeglättetem Marmor saß schön und genau dort, wo sie zu sitzen hatte, nicht zu dicht am Erdboden und nicht zu nah dem Mauerrand. Zierliche Linien faßten die Schrift ein, die der Triester Steinmetz in klaren und edlen Lettern wohlangeordnet und von zarten, wehmütigen Ornamenten unterbrochen in den Stein gemeißelt hatte.

»Lest mir vor, was darauf steht, ich habe meine Brille im Haus vergessen«, bat der Totengräber.

Der ältere der Maurer neigte sich ein wenig und begann den Text abzulesen. Er stotterte herum und entschuldigte sich: »Schwere Namen.«

»Laß die Namen, die kenn' ich. Was darunter steht, will ich wissen.«

Etwas pathetisch fuhr der Mann fort:

»Einer Tochter beraubt,
Fand sie der Tränen nicht genug,
Sie zu beweinen.
Der unstillbare Schmerz
Zog sie mit hinab in die Tiefe
In ihrem achtundzwanzigsten Jahr.«

»Schön!« sagte der Totengräber. »Sehr schön. Ordentlich rührend! Und ist das alles? Steht sonst nichts mehr da?« 378

»Doch, da steht noch etwas.« Wieder beugte der ältere der Maurergehilfen sich vor, um zu lesen:

»Der untröstliche Gatte
Errichtete diesen Stein
1855.«

»Ah, seht ihr's! Seht ihr's! Der untröstliche Gatte! So gehört es sich für den Ehemann. Ich dachte mir's gleich, daß der Herr Major eine schöne Inschrift hersetzen würde.«

Plötzlich aber geriet er in Bewegung. »Habt ihr das Gedicht herausgebrochen? Da stand doch ein Gedicht auf den Steinen. Mit Bleistift aufgeschrieben.«

Die Maurer, die ihre Geräte zusammenräumten und den Platz von den Spuren ihrer Tätigkeit säuberten, sahen gar nicht auf. »Was denn für ein Gedicht, du alter Narr? Wir haben getan, was uns befohlen war, und wissen von keinem Gedicht.«

Vorsichtig, um das Grab nicht zu versehren, trat der Totengräber heran und untersuchte die weißen Kalksteine der Mauer rund um die Marmortafel.

»Es ist nicht mehr da. Nun, es tut nichts. Ein fremder Herr hat es aufgeschrieben, wenige Tage nach ihrem Begräbnis. Auch er hat mir Geld gegeben. Aber es tut nichts. Ich bin nicht dafür, daß die Friedhofsmauer vollgekritzelt wird. Es gehört sich nicht. Und die Tafel ist schön. Sehr schön.

Der unstillbare Schmerz
Zog sie mit hinab in die Tiefe.

Sehr gut gefällt mir das. Ein feiner Mann, der Herr Major.«

Die Maurer waren mit Eimer, Kelle, Hacke und Spatel abgezogen und gingen dem Ausgang zu. Sie kümmerten sich nicht mehr um den Totengräber, der voll freudiger Andacht, so wie jemand, der seiner Sammlung ein neues wertvolles Stück eingereiht hat, die marmorne Tafel betrachtete. 379

 


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