Paula von Preradović
Pave und Pero
Paula von Preradović

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Cotia

Die Wochen und Monate waren sacht vergangen. Das Weihnachtsfest war gekommen und vorbeigezogen, ohne daß Pero es ermöglichen konnte, die Seinen aufzusuchen; und die Karnevalszeit hatte in Motta keine wesentliche Änderung des ruhigen Lebens herbeigeführt. Pave lebte still und glücklich mit ihren Kindern. Duschan gedieh gut, und die kleinen Mädchen erfüllten die Tage mit ihrem zwitschernden Geplauder und der erfindungsreichen Vielfalt ihrer Kinderspiele. Giuseppina war nun zuweilen leidend. Es hatte sich gezeigt, daß sie guter Hoffnung war, und es geschah nicht selten, daß sie mit Magenkrämpfen und heftigen Übelkeiten das Bett hüten mußte. Miho betreute sie liebevoll. Er war voll Freude über das zu erhoffende zweite Kind und voll rührenden Eifers, seine Frau zu schonen und zu verwöhnen.

Bei Frau Biba war man eifrig dabei, die Aussteuer für Carlotta zu nähen. Herr Lippi war nach Padua zurückgekehrt, wo er sein Studium noch vor dem Sommer zu vollenden gedachte. Von Bianca Tagliapietra, die am Tage nach jenem Gespräch abgereist war, hatte Pave keine Nachricht erhalten. Die lebhafte Zeit im Dezember, das abendliche Fest bei Frau Biba, die Opernstagione, Biancas Beichte und die Anwesenheit des Sängers schienen ihr wie eine tropisch bunte Insel aus dem gleichmäßigen Wellenschlag einförmig dahingleitender Tage herüberzuwinken. Herr Lorenzoni hatte kurz nach seiner Abreise einen höflichen und zartfühlenden Brief geschrieben, in dessen schön kalligraphierten Zeilen er Pave nicht mit Liebeserklärungen behelligt, sondern ihr lediglich für ihr Wohlwollen gedankt und neuerdings ein Wiedersehen in Wien in freudige und nunmehr sichere Aussicht gestellt hatte.

Pave verbrachte ihre Zeit ruhig bei der blassen 204 Giuseppina sitzend und Näharbeiten fördernd; mitunter gingen die Schwestern zu Frau Biba hinauf, doch zog Bepi es in diesen Wochen meistens vor, bei sich zu Hause zu bleiben. Wenn das Wetter günstig war, machte Pave mit den drei Kindern die gewohnten Spaziergänge an einem der Flüsse. Mitunter konnte Miho seinen Wagen entbehren, dann wurden kleine Ausfahrten unternommen.

Das Dasein verlief ohne Dornen und Stacheln, es war ein warmes und befriedetes Dasein, wie es sich nur dann zu entfalten pflegt, wenn in einem Hause, unter dem Schutze eines Mannes, Frauen und Kinder pflanzenhaft und einträchtig dem nachleben dürfen, was ihrer innersten Natur entspricht. Pave fühlte sich hier in dem südlichen Städtchen heimatlich geborgen, wenngleich das Adriatische Meer, dessen blauen Spiegel man von Motta freilich nicht sehen, dessen feuchte und gewaltige Gegenwart ein liebendes Herz jedoch ahnen konnte, zwischen ihr und ihrer Heimat lag.

Auch die Amme Santa hatte sich im Loroschen Hause, wo sie mit dem kleinen Duschan eine Kammer neben der Wohn- und Schlafstube ihrer Herrin bewohnte, behaglich zurechtgefunden. Die feindseligen Vorbehalte, die sie anfangs gegen ihre Herrin genährt hatte, waren nun größtenteils dahingeschwunden. Sie hatte die Strassoldosche Herrlichkeit verschmerzt, Frau Giuseppinas Haushaltung sagte ihr zu, und die muntere und magere Vizza war ihrer herablassenden Freundschaft gewürdigt worden. Natürlich hatte sie seinerzeit bald von der Ankunft des Tenors in Motta erfahren und, als einzige mit der Vorgeschichte vertraut, auf die Entwicklung der Angelegenheit ein wachsames und aufmerksames Auge gehabt, doch mußte sie sich sagen, daß sich im Verlauf der Stagione nichts, aber wirklich rein gar nichts zugetragen hatte, und daß der Frau Majorin als einer tadellosen und tugendhaften Gattin Anerkennung nicht versagt werden konnte. Die Anwesenheit des Sängers bei Frau Bibas Abendgesellschaft war ihr freilich nicht verborgen geblieben, doch hatte die Zannonersche Magd, die die 205 festlichen Stuben einige Male betreten hatte, um beim Servieren zu helfen und benütztes Geschirr abzutragen, berichtet, der Maestro habe, soviel sie habe beobachten können, immerzu nur mit Herrn Antonio Loro geredet. Jener letzte Spaziergang unter den hängenden Regenwolken allerdings hätte Frau Santa Vianello aus Rizzi bei Udine manches zu denken und Anlaß zu allerhand spöttischen, grüblerischen und unheilschwangeren Bemerkungen geben können, wäre sie nicht zu jener Nachmittagsstunde so dringend mit dem ihr anvertrauten Knaben beschäftigt gewesen, der, vielleicht durch das drückende Wetter beunruhigt, nur durch anhaltendes Herumtragen, Wiegen und Singen daran gehindert werden konnte, ohne Unterlaß und heftig zu schreien, so daß es ihr nicht möglich gewesen war, auch nur einen einzigen Blick durch das Fenster zu werfen.

Duschans im übrigen kräftiges Gedeihen erfüllte sie mit befriedigtem Stolz, und sie kannte, abgesehen von der Sehnsucht, zu den Ihren heimkehren zu können, keinen dringenderen Wunsch als den, der Herr Major, dem sie ein verehrendes Andenken bewahrt hatte, möge angereist kommen und sich von den Fortschritten seines Sohnes überzeugen. Duschan war in den Monaten seit der Abreise von Wien ein hübsches Kind geworden; zwar war er immer noch klein und leicht von Gewicht, sein Gesichtchen aber zeigte nun regelmäßige und liebliche Züge, die an Paves schönes Antlitz erinnerten, und ein anmutiger Flaum von blonden Haaren bedeckte sein Köpfchen. Übrigens verzog die Amme ihren Säugling gründlich, hielt keine Ordnung in seinen Mahlzeiten und war stets bestrebt, ihn durch sofortiges Reichen der Brust oder durch endloses Schaukeln zufriedenzustellen, wenn er nur das kleinste Zeichen von Hunger oder Unlust gab. Frau Biba, die bei gelegentlichen Besuchen Zeugin dieser Erziehungsmethode geworden war, hatte Pave gewarnt und ihr geraten, die Amme zu größerer Genauigkeit und Strenge gegen den Kleinen zu zwingen.

»Sie erziehen sich einen Tyrannen, Frau Pave; er soll 206 schreien, bis er müde ist, morgen wird es besser sein«, hatte sie gesagt und Santa den Knaben mit kurzen, festen Bewegungen weggenommen. Wie das Pferd den geübten Reiter spürt und ihm augenblicklich gehorcht, so hatte wohl das Kind den Zugriff der klugen und strengen alten Mutterhände gefühlt, es war sogleich verstummt und hatte mit erstaunten und gefesselten Blicken in Frau Bibas großflächiges Gesicht geschaut. »Was hätte ich Ärmste mit meinen drei Mädchen getan, die so geschwind nacheinander gekommen sind, immer nach elf Monaten wieder eines! Und mein Mann, der Kindergeschrei nicht hören wollte! – Ich mußte sie mir zähmen, die kleinen Raubtiere, sonst hätten sie mich mit Haut und Haaren aufgefressen.«

Aber Pave und die Amme lächelten im stillen. Solche Rauheit schien ihnen wüste Barbarei, und so sehr Pave im übrigen geneigt war, Frau Biba in allen Stücken begeisterte Gefolgschaft zu leisten, so hatte sie für derlei Ansichten nur verständnislose Geringschätzung übrig. Frau Biba, die durch die Wände zu sehen imstande schien, hatte wohl bemerkt, daß ihre Ratschläge fruchtlos geblieben waren, und sie mischte sich nie wieder in Duschans Erziehung ein.

*

»Was schreibt er denn? Also, was schreibt er denn?« fragte Miho, als er an einem blauen Boranachmittag gegen Ende des Januar zwischen zwei Krankenbesuchen für einen Augenblick nach Hause gekommen war, und Pave, einen eben eingetroffenen Brief von Pero in der Hand, mit dem Ausruf »Ach, wie schrecklich!« verstörten Gesichts zu Bepis Nähplatz hintreten sah.

»Was er schreibt? Ach, der Arme! Schrecklich!« Pave konnte sich zu keiner anderen Auskunft als eben zu diesem »Schrecklich!« aufraffen, bis Bepi sie aufforderte, den Brief vorzulesen. Pave setzte sich an den Rand eines Stuhles, sie entfaltete das dünne bläuliche Blatt und während der Schwager rasch eine Tasse Kaffee leerte 207 und Bepi rastlos an einem Stück weißen Flanells nähte, las sie den Brief vor.

»Meine liebe Pavetta!

Du hast so lange nichts von mir gehört, daß du meinetwegen schon in großer Sorge sein wirst. Ich befinde mich wohl, was das Körperliche betrifft, war aber sehr mit Arbeit überlastet und habe überdies Mißhelligkeiten mit meinem Chef gehabt, die nun zu einer solchen Höhe gediehen sind, daß es mir vielleicht unmöglich werden wird, noch lange hier zu bleiben. Unsere Übersiedlung hierher war von allem Anfange an von Unbill begleitet und es scheint, daß auch die Zukunft nicht das bringen will, was wir erhofft haben. Ich denke daran, um meine Pensionierung anzusuchen, weil ich der Quälereien müde bin; die ich in der letzten Zeit erdulden mußte. Genug davon, alles wird sich zeigen.

Mehr denn je fühle ich mich hier in diesem Wirbel von Menschen vereinsamt, keiner kennt mich, nichts Gemeinsames verbindet mich mit ihnen. Überall nur Selbstsucht, Interessiertheit und jene Verstellung, die das Hauptmerkmal der heutigen zivilisierten Welt ausmacht, in der ich mit meinem geraden, rechtlichen Denken nicht weiterkommen kann. Also ist es wohl besser, sie zu meiden, als zugrunde zu gehen und mehr noch als das Leben zu verlieren: die Ehre und den Glauben an sich selbst.

Hier hatten wir am achten dieses Monats einen gewaltigen Orkan, der vielen Schaden brachte, Wagen umwarf und ein Stück Mauer von der Stephanskirche herabfegte. Im allgemeinen hat Wien viel Wind und die schönen Tage, an denen man ihn nicht zu fühlen bekommt, sind selten.

Seit kurzem haben wir Schnee, der ungefähr einen Fuß hoch liegt, und viele Schlitten hervorlockte, deren Glöckchen man den ganzen Tag hören kann. 208

Was die Angelegenheit des Bruders Eurer Hausfrau betrifft, der sich um einen Waffenpaß bewirbt, so kann ich leider zunächst nichts für ihn tun. Diese Dinge werden vom Ministerium des Innern erledigt, und ich habe noch niemand gefunden, der mir den Weg dahin eröffnen könnte.

Ich bin sehr glücklich, zu hören, daß es Euch allen gut geht, aber ich weiß nicht, ob sich diese gute Nachricht auch auf Deinen Husten bezieht. Schreibe mir nur immer darüber. Ich sehe nicht die Stunde, die mich wieder mit Euch vereinigen wird, jetzt, da mir Seelenruhe und Zufriedenheit mangeln, fühle ich doppelt die Bitternis unserer Trennung.

Von der Cholera hört man nichts mehr. Sei also ohne Sorge, so wie ich selbst ohne Furcht vor ihr bin.

Küsse mir vielmals meine Mädchen, besonders die gute Cotietta, die, wie Du sagst, immer in Deiner Nähe ist. Leb wohl, meine gute Paviza, grüße alle und behalte lieb

Deinen Pero.

Wien, am 25. I. 1855.«

Mihos gutmütig lächelndes Gesicht umwölkte sich, es wurde plötzlich vollkommen ernst und seine munteren braunen Augen sahen mit betrübter Neugierde zu Pave hin.

»Was meint er denn mit diesen Unannehmlichkeiten? Hat er sich schon früher schlecht mit dem General vertragen?«

»Ach ja! Schon damals in Wien hat er sich mehrmals beklagt. Der General ist pedantisch und sekkant, er behandelt Pero wie einem dummen Jungen, ihr könnt euch wohl denken, daß er es schwer erträgt.«

»Wer ist der General?«

»Ich glaube ein Pole oder Ruthene, er heißt Milczynski oder so ähnlich, ich kenne ihn nicht.«

»Armer Pero!« sagte Miho nachdenklich. »Ein pedantischer Vorgesetzter ist eine schlimme Sache. Aber er 209 nimmt sie sich, scheint mir, doch allzusehr zu Herzen. Wie sagt er? Mehr als das Leben, die Ehre verlieren und den Glauben an sich selbst! Er muß den Brief in exaltierter Stimmung geschrieben haben.«

»Bedenke doch, wer Pero ist«, fuhr Pave auf. »Er ist kein gewöhnlicher Offizier. Er arbeitet sich zu Tode für den Kaiser und für den Dienst, aber wenn so ein Alter ihn knechten und kuranzen will, das kann er nicht ertragen. Es empört ihn so, daß er ganz außer sich gerät.«

Da sie Pero verteidigen mußte, verstand Pave plötzlich, was ihr bisher zuweilen unbegreiflich gewesen war: daß keine Speise und kein Trank Pero so nötig und so unentbehrlich waren wie die Freiheit, nach der seine Seele hungerte und dürstete.

Bepi sah von ihrer Arbeit auf. »Er fühlt sich einsam, der Arme«, sagte sie. »Wie er die Cotia lieb hat. Er ist ein rührender Vater.«

»Ach ja, der Arme! Der Arme!« Ein weiter Abgrund war in Pave aufgerissen, in den aus allen Höhen und Tiefen ihrer Seele die Wasser des Mitleidens reißend strömten, um ihn mit einem Meer von Liebe auszufüllen. Nicht der Wunsch, zu gefallen und selbst geliebt zu werden, nicht die Wollust des Geschlechtes, noch die Bewunderung für Peros Dichtertum waren imstande gewesen, aus der stillen, gehemmten Pave eine große Liebende zu machen. Wie bei allen guten Frauen aber fachte das Mitleid verborgen brennendes, verschüttetes Feuer wieder an, sengende Flammen ergriffen sie, und sie wäre gern barfuß nach Wien gelaufen, um den Traurigen zu trösten. Miho, der schon wieder auf dem Sprung war, weiterzugehen, sagte aufstehend: »Pero soll nur keine Dummheiten machen. Eine Karriere ist bald verpatzt. Ich werde ihm heute abend schreiben.«

Die beiden Frauen sahen einander sprachlos an. Wenn Miho bereit war, einen Brief zu schreiben, dann war eine Sache ihm wahrhaft zu Herzen gegangen.

Auch Pave setzte sich augenblicklich nieder und schrieb. Alles, was sie an liebendem Trost, an 210 Begütigung und Rat ersinnen konnte, brachte sie, der Politik und Weltklugheit nur allzu ferne lagen, nun vor, um Pero zu beruhigen und von unvorsichtigen Schritten abzuhalten. Sie ermahnte ihn, dem General nach Möglichkeit um den Bart zu gehen, ihm ein wenig den Hof zu machen, auch wenn es ihm nicht vom Herzen komme. Sie, die sonst so leicht in Rat- und Trostlosigkeit verfiel, für die Pero stets der herrisch Leuchtende war, der keiner Stärkung und Linderung bedurfte, nun, da sie wußte, daß er litt, wurden ihr die Gaben des Rates und Trostes zuteil, Sie verwies ihn darauf, daß er in berechtigt beleidigtem Stolz den Tatbestand möglicherweise überschätze, sie bat ihn, auszuharren und ein wenig Geduld zu haben, der Herr General werde gewiß mit der Zeit Peros wahren Wert erkennen lernen. Was würde geschehen, wenn er sich um eine Abkommandierung bewürbe? Er käme zurück zum Regiment. Würde er das den Seinen bei der dauernden Kriegsgefahr antun wollen? Würde er wünschen, daß sie litte wie im vergangenen Jahre oder gar wie im Sommer des Jahres Achtundvierzig, als sie in Ragusa eine lange Reihe qualvoller Tage in einer verzweifelten Unsicherheit hinbringen mußte, deren sie sich noch jetzt mit dem äußersten Grauen erinnerte? Würde aber anderseits sein Ansuchen um Pensionierung in der heutigen kriegerischen Zeit nicht sehr ungern gesehen werden und ihm die Ungnade höchster Stellen zuziehen? Sie versicherte Pero, daß ihre Gesundheit die besten Fortschritte mache und daß sie gewiß imstande wäre, die Reise nach Wien zu unternehmen, falls er in seiner augenblicklichen trüben Verfassung ihre Anwesenheit und Gesellschaft wünschen sollte. Sie riet ihm, sich an den Banus Jellačić zu wenden, der seinen ehemaligen Adjutanten gewiß kräftig unterstützen werde, und sie bat endlich flehentlich um baldige, recht baldige Nachricht.

Tief in der Nacht, als sie schon mehrere Stunden geschlafen hatte, fuhr sie plötzlich auf. Obwohl sie hell wach war und durchaus nicht mehr träumte, sah sie 211 Pero bildhaft deutlich vor sich. Sie sah ihn allein durch die endlosen Straßen von Wien wandern, immer weiter, immer weiter. Er bog um Ecken und verlor sich in Durchhäusern, dann entdeckte sie ihn wieder, wie er einsam und stetig seinen Weg fortsetzte. Auf seinem Gesicht lag eine tiefe, trotzige Traurigkeit, es trug jenen Ausdruck zornigen Unmutes, den sie so sehr fürchtete. Sein Mund war zusammengepreßt, um seine Schläfen spielte es wie Krampf und seine Hände, sie sah es mit Schrecken, waren geballt. Er ging und ging und endlich sah sie ihn die Florianigasse hinanschreiten, die Treppe emporsteigen und in seinem öden Zimmer landen. Weh schnürte ihr die Kehle zu, sie setzte sich in ihrem Bett auf, umspannte die Knie mit den Armen und ein schwacher Jammerlaut, vor dem sie, so leise er war, zusammenschrak, entfuhr ihrem Mund. Wie konnte sie ihm denn helfen, ihm, der da so einsam ging und litt! Nie mehr wollte sie ihm Leid zufügen, ach, nie mehr! Ihre schwache, armselige Natur wollte sie bekämpfen, alle ihre Kräfte wollte sie üben und spannen, damit sie jede Unbill von Pero forträumen, damit sie seine steile Dichterbahn frei, hell und froh gestalten konnte. Dieser Vorsatz, so kühn er war, gab ihr Trost. Sie sank zurück und entschlief bald tief und traumlos.

*

In jenem eben begonnenen Jahre 1855 war der Karneval kurz gewesen und die lustigen Tage seines Endes fielen noch in den Februar.

Am Faschingsonntag hatte Bepi das Mittagessen früher als gewöhnlich anberaumt. In fröhlicher Stimmung versammelte sich die Familie schon Schlag zwölf Uhr im Speisezimmer, wo Miro und Miliza mit erwartungsvollen Gesichtern bereits auf ihren Plätzen saßen. Sie waren als dalmatinische Bauersleute kostümiert, trugen über weitärmeligen, gestickten Hemden rote, mit Goldfäden ausgenähte Westen, Miros Beinchen staken in langen und 212 engen schwarzen Hosen, während Miliza ein in lauter schmale, scharf gebügelte Falten gelegtes dunkelblaues Röckchen trug, das zum guten Teil durch eine grell gestreifte, glatt aufliegende Schürze aus dicker Wollwebe bedeckt war. Runde rote schwarzbefranste Mützchen, die Pomi d'oro genannt werden, lagen auf der Kommode bereit. Cotia, die nicht kostümiert war, saß nach ihrer Gewohnheit still daneben und betrachtete die Pracht mit großen Augen.

Bepi trat an ihren Platz und begann die Suppe auszuteilen, während Pave neben Miliza stand und ihren Anzug zurechtzog und Miho sich lachend und händereibend neben seiner Frau niederließ. Sein Gedanke war es gewesen, die Kinder kostümiert in die Häuser der Bekannten zu führen, und er saß nun da und konnte den Beginn des Vergnügens nicht erwarten.

Während alle sich mit der heißen Reissuppe befaßten, kam Vizza mit fliegenden Haaren hereingestürzt und rief, es sei Besuch da, ob der Herr Doktor nicht herauskommen wolle. Aber ehe Miho sich noch erheben konnte, stand ein zartgebauter, dunkelhaariger Offizier mit Hauptmannssternen am Kragen im Türrahmen, verbeugte sich vielmals und rief lachend: »Guten Appetit!« Die ganze Tafelrunde bis auf die kleinen Mädchen, die verständnislos dreinstaunten, erhob sich mit freudigen Ausrufen, Miro stürzte mit dem Schrei »Der Onkel Toni ist da!« wie besessen auf den Ankömmling los, die Frauen breiteten lachend die Arme aus und riefen in glücklichem Tone: »Der Toni, der Toni!« Miho streckte dem Gast beide Hände entgegen und holte einen Stuhl für ihn herbei, und während Pave und Bepi ihn strahlend umarmten und küßten und Vizza Teller und Bestecke brachte, saßen Miliza und Cotia verschüchtert da und zupften die Mutter mit der Frage, wer denn das sei. »Ach, meine armen Mädchen, ihr kennt den Onkel Toni nicht!« rief Pave lachend. »Das ist doch mein und Tante Bepis lieber Bruder!« Sie lief nochmals zu dem Angekommenen und küßte ihn stürmisch auf beide Wangen. 213 Er umarmte sie und streichelte ihr Gesicht, mit der anderen Hand griff er nach Bepi, er zog Miro heran, tätschelte die kleinen Mädchen, blickte auf die kostümierten Kinder mit dem Ausruf: »Da merkt man gleich den Fasching!« und setzte sich endlich an der Seite seines Schwagers nieder, um nun ebenfalls Suppe zu löffeln. Dabei plauderte er fröhlich und unausgesetzt auf eine stille und freundliche Weise, er sah sich immer wieder im Kreise um und lachte jeden am Tisch glücklich an.

»Ah, meine Lieben, das ist mir also gelungen! Seht ihr, das freut mich so unbändig, daß ich nun hier bei euch sitzen kann. Ich hatte die ganze Fahrt lang geträumt und mir ausgemalt, daß ich am Faschingsonntag bei euch hereinspazieren würde, gerade wenn ihr anfangt, die Suppe zu essen. Wie groß deine Töchter geworden sind, Pave, die Kleine da lag in den Kissen, als ich euch vor zwei Jahren in Cremona besuchte. Und nun hast du ja einen Sohn bekommen! Und Miro, mein Freund, du bist nun wohl schon bald ein General, will mir scheinen.«

Pave wünschte zu wissen, ob ihr Bruder aus Mailand komme.

»Freilich, auf dem kürzesten Weg. Und ebenso direkt werde ich Dienstag früh zurück fahren, denn ich habe im ganzen knappe drei Tage Urlaub bekommen, nur gerade über das Faschingsende.«

Nun erhob sich allgemeines enttäuschtes Gejammer, die Schwestern und der Schwager bestürmten den Hauptmann, doch länger zu bleiben; Miro sprang auf, packte den Onkel am Arm und schrie, er lasse ihn nicht fort. Die kleinen Mädchen sahen scheu lächelnd und mit aufgerissenen Augen in den Tumult.

»Da kann man nichts machen, meine Lieben! Laßt uns froh sein, daß mir diese Eskapade gelungen ist. Bis gestern wußte ich nicht, ob ich den Urlaub erhalten würde, darum habe ich nicht geschrieben.«

Vizza, bei der Ehrgeiz und leidenschaftliche Hingabe an ihre Dienstgeber einander übersteigerten, eilte mit 214 vielen Schüsseln herbei und in ihrem mageren Gesicht stand der brennende Wunsch geschrieben, daß das sonntägliche Essen Gnade vor den Augen des zugereisten Gastes finden möge. Sie warf sprechende Blicke nach Bepi, die ihrerseits mit Feldherrnmiene das Aufgebot der Gerichte übersah und sich ans Vorlegen machte. Miho holte Wein herbei, und während man mit Genuß und Andacht aß und trank und mit den Gläsern anstieß, flogen Frage und Rede hin und wieder, ob man von den Geschwistern in Zara kürzlich Nachricht erhalten, wie es dem guten Valerio gehe, ob man über Adelaïde und ihre Familie in Ragusa Erfreuliches gehört habe und was für Nachrichten Pave von Pero erhalte. Dazwischen sah Toni immer wieder nach den Kindern hin, rief ihnen scherzende Worte zu und erkundigte sich schließlich nach der Bedeutung der Kostümierung. »Ihr sollt wohl Dalmatiner sein? Woher seid ihr denn? Aus Obrovazzo? Aus Canale? Oder von den Inseln? Ganz ohne weiteres kann man es euch nicht ansehen.« Die Kinder, die den Sinn dieser Frage nicht verstanden, blickten verlegen an ihren schönen Gewändern hinunter und dann hilfesuchend nach Miho. Dieser lachte.

»Ein wenig von allem ist dabei, so genau nehmen wir es nicht. Hier kann es auch niemand nachprüfen. Jetzt müssen wir übrigens bald aufbrechen. Zuerst wollten wir zu Frau Biba. – Vizza! Spring hinauf zur Padrona di Casa und frage, ob wir alle für einen Augenblick vorsprechen dürfen. Mein Schwager, der Herr Hauptmann aus Mailand, sei gekommen! Aber von den Kostümen sagst du nichts!«

Vizza lachte höchst verschmitzt und kam nach einer Minute mit der Botschaft wieder, Frau Biba erwarte die Gesellschaft mit Freuden und bitte zu einer Tasse schwarzen Kaffees. Hierüber jedoch zeigte sich Vizza sehr bestürzt. »Unser Kaffee war schon fertig! So ein guter!«

»Dann nehmen wir ihn mit!« rief Miho, dessen Unternehmungslust heute keine Grenzen kannte, und Vizza 215 mußte die Prozession, die die Treppe emporklomm, mit dem in ein Tuch eingeschlagenen Kaffeetopf beschließen. Oben verschwand sie mit viel Gelächter in der Zannonerschen Küche.

Den Kindern waren die runden roten Käppchen aufgesetzt und Henkelkörbchen mit Konfetti, den winzig kleinen bunten Gipskieseln, an den Arm gehängt worden, und Miho steckte seinem Söhnchen noch einen Dolch in den Gürtel. So gerüstet betraten sie Frau Bibas Stube und begannen sofort, diese sowie Carlotta mit Konfetti zu bewerfen. Die beiden Damen täuschten bedeutende Angst vor und wichen mit vorgehaltenen Armen und unter Schreckensrufen in den Hintergrund des Zimmers zurück. Miro zückte zum Überfluß noch seinen Dolch und drang mit großer Wut auf die Fliehenden ein, bis sein Vater ihn zurückrief und der gefährliche Überfall sich in allseitige freundschaftliche Begrüßung und Vorstellung des Hauptmannes auflöste. Nun erst begann Frau Biba die Kostüme der Kinder sachgemäß zu bewundern. Reizend seien sie, allerliebst über die Maßen. Ob die Damen sie eigens genäht hätten? – Ach nein, das meiste sei vorhanden gewesen, nur ein wenig geändert hätten sie daran. Cotia, die ungeschmückt dabei stand und den andern ihre Erfolge neidlos gönnte, durfte nun auf dem Knie der Hausfrau sitzen und ein Stückchen in Kaffee getauchten Zucker essen, Carlotta schepperte bei einer offenen Schranktür mit Blechschachteln und förderte Näschereien für die Kinder zutage, während die Erwachsenen im Kreise saßen und vergnügt den starken schwarzen Kaffee aus zierlichen bemalten Tassen tranken. Miho neckte Carlotta mit dem abwesenden Bräutigam, Pave fragte nach Bianca und erfuhr, daß diese ein Faulpelz sei und seit drei Wochen nicht geschrieben habe. Bepi schlug vor, die ganze Gesellschaft solle nach Oderzo fahren und Bianca überraschen. Es fiel Pave auf, daß Frau Biba Toni mit sehr förmlicher Höflichkeit und geringerer Wärme behandelte, als sie sonst jedwedem Lebewesen, ganz besonders aber allen Angehörigen ihrer von 216 ihr so hoch geschätzten Mieter entgegenbrachte. Als auf dem Umweg über die Cholera das Gespräch auf Mailand kam, wo die schreckliche Seuche nun endlich doch erloschen war, und Pave eine muntere Frage nach dem gesellschaftlichen Leben dort an den Bruder richtete, wurde sie mit Befremden gewahr, daß sowohl Frau Biba, als auch Toni ablehnende Mienen aufsetzten, und der Bruder die Rede unvermittelt auf die Kaiserin Eugenie brachte, die man wahrlich die schönste Frau von Europa nennen dürfe. Seine beiden Schwestern fielen ihm ins Wort. Die schönste Frau von Europa? Was ihm einfalle! Das sei doch ohne allen Zweifel die junge Kaiserin Elisabeth. Auch sei sie edel und hochherzig, Eugenie aber eine kokette und intrigante Person, was aus allem und jedem hervorgehe, das man über sie höre. Mit leisem Lächeln und mit einem Blick auf seinen Schwager gab Toni sich geschlagen. Miho mahnte nun zum Aufbruch, er müsse mit seinen beiden Masken noch andere Häuser überfallen.

Glühend vor Erregung zogen die Kinder mit ihm ab, Toni blieb bei den Schwestern, und man setzte sich in Bepis Speisezimmer an den schweren Eßtisch, über den nun eine dunkle gestickte Decke gebreitet war. Bepi begann sofort Strümpfe zu stopfen, und als Toni lächelnd sagte: »Wie fleißig du bist!« antwortete sie gleichmütig: »Erstens muß ich fleißig sein, sonst haben wir keine Strümpfe anzuziehen, und zweitens freut mich das Plaudern nicht, wenn ich keine Arbeit in Händen habe.« Sie sah den Bruder an:

»Du bist wie verjüngt, Toni. Das letztemal hast du schlecht ausgesehen, heute bist du so frisch und fein wie ein Leutnant!«

Die beiden Schwestern sahen dem Bruder ins Gesicht. Was war es für ein Glück, ihn wieder zu haben, den geliebten Toni, diesen freundlichen knabenhaften Bruder, der seinen Schwestern, wie auch die Jahre gingen, so viel zarte, schalkhafte Galanterie entgegenbrachte, der nicht aufhörte, ihnen freundliche und erfreuliche Dinge zu 217 sagen, ganz wie damals, da er als Kadettenschüler nach Zara heimgekommen war und den ritterlichen Beschützer der kleinen Mädchen abgegeben hatte.

Auch Pave hatte ihr Nähzeug geholt. Sie war bemüht, kirschrote Atlasschleifen auf zwei kleinen roten Filzhüten zu befestigen. Sie legte das Band zur Probe an die Kappen der Hüte und hielt sie begutachtend von sich fort, soweit ihr Arm reichte.

Der Bruder sah ihr belustigt zu. »Pave putzt ihre Töchter heraus! Du hast recht, es sind reizende Kinder. Wann aber werde ich deinen Sohn sehen?«

»Wenn er aufwacht, Toni! Danken wir Gott, daß er ruhig ist. Daß die Mädchen dir gefallen, freut mich. Pero ist ganz närrisch mit seinen Töchtern, besonders mit Cotia.«

»Auch hier in Motta sind alle Leute verliebt in die zwei kleinen Mädchen«, mischte Bepi sich ein. »Die Hausfrau würde sie am liebsten ganz bei sich behalten, so lieb hat sie die Kinder, und eine so strenge Frau sie sonst ist, Miliza und Cotia verwöhnt sie in jeder Weise.«

Toni lächelte. »Mit eurer Hausfrau ist, scheint's, nicht gut Kirschen essen, mir hat sie jedenfalls gleich ihre piemontesischen Krallen gewiesen.«

»Wieso piemontesisch? Sie ist eine Hiesige, die Familie soll immer im Venezianischen gewohnt haben.«

Nun lachte Toni auf seine stille Art. »So ist es nicht gemeint. Aber ihr Glaube, ihre Hoffnung und ihre Liebe sind, wie ich sehe, in Piemont. Für sie ist ein kaiserlicher Offizier, und gar einer aus Mailand, ein Gegenstand des Hasses. Oh, meine Guten, denkt ihr, ich kenne das nicht? Dieser kalte Haß, der ist in Mailand doch unser tägliches Brot. Denkt ihr, ich kenne das nicht, diese zurückhaltenden Blicke, den verhaltenen Hohn dieser kühl lächelnden Lippen, diese trotzige Haltung. Kennte ich sie nicht so gut, vielleicht wäre ich dann doch nicht ausgerechnet in den Tagen der Bälle und Feste aus Mailand geflüchtet.«

Ohne die letzte Bemerkung des Bruders zu beachten, 218 sagte Pave eifrig: »Was Frau Biba betrifft, so irrst du dich ganz sicher. Ich kann dir gar nicht sagen, Toni, wie gut und fürsorglich sie gegen mich ist. Denke dir, sie hat mir aus einem Seidenstoff, den sie liegen hatte, ein wunderschönes Kleid genäht, bloß weil sie fand, daß mir ein modernes Kleid fehlte, und ich bin doch auch eine Offiziersfrau.«

»Gleichviel, du bist eben eine Frau, dir gegenüber ist sie warmer Mensch, Schwester, Mutter, mir gegenüber aber ist sie Anhängerin von Cavour, Revolutionärin, Hasserin.«

»Ah, Cavour!« rief Pave, legte die fertig komponierte, mit Stecknadeln zusammengehaltene Schleife auf den Tisch und sah dem Bruder gespannt ins Gesicht. »Ah, Cavour! Von ihm haben sie doch damals bei Frau Bibas Abendgesellschaft so lang geredet.«

»Siehst du's! Cavour, das ist ihr Held, ihre Hoffnung, ihr Morgenstern. Von Cavour lassen sie sich auf die wilde Krim schicken, um im Bilde des russischen Sebastopol die Despotie zu bekämpfen, wie sie es nennen. Und dabei meinen sie Österreich.«

»Ach, Toni«, sagte Pave leise, »von allen diesen Sachen verstehe ich nichts. Wir in Dalmatien sind doch auch bei Österreich und wir wollen nicht weg von dort. Oder gibt es Leute, die weg wollen? Das Wichtige ist doch, daß man dort leben kann, wo man geboren ist, nicht? Daß man nicht in der Fremde wohnen muß, fremde Sprachen reden, fremde Bräuche mitmachen, fremde Speisen essen. Ob ein deutscher Kaiser oder ein italienischer König über einen herrscht, ist das nicht gleich?«

Toni lachte, er rückte nahe an die Schwester heran und legte seine Hand auf ihren Arm.

»Ja, ja, meine arme Pave, das sind schwierige Fragen. Du denkst an die Dinge, die einer Frau wichtig sind, und du hast recht. Ganz recht hast du. Du willst ein sicheres Heim, ein ruhiges Leben, du willst dich nicht von deinem Mann trennen und willst die Kinder friedlich aufwachsen sehen. Vielleicht ist es gut, vielleicht ist 219 es eine Rettung für uns Männer, wenn die Frauen, oder wenigstens viele von ihnen, so denken wie du.«

Er schwieg einen Augenblick, sah seine Schwester an, seufzte ein wenig und fuhr dann leise und eindringlich zu reden fort, wobei sein feines, schmales Gesicht einen gesammelten, aber gleichzeitig gequälten Ausdruck annahm:

»Siehst du, Pave« – er sprach nur zu dieser, denn die unermüdlich arbeitende Bepi beteiligte sich nicht am Gespräch –, »siehst du, Pave, ich bin nun drei Jahre in Mailand, und das Viele, das ich dort sehe, zwingt mich zum Nachdenken. Und zwar denke ich nicht nur über die Verhältnisse und über die Dinge nach, sondern auch, und vielleicht am allermeisten über mich selbst. Ich bin ein kaiserlicher Offizier. Wenn ich da so in Mailand herumgehe, dann habe ich immer das Gefühl, als wölbe sich über mir, unsichtbar, dort, wo der lombardische Himmel blaut, die alte, gewaltige und glorreiche Idee des österreichischen Staates. Unter meinen Füßen aber, verstehst du, Pave, da liegt braun und warm, greifbar und sichtbar die lombardische Erde. Jahrhundertelang hat die österreichische Idee die Völker des mittleren, südlichen und östlichen Europa zusammengefaßt und geführt: die Idee nämlich eines Reiches, in dem viele Völker, die sonst in Zwist und Armut und Schutzlosigkeit nebeneinander wohnen würden, gesichert beisammen leben können. Es ist eine heilige, eine ganz und gar glorreiche Idee, eine, für die zu sterben es wohl dafürstünde und für die auch viele, viele gestorben sind.«

Toni beugte sich näher zu ihr hin. »Die Völker aber, weißt du, Pave, die seit Jahrhunderten, so wie die verschiedenen Friedensschlüsse und Heiratsverträge sie zusammengeschweißt hatten, ruhig beieinander lebten, und die Vorherrschaft der Deutschen gern ertrugen, so wie Kinder das Regiment ihrer Eltern und ihrer Lehrer ertragen, sie sind nun gewissermaßen herangewachsen. Ich wenigstens deute es mir so. Was wir im Jahr Achtundvierzig überall erlebt haben, kam mir vor wie eine 220 gewaltsame eigene Mündigkeitserklärung der Völker, verstehst du, Pave? Sie sind in ein neues Lebensalter eingetreten, sie stehen unter dem Zeichen eines anderen Gestirnes. Sie wollen nun ihre eigenen Sprachen zu herrschenden Sprachen machen, und ihre Länder, die dem Kaiserreich eingegliedert sind, zu souveränen Staaten. Was gleichen Blutes ist, strebt zueinander. Ich sehe das alles ganz körperlich deutlich vor mir.«

Toni lehnte den Kopf einen Augenblick zurück. »Ach ja, meine Guten«, fuhr er mit eigentümlich vibrierender Stimme fort, »wenn man einsam ist und nicht sehr glücklich . . .«

Hier fielen ihm die Schwestern, die bisher achtungsvoll schweigend gelauscht hatten, leidenschaftlich ins Wort:

»Toni, Toni, warum bist du nicht glücklich? Lieber guter Toni, sag es uns! Was fehlt dir?«

Beide ließen ihre Handarbeiten fahren, sie ergriffen Tonis Hände, streichelten sie, und ihre warmen, liebevollen Frauenstimmen forschten zitternd vor Mitgefühl nach dem Kummer des Bruders.

Er lächelte sein freundliches Lächeln und sagte ruhig:

»Ihr guten Kinder, betrübt euch nicht um meinetwillen. Es ist nicht so wichtig, ob ein Mensch glücklich ist oder nicht, und Erkenntnis, das weiß ich schon lang, kommt nur aus Leid und Entbehrung. Aber laßt mich weiterreden. Es tut gut, hier bei euch in dem stillen Zimmer, während ihr näht und mir zuhört, das auszusprechen, was ich sonst vor mich hindenke, ohne es jemand mitzuteilen.«

Gespannt blickten die Schwestern auf ihn.

»Ich wollte vorhin sagen, daß jemandem, der, so wie ich, viel allein ist, Dinge deutlich werden können, die ein andrer vielleicht nicht sieht und fühlt; besonders dann, wenn das persönliche Schicksal mit dem allgemeinen Hand in Hand geht. Wenn zum Beispiel ein kaiserlicher Offizier ein Mädchen aus der guten Mailänder Gesellschaft lieben würde, sehr lieben, begreift ihr, und 221 er wüßte mit jedem Tage deutlicher, daß seine Liebe ganz ohne Hoffnung ist, weil eine vornehme Mailänderin, wie die Dinge heute liegen, niemals die Werbung eines Österreichers annehmen wird; dann wird sich dieser Offizier vielleicht so lange fragen, warum kann ich die nicht erreichen, die mir mehr als alles auf der Welt bedeutet, bis er eine Antwort gefunden hat. Denn die scharfen und hellen Gedanken, die kommen ja aus der Qual des Herzens. Und die Antwort wird eben diese sein, daß ein kaiserlicher Offizier in Mailand heute der Vertreter jener alten und weisen Idee ist, eine Mailänder Frau aber die Vertreterin des neuen, starken, heißen Gefühls, das von dem Alten nichts mehr wissen will.«

Toni seufzte tief auf. »Ja; dann sage ich mir selbst, die Zeit des übernationalen Reichsgedankens ist eben vorbei, und die Zeit des Nationalgefühls ist gekommen. In der Zucht und im Schutz unseres Reiches haben die Völker ihre Kinderstuben gehabt, nun wollen sie ihr Jünglingsalter in der Sonne ihres Freiheitsgefühls verleben. Und ich ahne, daß ihr Gefühl mit der Zeit so stark werden wird, daß es unser Vielvölkerreich, unseren Kaiserstaat und den Gedanken, den er verkörpert, zertrümmern wird. Ich fürchte es, und ich glaube es sicher. Aber, wißt ihr, ich frage mich oft, ob die Völker sich nicht später, in der Zeit ihrer Mannbarkeit, doch wieder irgendwie zusammenschließen werden? Dann wird dieses unser Österrreich, so wie wir es heute kennen, nicht mehr leben, aber ein neues Reich, oder wie die Form dann heißen mag, wird die vielen wieder vereinigen, weil sie es nützlich finden werden, beisammenzusein. Heute will das neue, warme Gefühl sein Recht, aber, wer weiß, in hundert oder in zweihundert Jahren wird der alte glorreiche Gedanke seine Kraft wiedergewinnen.«

»Was für ein Prophet du bist«, sagte Bepi bewundernd.

»Propheten sind immer dort erstanden, wo Leid und Liebe war. Schau, Pave, wir sind doch Italiener, und ich, sieh mich an, ich fühle mich trotzdem als Österreicher und spreche deutsch womöglich besser als meine 222 Muttersprache. Vielleicht, weil ich als kleiner Bub schon in die Kadettenschule gekommen bin, vielleicht ist es deshalb, daß ich jetzt deutsch nicht nur spreche, sondern auch denke, und daß ich dieses ganze große kaiserliche Reich als mein Vaterland empfinde.« Er sah die Schwestern lange an. »Ja, ich habe es lieb, unser Österreich. Aber ich liebe auch die Frau, warum soll ich es euch nicht beichten. Obwohl ich weiß, daß sie mir nicht bestimmt ist, gerade weil ich ein Österreicher bin und sie eine Mailänderin. Aus dieser doppelten Liebe heraus, begreift ihr es nun, sehe ich mehr als andere.«

Plötzlich unterbrach er sich:

»Ach, die alte Schere!« sagte er und griff in Paves Nähkram. »Die Kronenschere! Ich habe manchmal daran gedacht, wer sie bekommen haben mag, als Mama nicht mehr lebte.«

Er betrachtete das zarte Ding. Eine kleine Schere mit sehr kurzen Klingen, deren Ohren geschlossen eine Königskrone bildeten. »Die Kronenschere! Immer lag sie auf Mamas Nähtisch. Wißt ihr noch, was sie uns darüber erzählte?«

»Daß sie der armen Königin Marie-Antoinette gehört hat«, sagte Pave. »Wie oft hat sie uns das gesagt. Mir schauderte immer beim Gedanken, daß sie die kleine Schere vielleicht während der Gefangenschaft im Temple bei sich gehabt hat.« Pave ergriff sie und bewegte sie in der Luft, als zerschnitte sie etwas. »Ich möchte sie nie verlieren, und wenn ich tot bin, soll Miliza sie bekommen!«

*

Bepi erhob sich und ging in die Küche, um für sich und die Geschwister Kaffee zu kochen. Sie hatte Vizza, die darauf brannte, ein wenig von dem Karnevalstreiben zu sehen, fortgeschickt, und auch Santa hatte von Pave Urlaub erhalten, da ihr Mann zum Faschingsonntag nach Motta gekommen war.

Pave blieb allein mit dem Bruder in dem dämmerigen 223 Speisezimmer. Sie weidete ihre Augen an seinem geliebten, langentbehrten Gesicht, sie sah die zartgebogene lateinische Nase, die nahe beieinandersitzenden dunklen Augen, den feingezeichneten schmalen Mund. Sie hatte immer gefunden, daß Toni von all den vielen Geschwistern der hübscheste war. Schüchtern sagte sie:

»Bist du auch ein Dichter, Toni, so wie Pero, weil du alles, was du denkst, so schön und klug aussprechen kannst?«

»Nein, Pave, das bin ich nicht. Ein nachdenklicher Mensch, sonst nichts.«

»Und wer ist sie? Willst du es mir nicht sagen?«

»Was tut ein Name, Pave? Sie ist ein schönes Mädchen, ein stolzes Mädchen, ein Mädchen, das ich nicht erringen kann. Laß es dir daran genügen. Ihr Name würde dir nichts bedeuten, du würdest ihn nie wieder hören, und ich, siehst du, ich nenne ihn ungern eitel.«

»Das heißt du eitel nennen, wenn du deiner Schwester den Namen des Mädchens sagt, das du gern hast?«

Pave senkte traurig und ein wenig schmollend das Haupt, so daß die dunklen Schmachtlocken ihr quer über die Wangen bis zum Mund hingen. Toni rückte seinen Stuhl, ohne aufzustehen, dicht neben den ihren, legte seinen Arm in den seiner Schwester und sagte mit seiner dunklen, stillen Stimme:

»Sei nicht bös, Pave! Und nenne mich einen Narren, wenn du willst. Aber, siehst du, wenn es einem Mann, der über die Mitte der Dreißig hinaus ist, widerfährt, daß er in einer Frau die Krone und Vollendung seines Lebens sehen muß, wenn er sie für die einzige hält, mit der es für ihn einen Sinn hätte zu leben, eine Familie zu gründen, Kinder zu haben, und wenn er nun diese Frau nicht erreichen kann, dann schlägt gewissermaßen eine Tür in ihm zu. Er ist deshalb vielleicht nicht unglücklich, aber er muß nun einen neuen Weg gehen, einen Weg, auf dem es solche Dinge wie ein menschlich warmes Leben nicht gibt. Und die Träume, die Bilder, die Namen aus jenem verlorenen Paradies, die sind ihm 224 entrückt und unantastbar geworden, er will nicht mehr mit ihnen umgehen wie mit alltäglichen Dingen, da sie ihm ja nicht vertraut und alltäglich werden durften,«

»Ach, Toni, du wirst andere Mädchen treffen und deine Mailänderin vergessen!«

»Ihr habt mir vorhin die Ehre erwiesen, mich einen Propheten zu nennen, trotzdem kann ich nicht in die Zukunft schauen. Vielleicht finde ich noch einmal eine Frau, bei der es mir möglich scheint, um ihretwillen die Last des Zusammenlebens, die Mühsal eines Offiziershaushaltes auf mich zu nehmen; aber ich glaube es nicht. Soweit kennt man sich doch in meinem Alter. Ich bin nicht leicht entzündlich, wie so viele es sind, ich habe einmal hell gebrannt, von dieser Flamme ist alles, was in mir Feuer fangen konnte, aufgezehrt worden. Vielleicht ist das ein Armutszeugnis für meine Natur, aber ich kann mich nicht ändern.«

Pave dachte eben nach, wie sie Peros rasch zur Begeisterung erweckte, große Natur und etwa auch die leidenschaftlichen Bekenntnisse und Beteuerungen Herrn Lorenzonis mit der abgeklärten Beichte des Bruders in Vergleich und Einklang bringen könnte, als von außerhalb des Zimmers plötzlich ein lautes und dumpfes Pochen hörbar wurde. Es klang so, als schlügen mehrere Fäuste gleichzeitig wütend gegen eine Holzwand. Pave erschrak heftig und fuhr zusammen.

»Gott, was ist das? Wie unheimlich das klingt!«

Erblassend sprang sie auf und eilte in das kleine Vorzimmer.

Draußen war der Lärm noch deutlicher zu hören. Es war klar, daß jemand einlaßbegehrend an die Wohnungstür schlug. Pave riß die Schlüssel von dem Nagel neben der Tür und öffnete, worauf Miho und die kostümierten Kinder hastig eindrangen.

»Ach, ihr seid es. Ich bin so erschrocken!«

»Was ist denn mit dem Glockenzug? Ist er gerissen? Wir stehen eine Viertelstunde vor der Tür und können nicht hinein.« 225

Mihos mittägliche gute Laune schien dahin zu sein, er machte ein verärgertes und besorgtes Gesicht, während die Kinder freudig erregt, aber müde schienen und mit ermatteten kleinen Schrittchen in die Wohnung hineintrabten. In ihren Henkelkörbchen befanden sich durchaus keine Konfetti mehr, dafür waren sie mit buntgewickelten Bonbons und allerhand Kuchenzeug gefüllt.

»Schau, Mau, was ich bekommen habe. Aber ich werde Cotia die Hälfte geben.« Miliza strahlte und erzählte, alle Leute, bei denen sie gewesen wären, hätten sie und Miho sehr bewundert, und auch auf der Straße habe jeder gefragt, wer die schönen Masken seien.

Bepi kam mit heißer Milch für die Kinder und mit dem frischgekochten Nachmittagskaffee aus der Küche.

»Was hast du, Miho, du siehst so verdrießlich aus«, fragte sie ihren Gatten, als alle um den Eßtisch versammelt waren.

»Ach!« machte der sonst so friedfertige Miho und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. »Erstens steht man eine Viertelstunde frierend auf der Treppe, und niemand macht auf, weil dieser verfluchte Klingelzug wieder einmal gerissen ist. Und dann« – er redete leiser –, »wir waren auch bei der Marietta Zannoner oben, dort in dem alten Winkelwerk gegenüber der Post. Ich wollte der guten Haut die Freude machen. Hätte ich es lieber nicht getan! Die Nachricht vom Erscheinen der maskierten Kinder hatte sich im Nu verbreitet, und bei unserem Weggehen standen auf der engen Treppe die vielen Kinder des Schneiders Saccon und husteten um die Wette, gerade den unseren ins Gesicht hinein.«

»Nun, und ist das so schlimm?« Bepi war entschlossen, sich nicht aufzuregen.

»Freilich ist es schlimm, weil sie nämlich den Keuchhusten haben. Ich habe die ganze schmutzige Bagage sofort weggescheucht, aber das Unglück kann schon geschehen sein. Der Keuchhusten ist furchtbar ansteckend, sogar im Freien, geschweige denn auf der stickigen Treppe. Wenn dann in ein paar Tagen die unseren zu 226 husten anfangen, werden sie Cotia und den kleinen Duschan anstecken, und wir können uns auf zwei bis drei Monate Gekeuche und Gespeie gefaßt machen.«

»Krächze doch nicht so«, sagte Bepi, die den Kaffee eingegossen und das weiße Brot in gleichmäßige Scheiben geschnitten hatte. »Krächze doch nicht so! Wirklich, Miho, du ärgerst mich, wie kann man nur immer gleich das Schlimmste erwarten und annehmen? Du solltest mit Pave ein Kompaniegeschäft anfangen.«

Zu Toni gewendet fuhr sie fort: »Pave sorgt sich nämlich Tag und Nacht wegen unsinniger Dinge. Schreibt ihr Pero zwei Tage nicht . . .«

»Zwei Tage!« warf Pave bitter ein.

». . . so glaubt sie schon, er hat die Cholera.« Worauf Toni jedoch Bepi den Wind aus den Segeln nahm und gelassen einwarf:

»Es sind auch genug Menschen an der Cholera gestorben.«

Pave dankte dem Bruder mit einem Blick für den Beistand und sagte zu Miho:

»Wie ich vorhin euer Klopfen hörte, bin ich so erschrocken, als ob der Tod draußen stünde.«

Nun aber wurde es wieder Miho zu bunt.

»Entschuldige, Pave, das ist zu überspannt! Wer wird vom Tod und solchen Albernheiten reden! Soll man sich aber nicht über das blitzdumme Volk ärgern, das durchaus nicht begreifen will, daß es ansteckende Krankheiten gibt! Wir Ärzte reden uns die Lunge heraus, warnen und geben Vorschriften; Herr Saccon und Konsorten aber geruhen nicht, es zur Kenntnis zu nehmen, unterlassen die Anzeige und bringen andere in Gefahr.«

Um das Gespräch in neue Bahnen zu lenken, sagte Toni zu Pave, sie habe ihm noch nicht ein Wort über Pero erzählt. Er selbst habe im Laufe der letzten Monate einige kurze Briefe von ihm erhalten, und diese hätten den Eindruck erweckt, als fühle sich Pero in seiner dienstlichen Verwendung in Wien nicht durchaus glücklich.

Die Schwestern und Miho überboten sich nun in 227 lebhaftem Durcheinanderreden, die Sache mit dem General darzulegen. Pave erzählte erregt von Peros Verzweiflung, die sich zwar, nach den letzten Briefen zu schließen, etwas gelegt hatte, aber wie sie Pero kenne, im Grunde seiner Seele gewiß noch vorhanden war.

»Wenn du wüßtest, Toni, wie qualvoll mir das ist, zu denken, daß Pero alles Traurige und Verdrießliche allein tragen muß! Und ich bin hier und lasse es mir wohl sein!«

»Ob Pero diese Sache nicht zu schwer nimmt?« meinte Toni ruhig. »Lästige Vorgesetzte wird es allezeit geben. Wenn man sich das immer gleich an die Ehre gehen ließe!«

»Absolut meine Meinung!« Miho setzte sich lebhaft zurecht. »Habe ihm das auch geschrieben. Der General wird an der Galle leiden und seine Launen an den Untergebenen auslassen, das ist alles! Man kann es in den heutigen Zeiten einem alten Militär nicht übelnehmen, wenn er verbraucht und schlechter Laune ist.«

»Müßtest du an Peros Statt dort sitzen, Miho, dann würdest du vielleicht anders reden.« Pave sah gekränkt auf ihre gefalteten Hände hinab.

Bepi kam der Schwester zu Hilfe. »Pave härmt sich doch auch so, weil sie weiß, daß Pero von diesem lästigen, griesgrämigen Tyrannen nicht nach Verdienst gewertet wird. Ihr Männer könnt euch das nicht vorstellen, was eine Frau leidet, wenn sie ihren Mann gedemütigt und herabgesetzt glaubt.«

Miho sah seine Frau aufmerksam an. »Woher kann sie das wissen? dachte er. Bin ich denn jemals gedemütigt und herabgesetzt worden?

Pave aber fiel der Schwester fast erbittert ins Wort: »Es handelt sich doch nicht darum, ob ich leide oder nicht. Um Pero handelt es sich. Er mit seinem Genie könnte sie alle in die Tasche stecken und muß um des lieben Brotes willen seinen Rücken beugen!«

»Alles wird besser werden, Pavetta«, sagte Toni kosend. »Und jetzt wird getanzt, wozu ist Faschingsonntag! 228 Her mit euch, Miro, Miliza! Ich singe euch einen schönen Walzer vor, und ihr tanzt danach, aber schön!«

Toni begann mit starker, klangvoller Stimme den Bajaderenwalzer zu singen, Pave und Bepi stimmten ein, und die Kinder umfaßten einander und drehten sich verlegen und glücklich im Kreise. Cotia erwachte von dem Lärm, steckte ihren wirren Lockenkopf durch die Tür und wollte auch tanzen, worauf Pave sie auf den Arm nahm und mit ihr herumwirbelte, bis sie erschöpft auf einen Stuhl, fiel.

*

Als die Geschwister am Montagabend schon in Abschiedsstimmung beisammensaßen und Miho dem Schwager zu Ehren einer Chiantiflasche den Hals gebrochen hatte, fing Toni plötzlich an, von Lukoran zu reden. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte den Kopf in den Nacken, sah ein wenig starr mit einem verlorenen Lächeln nach der Decke und fragte Bepi und Miho, die als letzte dort gewesen waren, leise, was es in Haus und Garten für Veränderungen gebe; ob die Oleanderbüsche am Südende des Parks gut gediehen seien? Damals, vor fünf Jahren, bei seinem letzten Besuch in Lukoran, hätten sie Valerio Sorgen gemacht. Und die große Föhre an der Ostmauer, die habe man doch nicht etwa umgehauen? Bepi entsetzte sich. Bewahre, nein, wer würde so etwas tun! Das sei doch beinahe der schönste Baum im ganzen Garten.

Der schönste?! Darüber ließe sich streiten. Die Steineichen ganz hinten seien doch prächtig und dann die Ölbäume.

»Aber die große Föhre ist nun ein berühmter Baum«, meinte Miho. »Unter ihr sitzend hat doch Pero viele seiner schönsten Gedichte geschrieben, die heute, nach elf Jahren, alle kroatischen Spatzen von den Dächern pfeifen und die jedes Kind in Kroatien und Dalmatien auswendig weiß.«

Pave glühte vor Freude. Ach, damals, wie war es 229 damals schön gewesen! Könnte sie sich doch noch einmal so flügelleicht fühlen wie in jenen Tagen, so ihrer Jugend und Schönheit bewußt . . . Plötzlich glaubte sie, die linde Sommerbrise zu fühlen, die frisch und salzig vom Meer her in den Garten gestrichen kam, sie meinte, das weiße Kleid zu spüren, das mit gefältelten Krägelchen und Rüschen ihren Mädchenleib umhüllt hatte. Sie sah sich in einer Hängematte liegen und nach Pero hinblicken, der, ein junger Leutnant, auf der Steinbank saß, die den Stamm der Föhre rund umlief. Obgleich er sie liebte, was sie gewiß wußte, und obgleich er nur ihretwegen von Zara nach Lukoran herübergesegelt war, schien er sie im Augenblick vergessen zu haben. Er sah über das Mäuerchen weg auf das Wasser, das voll Fischgeruch in kleinen Wellen an die algenbewachsenen Steine des dem Garten vorgelagerten schmalen Uferstreifens schlug. Manchmal hob er seine feurigen, jungen Augen zu dem unersättlich blauenden Himmel auf, der zwischen den Nadeln der Föhre sichtbar war. Sein Gesicht trug den Ausdruck einer vollkommenen Sammlung, einen Ausdruck, den sie es in den Jahren ihrer Ehe und Wanderschaft immer wieder zuweilen hatte annehmen sehen. Ob es nun in einer der gleichgültigen Stuben gewesen war, darin sie nacheinander gewohnt hatten, oder in einem rumpelnden Reisewagen, oder in dem friedlichen Garten von Karansebes. Es war ein Ausdruck, der Schweigen gebot, der die Umgebung weit fortrückte, der einen Ring von Einsamkeit um Pero legte und alle Menschen, auch die geliebte Pave, ausschloß. Es war Peros eigentliches Antlitz, das wußte sie heute. Es war sein Dichterantlitz, während all seine anderen Gesichter, das des Liebenden, das des Vaters, das des Offiziers, nur Masken waren, die er vorband. Damals, da sie selbst in der Hängematte gelegen und er unter der Föhre gesessen hatte, wußte sie dies freilich noch nicht. Damals dachte sie, das flammende Gesicht des Liebenden sei sein wahres und dies verschlossene, das nicht ausstrahlte, sondern die ganze Welt einsog, sei nur ein bewundernswert fremdes, gelegentlich auflebendes. 230

Leise war ihre Hängematte hin und her geschwankt, während sie dalag und darauf wartete, Pero werde erwachen, zu ihr hintreten, sie mit den Blicken verschlingen und das Wort sagen, das sie aneinander binden sollte und das noch nicht gesprochen war. Aber er war nicht gekommen. Er war eine endlos lange Zeit still gesessen, sie erinnerte sich dessen so genau, denn es hatte sie geschmerzt und befremdet; endlich hatte er ein Heft aus der Tasche gezogen und mit der Bleifeder zu schreiben begonnen. Sie sah ihn schreiben, ausstreichen und wieder schreiben und dabei hin und wieder mit den Lippen ein Wort formen. Schließlich hatte er sich erhoben und war, ohne zu ihr hinzutreten oder sie anzurufen, in den Hintergrund des Parks gegangen, hatte sich dort in der herb riechenden Wildnis auf die rote, sommertrockene Erde mitten unter die Myrtenbüsche und Mäusedornsträucher gesetzt und das eben Geschriebene laut vor sich hingelesen. Er mußte es wieder und wieder gelesen haben, dazwischen abermals schreibend und durchstreichend, denn es hatte lange gedauert, bis er wieder zum Vorschein gekommen war. Pave hatte ihn von ferne beobachtet, bis die Mutter sie ins Haus rief. Beim Abendessen erst hatte Pero sich wieder gezeigt; er war glücklich und aufgeräumt gewesen und hatte verkündet, daß ihm heute ein großer Wurf gelungen war. Ein Gedicht, würdig, im ersten Heft der Zeitschrift, die er mit einigen Gleichgesinnten als einen Mahner und Weckrufer zu gründen im Begriffe war, auf der vordersten Seite zu stehen und ihrer aller Hoffnungen, ihrer aller heiligen Willen auszusprechen. Und er hatte das Weinglas in der einen, das vollgekritzelte Blatt in der anderen Hand, glückselig das Lied vom Morgenrot herausgeschmettert, vom Morgenrot, das die Nacht vertreibt, von des Ahnen Gusla, die neu zu klingen anfängt, und von der Vila, die dem Slawenvolke Auferstehung zuwinkt.

Dann war die Entrückung aus seinen Zügen gewichen. Und sie, Pave, wohnte wieder in der Mitte seines Herzens. Er war an jenem Abend von einer hinreißenden und 231 bezaubernden geistigen Berauschtheit gewesen, so daß alle, die Mutter, die Brüder und Schwestern, von dem Gast berückt gewesen waren und sie, von der alle wußten, daß sie die Erkorene des Begnadeten war, beneidet hatten . . .

Ach ja, damals, wie war es damals schön gewesen! Pave holte sich aus ihrer Verlorenheit zurück, sie hörte die Geschwister mit Miho reden, sie sprachen jetzt von den Nachbarn in Lukoran, von den Lantanas, deren schönes Haus auf der anderen Seite des kleinen Hafens ein wenig in der Höhe lag und mit denen man eine so gute Freundschaft gehalten hatte. Und nun fragte Toni, ob der böse Bauer noch immer das Anwesen nebenan besitze. Ja, sagte Bepi, und er sei noch viel böser geworden. Vor zwei Jahren, als sie zum letztenmal dort waren, habe er seine Schwiegertochter mit einem Säugling auf dem Arm aus dem Hause gejagt, weil er Streit mit dem Sohne gehabt und die Frau und das Kind nicht länger erhalten wollte. Man hatte das laute Weinen der jungen Frau bis zu ihnen herübergehört. Die Schwiegertochter sei aber auch ihr Geld wert gewesen, ein liederliches Ding, meinte Bepi; und Toni sagte, es sei traurig, daß man in Lukoran in dem unvergleichlich lieben und schönen Hause so böse Menschen zu Nachbarn habe.

»Acht Jahre sind es her, daß ich nicht mehr dort war«, sagte Pave. »Wißt ihr noch, wie wir auf der Überfahrt im Trabakel unsere Merkpunkte hatten, die uns anzeigten, wenn die halbe Fahrt vorbei war? Ach, und wißt ihr's noch, wie wir zu Sommeranfang die Oleanderbäume aus dem Stadthaus nach Lukoran überführten, weil sie es drüben besser hatten, und wie wir dann im Schatten eines Oleanderwäldchens die Überfahrt machten? Ich sehe noch unsere Giovanna vor mir, wie sie, einen Oleanderbaum im riesigen Holztopf auf dem Kopfe tragend, durch die Calle larga in Zara zum Hafen schritt und sich in den Hüften wiegte.«

Alle mußten lachen, als sie sich daran erinnerten.

»Wie gut du alles weißt!« sagte Toni. 232

»Es war ja doch die Heimat«, entgegnete Pave leise. –

Als sie dann zu Bett ging, fiel es ihr schwer, zu begreifen, daß dies alles so fern war, und daß wirklich acht Jahre vergangen sein sollten, seit sie das letztemal an der Riva in Zara das Trabakel zur Überfahrt bestiegen und ihr Haar vom Meerwind hatte zausen lassen, seit sie in Lukoran beim Abendlicht auf die Hügel gewandert war, auf denen es so würzig nach Myrte und Thymian roch, wie sonst nirgends auf der Welt, und seit sie die vielgegliederte Insel unter sich hatte liegen sehen und den Ruf der Fischer gehört hatte, die zum nächtlichen Fang ausfuhren. Eine Sehnsucht, die ihr das Herz zerbrechen wollte, erfaßte sie nach dem Land ihrer Kindheit, sie preßte die Hände auf der Brust zusammen, und als ihr einfiel, daß ihre kleinen Töchter noch nie in Lukoran die Steintreppe emporgestiegen waren, noch nie den Geruch der alten Zimmer gespürt hatten, mußte sie die Zähne zusammenbeißen, um das Weinen zu verhalten.

*

Als Toni am nächsten Morgen in aller Frühe abreiste, standen seine beiden Schwestern abschiednehmend an der Wohnungstüre. Pave küßte den Bruder viele Male, sie streichelte sein schmales Gesicht und den Ärmel seines Uniformmantels, sie legte ihre Stirne auf seine Schulter und sagte mit vor Leid verdunkelter Stimme:

»Komm bald wieder, Toni! Wir sind doch Geschwister. Ist es nicht schrecklich, daß man das ganze Leben fern voneinander hinbringt?«

Er sah sie bewegt an: »Eh du nach Wien zurückgehst, komme ich sicher noch einmal. Ganz sicher. Wann wirst du heimkehren?«

»Sobald ich gesund bin und man Duschan entwöhnen kann. Zu Beginn des Sommers, hoffe ich.«

Toni ging die Treppe hinab. Titta Palamin, Mihos Pferdebursche, ein brauner und fröhlicher Junge mit dichtem Kraushaar, trug das Köfferchen des Herrn 233 Hauptmanns zum Posthause, die beiden Frauen und die Kinder eilten an die Fenster der Vorderfront und sahen alsbald Toni aus dem Hause treten und die Straße hinabeilen.

»Addio, Toni!« rief Bepi. Die Kinder, die bloßfüßig aus den Betten gesprungen waren, winkten mit weißen Tüchern, Toni legte die Hand an den Kappenschirm und grüßte herauf. Pave lehnte am Fensterrahmen und trocknete sich die Augen.

»Du bist so untröstlich, als wäre Toni dein Mann«, sagte Bepi verwundert.

»Ich weiß es selbst nicht, warum es mir so schwer wird, ihn gehen zu lassen«, entgegnete Pave und bemühte sich, ihre immer neu aufsteigenden Tränen hinunterzuschlucken. »Er ist ein so guter Bruder, ein so lieber. Wer weiß, wann man sich wiedersieht!«

»Er hat doch gesagt, daß er noch einmal kommen wird, solange du hier bist. Kinder, marsch in die Betten und artig die Strümpfe angezogen! Komm, Pave, und tröste dich! Sei froh, daß Toni hier war, und weine jetzt nicht wegen seiner Abreise. Wird Pero nicht nervös, wenn du alles so schwer nimmst?«

»Manchmal schon. Aber was willst du! Niemand kann aus seiner Haut heraus. Glaubst du vielleicht, ich wäre nicht lieber munter und mutig, wie Frau Biba, oder so gelassen wie du? Ich bin immer so müde, und das Leben scheint mir wie ein fürchterlich hoher Berg, auf den ich hinaufkeuchen muß. Und überall sind Höhlen voll von Drachen und wilden Tieren, die jeden Augenblick hervorbrechen können und mich und die Meinen verschlingen.«

Bepi lachte nur und schüttelte den Kopf, und die beiden Frauen machten sich daran, die Kinder anzukleiden.

*

Um die Mitte des März saß Pave an einem frühen Nachmittag an ihrem Fensterplatz seitlich am Tisch. 234 Neben ihr thronte Cotia auf mehreren Kissen, die es ihr ermöglichten, vom Stuhl bis zur Tischplatte hinaufzureichen. Ihr rundes, vollkommen schönes kleines Gesicht sah in ernsthaftester Sammlung auf ein Pergamentblättchen nieder, darauf Pave mit Bleistift ein etwas steifes Gewinde von Rosen und Vergißmeinnicht gezeichnet hatte. Cotias rundliches Händchen hielt einen feinen Pinsel umklammert, mit dem sie die Zeichnung zu kolorieren versuchte.

Eine Blechschachtel mit einigen Wasserfarben und ein kleiner Glasnapf mit Wasser standen vor ihr.

»Zuerst malen wir die Rosen, Cotietta«, sagte Pave. »Wir müssen Rot und Weiß mischen, dann wird eine schöne Rosafarbe herauskommen. So. Nimm ganz wenig auf den Pinsel, und jetzt male vorsichtig, ganz vorsichtig die Rosen an. Die mittleren nicht, die machen wir dunkelrot. Ach, nicht soviel Wasser! Alles wird dir verfließen! Gib nur acht, daß du nicht über die Linien hinausfährst, die Mau gemacht hat. Nur schön langsam. So. Die ist jetzt fertig. Jetzt kommt die halboffene, und jetzt die Knospe. Siehst du, da ist nur in der Mitte ein wenig Rosa und rundherum ist Grün.«

»Ich möchte das Grüne machen, Mau.«

»Nachher, mein Engel. Jetzt kommt noch die dunkelrote Rose. Da nehmen wir die rote Farbe ganz dick, mit wenig Wasser. So. Warte. Die Mau wird dir ein wenig die Hand führen, aber du darfst nicht herumwackeln und sie nicht stoßen. Also. Bist du schon müde?«

»Nein, aber ich möchte jetzt die grünen Blätter malen.«

»Zuerst die schönen blauen Vergißmeinnicht, Cotietta, meine Süße. Wir müssen die blaue Farbe ganz dünn nehmen, weil sie so licht sind. Ich führe dir wieder die Hand, sonst verdirbst du mir die lieben Blümchen, und der Miu hat an dem Bild keine Freude, wenn der Briefträger es ihm an seinem Geburtstag bringt.«

Vor Eifer biß sich Cotia mit den kleinen weißen Milchzähnen in die Unterlippe. Die Locken fielen ihr in das vor Anstrengung glühende Gesicht und sie seufzte tief. 235 Trotzdem geschah es, daß sie plötzlich mit dem Pinsel weit abkam und dem Sternchen, das sie bearbeitete, einen langen, blauen Kometenschweif anhängte, der kühn geschwungen das weiße Blatt durchquerte.

»Nun hat Cotia genug gemalt«, sagte Pave und nahm dem Kind den Pinsel aus der Hand. »Cotia ist nun müde, und die Mau wird das Bild fertigmachen. Das Allermeiste hat Cotia gemacht. Der Miu wird große Freude haben.«

»Aber die Blätter! Die grünen Blätter! Cotia will die grünen Blätter malen!« Cotias Mund zog sich betrübt nach unten, und große, glashelle Tränen begannen über ihre pfirsichfarbenen Wangen herabzukollern.

»Also komm! Wir malen noch ein paar Blätter, und dann gehst du ein wenig schlafen. Du gähnst ja die ganze Zeit.«

Der Pinsel wurde ausgewaschen und hierauf einem dunklen Farbenplätzchen grüne Farbe entnommen, mit der Cotia, von der Mutter unterstützt, noch einige Blätter, die im Verhältnis zu den Blüten eigentlich zu groß waren, mit sanftem Grün anlegte. Worauf sie befriedigten Ehrgeizes vom Stuhle glitt und nun, sanft an den linken Arm der Mutter gelehnt, noch eine Weile zusah, wie diese leicht und geschwind die Malerei zu vollenden strebte. Sie zog fadenfeine Stengel, auf denen die Vergißmeinnicht aufgereiht saßen, sie vervollständigte das Blattwerk und begann dann, den flachen, ziemlich kläglichen Farbenklecksen, die die Frucht von Cotias Bemühungen bildeten, Körperlichkeit und Leben zu geben. Sie zog feine Rippen in das Grün der Blätter, setzte gelbe Mittelpunkte in die blauen Sterne der Vergißmeinnicht, teilte die Rosen durch haardünne Pinselstriche und gab ihnen durch zarte Schattierung Rundung und Fülle. Endlich setzte sie der Rosenknospe eine stolze Helmzier von spitzen Kelchblättern auf und bemühte sich schließlich, den blau ausfahrenden Kometenschweif mit dem reingespülten Pinsel wegzuwaschen, was ihr freilich nicht völlig gelang.

»Wie schön, Mau, wie schön! Glaubst du, daß das Bild dem Miu gefallen wird?« 236

»Es wird ihm sehr gut gefallen«, versicherte Pave, obwohl sie sich nicht verhehlen konnte, daß die Rosen ungeachtet ihrer eigenen Mühewaltung himbeerfarbenen Semmeln zum Verwechseln ähnlich sahen und die Vergißmeinnicht recht ungelenk und verschmiert auf ihren Stielen saßen.

Während sie Cotia dann für eine kurze Nachmittagsruhe zu Bett brachte, gedachte Pave der unzähligen Blumenbildchen, die sie selbst während ihrer Schulzeit unter Anleitung ihrer Lehrerin, des ehrwürdigen Fräuleins Maria Riboli, hatte anfertigen müssen. Stets waren treuherzige Vergißmeinnicht darauf gewesen, manchmal auch Stiefmütterchen, die in ihren vielen Farben leicht und lustig zu malen waren, oder Lilien und Palmblätter. Mit den Rosen hatte man immer seine liebe Not gehabt, doch glaubte Pave, sie habe sie dazumal doch noch besser zustande gebracht als diese heutigen.

Sodann setzte sie sich wieder an den Tisch und begann, auf einem festlich verzierten weißen Briefblatt, dessen Ränder in zarte Bogen ausgezackt und mit feinen bunten Linien dekoriert waren, einen Glückwunschbrief an Pero, dessen Geburtstag auf den Neunzehnten fiel. Während sie saß, und in ihrer stark schrägen Schrift mit den kurzen und gedrungenen Kleinbuchstaben und den langen Schlingen Wort an Wort fügte, sah sie mitunter über das weißgestrichene Fensterbrett hinweg auf die Gärten nieder, in denen der rosa Blust der Pfirsichbäume schon fast völlig dahin war und ein frühes und zartes Grün alle anderen Farben überwog. Durch den freundlichen blauen Himmel zogen dann und wann ein paar Wolken, die so hell waren, daß man meinen konnte, es gäbe auf der weiten Welt nirgendwo etwas Helleres.

Pave schrieb diesen Brief leichten Herzens. Peros letzte Nachrichten hatten nicht ungünstig gelautet. Zwar berichtete er in jedem Brief aufs neue von seinem schlechten Verhältnis zu dem General und von seinem dringenden Wunsch, diesen Zustand bald zu beenden, und sei es um den Preis der Offizierskarriere; doch war es offenkundig, 237 daß sein Gemüt sich beruhigt hatte. Er ersehnte Paves und der Kinder Rückkehr und hoffte, schon im Vorsommer in einem der wald- und weinbergumgebenen Vororte von Wien, in Heiligenstadt, Grinzing oder Sievering, mit den Seinen vereint, eine freundliche Zeit verleben zu können. Er plante, täglich mit dem Stellwagen nach Wien ins Amt zu fahren, die Spätnachmittage und Abende aber im Familienschoße und in ländlicher Geborgenheit zu verbringen. Es tat Pave leid, diesen heiteren und liebevollen Plan zerstören zu müssen. Sie wollte Duschans Gedeihen auf keinen Fall durch ein zu frühes Abspänen oder einen neuerlichen Milchwechsel gefährden, und hielt es für richtiger, da die Übersiedlung nach Motta nun einmal vollzogen war, bis über den Sommer dort auszuharren. Sie suchte Pero in behutsamen Wendungen diesen ihren mit Miho beratenen Entschluß beizubringen. Sie schrieb, was sie ihm zu seinem Geburtstag wünsche, das wünsche sie ja in erster Linie sich selbst: daß sie nie, nie wieder getrennt werden würden, ganz besonders aber nicht mehr an Peros Geburtstag fern voneinander sein müßten. – Endlich bat sie inständigst darum, Pero möge ihr niemals etwas verbergen, er möge ihr immer die ganze Wahrheit schreiben, und sei sie noch so schlimm oder betrüblich. Wenn es, was Gott verhüte, mit dem General wieder etwas Unangenehmes geben sollte, möge er es sie ohne Umschweife sogleich wissen lassen. Sollte sie jemals erfahren, er habe ihr aus Schonung etwas Schmerzliches verhehlt, so würde sie nie mehr imstande sein, auch nur eine einzige ruhige Stunde zu verleben. Auch sie selbst sei doch aufrichtig, verberge ihm nichts und werde ihm immer wahrheitsgetreu alles mitteilen, was sie und die Kinder betreffe.

Miliza, die mit Miro eine kleine Fahrt im Wagen des Onkels hatte machen dürfen, kam hereingetrippelt. Das runde rote Filzhütchen umrahmte anmutig ihr steiles, stolzes Gesichtchen. In der Hand hielt sie ein paar gelbe Primeln, die sie neben den angefangenen Brief auf den Schreibtisch legte. 238

»Das habe ich für den Papa zum Geburtstag gepflückt«, sagte sie mit großem Nachdruck, »und hier das Veilchen ist von Miro. Es war nur ein Veilchen da, er hat es zuerst gesehen. Aber da waren viele Primeln.« Sie breitete die Arme aus, um anschaulich zu machen, welche Menge von Primeln es gegeben hatte.

Pave faltete ein Stück Papier und legte die Blümchen dazwischen.

»Cotietta hat dem Miu ein Bildchen gemalt. Still, wecke sie nicht, sie war müde nach Tisch.«

»So bekommt der Miu lauter Blumen zum Geburtstag. Von mir wirkliche und von Cotia gemalte. Da wird der Miu in Wien sich freuen. Nur das Frettchen schickt ihm nichts.«

»Was könnte der arme Kleine ihm denn auch schicken, mein Schatz?«

»Ich weiß, was! Seinen Zahn!«

Miliza wollte über ihren eigenen Einfall hell und klingend zu lachen beginnen; Pave jedoch hielt ihr den Mund zu und drückte sie auf den Sessel.

»Die Mau muß ihren Brief fertigschreiben. Sitze nun brav da und ruhe dich aus!«

Milizas Wangen schimmerten rosig von der frischen Luft, aus der sie kam. Pave strich mit der Hand darüber hin. Welches Glück war es, daß sie Pero schreiben konnte, sie seien alle gesund und die Kinder gediehen prächtig. Der ganz unbedeutende Schnupfen, an dem Miliza seit gestern litt, war der Erwähnung nicht wert. Welches Glück, daß sie nicht schreiben mußte, die Kinder hätten den Keuchhusten bekommen, obwohl Miho so ernstlich gefürchtet hatte, sie könnten sich angesteckt haben!

Pave sah freudigen und leichten Herzens in den blauen Märzhimmel hinaus, durch den noch immer friedliche Wolken segelten, die heller schienen als irgendein anderes Ding auf der Welt. 239

Als Pave zwei Tage später am Nachmittag mit den Kindern von dem gewohnten Spaziergang heimkehrte, hörte sie Duschan jämmerlich schreien. Sie öffnete die Tür zur Kammer und fand ihn allein und schmutzig in seinen Windeln liegen. Pave vermutete Santa in der Küche, fand sie aber nicht. Vizza war erstaunt, daß die Frau Majorin von der Abwesenheit der Amme nicht unterrichtet war. Herr Vianello sei gekommen und habe seine Frau abgeholt, und diese habe auch ihren Koffer mitgenommen. Der Mann habe schon am Faschingsonntag erzählt, daß Santas kleines Kind erkrankt sei, und sie gedrängt, nach Hause zu kommen. Aber daß sie der Frau Majorin nichts gesagt habe! Wie werde man Duschan nun ernähren?

Pave war sprachlos. Sie konnte nicht glauben, daß Santa ihr Brustkind habe verlassen können, und hoffte, sie werde über kurz oder lang schellen und mit vielen Entschuldigungen ihren Pflichten wieder nachkommen. Einstweilen säuberte sie Duschan, der mit puterrotem Gesicht unablässig brüllte, kleidete ihn frisch an und sah immer wieder nach der Türe in der Erwartung, Santa werde eintreten, ihr schwarzes Leibchen aufnesteln und dem Knaben ihre perlmutterblasse, von blauen Adern durchzogene Brust darbieten. Als die Tür aufging, waren es jedoch nur die kleinen Mädchen, die nachsehen kamen, warum das Brüderchen so kläglich weine.

Pave nahm den Säugling auf den Arm und ging zu Bepi hinüber. Als diese die Neuigkeit erfuhr, erhob sie ein großes Geschrei, sie erklärte, Santa sei ihr immer verdächtig gewesen und sie traue ihr alles Böse zu. Nun aber gelte es, eine vorläufige Nahrung für Duschan zu schaffen, und sie eilte in die Küche, um ihm einen Salepbrei zu kochen, mit dem sie, wie sie sagte, Miro wochenlang ernährt hatte, als er ihre Milch nicht mehr vertrug. Im übrigen müsse man trachten, der fahnenflüchtigen Santa wieder habhaft zu werden, Rizzi sei ja gottlob nicht aus der Welt. Vielleicht würde es Miho möglich sein, an einem der nächsten Tage hinzufahren. 240

Bepi verrührte das weiße Pulver sorgfältig mit Wasser und ließ das Gemisch aufkochen. Dann versuchte sie, Duschan den Brei einzuflößen, der sich auch nach einiger erstaunter Abwehr die ungewohnte Nahrung gefallen ließ. Pave hatte unterdessen festgestellt, daß Santa zwar nicht alle, aber den größeren Teil ihrer Habseligkeiten mitgenommen hatte, und die beiden Frauen besprachen erregt den Treubruch der Amme und alle Gefahren, die er für den Knaben im Gefolge haben konnte. Die sonst so phlegmatische Bepi mußte zugeben, daß dies ein unerwartetes Mißgeschick, ja fast ein Unglück sei, dessen Folgen man noch nicht recht absehen könne. Miro und Miliza saßen mißvergnügt im Speisezimmer. Sie waren beide etwas erkältet, und Pave war genötigt, ihnen unausgesetzt die rinnenden Näschen zu putzen, während Bepi sich des Säuglings annahm.

Vizza wurde einem strengen Verhör unterzogen: Ob Santa schon seit dem Faschingsonntag die Absicht gehabt habe, wegzugehen?

Nein, sie habe damals bloß durch ihren Mann gehört, daß ihr kleines, sieben Monate altes Mädchen erkrankt sei, und sie sei deshalb unruhig gewesen. Heute nun sei der Mann am Nachmittag wiedergekommen, als Frau Bepi geruht habe und die Frau Majorin mit den Kindern eben fortgegangen war; sie habe den Eindruck gehabt, er müsse unten auf den günstigsten Augenblick gelauert haben. Es ginge der Kleinen schlechter, habe er gesagt, seine Schwester verstehe sich nicht darauf, sie gesund zu machen, und Santa müsse mit ihm heimkommen. Santa habe geantwortet, sie könne das Kind, das sie stille, nicht verlassen; jetzt eben fange es an, sich ein wenig herauszumachen; es würde krank werden, wenn es ihre Milch nicht mehr bekäme.

Bei allen Heiligen, habe der Mann nun geschrien, ob ihr eigenes Kind ihr nicht lieber sei als das fremde. Was für ein schlechtes Frauenzimmer sie denn geworden sei und ob sie vielleicht überhaupt nicht mehr heimkommen wolle? Wenn sie für ihn und die Kinder kein Herz mehr 241 habe und sich nichts wünsche, als bei den Herrschaften herumzusitzen, dann könne sie gleich dort bleiben, wo es ihr so wohl gefiele.

Nun habe Santa zu weinen angefangen, unter Schluchzen habe sie ihrem Mann geantwortet, ob er denn verrückt sei. Sie sei doch nur deshalb zu den Fremden gegangen, um Geld zu verdienen, damit es ihm leichter falle, den neuen Stall zu bauen. Aber wenn die Kleine krank sei, komme sie nach Hause.

Sie sei zu Duschan hineingelaufen, wahrscheinlich habe sie ihn gestillt, und sei dann mit ihrem Mann die Treppe hinab. Gesagt habe sie ihr, sie ginge nur ein wenig hinunter und werde gleich zurückkommen.

Während des Gespräches sei das Ehepaar Vianello in der Küche gewesen, sie, Vizza, habe im Speisezimmer das Geschirr und das Besteck eingeräumt. Durch die halboffene Tür habe sie Bruchstücke gehört, habe sich aber das Ganze erst zusammenreimen können, als Santa schon fortgewesen war.

»Und warum bei allen guten Geistern, hast du mich nicht geholt?« schrie Bepi das zerzauste Mädchen an. »Warst du denn völlig von Sinnen oder hast du gar mit Santa unter einer Decke gesteckt?«

Nun begann Vizza herzbrechend zu schluchzen. Wie die Signora so etwas sagen könne! Was sie denn von ihr glaube! Sie habe zuerst das Ganze nicht begriffen und habe nicht gewagt, die Signora zu wecken. Im übrigen habe sie auch, ja, sie gestehe es, vor Santas Mann etwas Angst gehabt. Und sie habe es nicht für möglich gehalten, nein, bei der heiligen Muttergottes schwöre sie es, daß Santa gleich ganz weglaufen könne. Sie habe gemeint – o Gott, was sollte sie denn nur tun oder sagen, damit die Signora ihr glaube –, sie würde wiederkommen und mit der Frau Majorin und dem Herrn Doktor alles ausmachen. Aber jetzt, da es schon ganz dunkel sei, glaube sie selbst, daß Santa ganz richtig fort sei.

»Nun, du hast dich wie ein Tropf benommen, wie ein Wickelkind, wie eine ganz und gar unnütze Person. Ich 242 habe immer gemeint, daß du uns ein wenig anhänglich bist, deine Tante hat doch so viele Worte darüber gemacht, als sie dich zu uns brachte, was für ein gutes und kluges Kind du immer warst. Und nun! Die kleine Miliza würde sich verständiger verhalten haben als du!« Bepi schleuderte der unglücklichen Vizza diese Anklagen mit großer Verachtung ins Gesicht und schloß mit der Aufforderung, sie möge nun aber ihr albernes Geheule einstellen, und zwar sofort, damit sei nun nichts mehr getan, und sie möge hinaufgehen und bei Frau Zannoner anfragen, ob diese sich einen Augenblick herunterbemühen wollte.

Frau Biba erschien sofort und vernahm mit gerunzelter Stirn den Bericht von Santas Flucht. Ja, das sei schlimm, sehr schlimm. Ammen dürfe man niemals in die Nähe ihrer Männer lassen, dann sei es aus mit ihnen. In Motta eine Amme zu finden, würde schwer sein, sie wisse eigentlich keine ordentliche Frau, die augenblicklich in Betracht kommen könnte. Sie wolle nachdenken. Vielleicht konnte Bianca in Oderzo eine ausfindig machen. Einstweilen sei Salep gewiß ein guter Notbehelf und im schlimmsten Fall müßte man es eben mit Kuhmilch versuchen.

»Armer Kleiner!« seufzte Pave. »Das kommt davon, wenn die Mutter keine Milch hat.«

»Was ist denn mit denen da?« fragte Frau Biba und wies mit dem Kinn auf Miro und Miliza, die mit tränenden Augen und rinnenden Nasen weinerlich herumschlichen. »Mir scheint, die gehören ins Bett!«

Miro hustete nun auch.

»Haben sie vielleicht wirklich den Keuchhusten?« stammelte Pave schwach.

»Keine Spur, sie haben seit ein paar Tagen einen ganz harmlosen Schnupfen«, antwortete Bepi mit Entschlossenheit. Frau Biba aber zog die Augenbrauen hoch, als sie nun auch Miliza rauh und gequält husten hörte. 243

*

Ja, sie hatten den Keuchhusten. Im Laufe der Nacht schon stand es für Miho, der spät abends von seinen Krankenbesuchen heimgekehrt war und die Erzählung von Santas Verschwinden mit lebhaftem Zorn entgegengenommen hatte, ohne allen Zweifel fest. Er ordnete an, daß Miliza allein in der von Santa verlassenen Kammer schlafen solle, damit sie die beiden kleinen Geschwister nicht anstecke, sagte aber gleichzeitig mit schwachem Lächeln, nützen werde es nichts, da man die Kinder bei Tag ja nicht völlig trennen könne. Das Schicksal müsse seinen Lauf nehmen, er könne sich den Kopf abreißen, weil er die Kinder am Faschingsonntag, wenn auch ahnungslos, der Ansteckung ausgesetzt habe.

Duschan, an Santas Nachgiebigkeit gewöhnt, erwachte mehrmals des Nachts mit großem Gebrüll, und Pave sah sich jedesmal genötigt, aufzustehen, im Küchenherd ein Feuerchen von kleinen Spänen und Papier anzufachen und den Salepbrei daran zu wärmen. Cotia schlief ruhig, Miliza jedoch hustete. Als Pave eben wieder aus der Küche zurückkehrte, hörte sie das Kind weinen, sie eilte in die Kammer und fand Miliza verzweifelt im Bett sitzen.

»Mau, Mau, ich bin nicht schuld! Sei nicht bös, Mau! Alles ist jetzt schmutzig. Ich mußte so stark husten und da habe ich mein Bett vollgespuckt!« Das Kind sah voll entsetzten Ekels auf seine besudelte Decke, es hielt die schmutzigen Händchen mit gespreizten Fingern verzweifelt von sich und sah hilfesuchend und ängstlich die Mutter an, die in ihrem Schlafrock fröstelnd am Bett stand.

»Mein armes Mädchen, ach, was ist dir geschehen. Warte, die Mau wird gleich alles wegputzen.«

Pave lief um Wasser und Tücher, indessen hatte Duschan ein mörderisches Geschrei begonnen, und Pave, gewöhnt, allen Äußerungen des Knaben augenblicklich zu willfahren, wußte nicht, wo sie zuerst beginnen sollte. Während sie sich bemühte, Milizas Bett zu säubern und mit frischer Wäsche zu versehen, lauschte sie angstvoll 244 auf die zornigen Laute, die Duschans weit aufgerissenem Munde entquollen, und Frau Bibas Wort fiel ihr ein: »Sie erziehen sich einen Tyrannen!«

An der Türe wurde leise geklopft. Es war die gute Vizza, die das Schreien und Hinundhergehen gehört hatte und nun mit noch völlig verweintem Gesicht nachsehen kam, ob sie der Frau Majorin helfen könne. Mit flinken Griffen, dabei dem Kind herzlich und beruhigend zusprechend, richtete sie Milizas Bett frisch her, indes Pave sich des Schreihalses annahm. Während sie ihm aus einer Flasche den grauweißen Brei einflößte, sah sie, wie Cotia schlaftrunken aus ihren Kissen hervorblinzelte.

»Mau, warum brennt das Licht? Müssen wir schon aufstehen?« rief sie mit einem kleinen, verschlafenen Stimmchen. »Sei ruhig, Cotietta, mein Engel«, rief die Mutter ihr zu. »Lege dich nieder und sei ein gutes Kind!« Die Kleine sagte verwundert: »Ist also noch Nacht?« und legte sich gehorsam nieder. Da faßte Pave plötzlich eine so wilde Zärtlichkeit für das sanfte Kind, daß sie, die warme Flasche in der Hand, zu Cotia hinübereilen und sie leidenschaftlich immer wieder küssen mußte, dabei in ihre schlafheiße Haut hineinstammelnd: »Cotia, meine Cotia, bleibe nur du mir gesund!«

Als die Kinder wieder ruhig atmend im Dunkel lagen und Pave sich unter ihren Decken zu erwärmen trachtete, klang es immerzu in ihr nach: »Wenn nur Cotia gesund bleibt! Wenn nur Cotia gesund bleibt!«

Untertags hielt Miliza sich nun drüben bei Miro auf, um die Geschwister nicht anzustecken, und Cotia kam sich ohne die Schwester sehr vereinsamt vor. Sie lief immer wieder zur Tür und hoffte, Miliza zu erspähen. Frau Biba holte sie häufig zu sich hinauf, aber auch oben waren die alten Spiele traurig, wenn man dabei allein sein mußte.

Jedoch schon zwei Tage nach Milizas Erkrankung erschien Frau Biba abends bei Pave und führte Cotia an der Hand.

»Sie kann ruhig mit Miliza spielen«, sagte die Padrona 245 di Casa, »sie hat ihn auch. Machen Sie sich nichts daraus, es geht in einem hin.«

»O Dio!« rief Pave aus. »Aber vielleicht irren Sie sich, Frau Biba. Es könnte ein anderer Husten sein, ein gewöhnlicher.«

»Verlassen Sie sich auf mich, leider verstehe ich mich auf den Keuchhusten. Es ist noch gar nicht so lange her, daß meine Drei ihn gehabt haben. Ist der Signor Miho noch nicht zu Hause?«

Er war noch nicht da. Pave, die soeben Duschans Fütterung beendet hatte, bot Frau Biba einen Stuhl an und hob Cotia auf ihr Knie.

»Cotietta, wie geht es dir? Hast du wirklich auch gehustet, mein Engelchen?«

»Ja, aber es macht nichts. Jetzt darf ich wieder zur Miliza.« Sie legte ihr Gesichtchen an Paves Schulter und lächelte glücklich.

»Es ist rührend, wie lieb die beiden kleinen Mädchen einander haben. Die meinen haben immer gestritten. Aber was ist mit Ihnen, Frau Pave? Sie sehen schlecht aus. Sie sind die Kränkste von allen, sie sollten sich pflegen und erholen, und nun können Sie nachts nicht schlafen, wie? Müssen aufstehen und für den Herrn Sohn das Fläschchen wärmen und die Töchter machen ein Hustkonzert? Daß diese Santa eben jetzt auf und davon mußte, ist wirklich ein Malheur.«

»Miho ist in Quartarezza einer Amme auf der Spur. Bis sie kommt, muß ich Geduld haben.«

Cotia saß noch immer still da und lehnte ihr Köpfchen an Paves Ärmel.

»Bist du müde, Cotia, willst du ins Bett?«

»Ja, Frau Pave, legen Sie sie nieder, es wird am besten sein. Gegessen hat sie schon. Carlotta hat ihr ein gutes Breichen gemacht, wie, Cotia? Und sie hat es artig gegessen.«

»Wie gut sie sind, Frau Biba, wie gut! Wann werde ich armes Ding Ihnen je auch nur ein wenig davon vergelten können!« 246

»Pst! Nur keinen solchen Unsinn! Gönnen Sie mir Ihre Cotia nicht? Jetzt können wieder alle Kinder zu uns hinaufkommen, damit die kleine Signora hier ein wenig Ruhe hat. Und nun gute Nacht allerseits! Recht gute Nacht!«

In der Tür stieß Frau Biba mit der eilig hereinflitzenden Vizza zusammen.

»Ecco una lettera!« sagte das gutherzige Mädchen freudestrahlend, denn es wußte, wie sehnsüchtig die Frau Majorin diese bläulichen Botschaften aus Wien zu erwarten pflegte.

»Nun sehen Sie, Frau Pave, da kommt Trost zu Ihnen geflattert«, rief Frau Biba im Hinausgehen, und auch sie freute sich, daß der armen kleinen Frau am heutigen Tag nun doch noch etwas Gutes widerfahren war.

Aber ach, es stand nichts Gutes in Peros Brief. Wohl forschte er liebevoll und eindringlich nach Paves Befinden, wohl sandte er den Kindern zärtliche Grüße, aber auf der zweiten Seite las Pave im schwachen Licht der Kerze, das es nicht leicht machte, Peros kleine, feine Schrift zu entziffern:

»Seit meinem letzten Brief hatte ich neuerlich schwere Unannehmlichkeiten mit meinem Chef und ich sehe voraus, daß es auf die Länge der Zeit so nicht wird weitergehen können. Es wird das beste für mich sein, das Feld zu räumen. Ich leide allzusehr, und jede Kleinigkeit erregt mich über die Maßen. Vom Siebenten bis heute (der Brief war vom 16. März datiert) hatte ich eine qualvolle Zeit, und ich bin infolgedessen so nervös, daß jeder kleine Lärm mich zusammenfahren läßt.«

»Ich leide allzusehr!« – Armer, armer Pero! Wer ihm doch helfen könnte! Ach, und heute war sein Geburtstag, vielleicht haben die Blümchen der Kinder ihn ein wenig getröstet! Aber im nächsten Brief, den sie schrieb, mußte sie ihn durch die Nachricht vom Ausbruch des Keuchhustens neuerlich betrüben. Lieber armer, ferner Pero! In 247 dieser Art war er niemals nervös gewesen; wenn er nun zugab, daß jeder unbedeutende Lärm ihn erschreckte, wie elend mußte es dann um ihn stehen. Könnte sie ihm doch Gutes schreiben, lichte, fröhliche Dinge! Indessen würde sie nun von der Erkrankung der Kinder melden müssen, überdies würde sie gezwungen sein, ihren Mann abermals um Geld zu bitten, denn trotz aller Sparsamkeit gelang es ihr nie, mit den ihr überwiesenen Summen auszukommen. War nirgends ein Ausweg, nirgends eine Hoffnung? Trostlos legte sie den Brief auf ihren Nachttisch und begann die Kinder zum Schlafen zu richten.

Die Nacht verlief unruhig. Beide Mädchen husteten stark, und Duschan, den die neue Nahrung nicht mehr zu befriedigen schien, schrie stundenlang. Pave ging in dem von flackernder Kerze erleuchteten Zimmer mit ihm auf und nieder, sie summte vor sich hin, sie wiegte und schaukelte ihn auf den Armen. Dabei versuchte sie, ihm eine kleine Stange Veilchenwurzel, daran die zahnenden Kinder gerne nagen, in den Mund zu stecken. Als sie im Hinundherwandern zufällig ihr eigenes Spiegelbild erblickte, erschrak sie. So tiefe schwarze Ringe hatten noch nie, so meinte sie, ihre Augen umlagert, die Nase stand spitz in dem bleichen Gesicht, das die dunklen Haare unordentlich umhingen. Seit jeher hatte Pave das Nachtwachen schlecht vertragen, ihre zarte, anfällige Natur bedurfte des Schlafes sehr, um sich neu zu kräftigen. Seit Santas Verschwinden war ihr keine Nacht ruhigen Schlafes gegönnt gewesen, und auch bei Tag hatte die Arbeit sich gehäuft. Plötzlich, während sie hin und her ging, zur Beruhigung des Säuglings leise mit der Zunge schnalzte und sich immer leichter und schwebender bewegte, da das Geschrei matter wurde und sie hoffen durfte, der Knabe würde endlich einschlafen, befiel sie eine trübe und schneidende Bangigkeit. Würden ihre Kräfte hinreichen, um sowohl den Säugling, als auch die kranken Kinder zu betreuen, bis eine Hilfe gefunden war? Würde sie nichts versehen, nichts unterlassen, würde sie immer Herrin ihrer selbst bleiben, immer geduldig, 248 immer gütig, immer sanft und froh sein können, so wie es den Kindern in ihrer Schwachheit und Not gebührte und zukam? Würde ihre eigene Krankheit nicht wieder hervorbrechen und sie niederwerfen, würde nicht Müdigkeit sie untauglich machen und Übernächtigkeit ihren Blick trüben? Schwarze Mutlosigkeit stieg höher und höher um sie empor wie die Wasser einer Sintflut, die das Land überschwemmen und in die Häuser der Menschen eindringen. Als Duschan nun wirklich eingeschlafen war, sie ihn sacht und leise in seinen Korb gelegt hatte und selbst in ihr Bett zurücksank, stieg diese Flut höher und höher um sie. Und sie wehrte sich nicht dagegen, sondern sie überließ sich ihr einschlafend als ihrem eigensten Element.

So wie es Menschen gibt, die stumm geboren sind und andere, die blind zur Welt kommen, so wie jemand des Geruchssinns ermangelt und ein anderer ein verkürztes Bein hat von Geburt an, so war die schöne Pave, die äußerlich so wohlgebildet schien, daß viele Herzen ihr dargebracht, viele Lieder ihr geweiht worden waren – und das nicht nur von Pero, dem Begnadeten –, mit einem Mangel geboren, der schlimmer war als ein fehlendes Auge oder ein lahmes Bein: es gebrach ihr an der Fähigkeit, zu hoffen. Sie vermochte weder auf Gott zu hoffen, den sie nicht kannte, noch auf ihre eigene Kraft. Die Frömmigkeit, die man ihr mitgegeben, war äußerlicher Natur. Sie wußte von Geboten und Gebräuchen, aber sie kannte ihren Sinn nicht. Sie verstand nicht zu beten. Wohl vermochte sie zu Gott zu schreien und zu betteln, wie ein Kind um Brot bettelt, aber sie wußte nicht, daß einer, der wahrhaft betet, der sich in die Herrlichkeit Gottes zu versenken versteht, durch die demütige Versenkung Anschluß an Gottes ewige Kraft zu gewinnen vermag. Sie vermochte nur zu sagen: »Gib mir!« Oder: »Verschone mich!« Nicht aber: »Reiße mich hinauf zu dir, reiße mich in dich hinein, laß die schwachen Schößlinge meiner bitterarmen Kräfte in der Wärme deines Anhauches aufgehen und sich entfalten!« 249

Weil sie Gott nicht kannte und nicht auf ihn hoffte, kannte sie sich selbst nicht und hoffte sie nicht auf ihre eigene Kraft.

Sie lag begraben unter den lastenden Wassermassen der Übermüdung und der Mutlosigkeit. Sie schlief tief und schwer, kein farbiger Traum erhellte ihre Versunkenheit, kein Schimmer von draußen drang in ihre Verfinsterung und Verschüttung.

Sie erwachte erst, als Cotia weinte.

Vor den Fenstern stand Morgendämmerung. Als sie bloßfüßig zu Cotia hingestürzt war, sah sie, daß das Kind im Schlafe die Decken fortgestrampelt hatte und mit nackten Beinen im dünnen Hemdchen dalag. Seine Haut fühlte sich kalt an. Pave riß die Decken heran, wickelte das Kind ein und trug es in ihr eigenes warmes Bett. Draußen wehte kalte Bora.

»Cotia, meine Süße, mein lieber kleiner Engel, komm und wärme dich bei deiner Mau!«

Pave umschlang das Kind, sie bettete sein Köpfchen auf ihren Armen, sie rieb und streichelte den kleinen, runden, fröstelnden Körper, und dabei flüsterte sie ohne Unterlaß: »Arme Cotia! Du hast gefroren, und die böse, böse Mau hat es nicht gemerkt. Werde nicht krank, meine Cotia. Wärme dich, wärme dich bei deiner Mau!« Sie flüsterte es so lange, bis sie beide wieder eingeschlafen waren.

Am nächsten Vormittag war Cotia munter und ganz erfüllt von der Freude, wieder mit Miro und Miliza spielen zu dürfen. Die Kinder saßen auf dem Teppich des Speisezimmers, hatten alle Puppen hervorgeholt und spielten Familie. Miro war Onkel Toni, Miliza war Bepi, und Cotia war Pave. »Ich will die Mau sein«, hatte sie gesagt, dabei die Augen groß aufgeschlagen und still gelächelt. Nun nahm sie ihre Puppe Maddalena auf den Arm, wiegte sie ausführlich hin und her und sang ihr vor, sodann holte sie ein Sofakissen und bettete sich und die Puppe darauf, ihr eifrig zuflüsternd: »Ist dir kalt, Cotia? Schlafe, mein Engel.« 250

»Ich habe gedacht, die Maddalena ist der Duschan«, forschte Miliza.

»Sie ist der Duschan und die Cotia. Die Cotia schläft bei der Mau im Bett. Nur die Cotia darf es.«

Sie vergrub ihr Gesicht in das Kissen und umarmte die Puppe. Miro und Miliza veranstalteten inzwischen einen Besuch bei einer fiktiven Signorina Marietta, die niemand sah, mit der aber lange und nachdrückliche Gespräche geführt wurden, nachdem man langsam und betont schlendernd durch das Zimmer geschritten war und Einlaß heischend an eine Schranktür gepocht hatte. »Jetzt gehen wir nach Hause, und die Pave muß uns Kaffee kochen«, verkündete Miro und zupfte die am Boden liegende Kusine am Arm. Hierbei zeigte es sich nun, daß Cotia nicht nur im Spiel, sondern in aller Wirklichkeit eingeschlafen war. Als sie geweckt wurde, weinte sie, bekam einen Hustenanfall und lief hilfesuchend zu Pave, die sie nun bei sich behielt. Zu Mittag wollte Cotia nichts essen, und den Nachmittag verschlief sie. Als der Abend einbrach, saß sie unglücklich und weinerlich herum und drückte sich an Pave, sooft sie ihrer habhaft werden konnte; sie war blaß, und ihr Gesichtchen hatte einen grämlichen und alten Zug bekommen.

Während man sie entkleidete, wurde Cotia plötzlich von einem Zittern befallen, sie klagte, daß sie friere, begann sich zu schütteln, und ihre Zähne schlugen aneinander. Dabei glühte ihr Gesicht.

»Hol den Onkel!« rief Pave Miliza zu. Sie kniete an Cotias Bett und häufte Decken auf sie.

Miho, der soeben heimgekehrt war und noch den Winterrock trug, erschien in der Tür. Er warf einen Blick auf das Bett. »Das Kind hat ja einen Schüttelfrost. Schlimm, schlimm! Hat sie sich denn erkältet? Vizza soll schnell eine Wärmeflasche richten.«

Pave stand starr und antwortete nicht. So hatte Cotia sich also bei Nacht, als die Mutter pflichtvergessen geschlafen und nicht gemerkt hatte, daß ihr Kind nackt im winterkalten Zimmer lag, eine Krankheit geholt. 251

»Die andern Kinder müssen weg, damit Ruhe ist. Vielleicht kann Miliza oben bei Frau Biba schlafen. Bepi wird Duschan versorgen. Bist du noch imstande, zu wachen, Pave?«

»Wenn Cotia krank ist . . .!«

»Ich werde dich ablösen. Ein wenig schlafen muß ich, sonst kann ich morgen meine Arbeit nicht tun. Es sind eben jetzt so viele Leute krank.«

»Guter Miho! Aber sage mir doch, was Cotia fehlt.«

Miho zog die Schultern hoch, setzte sich an den Rand des Bettes, befühlte und behorchte das Kind, dessen Frost sich zu legen begann, und ließ sich die Zunge zeigen, die von dickem weißlichem Belag bedeckt war.

»Man kann noch nichts Sicheres sagen. Aber ich fürchte, es bereitet sich eine Brustentzündung vor, Pave. Sie tritt oft ein, wenn zum Keuchhusten eine Erkältung hinzukommt. Aber sage mir nur, wie Cotia sich erkälten konnte.«

»Es war so kalt im Zimmer während der Nacht.«

»Hat sie sich abgedeckt?«

Wieder blieb Pave stumm. Sie lehnte ihr verzweifeltes Gesicht an den Bettpfosten und starrte auf Cotias glänzende Augen und glühende Wangen nieder.

Auf eine rasche Anordnung von Miho war Paves Bett von der Wand fortgerückt und zu Cotias Lager bestimmt worden. Die Betten der Kinder hatte der Arzt mit Vizzas Hilfe selbst in die Kammer geschoben und dafür das Sofa, darauf Santa geschlafen hatte, für Pave herausgestellt. Das Zimmer sah nun geräumiger aus, es schien ein anderes geworden. Der alltägliche, freundliche Raum, der den Winter über Paves und ihrer Töchter Schlafzimmer gewesen war, darin sie am Fenstertisch gesessen hatte, nähend, flickend oder an Pero schreibend, von wo aus sie den beharrlich strömenden Winterregen hatte niederfallen und den grellen Himmel der Boratage hatte blauen sehen: er war verändert, er hatte sein äußeres Ansehen wie auch seine Seele vertauscht, er war nun nichts anderes mehr als Hülle, Behältnis, Schale von Cotias 252 schnell fortschreitender, immerdar wechselnder, glühender, röchelnder, keuchender Krankheit.

Mit rascher, besorgter Zielbewußtheit hatte Miho angeordnet, daß immerzu – Vizza möge es sich einprägen, denn die Frau Majorin würde anderes zu tun haben –, immerzu also, feuchte Leintücher um den warm geheizten Ofen aufgehängt sein müßten. Oben auf dem Ofen habe ein Topf mit Wasser zu stehen, und auch auf dem neumodischen Spirituskocher, den er soeben angeschafft hatte, und der es ermöglichte, eine Flüssigkeit zu wärmen, ohne daß man im Herd Feuer anzufachen genötigt war, sollte ohne Unterlaß Wasser kochen und verdampfen.

»Die Luft muß feucht sein und rein, hörst du, Pave. Öffne immer wieder ein wenig das Fenster, aber Cotia darf nicht frieren. Wenn wir ihrer kranken Lunge feuchte und reine Luft zuführen, dann helfen wir ihr. Es gibt nicht viele Krankheiten, Pave, bei denen der Pflegende eine so große Rolle spielt wie bei der Brustentzündung.«

Miho sagte es, um Pave anzuspornen und alle ihre Kräfte wachzurufen. Kaum aber hatte er das Wort gesprochen, so bereute er es. Durfte man dies Pave sagen, ihr, die stets bereit war, sich selbst anzuklagen, die sich für unzulänglich und untüchtig hielt. Würde sie jemals aufhören, sich Vorwürfe zu machen, wenn . . .? Er wagte nicht, den Satz zu Ende zu denken.

»Und was kann man noch tun, was noch? Miho, verlasse mich nicht!«

Pave fiel dem Schwager um den Hals und weinte krampfhaft an seiner Schulter.

»Sei ruhig, Pave! Wir werden alles tun, alles. Sie ist ein gesundes Kind, sie wird es überstehen. Aber wir müssen unseren Kopf beisammen haben, wir müssen ihr helfen. – Sauerteig muß vom Bäcker geholt werden, den tun wir ihr an die Füße, er zieht die Hitze aus dem Körper. Ich werde ihr in der Apotheke eine Abkochung von Primelwurzel und Digitalis machen lassen, selbst will ich es dem Apotheker sagen, damit er die Medizin recht sorgfältig herstellt.« 253

»Sie will nichts nehmen, sie stößt alles weg. Und der Husten, der schreckliche Husten!«

Keuchend, pfeifend, schauerlich gequält kam der Husten von Cotias Bett her.

»Mau, es tut mir so weh. Im Rücken tut es mir weh!«

Pave biß sich auf die Lippen vor Verzweiflung. »Miho, können wir nichts gegen die Schmerzen tun?«

»Feuchte Luft! Reine Luft! Den Sauerteig! Die Medizin! Die Schmerzen sind nur Symptom, wir müssen die Krankheit bekämpfen. Mut, Pave, Mut! Wir bringen sie durch!«

Nachtstunde um Nachtstunde saß Pave an Cotias Bett, sie sah das Kind sich mit geschlossenen Augen hin und her wälzen, der bellende Husten zerschnitt ihr das Herz. Wieder und wieder kniete sie vor dem Ofen, um das Feuer zu schüren, wieder und wieder tauchte sie große Leinentücher in heißes Wasser, wand sie aus und hing sie aufs neue um den Ofen auf, so daß feiner Dampf sich aus den nassen Falten löste und in dem vom Kerzenlicht durchflackerten Zimmer verschwebte.

Der Sauerteig, der Cotias kleine rosenfarbene Füßchen zu plumpen braunen Klumpen machte, brachte etwas Ruhe. Als es gegen die tiefen ersten Morgenstunden ging, gegen jene allerverlassensten, trostlosesten, da lag das Kind still und atmete freier. Nach zwei Uhr kam Miho und löste Pave ab. Er nötigte sie, sich auszustrecken, und sie schlief augenblicklich ein, aber ihr Schlaf war dünn wie ein zerschlissenes Seidentuch, er umhüllte sie nicht warm und dicht, sondern lag locker und durchlässig auf ihr. Sie hörte nicht auf, Cotias Kranksein zu spüren, jeder Husten drang ihr in die Seele, sie fühlte sich gehetzt und vorwärtsgetrieben, als wären Feinde hinter ihr her. Dann wieder fand sie sich in einem unvergleichlich öden Gelaß fremden Gestalten gegenüber, langhaarigen Frauen in grauen Kleidern und alten, bartlosen Männern mit gebeugten Rücken und tiefen Falten im Gesicht. In gespensterhafter Verlassenheit saßen die Fremden da, sie sprachen nicht und blickten trübe in 254 Ecken und Winkel, ihr beklemmender Anblick aber verließ Pave nicht, auch als die Nacht verwichen war und sie lautlos ihr angstvolles, sorgendes Werk um die kleine Kranke weiter tat.

Es kam soweit, daß Cotia alle Nahrung von sich wies. Glühend und unruhig lag sie den Tag über, sie warf sich von einer Seite auf die andere, sie atmete schwer, und befiel sie der Husten, so klagte sie jämmerlich über Stechen im Rücken. Sonst sprach sie nichts, und nahte sich Pave mit einer Tasse heißer Milch, in die Honig gemischt war, mit einer Orangenspalte oder mit einem Stückchen Biskuit, so stieß das sonst so sanfte Kind die spendende Hand fort, so daß die Milch verschüttet ward und der süße Bissen zu Boden fiel. Ihr die Medizin, auf die Miho so großen Wert legte, einzuflößen, war nicht möglich.

Zeitweise kam Bepi herein und hieß die Schwester ausrasten. Ihre Gestalt war noch schlank, aber ihr bleiches Gesicht mit den verschwommenen Zügen verriet es nun schon, daß sie schwanger war. Sie saß aufrecht am Bett ihrer kleinen Nichte und versorgte sie so treulich, als wäre sie ihr eigenes Kind. Aber es litt Pave nie länger als ein paar Minuten fern vom Krankenbett, nervös sprang sie wieder vom Sofa auf und kauerte sich zu Cotia hin, dabei aber Bepis Hände ergreifend und bettelnd: »Bleib da!« Einmal öffnete sich die Türe leise, und Frau Biba kam auf den Zehenspitzen herein, sie trug ein Töpfchen mit eingemachten Pfirsichen in der Hand. Als sie hörte, daß Cotia durchaus nichts zu sich nehmen wolle, sagte sie: »Laßt mich zu ihr.« Sie führte den Löffel mit der dunklen Flüssigkeit an den Mund des Kindes, sie versuchte ihn zwischen die fest zusammengebissenen Zähne einzuführen, sie sprach Cotia mit leiser, gütiger Stimme zu, scherzte und lockte. Aber die Kranke schüttelte mit schnellen, kleinen Bewegungen den Kopf und öffnete den Mund durchaus nicht. Unter der Tür jedoch stand Miliza mit ängstlichem und verschüchtertem Gesicht. Sie rief: »Cotietta!« und winkte dem 255 Schwesterchen. Dieses lächelte ein wenig und winkte schwach zurück. Dann ging die Padrona di Casa wieder lautlos fort und führte Miliza hinaus.

Auf diese Weise verging die erste Nacht und der erste Tag von Cotias Krankheit.

In der zweiten Nacht sank das Fieber ein wenig. Gegen Morgen begehrte das Kind zu trinken, und Pave gab ihr Orangensaft mit Wasser und mengte von der Medizin bei. Cotia trank begierig und schlief wieder ein. Am Morgen fühlte sie sich kühler an, das Gesicht, das tags zuvor geglüht hatte, war nun bleich, nur an den Wangenknochen saßen rote Flecken. Sie schien sich wohler zu fühlen, und es war im Lauf des Tages immer wieder möglich, ihr etwas Milch und Fruchtsaft einzuflößen. Sie hustete viel, doch faßte Pave Mut; das Schwere, Unheimliche der Krankheit schien gewichen. Das Kind, das am ersten Tage wie vertauscht geschienen hatte, war bis zu einem gewissen Grad wenigstens wieder die alte Cotia geworden. Sie verlangte am Nachmittag nach ihrer Puppe und ließ sie neben sich auf den Kissen liegen. »Maddalena ist Cotia, und Cotia ist Mau«, sagte sie erklärend zu ihrem Onkel, der ans Bett getreten war, um ihren Puls zu prüfen.

»Es geht besser, Miho, nicht wahr? Sie sieht frischer aus und ist viel ruhiger.«

»Es scheint so. Hoffen wir. Hast du an Pero schon über Cotias Krankheit geschrieben, Pave?«

»Ich schreibe erst, wenn Cotia gesund ist.«

Miho sagte nichts. Er hatte seine Ärztetasche mit ins Zimmer genommen und kramte allerhand gläsernes und metallenes Gerät aus.

»Wir müssen sie ein wenig schröpfen. Bitte, komm und hilf mir, Pave.«

Das Aufflammen der in Spiritus getauchten, um ein Drahtende gewickelten Wattebäusche gefiel Cotia so sehr, daß sie sich das Ansetzen der gläsernen Schröpfköpfe gern gefallen ließ und auch nicht weinte, als die feinen Schnepper ihr Fleisch ritzten und bluten machten. 256

Am Abend jedoch fühlte sie sich wieder heißer an, und die dritte Nacht, die nun anbrach, ward schlimmer, als die erste und die zweite gewesen waren.

Rastlos warf sich Cotia hin und her, und während der Husten stärker und häufiger ihrem Mund entbrach, verzerrte sie schmerzlich das Gesicht, und in den Pausen zwischen den Anfällen wimmerte sie kläglich. Tiefer in der Nacht begann sie wirr zu reden, dumpf und undeutlich, die Lippen nur ganz schwach öffnend, so daß Pave, die sie entsetzt ansah, nichts von dem Gemurmel verstehen konnte. Plötzlich aber sprach Cotia klarer. Sie blickte mit großen Augen auf einen Stuhl, der am Fußende des Bettes stand und auf dem kürzlich Miho gesessen hatte, und rief eindringlich:

»Der Miu ist da! Warum ist der Miu da? Was will der Miu von der Cotia?«

Pave erschrak tödlich. »Liege ruhig, Cotia. Schlafe, mein Kind. »Willst du Limonade trinken?«

»Cotia muß den Miu rufen. Miu, komm her!«

»Der Papa ist in Wien, er kann nicht zur Cotia kommen.«

»Der Miu ist doch da. Er hat wollen zur Cotia kommen. Warum sitzt er so weit weg?«

Sie begann zu weinen. Dann hob wieder das undeutliche Gemurmel an. Kurze Minuten unruhigen Schlafes endeten in qualvollem Husten. Plötzlich setzte sie sich auf und schrie:

»Der fremde Mann soll weggehen. Warum sitzt der fremde Mann dort?«

Miho, der ein wenig geschlafen hatte, trat leise ein.

»Deliriert sie? Geben wir ihr wieder Sauerteig an die Füße. – So. Und auch die Medizin muß sie wieder bekommen. Das Digitalis wird ihr Herz beruhigen. Gib ihr kalte Kompressen, Pave. Rege dich nicht auf, es ist der Lauf der Krankheit. Morgen wird es leichter sein.«

Und Pave durchsaß die fürchterlichen Nachtstunden auf ihrem Stuhl neben Cotias Kissen, die Welt war ihr versunken, einzig wirklich war das fiebernde Kind, der 257 keuchende Husten, das Glas mit kühlem Getränk, die Medizinflasche und Mihos ärztliches Handwerkszeug, das auf dem Tisch lag und im schwachen Kerzenlicht eigentümlich verlassen und gespenstisch herübersah.

Endlich aber kam doch das Morgenrot ins Zimmer, und der Tag brach an, der dritte Tag.

Cotia war nun ganz bleich, kalter Schweiß stand auf ihrer klaren, gebogenen Kinderstirn. Pave trocknete sie mit einem Tuch, sie häufte Decken auf sie und öffnete das Fenster. Frische, tauklare Luft strömte ihr entgegen. Wie eben aus Gottes Hand geglitten, sah sie die Frühlingsgärten liegen. Erste Vögel sangen herauf. Jenseits der Dächer aber erblickte sie pochenden Herzens ein Schauspiel von unerhörter Größe, das sie sich nicht erklären konnte. »Waren es rosenrote Wolken, die so zaubergleich den Himmel säumten? War es ein Geschwader von Riesenschiffen, das auf grauem Meer purpurn hinsegelte? Über einem Streifen von Dunst erhoben sich steile Zacken und Grate, Spitzen und Schroffen, vorweltlich kühn erhoben sie sich, und plötzlich wußte Pave, daß dies nur die Alpen sein konnten, von denen man ihr gesagt hatte, es könne einem zuweilen bei Sonnenaufgang das Glück widerfahren, sie aus unendlicher Ferne mit ihren ewigen Götterhäuptern herüberschauen zu sehen. Trotz des fressenden Wehs, das ihr im Herzen saß, trotz der irrsinnigen Angst und der aushöhlenden Müdigkeit vermochte sie einen Augenblick lang sich des wunderhaften Bildes zu erfreuen. Dann schloß sie das Fenster und kehrte in das Grau des Zimmers zurück, in dem die Kerze flackerte, nasse weiße Tücher hingen, der Ofen gloste.

Der dritte Tag aber war der schlimmste Tag.

Das bleiche Gesicht weit zurückgeworfen, röchelte das Kind in den Kissen, nimmermüde waren sorgende Hände bereit, frische Tücher aufzuhängen, Kessel dampfen zu lassen, kühlendes Getränk bereitzustellen, das Lager zu erfrischen, den Sauerteig zu erneuern, das herzstärkende Medikament den etwas bläulichen Lippen der schwer 258 kämpfenden Cotia einzuflößen. Mihos Gesicht war sehr ernst. Als Bepi gegen Mittag eintrat, um zu helfen, schien es Pave, als habe die Schwester geweint, doch nahm sie sich nicht die Zeit, sie nach dem Grund zu fragen. Sie selbst war zwar voll schwerer und rastloser Sorge, doch was ihr sonst verwehrt zu sein pflegte, an diesem dritten und schlimmsten Tag ward es ihr verliehen, sie hoffte und tat dies so heftig und inbrünstig, daß sie jeden Gedanken an einen schlimmen Ausweg glattweg ausschloß.

Bepi legte ein Päckchen auf den Tisch. »Toni hat uns Geschenke geschickt«, sagte sie. »Schöne Handschuhe und Parfüm.«

»Der gute Toni! Aber nimm die Sachen wieder mit! Ich sehe sie an, wenn Cotia gesund ist.« Ohne den Kopf zu wenden, blieb sie über Cotia geneigt sitzen.

Am Nachmittag aber sah sie Cotias Hände unruhig auf der Decke hin und her fahren, dabei bemerkte sie, daß ihre Fingernägel blau waren. Da vereiste Paves Herz vor entsetzlichem Schrecken, und sie glitt zur Tür, um Miho zu rufen. Dieser war heute zu Hause geblieben und kam sofort. Pave zeigte ihm die blauen Nägel. Er nickte nur und sagte: »Pave, du mußt tapfer sein!« und bereitete nochmals eine Schröpfung vor.

Als die Abendschatten schon niedersanken, wurde sie durch ein knarrendes Öffnen der Tür aufgeschreckt. Eine schwarze Gestalt stand im Rahmen, die sie in der Dämmerung nicht sogleich erkannte. »Wer ist da?« fragte sie leise und abwehrend. »Ich bin es, die Amme«, entgegnete Santa, ein Bündel in der Hand, mit erschrockenem Blick auf Cotia und die Veränderung im Zimmer. Pave flüsterte ihr nur zu, sie möge zu Frau Bepi hinübergehen und hier nicht stören. Während sich jedoch die Tür schloß, fiel es Pave ein, daß Santas Eintritt sich seinerzeit in Wien genau so vollzogen hatte wie heute ihre Wiederkehr. Pave war damals aus dem Schlaf aufgefahren, Santa hatte schwarz in der Tür gestanden und gesagt: Ich bin es, die Amme. Sie war damals so sehr erschrocken 259 und hatte sich keine Rechenschaft zu geben vermocht, warum.

Der Husten kam nun etwas schwächer, aber nicht weniger quälend aus Cotias Munde. Der Atem ging stoßweise pfeifend und keuchend, es klang Pave, die unablässig den Schweiß von Stirn und Wangen der Kranken trocknete, wie Windstöße, die durch ein Rohr streichen. Cotia warf sich rastlos hin und her, ihr Kopf lag keinen Augenblick ruhig auf den zerknitterten Kissen. Ein angstvoller Ausdruck war in ihre Augen gekommen, sie fingerte mit den Händen auf der Decke, plötzlich seufzte sie mehrmals und lag still.

Pave sah sie mit unaussprechlichem Entsetzen an, sie sank in die Knie, sie faßte die kleinen verschwitzten Händchen, beugte sich über das bleiche blaulippige Gesicht, in das die Haare feucht und wirr hingen, und bettelte: »Cotia, sprich zu mir! Rufe mich! Rufe deine Mau!« Im jammervoller Angst stieß sie diese Worte hervor, es war ihr, als müsse alles zum Guten entschieden sein, wenn nur das Kind wieder sprach und sie beim Namen nannte.

Cotia bewegte sich tatsächlich, sie schlug die Augen auf und sagte sehr leise, gedehnt und unendlich wehmütig: »Mau!«

Es war ihr letztes Wort. 260

 


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