Paula von Preradović
Pave und Pero
Paula von Preradović

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Die Flut

Das Schlimmste war die Wagenfahrt gewesen. Dies endlose Sitzen im dichtgeschlossenen, bitter nach altem Leder riechenden, im Schritt rollenden Gefährt, an dessen nicht ganz klaren Scheiben sehr langsam Hecken und Felder, Weingärten und Maulbeerbäume und schließlich die unendlichen Pappeln der langen Allee vorbeigeglitten waren. Denn der alte Friedhof San Giovanni lag weit außerhalb der Stadt.

Der Leder- und Staubgeruch hatte Pave sofort mit Macht an die Reise von Laibach nach Triest in Herrn Kusmars Kutsche erinnert, da die Kinder um sie herumgesessen und Cotia in ihrer stillen Art auf die fremden Wiesen und Steige hinausgespäht hatte, stets darauf erpicht. irgendwelche Tiere, Kühe mit langen Hörnern oder lustige Hündchen, zu erblicken. Durch diese höchst gegenwärtige Erinnerung wurde die Leidenschaftlichkeit von Paves Schmerz, die sich nach zwei Tagen etwas erschöpft und schweigender Stumpfheit Platz gemacht hatte, zu neuen Ausbrüchen gesteigert, die schlimmer gewesen waren als alle bisherigen und Miho, der neben Pave saß, bis zu Verzweiflung ängstigten. Er hatte ihr vorgeschlagen, ob sie ihn nicht allein zur Beerdigung wolle fahren lassen; ihre Abwesenheit beim Leichenbegängnis würde sich durchaus im Rahmen des Denkbaren halten und nicht gegen Brauch und Sitte verstoßen. Aber sie hatte ihn nur tief verstört angeblickt und wortlos den Kopf geschüttelt.

Wenn sie freilich gewußt hätte, wie fürchterlich es sein würde, dies marternd langsame Fahren hinter Cotias kleinem Sarge her, vielleicht wäre sie dann doch zu Hause geblieben. Dies Sich-Drücken in eine Ecke des rüttelnden, dumpf riechenden Gefährts, dessen Fenster herabzulassen der Schicklichkeit widersprochen hätte. 261 Dies Denken: hat sie diesen Stein auch nicht gespürt? Ist es denn wahr, daß sie nun gefühllos ist, daß nichts mehr ihr weh tut, daß sie vielmehr selig zu Gottes Füßen spielt? Ist sie nicht vielleicht aufgewacht, liegt sie nicht weinend in enger Finsternis, ruft sie nicht »Mau!« und niemand hört sie?

»Cotia! Cotia!« hatte Pave gellend aufgeschrien, hatte versucht, den Wagenschlag zu öffnen und hinauszuspringen. Miho hatte sie beim Handgelenk gepackt und sie in jenem Tonfall, den übernervösen Patienten gegenüber anzuwenden er seinerzeit auf der Fakultät gelernt hatte, angeherrscht, sich zusammenzunehmen. Da sie habe mitkommen wollen, sei es ihre Pflicht, das Schreckliche nun mit Würde und Anstand bis zum Ende durchzustehen. Er mußte so harte Worte seiner gutmütigen Natur und seiner eigenen tiefen Getroffenheit abringen. Denn manches in Paves Verhalten seit dem Verscheiden des Kindes, ihre scheuen Blicke, manches wirre Wort, die Hartnäckigkeit, mit der sie darauf bestanden hatte, Cotia ihre Puppe Maddalena und einen gewissen, gar nicht schönen himmelblau gefütterten Muff in den Sarg mitzugeben, hatten ihn belehrt, daß es für ihn ärztliche sowie brüderliche Pflicht war, Pave durch therapeutische Rauheit und Entschlossenheit aus einem geistigen und seelischen Krampf wieder herauszuhelfen, in den sie durch das Obermaß ihres Mutterschmerzes geraten zu sein schien.

Endlich hatte das Dahinschleichen des Wagens in völligem Stillstand geendet, und Pave war, erstauntes Entsetzen im Herzen, aus dem muffigen Dunkel der Kutsche in die blaue, vogeldurchzwitscherte Helligkeit eines Frühlingssonntags hinausgetreten. Die Sonne hatte kräftig geschienen, denn es war noch nicht zwei Uhr am Nachmittag gewesen, trotzdem war für Pave alles, was sich nun zutrug, hinter einem dichten Nebel, der nicht nur das Sichtbare, sondern auch Schall und Worte dämpfte, vor sich gegangen. Daß man von dem hochgetürmten Leichenwagen, auf dem Kränze gelegen hatten, 262 Cotias weißgoldenes Särglein heruntergehoben und es nach der vom Kirchhof umgebenen, frei in der Landschaft stehenden weißen Kirche getragen hatte, daß sie selbst an Mihos Arm dahingeschritten, daß sich aus einer zweiten Trauerkutsche die sehr ernste und bleiche Frau Biba und Herr Antonio Loro, geleitet von Carlotta und dem sich unaufhörlich schneuzenden Fräulein Marietta Zannoner, gelöst und sich im Zuge ihnen angeschlossen hatten, daß eine Menge fremder Leute dagewesen waren, bürgerliche Städter, aber auch Landvolk, schlanke, ja hagere Frauen hauptsächlich, in schwarzen Kleidern, deren schone stolze Profile aus lose übers streng gescheitelte Haar gelegten Schleiern herausragten, und daß in der Mitte dieser Frauen, etwas breiter und stämmiger als sie, mit unaufhörlichem Schluchzen Santa gegangen war – all das hatte sie gesehen und doch nicht gesehen. Und auch alles weitere: die noch winterkühlen Wände der Kirche, die schwarz bespannte Bank, in die man sie genötigt, und Cotias Sarg, den man als etwas sehr Erhabenes und Wichtiges mitten in die Kirche gestellt hatte, umgeben vom Kerzenflimmern und Weihrauchfaß-Schwenken, dann die Blumen, die jemand vom Wagen heruntergeräumt und hereingetragen haben mußte, das schöne lateinische Beten des Dompfarrers Don Raffaello und das geschnatterte Respondieren des Kirchendieners, endlich das Wiederhinaustreten in die grünblaue Helligkeit, das Gedränge um eine Grube, die neben der Tür zum Campanile ausgeschaufelt gewesen und an deren Rand noch Hacke und Schaufel gelegen hatten, das Hinablassen des kleinen Sarges, sein dumpfes Aufpoltern am Grunde des Grabes und das Hinabwerfen der Erde – auch all dieses hatte Pave gesehen und doch nicht gesehen, gehört und doch nicht gehört. Als sie, nachdem sie vielen Leuten hatte die Hand reichen müssen, im nun schneller fahrenden Wagen saß und abermals Pappeln und Maulbeerbäume, Weingärten, Felder und Hecken vor den Scheiben vorbeizogen, war sie wie vermauert gewesen in vollkommener Stumpfheit. Mihos strenge 263 ärztliche Vermahnung hatte mehr gefruchtet, als er selbst sich davon hatte erwarten dürfen. Sie hatte eine Veränderung und Verlagerung ihrer augenblicklichen Verfassung zur Folge gehabt, so daß es ihr ermöglicht war, nicht zu schluchzen und zu schreien, sondern ruhig und gefaßt zu scheinen. Miho war ein wenig stolz auf seine ärztliche Autorität und Suggestivkraft, als er die Schwägerin ziemlich aufrecht und ruhig neben sich sitzen sah. Er wußte freilich nicht, daß Pave vor seinen kräftigen männlichen Worten sich beugend, nicht das getan hatte, was zu tun gewesen wäre, nämlich die schrecklich verhängte Last hinzunehmen und zu tragen, sondern, daß ihre zerstörte und zerfetzte Seele scheu und doch listig einen anderen Ausweg gesucht und gefunden hatte. Dieser Ausweg war, das Fürchterliche, über Menschen- und Muttermaß hinaus Traurige und Unerträgliche, nicht wahrzuhaben und es fortrücken zu wollen. Nicht ganz, nicht völlig und in allen Belangen, und auch nicht eingestandenermaßen, aber doch teilweise und heimlich in tiefen Untergründen des Bewußtseins, von denen weder Pave selbst, noch auch Miho trotz seiner medizinischen Beschlagenheit etwas ahnten.

*

Bepi hatte der Tod der kleinen Nichte sehr zugesetzt; jene Magenkrämpfe, von denen sie schon seit Beginn ihrer Schwangerschaft mitunter heimgesucht worden war, hatten sich infolge der Aufregung und Ermüdung neuerdings eingestellt, und Miho hatte seiner Frau mehrere Tage Bettruhe verordnen müssen, was sie auch verhindert hatte, am Begräbnis teilzunehmen. Als er mit Pave vom Friedhof heimkehrte, fand er Bepi ziemlich elend, aber doch auch kaum weniger gemütsruhig als gewöhnlich vor, und er war entschlossen, sich nun einige Stunden seiner Frau zu widmen und an ihrem Lager sitzend von der übergroßen Anspannung der letzten Tage zu sich selbst zu kommen. Er empfand es als bedeutende 264 Erleichterung, daß Frau Biba, die Miro und Miliza während der Krankheits- und Trauertage völlig in ihre Obhut genommen hatte, Pave zu sich hinaufbat, um ihr den Anblick des Zimmers, in dem Cotia aufgebahrt gelegen hatte, zunächst noch zu ersparen. Freilich schwebte es ihm als eine schwere Pflicht vor, einen Brief an Pero über den Verlauf von Cotias Todeskrankheit schreiben zu müssen, doch verschob er ihre Erfüllung auf den Abend. Nun wollte er in Bepis stiller, friedlicher Nähe ein wenig von allem Traurigen und Schweren ausrasten; am späteren Nachmittag gab es ohnedies noch eine Reihe unerläßlicher Krankenbesuche zu erledigen.

Pave jedoch war nur kurz in der oberen Wohnung geblieben. Sie hatte Miliza umarmt, Miro gestreichelt und mit einer Gefaßtheit, die Frau Biba in Erstaunen setzte, im feierlichen Sitzzimmer eine Tasse Mokka zu sich genommen, die ihr als Herzstärkung gereicht worden war. Der erfahrenen alten Frau gefiel Paves Ruhe nicht, und sie traute ihr in keiner Weise. Das wilde Schreien und Schluchzen der ersten Tage schien ihr gegenüber dieser unheimlichen Starrheit noch ein wünschbarer Zustand zu sein, und sie dachte mit Grauen an die unlotbare Tiefe, in die der Schmerz sich zurückgezogen haben mußte, da diese Frau, die so sehr, so elementar Mutter war, zu dieser Stunde ruhig und fast getrost sein konnte. Nur ungern ließ sie Pave gehen, da diese sich alsbald erhob, und nur Paves Bemerkung, sie müsse an ihren Mann schreiben, der noch von nichts wisse, nahm Frau Biba den Mut, sie zurückzuhalten.

Von niemandem gesehen und angesprochen, gelangte Pave in ihr Zimmer, das durch die gute Vizza bereits gesäubert und in den alten Stand gesetzt worden war. Santa befand sich mit Duschan in der Kammer. Die Amme hatte Cotias Tod, der wenige Stunden nach ihrer reuigen Rückkehr erfolgt war, mit einem düsteren und tief schuldbewußten Schmerz begleitet. Pave hatte noch kaum das Wort an sie gerichtet, Miho aber sie mit sehr harten und deutlichen Worten wissen lassen, daß niemand 265 hier im Hause an die Erkrankung ihres Kindes geglaubt habe und daß ihr Gatte vermutlich jetzt zur Zeit der Frühlingsarbeit ihre Mithilfe gewünscht und sie zu so gröblicher Pflichtverletzung verleitet habe – eine Anschuldigung, auf die Santa kein einziges Wort erwiderte. Sie ahne wohl nicht, war Miho fortgefahren, welche Folgen ihr Vorgehen gehabt habe. Als Arzt sei er überzeugt, daß die kleine Cotia nicht hätte krank werden und sterben müssen, wäre ihre Mutter, die doch leidend sei, nicht durch die Aufgabe, den plötzlich um seine gewohnte Nahrung gebrachten, im übrigen unsinnig verzogenen Knaben zu warten, auf geradezu tödliche Weise überanstrengt gewesen. Er brachte diese Anklage nicht zornig, sondern mit tieftrauriger Ruhe vor, was ihre Wucht noch vermehrte und Santa in einen Zustand sprachloser Zerknirschung versetzte.

So saß die Amme nun in ihrer Kammer, und während sie auf einem Schemel hockend Duschan stillte, wiegte sie den Kopf und sagte vor sich hin: »Che disastro! Che disastro!« Aber sie sagte es weit verstörter und gedrückter noch als seinerzeit, da sie aus dem gräflich Strassoldoschen Hause in die bescheidene majorische Wohnung hatte übersiedeln müssen. Und sie nahm die Gewohnheit an, alle Hausgenossen, auch Vizza, von der sie vieles Böse über ihre Ausreißerei zu hören bekommen hatte, mit um Vergebung flehenden, stummen Blicken anzusehen.

Pave schaute sich scheu in dem harmlos rückverwandelten Raume um. Es war nun wieder das helle, heimliche Zimmer der friedlichen Zeiten, ihr Bett stand an der Wand, der Tisch, an dem sie vor neun Tagen, ja, genau vor neun Tagen, mit Cotia das kleine Bild bepinselt hatte, war neuerdings ans Fenster gerückt, nur Cotias Bettchen war verschwunden. Seine Stelle nahm ein altmodisches Zierkästchen ein, das Miho von Frau Biba entliehen hatte, damit der leere Fleck Pave nicht stündlich an den Verlust gemahne.

Pave legte den schwarzen Hut mit dem Trauerschleier ab, sie hängte den Mantel in den Kasten und holte mit 266 leisem Grauen die Schachtel mit dem Briefpapier, Tinte und Feder aus der Kommode. Sie setzte sich an ihren Tisch, tauchte den Kiel ein und schrieb rechts oben an den Rand des Blattes:

»Motta, am 25. März 1855.«

Und dann, etwas weiter unten in der Mitte:

»Mein lieber Pero!«

Sie schrieb es mit häßlicher, zittriger Schrift, und es fröstelte sie am ganzen Körper.

Wie soll ich anfangen? dachte sie. Wie soll ich ihm schreiben? Soll ich sagen: »Vor zwei Tagen ist Cotia gestorben?« Oder: »Vor zwei Stunden ist Cotia begraben worden?« Oder: »Sende keine Grüße mehr an Cotia, denn sie kann sie nicht mehr empfangen?« Oder: »Du wirst Cotia nie mehr sehen, denn sie lebt nicht mehr.«

All dies war unmöglich. Ganz und gar unmöglich. Sie durfte Pero mit dem Furchtbaren nicht so jäh überfallen. Sie mußte daran denken, ihn vorzubereiten, ihn sanft und allmählich darauf hinzuführen. Vielleicht bot sein letzter Brief, der am Abend von Cotias Erkrankung angelangt war, einen Fingerzeig. Sie holte ihn aus dem Schublädchen ihres Nachttisches, wo sie Peros sämtliche Briefe verwahrt hielt, und begann ihn zu lesen. Er fragte zunächst mit Unruhe nach ihrer Gesundheit und erbat von ihr und Miho eine aufrichtige Auskunft. Nun wohl, hiermit konnte sie beginnen. Sie wollte schreiben, daß es ihr gut gehe, durchaus gut, daß aber leider sonst nicht alles in Ordnung sei. So ähnlich wollte sie schreiben. Und sie begann. Sie bedeckte die erste der großen Seiten mit Beteuerungen über den guten Stand ihrer Gesundheit, über die Geringfügigkeit ihres Hustens und die Sicherheit, mit der man ihrer völligen Genesung für die allernächste Zeit entgegensehen könne. Daß Miho selbst zwei Zeilen darüber schreibe, wie Pero es erbeten habe, sei durchaus unnötig. Miho hasse das Briefschreiben und könnte auch nichts anderes berichten als sie. Nein, sie sei gesund, ihr Bericht sei aufrichtig, er möge ihretwegen gänzlich ohne Sorge sein. 267

War nun hier der Punkt, vom Guten zum Bösen überzugehen? War dies der richtige Augenblick, mit der schlimmen Botschaft zu beginnen?

Sie nahm abermals Peros Brief zur Hand und las weiter. Dabei entfuhr ihr ein Jammerlaut, denn was ihr in den Tagen von Cotias Krankheit fast entfallen war, hier stand es wieder, von Peros geliebter kleiner Schrift dem bläulichen Briefbogen anvertraut. Daß er neuerlich dienstliche Unannehmlichkeiten gehabt, daß es so nicht weitergehen könne, daß die letzte Zeit eine qualvolle gewesen sei, und daß er vor Nervosität beim kleinsten Lärm zusammenfahre. »Ich leide allzusehr!« Damit schloß seine Klage.

Pero litt allzusehr. Und nun sollte sie, Pave, sein Weib, das ihm Liebe und Treue geschworen hatte, sein Leiden ins Riesenhafte steigern! Sie sollte die Feder zur Hand nehmen und ihm schreiben, daß Cotia, sein Augentrost, sein liebstes Kind, seine holde kleine Vila, nach fürchterlicher, fieberhafter, röchelnder Krankheit ihre Engelsseele ausgehaucht habe und nun auf dem Friedhof San Giovanni begraben liege. Konnte irgendein Mensch, konnte Gott das von ihr verlangen?

Heute war Pero zwar traurig, er war nervös von den Quälereien, die ein boshafter Vorgesetzter ihm zufügte, er gab selbst zu, daß er »allzusehr« leide: aber sein Herz war leicht, verglichen mit der grauenhaften Schmerzensbürde, die alsbald darauf gehäuft werden würde, die sie, Pave, seine Frau, die er zu sich emporgehoben, die er im Lied verherrlicht, der er die süßesten Kinder erweckt hatte, verdammt war, ihm aufzuladen.

Stöhnend griff sie abermals zur Feder. Sie wollte zuerst versuchen, ihn zu trösten. Wenn dies geschehen war, wenn ihre Liebe ihm allen Balsam gespendet haben würde, der sein Herz nur irgend stärken konnte, dann, dann wollte sie mit dem Unsagbaren herausrücken, mit den zärtlichsten Worten wollte sie es ihm am Schluß des Briefes vorsichtig und sacht und gelinde beibringen.

Zunächst aber ging sie mit ängstlich liebevollen 268 Worten auf die Beschwerden und Klagen seines Briefes ein, sie verwies auf die Möglichkeit, daß der General auf einen anderen Posten kommen oder in Pension geschickt werden könne und daß der Nachfolger ohne allen Zweifel Peros ungewöhnliche Fähigkeiten erkennen und ihn dementsprechend mit Auszeichnung behandeln würde. Sollte der General aber auf seinem Posten bleiben, dann – Pave wiederholte hier, was sie in einem früheren Brief geschrieben hatte –, dann müsse Pero den Diplomaten spielen, den alten Griesgram umschmeicheln und so dessen Gunst gewinnen, wenn aber auch dies nichts fruchte, auf welche Weise immer der unhaltbaren Situation zu entkommen trachten. Denn wichtig, wichtig sei allein Peros kostbare, geliebte Gesundheit. Er dürfe nicht seine Nerven zugrunde richten lassen, er müsse sich für seine Familie, der er schon so vieles geopfert hatte, gesund erhalten. Er dürfe, dürfe, dürfe nicht krank werden, denn was sollten sie Ärmsten, Pave und die Kinder, dann beginnen?

Pave hörte auf zu schreiben und blickte in den lichten Nachmittagshimmel hinaus.

Peros Nerven! Durfte sie ihnen nun, da sie, wie er, der sonst niemals geklagt hatte, es selbst zugab, so angegriffen waren, daß ein leises Geräusch ihn zu erschrecken vermochte: durfte sie ihnen diese neue Belastung jetzt überhaupt zumuten? War es nicht schlechterdings das einzig Mögliche, ihn heute noch zu verschonen und auf seinen nächsten Brief zu warten, ihm diese bitterböse Botschaft erst mitzuteilen, wenn sie ihn wieder ruhiger wußte?

Pave atmete auf. Ein Gefühl unermeßlicher Erleichterung, eine geradezu selige Befreiung, von der sie nicht gedacht hätte, daß sie ihr am heutigen Tage widerfahren könnte, ergriff von ihrer Seele Besitz. Ja, das war die Lösung. Erfuhr er das Entsetzliche nicht früh genug? War es nicht in jeder, in durchaus jeder Hinsicht besser, menschlicher, liebevoller, ja Gott wohlgefälliger, wenn das unsagbar Traurige zunächst stumm blieb, wenn sie 269 allein litt, und den Geliebten noch nicht mit hinein in den Abgrund dieses Schmerzes riß?

Die Selbstüberlistung, der eifrige Betrug an ihrer besseren, klareren Erkenntnis war gelungen. Nicht aufgenommen, nicht getragen ward das Gräßliche, verdeckt wurde es, verschwiegen, verhehlt, und nächtige Gründe taten sich auf, gespenstige Weiten des Unheils, schwarze Höhlen, schwanger von künftiger Qual, die heute freilich von falsch barmherzigem Nebel verhüllt waren.

Emsig machte sie sich daran, den Brief zu vollenden. Sie beantwortete einige Fragen, die er gestellt hatte, berichtete von Duschans gutem Gedeihen, das durch das ammenlose Intermezzo, das sie nicht erwähnte, tatsächlich nicht gelitten hatte, und schloß den Brief mit zärtlichen Versicherungen ihrer Liebe.

Hierauf faltete sie das Blatt, beschrieb den Umschlag mit der langen, umständlichen Adresse: Oberstes Armeekommando, I. Sektion, Hofkriegsgebäude, Wien, klebte eine blaue Freimarke zu 25 Centesimi auf und siegelte.

Dann setzte sie sich aufatmend wieder an den Tisch. Wenn man das Böse nicht nannte, nicht wahr hatte, nicht kündete, war es dann überhaupt? Wenn Cotia für Pero nicht tot war, weil er von ihrem Tod nichts wußte, war sie dann überhaupt tot? Lebte sie nicht jedenfalls noch ein wenig, wenn Pero sie am Leben glaubte?

Pave stützte den Kopf in die Hand. Sie ahnte wohl, daß das, was sie sich da zuflüsterte und weismachte, nicht ganz richtig sein konnte, daß sie sich auf einen kleinen trügerischen Seitenweg begeben hatte, auf einen blumigen Irrpfad, voll von Schierling und Schlangen. Aber konnte denn heute jemand von ihr verlangen, daß sie den geradesten Weg ging? War es nicht aller Ehren wert, wenn sie sich so weit aufrechtzuerhalten vermochte, daß es ihr gelang, nur überhaupt irgendeinen Weg zu gehen?

Sie lehnte sich zurück. Und da geschah es zum erstenmal mit voller Deutlichkeit, was sich in Stunden der Not ferne und undeutlich schon zuweilen begeben hatte: Flut stieg empor um Pave, die hellwach war und offenen 270 Auges um sich blickte, linde, dunkle, barmherzige Wasserflut. Sie gestattete Pave, sich hintüber zu legen und sacht in die Wellen gleiten zu lassen, die sie und alles Herzeleid aufnahmen, umfingen und zudeckten.

Als Miho gegen Abend, von seinen Kranken kommend, die Treppe emporstieg, traf er Frau Biba, die zum Ausgehen gerüstet hinabging.

»Ist meine Schwägerin nicht mehr bei Ihnen?« fragte er die mächtige Matrone.

»Längst nicht mehr. Sie blieb nur kurz, da sie an ihren Mann schreiben wollte.«

Miho atmete erleichtert auf. »Ah, gottlob! Hat sie sich also aufgerafft! So will ich rasch gehen und ein paar Zeilen an den Schwager beifügen.«

In diesem Augenblick stürmte Vizza die Treppe empor und wollte an den Herrschaften vorbei in die Doktorwohnung eintreten. »Wo warst du?« wurde sie von ihrem Dienstherrn gefragt. »Die Frau Majorin hat mich mit einem Brief zur Post geschickt.«

Nun war Miho noch erleichterter als vorher. »So werde ich morgen schreiben, da Paves Brief schon fort ist.«

Er verabschiedete sich ehrerbietig von Frau Biba, die mit den Worten: »Arme kleine Mutter! Arme kleine Mutter!« langsam die Stufen hinabstieg.

In der Nacht aber nach Cotias Begräbnis träumte Pave diesen Traum.

Sie war in Lukoran. Zwar sah sie das Haus nicht, und was vor ihr glitzerte, war nicht das runde Hafenbecken, sondern offenes Meer, aber sie wußte trotzdem, daß sie in Lukoran war. Sie saß auf dem kleinen Molo und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Da sah sie Cotia auf sich zukommen. Die trug das weiße Kleidchen, in dem man sie aufgebahrt hatte, aber sie war rotbackig und gesund. Mitten durch das Wasser, das sie von allen Seiten umgab wie ein Zelt, ging sie auf Pave zu und rief: »Komm, Mau!« Sogleich sprang Pave vom Molo hinab und lief Cotia entgegen, nun wölbte das blaue Wasser sich auch um sie wie eine riesige Glaskugel, und Hand in Hand mit 271 dem Kinde wandelte sie wohlgemut durch die Flut, die ganz stillstand und durch die man gehen konnte wie durch Luft . . .

Miliza, die zum erstenmal wieder im alten Zimmer schlief, erwachte in der Nacht davon, daß sie die Mutter laut jammern hörte. Sie wagte zuerst nicht, sich zu rühren, als jedoch die trostlosen Laute nicht verstummten, rief sie ängstlich: »Mau, bist du krank?«

Pave entzündete die Kerze. »Miliza, ich habe Cotia gesehen.«

»Cotietta ist im Himmel«, entgegnete Miliza mit großer Bestimmtheit. »Sie spielt mit den Engeln. Sie hat die Maddalena mitgenommen, damit die Engel sie sehen können.«

Pave hörte nicht auf die Worte des Kindes. »Ich war mit Cotia in Lukoran. Sie hat mich gerufen. Ach, Miliza, Miliza, nie wird Cotia Lukoran sehen!« Pave schluchzte und wimmerte, bis auch Miliza zu weinen begann. Da kam Pave zur Besinnung, sie stand auf, nahm das Kind zu sich ins Bett und sprach ihm begütigend zu, bis es eingeschlafen war.

Zwei Tage später, am frühen Vormittag, sprach Frau Biba vor und fragte an, ob die Frau Majorin ihr nicht den großen Gefallen tun wolle und hinaufkommen. Sie sei in ärgstem Gedränge wegen Carlottas Aussteuer, und alle Freundinnen müßten heran, um zu helfen. Die eine Näherin sei erkrankt, und man müsse unbedingt diese Woche mit der Leibwäsche fertig werden. Im Juli wollten sie ja durchaus heiraten, diese Springinsfelde.

Pave trocknete sich die Augen, die nun fast immer voll Tränen waren, und lächelte weh. »Sie sollen lieber nicht heiraten. Weiß der Himmel, was sie nicht alles werden erleben müssen!«

»Gutes und Böses werden sie erleben«, sagte Frau Biba, »Gutes und Böses, wie Gott es schicken wird. Sie werden jubeln und weinen, sie werden jung sein und alt werden, sie werden Taufen feiern und Begräbnisse. Das Leben werden sie leben mit einem Wort. Das Leben ist schwer, 272 aber reich, und man muß es nehmen, wie es ist.« Frau Biba sprach es ernst und nachdrücklich in Paves Augen hinein, ähnlich wie vor Monaten die Gräfin Strassoldo Pave in die Augen gesehen und gesagt hatte: »Man darf nicht traurig sein!«

»Das Leben nehmen, wie es ist! Wenn man das kann, dann ist es gut. Nicht jeder kann es.« Paves Gesicht war bleich und trostlos, aber sie schickte sich gehorsam an, zu Frau Biba hinaufzugehen.

»Es entspricht nicht der Schicklichkeit, daß ich Frau Pave schon heute zu mir hinaufrufe, da noch andere Leute oben sind«, sagte die Padrona di Casa flüsternd zu Bepi, die im Bett lag. »Aber man darf sie nicht allein lassen. Ihre Augen gefallen mir nicht. Sie könnte sich irgendwohin verlieren, woher es schwer wäre, wiederzukehren.«

»Daß Pave dies Unglück geschehen mußte, ihr, die alles so schwer nimmt!« Bepi lag bleich und kummervoll in ihren Kissen. »Mir ist auch weh ums Herz um die kleine Cotia, ich liebe Paves Kinder, als wären sie meine eigenen. Dankbar bin ich Ihnen, Frau Biba, sehr dankbar, daß Sie sich Paves annehmen. Ich bin jetzt eine schlechte Gesellschaft für sie, bin krank und launenhaft. Auch tut es mir leid, daß ich beim Nähen jetzt nicht helfen kann.«

»Ach, das mit dem Nähen ist nur eine Finte. Frau Pave soll glauben, daß sie oben bei mir gebraucht wird, darum habe ich das Ganze angezettelt.«

In die Fenster von Frau Bibas Stube sah herrlicher Frühlingshimmel, aus allen Gärten grünte es smaragden herauf, und jeder Rasenfleck war blau von Veilchen.

Frau Biba tat, als sei Pave die gewiegteste und gewitzigteste Näherin in der ganzen Provinz Venezien. Sie holte wegen eines Hemdenschnittes ihren Rat ein. Carlotta, die mit einer jungen Weißnäherin, einem bleichen Ding mit langer Nase, in der gewohnten Fensternische saß, mußte über dem Kleid den Schnitt probieren, und Frau Biba lud Pave ein, sich zu ihr an den alles beherrschenden runden Tisch zu setzen. Auch Marietta 273 Zannoner war anwesend. Sie hielt wie alle übrigen ein Stück weißes Wäschezeug in der Hand und nähte wie besessen. Aber ihr Gesicht war traurig, und jedesmal, wenn sie zu Miro und Miliza, die beharrlich hustend ihren alten Spielwinkel bezogen hatten, hinüberblickte, war sie genötigt, ihr Taschentuch aus dem Beutel zu nehmen und sich ausgiebig zu schneuzen. Plötzlich aber schluchzte die alte Jungfer hart auf, und das Tuch vor dem Gesicht stürzte sie in das feierliche Sitzzimmer. Frau Biba erhob sich mit gerunzelter Stirne und ging ihr nach.

»Was treibst du, Marietta?« sagte sie vorwurfsvoll, nachdem sie die weiße Tür hinter sich zugezogen hatte. »Soll das eine Hilfe für die Ärmste sein, wenn wir Alten das Heulen nicht verhalten können?«

Fräulein Zannoner jedoch war außer sich. Mit seltsam demütigem, aber unaufhaltsamem Schluchzen ließ sie sich auf einem der dünnbeinigen Stühle nieder. »Sei mir nicht böse, Biba, aber ich kann nicht helfen! Als ich die Zwei spielen sah, die sonst zu dritt gespielt haben, da war es aus. Ach, Biba, Biba, und zu denken, daß ich schuld bin!«

»Wieso denn du schuld? Fange doch nicht wieder mit deinen Geschichten an!« Nichts war Frau Biba widerwärtiger als das, was sie »Geschichten« nannte, ein verächtlicher Ausdruck, mit dem sie alle Arten von weiblicher Überempfindsamkeit, von übertriebenen Skrupeln und von Wehleidigkeit zusammenfaßte.

»Nun, bin ich etwa nicht schuld? In meinem Hause haben Miro und Miliza sich angesteckt. Aus purer Güte, um mir alter Närrin eine Freude zu machen, hat der Doktor sie am Faschingsonntag in ihren Maskenkostümen zu mir heraufgebracht, und ich, statt sofort zum Schneider Saccon zu laufen und ihm zu sagen, er dürfe seine hustenden Bälger nicht aus der Tür lassen, habe mir's wohl sein lassen, ich Dumme, habe mit dem Doktor gescherzt und den Kindern die Siebensachen im Glaskasten gezeigt und war stolz darauf, daß sie ihnen gefielen. Oh, ich törichte Alte! Ich böse Alte! Wäre lieber ich gestorben statt des süßen kleinen Engels!« 274

Ihr Schmerz war tief und aufrichtig. Frau Biba hielt sich jedoch nicht damit auf, sie zu trösten. »Wußte denn der Doktor nicht, daß die Saccon-Kinder den Keuchhusten hatten?« fragte sie mit aufmerksamem Blick.

»Woher denn sollte er es wissen? Denkst du, die holen einen Arzt, obgleich der Bezirksarzt von den Armen doch kein Geld nehmen darf? Denkst du, die zeigen eine ansteckende Krankheit an, obgleich man's ihnen zu ihrem eigenen Besten vorschreibt! Aber ich, ja, ich, ich habe den verdächtigen Husten gehört, ich hätte die Gescheite sein müssen. Oh, um die strahlende Jugend, die der alten Dummheit zum Opfer fällt!«

»Nimm dich zusammen!« sagte Frau Biba trocken. »Worum es sich jetzt handelt, das ist, daß wir der armen Mutter helfen. Mit Liebe können wir's und dadurch, daß wir sie in jeder Weise ins Leben zurückrufen. Solche Mütter, wie Frau Pave eine ist, die sind mit ihren Kindern gar fest verwachsen. Wenn denen ein Kind stirbt, dann wissen sie sich nicht von ihm zu lösen, sie lassen sein Händchen nicht aus, sie gehen ihm nach, wenn das lebendige Leben um sie herum nicht laut und warm genug ist, um sie zurückzurufen und festzuhalten.«

Das alte Fräulein nickte schwermütig zu den Ausführungen ihrer resoluten Verwandten. Flüsternd sagte sie:

»Von der Doktorsmagd habe ich gehört, daß Frau Pave die ganze Nacht, nachdem Cotia gestorben war, auf ihrem Bett gesessen und sie im Arm gehalten hat. Niemand konnte sie wegbringen, auch der Signor Miho nicht. Sie wolle Cotia nicht allein lassen, habe sie gesagt, in dieser Nacht weniger als je vorher.«

»Und damit hatte sie recht.« Frau Bibas breites, knochiges Gesicht nahm einen fremden, geheimnisvollen Ausdruck an. »Wissen wir denn, wann die Seele den Körper verläßt? Nichts wissen wir, nichts.« Mit leiser, aber zorniger Stimme fuhr sie fort: »Unsere Zeit ist vor lauter Bildung so verlottert und verwildert, daß die Menschen das Einfachste verlernt und vergessen haben. In meiner Jugend, da wurden noch ordentliche Totenwachen 275 gehalten, da ist man die ganze Nacht beim Licht geweihter Kerzen um den Tisch herumgekniet und hat gebetet, damit der Seele Hilfe zuteil werde, wenn sie ihren neuen Weg beginnt. Die Bauern, die wissen das Richtige noch, aber wir gebildeten Leute! Es ist eine Schande! Komm jetzt, und kein Geflenne mehr, wenn ich bitten darf!«

Als sie ins Nähzimmer zurückkehrten, fanden sie Pave bei den Kindern kauernd vor. »Dürfen sie auf dem Teppich spielen? Ich habe Angst, daß Miliza sich erkältet, wenn sie auf dem Fußboden sitzt.«

»Aber freilich. Kommt hierher, dieser Teppich ist dick. Und die Sonne scheint ja schön warm herein. Frau Pave, nächste Woche muß ich nach Oderzo fahren, hätten Sie nicht Lust, mit mir zu kommen? Die Abwechslung wird Ihnen gut tun. Und Bianca wird entzückt sein. Sie hat Sie sehr lieb.«

Pave antwortete mit einem so wehen und müden Lächeln, daß es allen, die ihr Gesicht sahen, ins Herz schnitt: »Vielleicht später, Frau Biba. Jetzt kann ich noch nicht.«

Kurz darauf stand sie auf, legte die Arbeit fort und nahm Frau Biba beiseite. »Sind Sie mir böse, Frau Biba, wenn ich jetzt fortgehe? Ich leiste hier nichts und ich ertrage die Menschen nicht.« Sie biß sich auf die Unterlippe und mit verzerrtem Gesicht, ohne jemand zu grüßen, gewann sie den Ausgang.

Bei Bepis Wohnungstür traf sie mit dem Postboten zusammen, der ein verschnürtes und vielfach versiegeltes Paket brachte. Ein Blick belehrte Pave darüber, daß es von Pero kam. Sie entlohnte den Boten und ging in ihr Zimmer. Dort legte sie das Paket auf die Kommode, ohne es zu öffnen, und begann in Cotias Kleidern zu kramen. Sie nahm sie aus den Schubladen, das Blaugestreifte und das Rosenfarbene, das Kragenmäntelchen und den roten Hut, den sie am Faschingsonntag, als Toni dagewesen war, garniert hatte. Dabei dachte sie, daß an jenem Tag alles Unheil seinen Anfang genommen hatte. Herr Vianello war gekommen und hatte Santa zum Fortgehen 276 überredet, und die Kinder hatten sich bei ihren Besuchen den Keuchhusten geholt. Wäre Santa dageblieben, so wäre sie, Pave, besser zur Pflege imstande gewesen und Cotia hätte sich bei Nacht nicht erkältet, und wären die Kinder nicht in die fremden Häuser gegangen, so hätten sie die Krankheit nicht heimgebracht. Ja, wenn, wenn, wenn! Es war zum Verrücktwerden. Wer konnte alles bedenken, wer war mächtig genug, allem Unheil zu begegnen! Sie barg ihr Gesicht in Cotias blauweißem Kleidchen und hoffte, etwas von ihrem Geruch darin zu finden. Aber es roch nur stark nach der unverfälschten Wolle, aus der es gefertigt war, und enttäuscht legte Pave es fort.

In einen weiten Morgenrock gehüllt, trat Bepi ein. »Bist du nicht oben, Pave? Und hilfst Frau Biba? Was tust du hier? Laß doch Cotias Kleider! Pave, vergrabe dich nicht in den Schmerz! Es hat keinen Sinn!«

»Sinn! Sinn! Was hat denn Sinn auf der Welt, wenn Cotia tot ist.« Und Pave begann wieder ihr wildes Schluchzen und Schreien, mit dem sie in den Tagen vor dem Begräbnis die Wohnung erfüllt hatte.

Bepi sah die Schwester ratlos und ängstlich an. »Hast du denn nicht noch Kinder, Pave? Kannst du nicht noch welche bekommen?«

»Damit sie mir wegsterben!« Pave lachte höhnisch auf.

Sie hatte es die ganze Zeit geflissentlich vermieden, nach dem Paket auf der Kommode hinzublicken, ja, sie kehrte ihm absichtlich den Rücken. Jetzt aber hatte es Bepi entdeckt. Um Pave abzulenken, fragte sie danach. Es sei eben gekommen, sagte Pave, sie wisse nicht, was darin sei.

Ob sie es öffnen solle, fragte Bepi.

Ja, wenn sie wolle, ihr sei es gleich.

Bepi zerschnitt die Schnur, brach die Siegel auf und löste aus dem dicken braunen Papier drei mit bunten Bildchen beklebte Pappschachteln von verschiedener Größe. Ein Brief von Pero lag obenauf.

»Willst du nicht lesen, was dein Mann dir schreibt?«

»Ich werde es lesen. Später!« 277

»Bepi!« schrie sie plötzlich auf. »Bepi! Laßt mich! Ich kann doch nicht ruhig alles tun, als wäre Cotia nicht tot. Was kümmert mich Frau Bibas Näherei? Was kümmert mich ein Brief? Begreift ihr denn nicht, daß Cotia tot ist?«

»Sie war doch noch so klein!« wandte Bepi ungeschickterweise ein.

»Klein!?« brach es mit wilder Erbitterung aus Pave. »Klein! Hast du je ein Kind gesehen, das schöner war, gütiger, sanfter? Ein Engel war sie! Ach, wie wird Pero es ertragen? Sage mir, wie? Bepi, sage es mir!«

»Pero ist ein Mann. Du darfst seinen Schmerz nicht nach dem deinen beurteilen.«

»Er hat niemand mehr geliebt als Cotia, denn Cotia war unvergleichlich. Niemals wird er seine Cotia verschmerzen.«

Bepi machte sich leise davon. Frau Biba mochte sagen, was sie wollte, vielleicht war es doch am besten, man ließ Pave allein, da jedes harmlose Wort, jeder Versuch, zum Guten zu reden, so leidenschaftlichen Widerspruch zeitigte.

Pave näherte sich ängstlich der Sendung aus Wien und öffnete langsam den Brief. Es war nur ein kurzes Blättchen.

Zum Osterfeste, so schrieb Pero, schicke er drei Schachteln mit Spielzeug, um die Kinder zu erfreuen. Die größte solle sie Miro geben, die mittlere Miliza, die kleinste Cotia. Er wünsche es sich sehr, bald zu erfahren, welchen Eindruck die Geschenke auf die Kinder gemacht hätten, besonders auf Cotia. Im übrigen sei er ruhiger und suche das Beste aus der Situation herauszuholen, Neuerdings sei wieder von jenem Posten am Konsulat in Belgrad die Rede, dieser scheine allerdings die vorteilhafteste von allen vorhandenen Möglichkeiten darzustellen. Qui vivra, verra. Er wünsche ihnen gute Ostern. Und Pave möge gewiß bald schreiben, ob die Gaben Freude erregt hätten.

Abgewandten Angesichts legte Pave den Brief auf ihren Nachttisch, die Schachteln aber öffnete sie nicht und ließ sie liegen, wo sie waren. 278

*

Das Gitter des Beichtstuhls bestand aus einem dünnen, mit weißer Ölfarbe gestrichenen Brettchen, in das runde Löcher gebohrt waren. In seiner Mitte war ein himmelblaues Kreuz aufgemalt. Auf dieses Kreuz starrte Pave und wartete, bis das Fensterchen dahinter geöffnet werden würde. Sie hörte das schüchterne Gemurmel einer Frauenstimme von der anderen Seite des Beichtstuhls und grub vor Angst die Zähne in die Unterlippe. Don Raffaello war bekannt dafür, daß er sehr böse wurde, wenn eine Sünde seinen Abscheu erregte. Manche Frauen kamen weinend aus dem Beichtstuhl. Was würde er zu ihrem Schweigen sagen? Schon dachte sie daran, sich im letzten Augenblick leise fortzuschleichen, aber erstens hielt die Scheu vor den ringsum Knienden sie ab, und dann war es der Samstag vor dem Weißen Sonntag. Die österliche Zeit ging morgen zu Ende und sie war noch nicht zum Tisch des Herrn gegangen.

Die Frauenstimme war jetzt verstummt und wurde durch das tiefere und lautere Reden des Pfarrers abgelöst. Dann ward Pave inne, daß der schwere Körper Don Raffaellos sich nach ihrer Seite herüberwandte, das Türchen knarrte, und sie erblickte durch die runden Löcher des Gitters den alten Priester in Chorhemd und Stola, der ergeben und müde im Beichtstuhl saß und ihr sein zerfurchtes Gesicht mit der großen Sperbernase zudrehte. Er erkannte sie. Diese ist rein, dachte der alte Hirte, ich kenne sie. Hier werde ich nichts Schlimmes hören müssen.

Pave sprach das vorgeschriebene Gebet und nannte dann ängstlich und leise ihre Sünden. Als sie zum Eigentlichen kam, hielt sie einen Augenblick inne. Der Priester, der dachte, sie sei schon zu Ende, wollte nun seine Belehrung halten und begann: »Liebe Tochter!« was es Pave fast unmöglich erscheinen ließ, nun noch mit dem Bösesten und Schwersten herauszurücken. Dennoch überwand sie sich mit Aufbietung aller ihrer Kräfte und stieß hervor:

»Ehrwürdiger Vater! Ich habe noch etwas. Ich weiß 279 nicht, ob es eine Sünde ist. Aber vielleicht ist es sehr arg. Ach, ich kann es nicht herausbringen.«

»Nun, nun«, brummte Don Raffaello, »es wird so schlimm nicht sein. Sage es, meine Tochter, sage es!« Diese Worte, so gewohnt und üblich sie auch im Beichtstuhl waren, ermunterten Pave doch ein wenig. Sie gewann es über sich, weiter zu reden, und flüsterte:

»Sie wissen doch, daß am 23. März mein Töchterchen gestorben ist?« Sogleich auch liefen ihr die Tränen über die Wangen, und ihr Mund bog sich krampfhaft nach unten, während ihr Kinn sich zitternd verzog.

Don Raffaello sah es voll Leides. »Povera mammina!« sagte er väterlich. »Gott tröste dich! Freilich weiß ich, daß eure Cotia gestorben ist, wie sollte ich nicht? Habe ich sie doch selbst eingesegnet, und es hat mein Herz zerrissen.« Erwartungsvoll blickte er durch das Gitter Pave an, die ihre Tränen trocknete.

»Also, ehrwürdiger Vater, nicht wahr, Cotietta ist am 23. März gestorben. Halten Sie es für ein Unrecht, daß ich es meinem Mann bisher nicht mitgeteilt habe?«

Don Raffaello fuhr auf, als hätte eine Viper ihn gestochen; er wetzte auf seinem Sitz und klopfte mit dem gebogenen Zeigefinger der rechten Hand an das Gitter. Alle in der Nähe Knienden waren sich nun im klaren, daß diese junge Frau, die da so lange im Beichtstuhle weinte und sich schneuzte, etwas sehr Übles gebeichtet haben mußte, denn dies war Don Raffaellos Art, auf eine arge Sünde zu reagieren. »Was!?« flüsterte er laut. »Du hast deinem ehelichen Gatten den Tod eures Kindes verschwiegen? Und warum? Und warum? Schreibst du ihm überhaupt nie? Wir haben doch die Post hier.«

»Ich schreibe jede Woche an meinen Mann«, entgegnete Pave zitternd.

»Und verschwiegst es ihm doch? Belogst ihn in jedem Brief? Und warum, sage mir? Madonna, Madonna, dies ist eine schlimme Sache. Also sage schon endlich, warum?!«

»Ich habe Angst, meinem Mann diesen Schmerz 280 zuzufügen«, brachte Pave heraus und weinte schon wieder.

»Nun wohl, aber glaubst du, sein Kummer wird geringer sein, wenn er nach Monaten hört, daß sein Kind gestorben ist? Er wird noch denken, ihr hier habt es umgebracht.«

»Per l'amor di Dio!« seufzte Pave entsetzt und ganz laut und erweckte das lebhafte Interesse mehrerer weiblicher Beichtkinder, die in der Nähe knieten. Don Raffaello bemerkte es. Er steckte den Kopf zwischen den Vorhängen des Beichtstuhles heraus und rief: »Geht weg, ihr da! Ist die Kirche nicht groß genug?« Dann wandte er sich wieder Pave zu.

»Nur Unglück kann entstehen, wenn du deinem Mann nicht die Wahrheit sagst. Tu es sogleich! Schreibe augenblicklich, hörst du?! Ich kann dich nicht lossprechen, ehe du es getan hast.«

»Oh, nicht lossprechen?« stammelte Pave und die Zähne schlugen ihr aufeinander.

»Eheleute sind sich gegenseitig Vertrauen schuldig. Ohne Vertrauen ist die Ehe eine Hölle. Ist dein Mann denn nicht gut? Verdient er kein Vertrauen? Hast du ihn auch sonst belogen?«

»Nein, nein, sonst nie«, weinte Pave. »Aber dies, es ist zu schwer. Cotietta war sein Liebling. Und er hat ohnedies Sorgen genug. Ich kann ihm nicht noch etwas Böses antun. Ich kann nicht, kann nicht, kann nicht.«

»Gott schickt die Leiden«, entgegnete der Priester. »Wir dürfen sie nicht totschweigen wollen. Dein Mann ist ein tapferer Offizier, soviel ich weiß; er wird tragen, was Gott schickt.«

»Nicht, daß Cotietta tot ist. Er liebt sie am meisten. Mehr als die anderen Kinder. Mehr als mich. In jedem Briefe sendet er ihr Küsse und fragt, ob sie den Miu noch kennt.«

»Höre, meine Tochter, gehe sogleich und schreibe den Brief«, sagte Don Raffaello in großer Aufregung. »Gehe nach Hause, setze dich hin und schreibe ihm. Nachher komme wieder und ich werde dich lossprechen.« 281

»Ich kann nicht.« Pave wimmerte.

»Doch, du kannst. Du wirst können. Geh und schreibe. Geh sogleich. Ich erwarte dich hier. Und sollte ich nicht mehr in der Kirche sein, so läute nebenan am Pfarrhaus. Verschiebe es nicht auf morgen früh. Tue es heute!«

»Ich werde versuchen, mein Vater!«

»Nicht versuchen wirst du, sondern tun. Schreiben wirst du, schreiben. Furchtbares Unglück kommt, wenn du nicht schreibst. Du mußt augenblicklich schreiben. Geh und habe Mut!«

Pave schlich aus dem Beichtstuhl, und daran, daß sie nicht in einer Bank niederkniete, um ihre Buße zu beten, sondern mit leisen Schritten und gesenkten Gesichts aufs Kirchentor zuschritt, erkannten einige findige Kirchenbesucherinnen sogleich, daß der Hochwürdigste sie nicht absolviert hatte.

Don Raffaello nahm seine übrigen Beichtkinder vor. Er wartete in der dunklen Kirche, er ging hinüber ins Pfarrhaus und befahl der alten Michelina, die Hausglocke wohl in acht zu haben. Er saß bei einem ungeschlachten Stück Weißbrot, etwas hartem Parmesankäse und einem Krug Rotwein bis in die Nacht hinein auf. Aber Pave kam nicht, und auch am nächsten Morgen fand sie sich nicht ein, nicht im Beichtstuhle und nicht am Tische des Herrn.

*

Das Frühlingswetter, das zu Ende des März, da man Cotia begraben hatte, von so blauer Lieblichkeit gewesen war, wich im April einer längeren Regenzeit. Heftige Böen peitschten die Regengüsse in wilder Schräge daher, die Straßen waren wieder in demselben schlechten Zustand wie im Winter, und während die Landwirte und die Winzer mit der reichlichen Aprilfeuchtigkeit sehr zufrieden waren, hatte das nasse und stürmische Wetter bei der Bevölkerung zahlreiche Erkrankungen im Gefolge. Die Ärzte der Stadt und vor allem Miho, der neben seiner Privatpraxis das Amt eines Bezirksarztes 282 zu versehen hatte, waren in rastloser Tätigkeit, denn die fiebrigen Erkältungen, die nicht selten, ähnlich wie es bei Cotia gewesen war, in Lungenentzündungen ausarteten, nahmen fast den Umfang einer kleinen Epidemie an. Außerdem und ohne Zusammenhang damit zeigten sich ziemlich zahlreiche Fälle von schweren fiebrigen Verdauungsstörungen, die Miho voll ernster Sorge als eine Art von typhösem Fieber bezeichnete. Es hatte sich eine Anzahl von Todesfällen ereignet, und nicht nur Miho und seine ärztlichen Kollegen, sondern auch der Apotheker, der sein schönes, kleines Gewölbe vor dem Trevisanischen Tor unweit dem Loroschen Hause hatte, die Priester, allen voran der Dompfarrer Don Raffaello, und der Totengräber von San Giovanni sahen sich in eine traurig erhöhte Geschäftigkeit versetzt.

Durch zwei bis drei Wochen, von den letzten Märztagen bis gegen die Mitte des April war Miho zu Hause kaum zu sehen. Er machte sich frühmorgens auf den Weg und pflegte, abgesehen von einer ganz kurzen Mittagspause, während welcher er oft stehend ein gehetztes Mahl einnahm, erst spät abends nach Hause zurückzukehren. Er saß dann todmüde da, nahm Miro auf seine Knie, fragte Bepi, die immer noch zeitweise an Magenkrämpfen litt, nach ihrem Befinden, streichelte sie, während er das von ihr und Vizza angesichts seiner Übermüdung besonders sorgfältig bereitete Abendessen einnahm, über Wangen und Hände und war zumeist zu erschöpft, um viel zu reden. Mitunter richtete er sorgenvolle und fragende Blicke auf Pave, ohne daß es jedoch in dieser Zeitspanne je zu einem längeren Gespräch zwischen ihr und ihm gekommen wäre. Doch überwachte er gewissenhaft den Verlauf des Keuchhustens bei Miro und Miliza, der sich gelinde anließ. Der kleine Duschan war wie durch ein Wunder verschont geblieben. Gewöhnlich mußte Titta Palamin, der kraushaarige Pferdebursche, spät abends nochmals anspannen, denn es verging kaum ein Tag, an dem Miho nicht noch in der Nacht einige gefährdete Kranke hätte besuchen müssen. Er hätte Pave 283 untertags zuweilen gerne auf seine Fahrten mitgenommen, um ihr etwas Zerstreuung zu verschaffen, doch war es wegen des schlechten Wetters fast nie möglich.

In der Zeit um Ostern, es war in den ersten Apriltagen, lag Miho an einem Abend, an dem es ihm gelungen war, etwas früher als sonst heimzukehren, im Bett. Er hatte Decken und Federbetten auf sich gehäuft, denn er fühlte sich einigermaßen erkältet und wollte durch eine kräftige Schwitzkur einer Erkrankung zuvorkommen. Während er von Bepi eine dampfende Tasse Lindenblütentee entgegennahm und sie vorsichtig auszulöffeln begann, ließ er seine Augen gedankenvoll im Zimmer umherschweifen.

»Hast du Honig hineingetan? Ja? Das ist gut. Sage, Bepi, schläft Pave schon?«

»Sie hat gesagt, daß sie sich heute ebenfalls früh zurückziehen will. Brauchst du etwas von ihr?«

»Nein, aber es macht mir Sorge, daß ich noch nicht dazugekommen bin, an Pero zu schreiben. Es wäre meine Pflicht gewesen, ihm sogleich alles über Cotia zu berichten. Aber wie soll ich? Du weißt, wie verteufelt schwer ich mich zum Briefschreiben entschließe. Wenn ich nun überhaupt keine Zeit habe, wie jetzt, dann ist es mir rein unmöglich. Sage selbst, wann ich schreiben sollte!«

»Du richtest dich ohnedies zugrunde mit der vielen Arbeit. Man kann doch nicht alles von dir verlangen. Pave wird gewiß alles genau geschrieben haben.«

»Bist du so durchaus sicher, daß sie es getan hat?«

»Warum sollte sie es nicht getan haben? Wie sonderbar du fragst! Ich weiß, daß sie am Tage des Begräbnisses einen langen Brief an Pero abgeschickt hat. Vizza mußte noch am Abend damit zur Post.«

»Und was hat Pero geantwortet?«

Miho hatte den Lindenblütentee ausgetrunken, zog die Decke bis unters Kinn hinauf und reckte und streckte sich unter seinen vielen Hüllen, bis er ganz gerade auf dem Rücken zu liegen kam. Bepi setzte sich auf einen 284 Stuhl am Fußende des Bettes und sah mit ihren von der Schwangerschaft verquollenen Augen, in denen eine Spur von Ungeduld zu entdecken war, in das vom Schnupfen und der Wärme gerötete Gesicht ihres Mannes.

»Erstens kann Peros Antwort noch kaum hier sein. Und zweitens, frage du Pave in ihrer jetzigen Gemütsverfassung um die harmloseste Sache, so kannst du dich sogleich auf das bitterste Jammern und Schreien gefaßt machen. Ich jedenfalls möchte nicht diejenige sein, die sie fragt, wie Pero die Nachricht von Cotias Tode aufgefaßt hat. Wenn du es wissen willst, so schreibe ihm.«

Mihos Gesicht zog sich sorgenvoll zusammen. »Ich sage dir doch, daß ich keine Zeit habe, und dann, siehst du, Bepi, ich hätte ihm gleich schreiben müssen. Es jetzt zu tun, würde mir sonderbar vorkommen. Pero würde das Gefühl haben, daß ich in einer für ihn so traurigen und wichtigen Sache mehr Eifer hätte entfalten müssen. Denn wie soll ich ihm das Übermaß meiner Arbeit schildern?«

Bepi war ungnädig. »Ihr Männer habt immer so sonderbare Bedenken. Wenn du es für nötig hältst, so schreibe, wenn du aber keine Zeit hast, so schreibe nicht. Ein dritter Weg wird sich schwer ausfindig machen lassen.«

Miho sah seine Frau begütigend an. »Nicht bös sein, Bepiza! Du wenigstens sollst nett zu deinem Miho sein! Das Leben ist nicht ganz leicht, diese vermaledeiten Patienten sind so störrisch, eigensinnig und dumm, daß es der Kraft eines Riesen bedarf, um sie aus ihren Krankheiten herauszuführen. Und die Sache mit Cotia hat mir höllisch mitgespielt!«

»Armer Miho!« Bepi war nun sehr gerührt und dachte eifrig nach, wie sie dem geplagten Mann Erleichterung verschaffen könnte. »Weißt du was, ich werde an Pero schreiben, damit doch jemand von uns sich meldet.«

Aber damit war Miho nicht einverstanden. »Nein, Bepi, du in deinem Zustand sollst dich nicht aufregen. Du hast in diesen letzten Wochen genug mitgemacht.« Leise, den Blick voll Liebe, setzte er hinzu: »Unser Kind 285 soll doch gesund sein!« Und nach einer kurzen Pause: »Übrigens hätte das auch viel weniger Sinn, er wird einen ärztlichen Bericht von mir wünschen, und den kann ich ihm erst geben, wenn es hier mit der Arbeit etwas ruhiger geworden ist.«

Er schloß die Augen und gab sich inbrünstig dem Schwitzen hin. Bepi ging leise hinaus und klopfte an Paves Zimmer.

»Bist du noch wach, Pave?« rief sie an der Tür.

»Komm nur herein!« hörte sie Pave sagen. Als sie eintrat, sah sie die Schwester am Tisch sitzen und schreiben. Die Kerze stand vor ihr.

»Ich wollte nur sehen, was du treibst«, sagte Bepi. »Miho ist schon zu Bett gegangen.«

»Ich schreibe an Pero«, sagte Pave, dabei versuchte sie, den angefangenen Brief unter die Mappe zu schieben.

Leise, um die schlafende Miliza nicht zu wecken, wagte nun Bepi die Frage, von der sie noch vor wenigen Minuten verkündet hatte, sie würde sie niemals stellen:

»Pave, sag, wie hat Pero es eigentlich aufgenommen? Ist er sehr traurig?«

In Paves Gesicht ging eine merkwürdige, ans Grauenhafte grenzende Veränderung vor. Sie riß die Augen auf, öffnete den Mund und starrte Bepi mit einem Ausdruck des Entsetzens an, den diese zu den Worten, die die Schwester hierauf sprach, in kein Verhältnis zu bringen wußte.

»Habt ihr gedacht, er würde nicht traurig sein, wenn er hört, Cotia sei gestorben? Würde Miho nicht traurig sein, wenn Miro . . .? Nun also, warum fragst du dann?«

»Ich wollte dich bitten, Pave, ob ich deinem Brief einige Zeilen an Pero beilegen dürfte. Wir haben ihm noch nicht kondoliert.«

Ohne Rücksicht auf Miliza schrie Pave auf: »Auf keinen Fall! Er ist schon traurig genug. Soll er immer und immer nur Trauriges hören! Jetzt ist es zu spät zu schreiben. Ich will es nicht.«

Pave setzte sich ziemlich brüsk an den Tisch und 286 ergriff die Feder, was Bepi als ein Zeichen nahm, daß sie gehen solle.

Bei Miho im ehelichen Schlafzimmer angekommen, sagte sie vorwurfsvoll: »Ich habe es ja gewußt, daß man nicht fragen darf. Habe ich das nötig gehabt? Wenn du gehört hättest, wie sie geschrien hat! Ich fürchte, sie wird uns noch verrückt.«

Miho, der schon im Einschlafen gewesen war, öffnete nochmals die Augen, seufzte und sah seine Frau mit sorgenvollem Blick an.

»Morgen muß ich mich der Sache ernstlich annehmen«, sagte er.

Aber der nächste Tag brachte mehr Arbeit als alle bisherigen, und Pave durfte ungestört ihren unheilvollen heimlichen Weg weiterwandeln.

Fünf oder sechs Tage nach dem Weißen Sonntag erhielt Bepi einen Besuch, der sie nicht wenig überraschte. Sie befand sich allein zu Hause. Miho hatte eine Fahrt nach dem kleinen Städtchen San Donato unternommen, und da die Verwandten einer Offiziersfrau, mit der Pave seinerzeit in Karansebes befreundet gewesen war, in San Donato wohnten und Pave schon wiederholt eingeladen hatten, war Pave zu bestimmen gewesen, mitzufahren, und auch Miro und Miliza waren mitgenommen worden.

Vizza erschien in großer und freudiger Aufregung bei ihrer Herrin und teilte ihr mit, der Herr Pfarrer Don Raffaello sei da und wünsche die Signora zu sprechen. Neugierig begab sich Bepi in das mittlere Zimmer, begrüßte den alten Priester, den sie nur oberflächlich kannte, mit beinahe übertriebener Höflichkeit, und nötigte ihn an den Tisch. Sie wies Vizza an, Wein und Gialetti, kleine aus Schmalz herausgebackene Maiskuchen, die im Hause stets vorrätig waren, aufzutragen.

Don Raffaello sah trotz seines bedeutenden Leibesumfanges schlecht aus. Sein Gesicht war noch faltiger und gefurchter als gewöhnlich, und seine kühne Sperbernase schien sich traurig zu senken. 287

Er bat um Entschuldigung wegen der Störung, eine Bemerkung, der Bepi heftig widersprach, und drückte sein Bedauern darüber aus, daß der werte Herr Doktor nicht zu Hause sei. »Ist wohl unterwegs bei den Patienten? Eine schwere Zeit haben wir, gar oft sind der Herr Doktor und ich uns an den Sterbebetten begegnet. Ist ja auch ganz herabgemartert, der arme Mann, wie?«

Der schwere Priester, der in seinem Pfarrbereich eine so grotesk autokratische Herrschaft führte, fühlte sich hier in der fremden Stube bei der jungen Frau beengt und eingeschüchtert. Sein Bedauern, den Hausherrn selbst nicht angetroffen zu haben, war daher durchaus echt.

»Sie haben hier im Hause auch Böses mitgemacht, hm?«

»Ja, das kleine Töchterchen meiner Schwester ist gestorben, Sie haben sie ja selbst eingesegnet, Herr Pfarrer, soviel ich weiß.« Bepi goß ein Glas voll mit Wein und bot es dem geistlichen Herrn mitsamt den Kuchen an.

»Es war ein so nettes Kind. Hab sie öfters gesehen, wenn ich den Monticano entlang mein Brevier gebetet habe. Ist dort spazierengegangen mit der Frau Mama und mit dem Schwesterchen. Traurig, traurig, wenn so eine Blüte geknickt wird. Und der Frau Schwester, wie geht es ihr?« Don Raffaello blickte sich suchend um.

»Mein Mann hat sie mitgenommen. Er findet es gut, wenn sie sich zerstreut.«

»Sie ist wohl noch immer sehr danieder, wie? Kann sich nicht trösten, was?«

Bepi empfand es als eine gute Fügung, sich mit jemandem über Pave aussprechen zu können. Eigentlich hatte sie nicht gewußt, daß der Herr Dompfarrer ein so menschlicher Mann war. »Ach, ehrwürdiger Vater, untröstlich, das ist zu wenig gesagt. Ganz verloren kommt sie mir vor, manchmal ist mir angst und bang, wenn ich sie ansehe. Immer möchte sie nur sitzen und die Kleider und Spielsachen der Verstorbenen im Schoß halten. Sie hat doch noch zwei Kinder und tut, als wäre mit der kleinen Cotia alles für sie zu Ende.« 288

Don Raffaello, der in kleinen Schlucken von dem guten Wein gekostet hatte, nahm zaghaft ein Stückchen Gebäck vom Rand des Tellers und nickte schwer mit dem Kopf.

»Schlimm, schlimm«, sagte er betrübt. »Und der Herr Gemahl von der Frau Schwester? Der Herr Oberst, oder was er sonst ist, in Wien, ist auch er sehr traurig? Schreibt er ihr fleißig? Tröstet er sie in seinen Briefen?«

»Wer das wüßte? Glauben Sie, Reverendo, meine Schwester sagt etwas? Sie schreibt Briefe, sie bekommt Briefe, was drin steht, kann niemand wissen. Neulich wollte ich an meinen Schwager ein Blättchen beilegen, wollte ihm sagen, wie sehr wir mit ihm und Pave mitfühlen. Da hätten Sie sie sehen sollen! Ganz wild ist sie geworden und hat mir's verboten, einfach verboten, daß ich ihrem Manne schreibe. Ich verstehe es nicht, ganz und gar nicht kann ich es verstehen, aber bei dem Gemütszustand, in dem sie ist, wagt man nicht, in sie zu dringen; man muß sie gewähren lassen und ihr in allem nachgeben. Vielleicht aber ist gerade dies schlecht für sie.«

»Das glaube ich gerne, daß es schlecht für die Arme ist. Sie hat Ihnen nicht erlaubt, nach Wien zu schreiben? Sonderbar. Sonderbar. Hm. Recht schlimm kommt mir das vor.«

Bepi sah ihren Besucher gespannt an. »Warum meinen Sie, daß dies so schlimm sei, Herr Pfarrer?«

Don Raffaello schnitt ein unglückliches Gesicht, er räkelte sich auf seinem Stuhl und suchte nach Worten. »Mir kommt das alles schlimm vor. Man muß der Armen helfen. Ich bin eben hergekommen, um nachzufragen, wie es ihr geht, da man mir erzählt hat, sie sei ganz und gar untröstlich. Was für ein Mißgeschick, daß ich sie nicht getroffen habe!«

»Wahrhaftig ein Mißgeschick«, rief Bepi. »Aber darf ich meine Schwester nicht zu Ihnen in den Pfarrhof schicken, ehrwürdiger Vater, damit Sie ihr ein wenig zureden? Hätte ich nur schon früher daran gedacht!« 289

»Das Dumme ist eben, daß ich morgen früh verreisen muß. Ich bin ein kranker alter Mann und muß nach Treviso ins Spital, mich ein wenig auskurieren. Diese Zeit hier mit den vielen Sterbefällen, die ist mir arg nahegegangen, und mein altes Leiden ist schlimmer geworden. Wenn ich wiederkomme, sehe ich gleich wieder her. Und unterdessen passen Sie mir recht gut auf Ihre Schwester auf, wie?«

Er empfahl sich, indem er dem werten Herrn Doktor seine vollste Ergebenheit bestellen ließ und Bepi nochmals ermahnte, ihrer Schwester in ihrer Not zu helfen. Dann ging er langsam und schleppend durch die Türe und stieg die Treppe hinab. Manchmal ist das Beichtgeheimnis eine ganz und gar schwierige Sache, dachte er, indem er vorsichtig Stufe für Stufe nahm. O Madonna, Madonna, was wird hier nicht noch alles Böse entstehen! Hätte ich sie nur angetroffen! Und abreisen muß ich morgen, ich altes Wrack! Soll ich bleiben? Es geht nicht, das Spitalsbett ist bestellt, sie warten auf mich. Schlimm, schlimm, schlimm. Da kann nur Gott helfen!

Er schritt langsam über den Hauptplatz, bog in das Gäßchen ein, das zu seiner Kirche führte, trat in den schönen Bau, den der Meister Sansovino vor Jahrhunderten so weiß und edel aufgeführt hatte, kniete vor dem Tabernakel nieder und betete aus seinem erfahrenen, alten Hirtenherzen inbrünstig für die junge Frau, die, wenn nicht alles trog, einen so elenden Irrweg eingeschlagen hatte.

Als die Ausflügler am Abend wiederkamen und Pave vom Besuch Don Raffaellos hörte, war sie heimlich bestürzt. Während des Essens beobachtete sie ängstlich ihre Schwester und trachtete durch harmlos scheinende Fragen zu ergründen, ob der Pfarrer etwas von ihrem Geständnis verraten habe. Als sie aus Bepis Bericht jedoch lediglich vernahm, er habe sich besorgt und liebevoll nach ihr erkundigt, wurde sie ruhiger und eine Bemerkung ihres Schwagers befreite sie vollends von ihrer Sorge. Miho, der dem zarten, am Rost gebratenen Lämmernen 290 hingebend zugesprochen hatte, lehnte sich ein wenig zurück, schaute in die Runde und sagte:

»Ein braver Mann, dieser Don Raffaello. Ein guter Pfarrer, so wahr mir Gott helfe. Er liebt seine Pfarrkinder, er leidet mit ihnen, jedem möchte er helfen, wenn er nur könnte. Wenn ihr ihn gesehen hättet, wie treu er sich der Sterbenden angenommen hat!«

»Er hat mir gesagt, die vielen Todesfälle seien ihm so nahe gegangen, daß er nun selbst krank ist«, warf Bepi ein.

»Ich glaub's«, entgegnete Miho lebhaft. »Er war immer ganz gebrochen, wenn er wieder eine letzte Beichte und noch eine und noch eine hat abnehmen müssen. Man kann sich's doch denken, daß so ein Priester bei dieser Gelegenheit schwere Dinge zu hören bekommt. Und alles hinunterschlucken, nie ein Wort davon erwähnen, immer schweigen, schweigen, schweigen! Kein Wunder, wenn da einer krank wird, besonders wenn er schon vorher kein besonders gesundes Herz gehabt hat.«

Pave mischte sich zaghaft ein. »Du meinst schweigen, wegen des Beichtsiegels?«

»Nun ja, freilich, er darf doch nie und nimmer ein Wort von dem sagen, was ihm gebeichtet worden ist . . . Bepi, sei so gut und gib mir noch ein Rippchen!«

Pave atmete erleichtert auf und war den Abend über verhältnismäßig heiter.

»Die Fahrt scheint ihr gut getan zu haben«, sagte Bepi zu Miho, als sie zu Bett gingen.

»Ich sage ja immer, daß sie hinaus soll, zu Wagen oder zu Fuß. Nur nicht immer in dem unglückseligen Zimmer sitzen, wo das Kind gestorben ist. Übrigens habe ich heute während der Fahrt mit ihr über Pero gesprochen. Sie schien sehr vernünftig und meinte, es hätte keinen Sinn, wenn ich ihn jetzt, wo er ein wenig ruhiger geworden ist, durch einen genauen Bericht der Todeskrankheit neuerlich aufrege. Sie sagt, Pero habe erwähnt, er würde mir nächstens schreiben und für meine Mühe und Sorge, wie sie es ausdrückte, danken.« 291

»Nun also, wenn er dir schreibt, antwortest du ihm und die Geschichte mit diesem Brief ist endlich erledigt.«

Bepi verabscheute Angelegenheiten, die sich lange unentschieden hinzogen, und nichts war ihr widerwärtiger als unnützes Hin- und Herreden. Ihr Gatte pflegte in solchen Fällen lobend von ihr zu sagen: Sie ist gar nicht wie eine Frau, sie entschließt sich schnell und redet nur, was nötig ist.

*

Und wieder schrieb Pave an Pero. Wieder saß sie an ihrem Fenstertisch, die helle, überwältigend fröhliche Sonne eines Frühlingsvormittags schien herein und füllte das Gelaß mit so zuversichtlicher Helligkeit, als habe darin nie Nacht, nie Traurigkeit, nie Röcheln und Todesschweiß herrschen können.

Was aber schrieb Pave? Hatte sie sich ermannt? Hatte die glorreiche Sonne ihr den Mut gegeben, dem Ahnungslosen in Wien endlich zu sagen, was auf die Dauer nicht zu verschweigen war? Schrieb sie mit vorsichtigen, liebevollen Worten, in den zartesten, rücksichtsvollsten Wendungen, was Pero endlich doch wissen mußte? War sie dem guten alten Priester gehorsam, dem sorgenvollen Hirten seiner Herde, der sie ermahnt hatte: Geh und schreibe! Geh sogleich! Furchtbares Unglück entsteht, wenn du nicht schreibst!

Paves Hand führte eifrig den Kiel, sie bedeckte eine um die andere der großen bläulichen Seiten mit ihrer nicht sehr schönen, aber ausdrucksvollen Schrift. Sie schrieb so schnell und emsig, als triebe sie jemand und als gelte es, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Buchstaben auf dem Papier anzubringen.

Und was stand nun da? Stand da der traurige, allzu spät abgefaßte Bericht von Cotias Erkrankung, kurzem Leiden und bitterem Tode? Stand da die Bitte um Verzeihung, weil sie, Pave, aus übergroßer, wehleidiger Liebe dem Gatten das Schreckliche bisher verschwiegen hatte? Stand da der Versuch zu trösten, der Hinweis auf die 292 beiden Kinder, die den Eltern geblieben waren, vielleicht eine ungelenke Anstrengung, in der grausamen Prüfung den Willen Gottes zu erkennen und zu verehren?

Ach nein, von alledem stand nichts auf den bläulichen Seiten des Briefpapiers. Ganz andere Dinge standen da. Da stand von einem Schirmchen und von einem Frühlingshut, die Pave ihren Gatten herzlichst bat, mit dem sicheren Geschmack, den sie an ihm kenne, in einem guten Wiener Laden auszuwählen und zu erstehen. Denn sie habe den Wunsch, Bepi für alle gastliche Liebe, die diese ihr und den Kindern angedeihen lasse, durch ein Geschenk zu erfreuen. Ausführlich stand zu lesen, daß das Stroh des Hutes nicht etwa ganz weiß, sondern von einem lichten Gelb sein solle, das Schirmchen aber aus Seide und möglichst klein. Die Garnierung des Hutes solle der neuesten Mode entsprechen, aber doch diskret sein. Sie sei überzeugt, Pero werde das Richtige zu finden wissen. Er möge nach Tunlichkeit rasch den Einkauf ausführen, damit sie der Schwester bald die Freude dieser eleganten Gaben bereiten könne. Zum Schluß aber, und nachdem Pave noch Verschiedenes über die Anliegen von Leuten geschrieben hatte, die, in der Meinung, in Wien könne jeder alles erreichen, Pero Bitten um Fürsprache bei den verschiedensten Behörden unterbreiteten, fügte sie einen hinterhältigen kleinen Satz bei, eine listige Falle für den Leser und die Schreiberin, Worte, die Lüge waren und doch nicht Lüge und auf dem verderblichen Weg in die feuchtschwüle Schierlings- und Schlangenwildnis des Truges ein arges und erhebliches Stück weiterführten. Sie schrieb: »Miliza ist eben dabei, einen Blumenstrauß zu machen, und Cotia verhält sich still wie immer.«

Sie überblickte den Brief, ohne ihn nochmals zu lesen. Hatte sie nicht viel geschrieben? Würde Pero nicht genug zu lesen haben? Würde er Verdacht schöpfen, unruhig und traurig werden? Ach nein, solange dieser Brief unterwegs war, solange bis er ankam, gelesen, beantwortet wurde, konnte sie ohne Sorge sein. Und später? Später 293 würde ihr wieder etwas anderes zu Hilfe kommen. Vielleicht fand sie dann den Mut zu Wahrheit und Grausamkeit. Für heute jedenfalls hatte sie den fürchterlichen Brief wieder einmal erledigt, und sie durfte sich in die graue, barmherzige, immer bereite Flut sinken lassen, in dies Element, das sie trug, anstatt daß sie selbst das Unerträgliche zu tragen unternommen hätte.

*

Pave wanderte nach der Stadt zurück. Schon begann Abendröte den Himmel zu überziehen, und die vielen Hohlwege, die durch Felder und Weideplätze hinliefen, waren hellgrün überbuscht. Eine frische und gesunde Feuchtigkeit lag über der Ebene und ließ alle Farben des sinkenden Tages in geheimnisvoller Brechung entbrennen. Die Blätter der Maulbeerbäume waren schon groß und dunkel, die dünnen Spitzen der Maispflanzen durchbrachen das Erdreich, und jubelnde, trillernde Lerchen erhoben sich aus dem strotzenden Weißdorn zu ihrem Abendgesang.

»Geh in die frische Luft, Pave, geh in die frische Luft«, sagte Miho täglich bei Tisch. Sooft es möglich war, lieh er ihr den Wagen, und sie fuhr mit Bepi und den Kindern ein Stück weit auf der Landstraße gegen Oderzo oder gegen Quartarezza. Aber da sie immer bald umkehren mußten, waren es stets die gleichen Weingärten, Maisfelder und Maulbeerpflanzungen, die gleichen Dörfer und Pappelalleen, durch die sie kamen. Mußte Miho über Land zu Patienten und konnte er sie nicht mitnehmen, so ging sie gehorsam zu Fuß.

Vielleicht fand ein mutiges Herz Freude und Trost an diesem Frühling, an diesen Farben, an diesen Vögeln. Pave wurde nur noch trauriger von dem allen. Und das Gehen war nichts für sie. Es machte sie so müde. Sie setzte sich auf einen alten Zaun, der umgestürzt am Wege lag und dachte zurück. Die Zaratiner Frauen alle waren keine Freundinnen von Spaziergängen gewesen. 294 Nicht ihre Mutter, nicht ihre Tanten, nicht die Mütter ihrer Freundinnen. Nur das alte Fräulein Maria Riboli, ihre ehemalige Lehrerin, von der man allerdings behauptete, daß sie närrischer sei, als es sich selbst für eine alte Jungfer schickte, machte Spaziergänge vor die Stadt, ja, und dann die Familie Lombardo.

Plötzlich sah Pave Gigi Lombardo vor sich, ganz deutlich mit seinem netten blonden Gesicht und den abstehenden Ohren, die immer dunkelrot geworden waren, wenn Gigi Pave erblickt hatte. Gigi studierte damals die Rechte in Graz, er sollte auch »in die Regierung« wie sein Vater. Aber, weiß Gott, er war oft genug in Zara. Sooft Valerio, Paves ältester Bruder, von dem jungen Lombardo hörte, sagte er: »Diese Herren Studenten! Nichts als Ferien, nichts als Ferien!«

Auf einigen Faschingskränzchen im Gabinetto di Lettura hatte Gigi sich zu Paves Ritter aufgeschwungen. Sie nahm ihn nicht voll und verachtete ihn ein wenig wegen der Demut und Unumwundenheit, mit der er seine Liebe zur Schau trug, und wegen seiner Ohren. Aber in den Wechselfällen ihrer Mädchenjahre, ehe Pero erschienen war und alles andere verdrängt hatte, bot es ihr Trost, des blonden Gigi sicher zu sein. Ihn etwa an eine Grazer Schöne zu verlieren, hätte sie verdrossen. Und mitunter mußte sie recht anerkennend der Fröhlichkeit gedenken, die bei den Lombardos immer herrschte, und Gigis Schwestern um die Ritterlichkeit beneiden, mit welcher der Bruder sie behandelte.

Auch das Fräulein Maria Riboli fiel Pave jetzt ein. Seinerzeit war sie deren Lieblingsschülerin gewesen, und später, als Pave erwachsen zu Hause saß, pflegte die alte Lehrerin an einigen Samstagen des Jahres unerwartet bei Paves Mutter zu erscheinen und ihr unter viel Umständlichkeit und Komplimenten mitzuteilen, daß sie am nächsten Tage nach Tisch die Ehre haben würde, das liebe Fräulein Pave zu einem Spaziergang abzuholen. »Es wird dem Fräulein gut tun«, pflegte sie mit tiefer Stimme zu rufen, »die Jugend muß ins Freie. Ah, Luft! 295 Ah, Natur! Wir sind Gefangene! Gefangene! Hinaus mit uns!«

Sie rollte ihre großen, vorstehenden Augen, entblößte die starken Zähne, und ihr von schwarzer Seide überspannter, stattlicher Busen hob und senkte sich gewaltig.

Es konnte geschehen, daß Paves Mutter, nachdem Fräulein Riboli sich empfohlen hatte, ergeben vor sich hin sagte: »Povera matta! Arme Närrin!« Dennoch war nie davon die Rede, daß Pave den angekündigten Spaziergang nicht mitmachen sollte. Man marschierte auf staubigen Straßen in ein entferntes Dorf oder an den Strand. Blauer Winterhimmel stand über ihnen, Möwen flogen kreischend dahin, hoch oben kreiste ein Falke, die roten, mehligen Früchte des Arbutus standen im grünen Gezweig, blaugraue Felsblöcke lagen im niedern Gras, das noch vom Sommer her gelb und verbrannt war, und jenseits des Meeresarmes sah man die Häuser von Lukoran weiß leuchten. Fräulein Riboli aber sagte: »Pave, mein Kind, noch kennst du das Leben nicht! Das Leben ist schwer. Wenn wir die Natur nicht hätten! Die freie Luft! Ah, wir Armen!« Ja, damals war sie gesund gewesen, frisch und jung. Sie verstand durchaus nicht, was Fräulein Riboli mit ihrer Natur und mit ihrem schweren Leben meinte. Sie war munter neben ihr hergesprungen und hatte sich den frischen Salzwind ins Gesicht wehen lassen. Oft ereignete es sich, daß man auf diesen Wanderungen der Familie Lombardo begegnete. Vorne ging Gigi, rechts und links in seine hübschen, lustigen Schwestern eingehängt, alle drei voll tollen und glücklichen Gelächters, etwas weiter rückwärts kamen die Eltern, Frau de Lombardo am Arm ihres Gatten in friedlich eifrigem Gespräch. Mit großer Beflissenheit wurden Grüße getauscht. Gigi ließ seine Schwestern los und zog erglühend den Hut, die Mädchen riefen: »Addio, Pave!« und das Ehepaar erwiderte ausgesucht höflich und wohlwollend die pathetische Verneigung der alten Lehrerin und Paves errötenden Gruß. Nachher pflegte Fräulein Riboli zu sagen: »Was für Menschen! Gesegnete Eltern! 296 Ah, diese Jugend! Frisch und froh! Liebt die Natur.«

Wie lange war dies alles her? Zehn Jahre mindestens. Und Gigi? Wo war er? Bei Paves Hochzeit in Ragusa war er im Kirchenschiff zu sehen gewesen, tadellos gekleidet und höflich, wie es seine Art war, seine Ohren jedoch waren merkwürdigerweise kalkweiß gewesen. Er hatte ihr nicht leid getan und war ihr nur lächerlich vorgekommen, so ganz erfüllt war sie von Pero gewesen, an dessen Arm sie durch die Kirche hinausrauschte.

Wenn Gigi sie jetzt sehen könnte, so müde, so kummervoll.

Plötzlich stürzten Pave wieder die Tränen aus den Augen. »Cotia! Cotia!« wimmerte sie vor sich hin und erhob sich von ihrem Zaun, um nach Hause zu schleichen.

Der Himmel, der voll Schäferwölkchen war, blaßte nun in ein sanftes Violett hinüber. Die Lerchen schwiegen, die Hohlwege rechts und links versanken in Dämmerung. Die freundlichen Bilder aus harmlosen Tagen waren fort. Wieder lag Cotia in den Kissen, Schweiß stand auf ihrer kleinen, schönen Stirn, ihre süße Brust röchelte unter dem weißen Hemdchen, Pave beugte sich über sie, und in Verzweiflung bettelte sie: »Wer bin ich, Cotia? Bin ich nicht deine Mau? Rufe mich, Liebling! Cotia, Cotia, sage Mau!« Und müde und mühsam öffneten sich die bläulichen Lippen, und das Kind sagte sein letztes Wort: »Mau!«

Immer dies Bild, unentrinnbar und immer. Und dann das andere. Der arme Pero in der großen Stadt, weit fort, jenseits von Udine, von Triest, vom Semmering. Unerreichbar weit. Der böse General quälte ihn, und abends saß er müde und einsam am Tisch und schrieb nach Motta: »Küsse mir die Cotia!« Die Cotia, die nicht mehr lebte und deren Tod sie ihm verheimlicht hatte.

Die beiden furchtbaren Bilder besaßen Pave wieder. Sie stöhnte und begann zu laufen. Aber dann, kurz vor den ersten Häusern der Stadt, erreichte sie Trost. Die graue Flut war wiedergekommen, sie stieg und stieg, und Pave ward von ihr umspült. Sie ließ sich sinken, sich von 297 ihr bedecken und verbergen, und das Furchtbare war nicht mehr.

Als sie daheim anlangte und zu Miliza und Duschan ins Zimmer trat, schien sie getrost.

Nachts jedoch, ob Pave wachte oder schlief, pflegte Cotia zu kommen und sie zu rufen. Bald erschien sie umwölbt von blaugläsernem Wasser wie in der Nacht nach ihrem Begräbnis, bald saß sie am Tisch und sah zu Pave herüber, die sehnsüchtig die Arme ausbreitete, bald ging sie im Kragenmäntelchen und mit dem roten Hut das Steiglein am Monticano entlang. Bald auch erschien sie, wolkig umbauscht, in fremdem, wallendem Kleide, schwebte einher und entschwand. Stets aber sagte sie mit ihrer unvergeßlich süßen Stimme: Mau, Mau! Komm zu deiner Cotia!

Das waren die guten, die friedlichen Stunden. Da brauchte Pave weder zu kämpfen noch zu lügen. Da mußte sie nicht weinen, und das Herz tat ihr nicht weh. Mit süßer Sicherheit durfte sie liegen und warten, denn das getreue Kind verriet die Mutter nicht. Es kam, es lächelte, es rief, es winkte holdselig und verging leise, im Blick seiner stillen Augen das Versprechen der Wiederkehr.

*

Wenige Tage später kramte Pave unter Peros Briefen, die sie im Schublädchen ihres Nachttisches aufbewahrte. Seit einiger Zeit war sie bemüht, sie sorgfältig zu verbergen, sie legte ein Nadelbüchlein aus herzförmig ausgeschnittenen Tuchblättern darauf, das Peros kleine schmale Briefumschläge völlig bedeckte. Denn konnte man wissen, ob Bepi es sich nicht einfallen ließ, nach Peros Briefen zu suchen? Sie hatte mehrmals so eindringlich danach gefragt, daß es Pave geschienen hatte, als hege sie Verdacht.

Pave nahm einen Brief um den andern aus dem Umschlag und überflog die sauberen Zeilen von Peros vielgeliebter Schrift. Endlich hatte sie die Stelle gefunden, 298 die ihr seit Tagen im Kopf herumgegangen war. Im vorletzten Brief, der am 12. April geschrieben und um die Mitte des Monats in ihre Hand gekommen war, da hatte Pero jenen merkwürdigen Traum erwähnt. Ihm habe geträumt, so schrieb er, sie seien alle irgendwo beisammen gewesen, da habe Miliza sich verirrt, und er habe sie lange in Ängsten gesucht. Endlich sei er wieder zu den übrigen zurückgekehrt und habe Miliza bei Pave gefunden. So froh, so froh sei er da gewesen. Ritzinger, ein junger Leutnant aus Karansebes, habe ihm beim Suchen geholfen. Was für ein Traum! hatte Pero den Bericht geschlossen.

Gleich beim Empfang des Briefes hatte Pave diese Traumerzählung tief und grauenhaft berührt, und je mehr Tage darüber hingingen, in je mehr Nächten sie selbst von Cotia träumte oder ihrer wachen Auges ansichtig zu werden glaubte, desto inständiger mußte sie an Peros Traum denken. So hatten Leid und Kummer, die sie trug und vor Pero zu verheimlichen trachtete, ihn doch erreicht, in undeutlichem Traume zwar, aber dennoch ihn gestreift und überschattet. Nicht Cotia war es, sondern Miliza, um die er Angst zu leiden hatte, nicht gestorben war sie, sondern verloren und nicht unwiederbringlich entrückt, sondern wiedergekehrt. Und so froh, so froh war er darob gewesen. Er hatte für einen Traum genommen – irgendeinen, den es zwar wohl der Mühe lohnte, aufzuzeichnen, den er aber mittlerweile vielleicht schon vergessen hatte –, was Warnung gewesen war, geheimes Zeichen, letzter verklingender Wellenring des fürchterlichen Geschehens, durch das sie, Pave, wie von einem Strudel in schwarze Tiefe gezogen wurde.

Ein Grauen und Erbeben überkam Pave, so erschütternd und bezwingend, so lähmend und beängstigend, wie sie es in diesen Wochen der Qual noch nicht kennengelernt hatte.

»Pero!« weinte sie auf, im Abgrund ihrer Verlassenheit. Ach, Pero, wenn du hier wärest und alles wüßtest! Wenn ich doch wenigstens dich nicht belogen hätte im 299 unsinnigen Bestreben, dich zu schonen! Wenn ich dich umarmen könnte, warm und nahe bei dir liegen, wenn du deinen Arm unter meinen Nacken schieben würdest und ich dir ins Ohr flüstern könnte, was geschehen ist, daß unsere Cotia tot ist und daß du sie nie mehr sehen wirst. Würdest du dann nicht sagen: Sei ruhig, Pave, weine nicht mehr! Gemeinsam wollen wir es tragen, wie wir schon manches getragen haben. Bist du nicht meine schöne Pave, der Stern meiner Jugend? Und haben wir nicht Miliza und Duschan, wenn uns auch Ljubomir und Cotia gestorben sind? Wir wollen uns nie mehr trennen, wir wollen immer ganz nahe beisammen bleiben. Weine nicht mehr, Pave, süße Seele!

Ja, so würde Pero sprechen, weil er gut war, gut und stark, weil er sie liebte trotz ihres jämmerlichen Unwertes und weil er nicht wußte, daß sie schuld war. Nicht wußte, daß Cotia krank geworden war, weil ihre Mutter sie nicht behütet, weil sie voll Selbstsucht geschlafen und ihr Kind in kalter Boranacht hatte frieren lassen.

Alles war umsonst. Nie konnte sie es Pero sagen, nie. Aber wie, um des Himmels willen, wie sollte dies alles enden? Sie schlug die Hände vors Gesicht, doch diesmal kam die linde graue Flut nicht, um sie zu trösten, und als Pave zum Nachtessen ins gemeinsame Zimmer trat, war ihr Gesicht so bleich und verstört, daß es Bepi und Miho fröstelte.

In der Nacht aber und in den folgenden Nächten blieb Cotia aus. Sie rief nicht mehr, sie winkte nicht mehr, und das Elend in Paves Brust wuchs und lastete schlimmer denn je.

*

Pero stand in dem Eckzimmer, darin seinerzeit die Kinder gewohnt hatten und durch dessen Fenster man über viele Dächer hinweg aufs Glacis und auf die Mauern, Basteien und Türme der Inneren Stadt sehen konnte. Der linke Arm hing ihm seltsam hilflos herab, den rechten hatte er an die Schmalwand eines großen braunen 300 Schrankes gelehnt und den Kopf daraufgelegt. Seit er, viel früher als gewöhnlich, vom Amte heimgekehrt war, stand er so. Mitunter hob er stöhnend den Kopf, dann kam sein fahlbleiches Gesicht, in dem nur die Augenlider gerötet waren, zum Vorschein. Die kleine Falte saß schärfer als sonst zwischen den Brauen, und die Furchen, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinunterliefen, waren tief eingekerbt wie dunkle Schluchten des Grams.

Immer wieder grub der Mann seine Stirne in den Arm. Es war, als sei er an diesen Schrank angeschmiedet, als biete nur er ihm Halt, und er würde rettungslos in einen Schmerzensabgrund geschleudert, wenn er ihn verließe. Er hätte nicht zu sagen vermocht, warum er sich gerade in dieses unbewohnte Zimmer geflüchtet hatte, das durch Kahlheit und Leere seinen Schmerz noch verschärfte und das ihm wie kein anderer Raum dieser Wohnung deutlich machte, was einst gewesen war und was nie mehr sein würde.

Cotia! Ach, Cotia! Sie war tot. Sie, der er in jedem Brief Grüße gesandt, der er erst kürzlich eine Schachtel voll Spielzeug geschickt hatte, an die er zu jeder Stunde als an das Süßeste, erregend Lebendigste, an das Liebenswerteste und zutiefst Geliebte zu denken pflegte, womit sein Dasein geschmückt und reich gemacht worden war . . . Es gab sie nicht mehr, sie wuchs ihm nicht mehr entgegen dort unten in der südlichen Stadt, sie wartete nicht mehr, daß der Miu käme, sie auf den Arm höbe und an sich drückte. Wer hatte ihm diesen süßen Namen Miu gegeben, wer ihn mit schelmisch-ernstem Augenaufschlag so genannt, wer hatte mit so unvergleichlich wohllautender, tiefer, stiller Stimme so hold zu ihm gesprochen, daß ihm nichts auf der Welt von tieferer Bedeutung und lockenderer Verheißung schien als ihr kindliches Wort? Ach, Cotia war es gewesen, Cotia, die es nicht mehr gab, Cotia, die tot war, die man begraben hatte, ohne daß er es ahnte.

Mihos entsetzlicher Brief, den er vor ein paar Stunden 301 im Amte vorgefunden und dessen Inhalt er, wie er zitternd ahnte, in all seiner Grausamkeit noch keineswegs erfaßt hatte, lag auf dem großen leeren Tisch, an dem im Herbst seine kleinen Mädchen gespielt, darauf ihre rührend plumpen Kaffeetassen gestanden, die sie mit ihren beiden eifrigen Händchen gepackt und vorsichtig zum Munde geführt hatten. »Wohl, seine hübsche Miliza lebte noch, aber ihm war, als sei auch sie ihm entrissen mitsamt dem Brüderchen, als melde der wohlkalligraphierte Brief des Schwagers ihm nicht nur Cotias Tod, sondern die Zertrümmerung und Zerreißung seines Heimes überhaupt, als würde das warme, geheimnisvolle Band, das die Familie umschlang, durch die freundschaftlichen und doch so schauerlich rätselhaften Worte dieses Briefes auf immer zerrissen.

Die kleine Magd Netti, die ihren Herrn weit früher als gewöhnlich mit verstörtem Gesicht hatte heimkehren sehen, wagte sich endlich scheu herein und fragte mit erschrockenem Blick auf den am Schrank Lehnenden, ob sie dem Herrn Major das Essen bringen dürfe. Er sah sie fassungslos an und sagte etwas so Undeutliches, daß das arme Mädchen nun erst recht nicht Bescheid wußte, jedoch keine zweite Frage wagte und auf gut Glück die Suppe in das Speisezimmer trug. Als sie merkte, daß ihr Dienstgeber keine Notiz davon genommen hatte, ging sie nochmals auf den Zehenspitzen zur Tür des Eckzimmers und klopfte zaghaft an.

Der Major kam nun heraus und setzte sich an diesen bürgerlich gedeckten Tisch, dessen bescheidene Ordentlichkeit in einem gräßlichen Gegensatz zu dem Aufruhr in seiner Seele stand. Den verhängnisvollen Brief legte er neben den Teller, und während er mechanisch den Löffel zum Munde führte, las er, was er nun schon wiederholt gelesen hatte, was zu ergründen er mit Verzweiflung bestrebt war und was er doch am liebsten nie und nimmer erkannt und begriffen hätte.

Der Brief besagte, daß Cotia tot war. Ja, das stand da, und es war nicht mißzuverstehen. 302

»Mein guter Pero!« begann die Botschaft des Schwagers in ihren klaren, gefälligen Schriftzeichen. »Mein guter Pero, schmerzlich und traurig ist die Aufgabe, die ich an Dir zu erfüllen habe. Das Geschick hat Euch heimgesucht, und Du, mein guter Freund, mußt bereit sein, es mit Kraft zu ertragen.

Die kleine Slaviza« – der Schwager gebrauchte den feierlichen Namen, auf welchen das Kind getauft, mit dem es aber fast nie genannt worden war –, »die kleine Slaviza erkrankte schwer an Keuchhusten, aus dem sich gar bald eine heftige Brustentzündung entwickelte. Alle Hilfe war vergebens, und dieses liebe Kind ging in ein besseres Leben hinüber, gewißlich in das der Engel, deren Reihen es in Wahrheit schon hienieden angehört hatte.«

Also sie war gestorben, Cotia war gestorben; aber wann, wann war es geschehen? Der Schwager nannte keinen Tag, keine Stunde, er berichtete von keinen näheren Umständen, er sprach von Cotias Tode, als habe dieser sich außerhalb der irdischen Zeit zugetragen, als sei es für ihn, den Vater, nicht wichtig, zu wissen, wann Cotia krank geworden, wie lange sie gelitten hatte, wann sie ihm für immer entrissen worden war. Er hatte gelebt wie immer, er hatte seinen Dienst getan, er war in die Oper gegangen und hatte sich an den Stimmen der Sängerinnen ergötzt. Indessen war Cotia fiebernd dagelegen, hatte sie ihren letzten Seufzer getan, war das helle, leuchtende Kind in dunkle Erde versenkt worden. Und Pave, was mußte sie gelitten haben, indes er hier umherging und von nichts wußte! Was war mit Pave? Er wagte kaum, Mihos Brief weiter zu verfolgen, jedesmal hielt er an dieser Stelle inne, weil eine eisige Angst ihn überkam, so fürchterlich, daß er nicht hinzusehen wagte.

»Du kannst dir vorstellen«, schrieb der Schwager weiter, »wie groß unser aller Verzweiflung war, ganz besonders die der armen Pave.« So tief sei ihr Schmerz gewesen, daß man gemeint habe, mit Peros Benachrichtigung warten zu sollen, bis sie sich ein wenig beruhigt hätte. 303

Pero legte den Brief heftig auf den Tisch. Warum, warum denn warten?! »Ich verstehe es nicht!« sagte er halblaut vor sich hin, seine Stirn war tief gerunzelt, ein schauerliches Gefühl von Angst und Ingrimm zog ihm den Magen zusammen. »Ich begreife das nicht. Da stimmt mir etwas nicht.« Auch dies sprach er wieder artikuliert aus, und Netti, die mit dem zweiten Gericht hereinkam, blickte ihren Herrn erschreckt an.

»Netti«, sagte der Major, »ich habe da eine sehr traurige Nachricht erhalten. Die kleine Cotia ist gestorben.«

Das Mädchen setzte das Tablett mit den Schüsseln eilig ab, und Tränen stürzten ihr aus den runden Augen.

»Die Cotia! Ja, um Gottes willen, die kleine Cotia! Nein, is das aber traurig! Ja, was hat ihr denn g'fehlt? Nein so was, und der Herr Major waren nicht dabei!« Sie trocknete sich die Augen, sah ihren Dienstgeber mit wehmütiger Teilnahme an, dann gab sie sich Haltung, trat zum Tisch, bot dem Major die Hand und sagte so hochdeutsch, als sie nur irgend konnte: »Ich möchte dem Herrn Major mein herzliches Beileid sagen.«

Pero dankte ihr. Die menschliche Teilnahme des guten Mädchens tat ihm wohl, doch spürte er ein wildes Bedürfnis danach, wieder allein sein und den entsetzlichen Brief weiter durchgrübeln zu können. Schon wollte er Netti anweisen, das Essen wieder fortzunehmen, als er sich daran erinnerte, daß dies wohl die letzte warme Mahlzeit vor der Reise sein würde. Also ließ er Netti den Suppentopf hinaustragen und zwang sich, noch etwas Fleisch und Zugemüse zu essen, dabei starrte er immer wieder in Mihos Brief, dessen Unerklärlichkeit ihn mehr und mehr bedrängte.

»Aber wehe«, hieß es in dem Briefe weiter, »ihr Schmerz verschärfte sich immer mehr und kam schließlich zu einem solchen Höhepunkt, daß ihre Gesundheit dadurch schwer geschädigt wurde. In wenigen Tagen ging sie des Erfolges der langen Behandlung verlustig, und ich muß Dir mit tiefstem Bedauern sagen, daß ihr Zustand mir Anlaß zu ernstester Befürchtung gibt.« 304

Also war Pave wieder krank. Diese Reise nach dem Süden, die lange Trennung, alle Opfer und alle Einsamkeit, sie hatten nicht die ersehnte Frucht von Paves Genesung eingebracht, sie hatten ihn vielmehr seine süße Cotia gekostet und Pave vielleicht kränker gemacht, als sie es jemals gewesen war. Er seufzte tief und gramvoll und ohne daß es ihn erleichtert hätte und sah sich ratlos und traurig in dem einfachen Zimmer um, in dieser kargen Offiziersbehausung, die doch warmes und freundliches Nest, Herd und Heimat für ihn und die Seinen gewesen war. Und die grausige Ahnung beschlich ihn wieder, als künde Mihos Brief nicht nur Cotias frühes Ende, sondern darüber hinaus das Ende noch wichtigeren, für sein Leben grundlegenden Besitzes. »Warum sprach der Schwager ihm sonst in so eindringlichen Worten Mut und Festigkeit zu, warum ermahnte er ihn, wahrhaft ein Mann und stark zu sein? »Welches immer das Geschick sei, das Dich erwartet, bereite Dich vor, es mit Ergebung zu tragen und ihm gewachsen zu sein, möge es auch wie immer schwer sein. Denke daran, daß Du vor allem Vater sein und Dich Deinen Kindern, die Deiner bedürfen, erhalten mußt.«

Klangen diese Worte nicht wie die Drohung weit schlimmeren Verlustes, als der eines dreijährigen Kindes, und sei es das geliebteste, es jemals sein konnte? Meldete hier nicht das Schicksal in letzter Grausamkeit sich an? War Pave gefährlich erkrankt? War durch die Aufregung und den Schmerz, durch die Anstrengung der Pflege ihr schlimmer Husten etwa zur Auszehrung geworden? Wollte Miho mitteilen, daß ihr Ende bevorstand? Oder wollte er etwa gar vorbereitend andeuten, daß auch sie gestorben war?

Nein, das war nicht möglich. Hätte man ihn denn nicht rascher herbeigerufen, wenn ihr Zustand ein so gefahrdrohender gewesen wäre? In ganz wenigen Tagen konnte ihr Zustand sich doch nicht so verschlimmert haben, daß die Krankheit bereits einen tödlichen Ausgang hätte nehmen können. Und länger als wenige Tage konnte es 305 seit Cotias Tode doch wohl nicht her sein. Es war ja nicht denkbar, daß Miho, daß vor allem Pave ihm den Hingang des Kindes hätte verheimlichen wollen, wenngleich auch jene Stelle des Briefes, die davon sprach, man habe mit der Mitteilung an ihn warten wollen, bis sie sich etwas beruhigt hatte, durchaus unklar war.

Nein, daß auch Pave tot war, er konnte, er wollte, er durfte es nicht glauben, nicht von ferne annehmen wollte er es, wenngleich sich zwischen all diesen zur Festigkeit und Ergebung mahnenden Sätzen des Schwagers die düstersten Rätsel zu verbergen schienen.

Ihm war, als stehe er vor einer schwarzen Mauer, als lägen alles Glück und alle Hoffnung unwiederbringlich vernichtet hinter ihm. Das lauernde Geheimnis, mit dem das Schicksal sich mit einem Male umkleidet hatte, wälzte sich ihm auf die Brust, er vermeinte, nie im Leben mehr einen freien, gesunden Atemzug tun, nie mehr ein frohes Wort reden, nie mehr mit Zuversicht nach vorwärts blicken zu können; und einen Augenblick lang wollte ihn die Lust anwandeln, sich nach Cotias stillem Friedensorte zu sehnen. Der Kopf sank ihm auf das Tischtuch, ein unendlich gramvolles, gequält rauhes Ächzen entkam seinem Munde, mit einem Abscheu, der unüberwindlich schien, gedachte er aller Widerwärtigkeiten, all der kleinlichen Last, die sein Unglück mit müdem Ekel umwucherten. Einen Augenblick lang gelüstete es ihn, von nichts zu wissen, stillzuliegen, in Ruhe gelassen zu sein. Aber es war nur der Schatten einer Versuchung, und er wich der Stimme der alten, starken Geschlechter in seinem Blut. Pero hob den Kopf und straffte sich mit dem selbstlosen Gehorsam des Kriegers und des Christen. In seinem harmvoll blassen Gesicht stand der Entschluß, hilfreich zu sein, durchzuhalten und weiterzugehen.

Selbstverständlich reiste er noch heute. Miho hatte ihn gebeten, zu kommen, wenn sein Dienst es ihm irgend erlaube, denn sie alle hätten seine Anwesenheit sehr nötig; jedoch ersuchte er ihn, den Tag seiner Ankunft sowie die Richtung, aus der er eintreffen würde, über Venedig 306 nämlich oder über Udine, unbedingt zu melden, damit er ihm nach der einen oder der andern Stadt entgegenfahren könne.

Der General hatte ihm den aus so traurig-triftigem Anlaß erbetenen Urlaub ohne die geringsten Umstände gewährt, und eine Depesche an Miho, die sein Eintreffen für den 15. Mai ankündigte, war bereits unterwegs.

Der Major erhob sich von dem Tisch mit den längst erkalteten Speisen, er steckte den unglückseligen Brief zu sich und begab sich in das Schlafzimmer, in dem vor sechs Monaten Pave ihre Koffer gepackt hatte, um in Eile das Nötigste für seine traurige Reise vorzubereiten.

*

In Wahrheit aber war dies geschehen:

Die ersten Maitage waren jubelnd über das venezianische Land hereingebrochen. Die flachen elfenbeinweißen Blütenteller des Holunders dufteten aus den Gärten, alle Wiesen wogten von Margueriten und Ranunkeln, die vielen Flüsse führten reichlich Wasser, in dessen langsamem Laufe der Himmel sich klar spiegelte, und jauchzend erscholl der Gesang der Lerchen als ein toller, trillernder Lobgesang auf das selige Leben der gottgeschaffenen Kreatur über den Hecken und Büschen.

»Heute müßt ihr eine schöne Fahrt machen«, sagte Miho bei Tische. »Ihr könnt den Wagen gleich haben. Titta fährt euch, seid ihr einverstanden?«

Die Kinder schauten verstohlen und glücklich nach den Gesichtern der Erwachsenen, denn sie wußten nicht recht, ob sie mitgenommen werden würden. Bepi stimmte lebhaft zu. Ihr Befinden hatte sich gebessert, und seit Miho zu Beginn der Fastenzeit das störrische Pferd, das er früher gehabt hatte, verkauft und ein sehr gutes, frommes und schönes dafür eingestellt hatte, bereitete es ihr ein kindliches Vergnügen, in die Ecke des Wägelchens gelehnt, über Land zu fahren.

»Darf ich auf dem Bock bei Titta sitzen?« wagte Miro 307 sich hervor und zitterte vor der Antwort. Titta war sein Ideal und neben ihm auf dem Bock zu sitzen, der Traum seiner fünf Jahre.

Miho lachte. »Gut, mein Sohn. Du steigst auf den Bock, und unser Fräulein Miliza sitzt im Fond zwischen den beiden Damen. So ist alles aufs beste geordnet.«

»Ich fahre nicht mit«, sagte Pave.

»Ach, warum nicht?« brach Bepi los. »Komm doch mit. Ganz allein mit den Kindern mag ich nicht fahren. So komm doch, Pave. Was hast du wieder?«

Als sie aber das blasse, eingefallene Gesicht der Schwester sah und die Tränen bemerkte, die langsam über den Rand der Lider stiegen und über die Wangen niederrollten, erschrak sie und kehrte sich wortlos ab. Pave stand auf, trat zum Fenster und trocknete sich, von den übrigen abgewandt, die Augen. Miho sah seufzend zu ihr hin.

»Der Tag ist heute so schön, Pave, und ich brauche den Wagen bis zum Abend nicht. Fahre doch mit! Nütze die Gelegenheit!«

Da drehte Pave sich heftig um. »Quält mich doch nicht so! Wenn euch ein Kind gestorben wäre, würdet ihr auch nicht vergnügt spazierenfahren. Laßt mich doch endlich in Ruhe!«

Ihre Tränen flossen wieder, ihre Schultern zuckten, sie drückte das Taschentuch abwechselnd an die Augen und an die Nase. Die Kinder saßen verstört da, Miho aber stand auf, trat zu Pave, stellte sich am Fenster neben sie hin und sagte ernst:

»Pave, du mußt dich zusammennehmen, sonst wirst du uns wieder krank. Redet dir denn Pero in seinen Briefen nicht zu, dich ein wenig zu zerstreuen?«

Da aber wankte Pave, sie stieß einen ächzenden Laut aus und hielt sich am Fensterbrett fest, um nicht umzusinken. Doch überwand sie die Schwäche sogleich.

»Sei mir nicht böse, Bepi, wenn ich nicht mitfahren kann«, sagte sie versöhnlich. »Ein nächstes Mal, nur heute nicht. Ich gehe hinauf und frage die Carlotta, ob sie nicht 308 Lust hat, mitzukommen, damit du nicht allein bist. Sie fährt gerne aus.«

Sie verließ eilig das Zimmer, und man hörte sie die Eingangstüre öffnen. Nach wenigen Minuten kam sie mit der hocherfreuten Carlotta wieder, und die Gesellschaft setzte sich in Bewegung. Pave zog Miliza sorgfältig an und steckte ihr Kuchen zu, damit sie unterwegs nicht hungrig werde.

Als Miho die Ausflügler im Wagen untergebracht und Titta zu großer Vorsicht ermahnt hatte, trat er nochmals ins Haus zurück und ging die Treppe bis zu Frau Bibas weißer Tür mit dem ovalen Messingschild empor. Hier läutete er und verlangte die Padrona di Casa zu sprechen.

»Nein, danke, Signora, zum Niedersetzen habe ich keine Zeit, ich muß augenblicklich fort. Ich wollte Ihnen nur eine Bitte unterbreiten. Pave ist allein unten. Sie wollte durchaus nicht mitfahren und ist wieder in ganz trübseliger Stimmung . . .«

»Gut, gut, gut!« unterbrach ihn Frau Biba. »Ich verstehe. Ich werde zu ihr hinuntergehen. Es ist wirklich traurig mit der Armen! Traurig!«

Miho hob die Schultern und ließ die Hände schwer auf die Schenkel fallen.

»Was wollen Sie! Ach, was war doch der Tod der kleinen Cotia für ein Unglück!«

Er dankte und empfahl sich eilig, denn er hatte unzählige Visiten zu machen.

Als Pave allein geblieben war, ging sie zu Duschan hinüber. Der Knabe zählte nun sieben Monate, er war noch immer nicht rundlich, doch für sein Alter kräftig genug. Sein Gesichtchen zeigte reizende und ebenmäßige Züge. Blondes Haar lockte sich leicht über der hübschen Kinderstirn. Er konnte nun schon aufrecht in seinem Körbchen sitzen, spielte mit seinen rosigen Fingern oder mit einem Holzpferdchen und war bereit, über jede Grimasse, die man ihm vormachte, herzlich zu lachen, wobei es sich zeigte, daß er im Unterkiefer bereits einen Zahn besaß. Pave nahm ihren Sohn auf den Arm, mit 309 der freien Hand faßte sie sein Kinderhändchen, sie sah in sein schönes kleines Antlitz, das nicht so sehr Peros Züge trug als ihre eigenen.

»Gleiche du doch lieber deinem Vater, Duschan, mein Sohn!« sagte sie leise und küßte die rosige Wange. »Gleiche du nicht deiner armen Mutter, sonst wirst du unglücklich werden wie sie.«

Der kleine Duschan aber mußte dem Flüstern ihrer Lippen irgend etwas entnommen haben, das ihn erfreute und belustigte, denn er begann jubelnd zu krähen und mit den Ärmchen herumzuschlagen. Dabei versuchte er tatendurstig sich vom Arm seiner Mutter fortzuschnellen, was ihm allerdings nicht gelang.

»Wie fröhlich du bist, Duschan, kleines Frettchen«, redete Pave weiter zu ihrem Sohn. »Du weißt freilich nicht, daß Cotietta gestorben ist, du weißt es so wenig, wie dein Vater es weiß. Es ist gut, daß ihr es nicht wißt, sehr gut ist das, sehr gut!« Sie drückte ihren Mund in den Hals des Säuglings, der nach Milch und süßem, jungem Leben roch, sie küßte ihn viele Male gerade unter dem kleinen Ohr, durch das das Licht des Maientags blutrot schimmerte. Sie küßte ihn wild und durstig, und ihre leidenschaftliche Mütterlichkeit, die in den letzten Monaten durch Krankheit und Müdigkeit gedämpft und zugedeckt worden war, die sich in den Wochen um und seit Cotias Tod in frierende Angst und bitterstes Weh verwandelt hatte, sie schlug wieder durch, sie stieg auf zum Himmel als ein siedender, springender Quell der Gnade und der Heilung. Mit dem Kinde auf dem Arm, das ihre stürmische Liebkosung widerstandslos duldete, begann sie leichte Tanzschritte zu vollführen, sie drehte sich in der Runde, sie lachte zum erstenmal seit Cotias Todesnot, und der kleine Knabe lachte mit ihr das ahnungslose, jauchzende, noch völlig unbewußte Lachen seines dämmernden Kindseins. Drollige, kleine Laute, deren er nicht Herr war, kamen aus seinem Munde, er fuhr Pave mit dem Händchen ins Gesicht, in die Augen, ins Haar, er strampelte glücklich, bis seine Hüllen eine 310 um die andere zu Boden gefallen und seine rosa Beinchen nackt zum Vorschein gekommen waren,

»O du mein Schelm, mein kleiner Reißteufel! O du mein allerliebster Engel du!« lachte Pave, und es schien, als wiche eine Last, schwer wie Gebirge, schwarz wie die dunkelste Winternacht, von ihrer Seele. Mit geröteten Wangen und vom Zugriff der Kinderfinger zerzausten Locken stand sie da, sie drückte den warmen, lebhaften kleinen Körper an sich, sie schien wieder eine glückliche Mutter, eingegliedert dem Leben, vom Leide geheilt, dem Tode entwunden.

Da ging die Tür in ihrem Rücken, und Santa in ihrem schwarzen friaulischen Bäuerinnenkleid stand im Rahmen. Sie war in der Küche beschäftigt gewesen, Duschans Windeln und Hemdchen zu waschen, und kam nun wieder, um ihm die Brust zu geben.

Als der Knabe die Nähe seiner Ernährerin erspürte, als er ihr blasses Gesicht unter dem schwarzen Kopftuch erblickte, das ihm unter allen Gesichtern das vertrauteste und gewohnteste war, kreischte er auf, machte eine schnellende Bewegung von der Mutter fort und strebte strampelnd zur Amme hin. Diese trat heran, streckte die Arme aus, ließ lockende, ziehende Zischlaute ertönen, sagte: »Coccolo mio! ecco la baglia! ecco la Santa! Komm zu mir, mein Herzchen!« und begann sich das Leibchen aufzuknöpfen. Pave wiegte Duschan hin und her, sie wollte ihn abermals küssen, er aber begann zu weinen und verlangte mit Händen und Füßen nach Santa. Da schossen Pave Tränen in die Augen, sie reichte das Kind der Amme und lief aus der Kammer. In ihrem Zimmer warf sie sich auf ihr Bett, bohrte den Kopf in die bunte Überdecke, und ihr Mund, der eben noch gelächelt hatte, verzog sich wieder zu bitterlichem Weinen.

Mein eigener Sohn liebt eine Fremde mehr als mich! dachte sie mit verzweifeltem Gram. Niemand liebt mich, weil ich keine Liebe verdiene! Sogar meine Kinder wenden sich anderen zu! Sie schluchzte krampfhaft und überhörte, daß jemand eingetreten war. 311

»O Frau Majorin!« sagte Vizza, die einen Stoß gebügelte Wäsche hereinlegen wollte, zaghaft. »O Frau Majorin, weinen Sie doch nicht wieder so sehr!« Das magere Mädchen stand verlegen am Bettpfosten, aber es war ihm in seiner Gutherzigkeit unmöglich, die Weinende ohne Trost zurückzulassen. »Die Cotia war ein süßes Kind, das ist wohl wahr. Aber die Frau Majorin hat ja noch andere Kinder, Gott sei Lob und Dank! Der Duschan ist jetzt so drollig, ich würde am liebsten den ganzen Tag mit ihm spielen, wenn ich Zeit hätte!«

Auf diese Worte hin wurde das Schluchzen vom Bett her aber noch lauter und jämmerlicher, und Vizza stand immer ratloser. Da sie jedoch die Türglocke klingeln hörte, mußte sie sich entschließen, die Frau Majorin allein zu lassen. Diese hatte das Zeichen des Glockenzuges ebenfalls gehört, sie erhob sich vom Bett, ging an ihre Tür und sperrte sie ab, damit nicht wieder jemand hereinkäme, dann stellte sie sich vor den Spiegel. Während sie ihr Haar, das vom Spiel mit Duschan und vom Liegen auf dem Bett in arge Verwirrung geraten war, einigermaßen in Ordnung zu bringen trachtete, klopfte jemand und drückte die Klinke nieder.

»Wer ist da?« fragte Pave und vernahm sogleich Frau Bibas Stimme, die von draußen hereinrief, ob es erlaubt sei, der kleinen Signora einen Besuch zu machen.

»Ich öffne sofort«, sagte Pave, glättete mit ein paar Griffen ihr Bett und ging zur Tür.

Die Padrona di Casa stand wartend in Bepis Eßzimmer. In der rechten Hand trug sie einen großen runden Nähkorb, über den rechten Arm hing ihr eine Vielfalt von braunen Seidenstreifen, die insgesamt mehrere Meilen lang zu sein schienen, und über den linken Arm war ihr ein hellblaues Kleid gebreitet, das sie sorgfältig durch die Tür zu steuern trachtete. Es war nicht recht einzusehen, wie sie es möglich gemacht hatte, einen Zeigefinger zum Anklopfen freizubekommen.

»Alle sind sie auf und davon!« begann sie im Eintreten, stellte den Nähkorb auf Paves Fenstertisch, häufte 312 die braunen Seidenstreifen daneben und legte das blaue Kleid behutsam auf das Bett. »Carlotta fährt ins Vergnügen und läßt mich sitzen. Wir haben heute den 3. Mai, am 5. Juli soll die Hochzeit sein, und was ist nicht noch alles zu schaffen bis dahin! Die Jugend meint, alles muß gehen wie der Wirbelwind. Hätten sie nicht bis zum nächsten Karneval warten können oder wenigstens bis zum Herbst!«

»Wenn Carlotta heiraten will, soll sie lieber bald heiraten«, wagte Pave einzuwenden. »Ich war vier Jahre verlobt und das lange Warten ist mir hart angekommen. Fast immer war ich getrennt von meinem Pero und ich habe mich vor Sehnsucht rein verzehrt. Oft wußte ich wochenlang nicht, ob er noch am Leben war.«

»Nun ja, vier Jahre, das ist eine lange Zeit. Aber ein Jährchen hätten sie sich wohl gedulden können! Sehen Sie, Frau Pave, dies Kleidchen da habe ich heute fertiggebracht. Für kleine Gelegenheiten am Abend, nicht wahr? Die Lippis haben viel Verkehr, eine weite Verwandtschaft und Freunde in ganz Venezien und bis ins Lombardische hinaus. Carlotta wird viel unter die Leute müssen. Aber ich bin zufrieden. Sie kommt in ein warmes Nest.«

Frau Biba kümmerte sich nicht im mindesten darum, daß Pave wieder besonders gedrückt schien und wenig Teilnahme bekundete. Sie nahm das blaue Kleid vom Bett, hielt es in die Höhe und drehte es hin und her.

»Ein nettes Kleidchen, nicht? Steht der Carlotta ausgezeichnet. Sehen Sie, der runde Kragen und die weißen Manschetten, die unter dem weiten Oberärmel hervorkommen, das ist das Neueste jetzt. Fichus trägt man kaum mehr. Schade, Fichus waren so bequem zu arbeiten, aber es muß freilich immer wieder etwas Neues geben, sonst wäre das Leben zu langweilig. Ach, und immer noch Heftfäden darin!«

Mit gerunzelter Stirn zog sie da und dort einen weißen Faden aus dem seidigen Gewebe, wobei Pave ihr behilflich war. 313

»Wollen wir hier bei mir bleiben, Frau Biba, oder hinaus ins Wohnzimmer gehen?«

»Der große Tisch draußen wird zum Arbeiten besser sein. Werden Sie mir helfen, liebe Frau Pave? Ja, darf ich Sie darum bitten? Das wäre lieb, denn ich finde mich nicht heraus. Die Rüschen müssen bis heute abends fertig sein, sie kommen auf ein braunes Hauskleid.«

Man ließ sich im Mittelzimmer nieder, und es kam tatsächlich etwas wie Behagen über Pave, da sie, auf Bepis ungeschlachtem Ledersofa sitzend, die endlosen Seidenstreifen in zierliche Rüschen verwandeln half. Santa war mit Duschan auf dem Arm fortgegangen, da Miho wünschte, daß der Knabe an die Luft komme. Vizza schien sich in ihrer Küche ganz ruhig zu verhalten, denn es war nichts von ihr zu hören. Lautlose Stille umgab die alte und die junge Frau, die unermüdlich schmale Säume nähten und mit flinken Fingern die Streifen zu bauschigen Rüschen einzogen.

»Woher haben Sie die reizende Schere, Frau Pave?« Frau Biba war entschlossen, keine Rücksicht auf die Einsilbigkeit und Niedergeschlagenheit ihrer Partnerin zu nehmen. Sie betrachtete die Kronenschere, öffnete sie einige Male und legte sie wieder hin.

»Sie soll aus Frankreich sein. Der Vater meiner Mutter ist als einer der Verwaltungsbeamten des Marschalls Marmont nach Dalmatien gekommen und dort geblieben. Mama hat immer erzählt, die Schere habe der armen Königin Marie Antoinette gehört. Ob es wahr ist und wie die Schere in den Besitz meiner Mutter gekommen ist, das weiß ich nicht. Aber nett ist sie, ich mag sie auch gern.«

»Hm, dann hätte das kleine zierliche Ding also schon viel großes Schicksal mitgemacht!« Während sie emsig nähte, sah Frau Biba immer wieder nach der kleinen Schere mit der gewölbten Krone hin.

»Von Ihrer Familie haben Sie mir nie erzählt, Frau Pave. Sie war immer in Dalmatien ansässig?«

»Vor langer, langer Zeit sollen unsere Vorfahren aus 314 der Stadt Bergamo in Italien gekommen sein, ich glaube, es war zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts.«

»Ach, aus Bergamo, aus Bergamo! Bravo! Das ist eine schöne Herkunft, von dort stammen viele unserer großen Familien. So, so! So sind sie also aus Bergamo!«

Dieser Umstand schien Frau Biba großen Eindruck zu machen. »Und fühlen sich als Italienerin?«

Pave lächelte. »Ich fühle mich als die Frau meines Mannes und die Mutter meiner Kinder. Alles andere ist mir zu verwickelt. Ich bin Dalmatinerin und stamme aus Italien, mein Mann ist österreichischer Offizier und stammt aus Kroatien. Mein Bruder Toni sagt, er fühle sich als Österreicher, und mein Pero tut das auch, obgleich er anderseits ein leidenschaftlicher Slawe ist. Mir ist das zu schwer, und ich kenne mich nicht aus. Jedenfalls ist es schrecklich, wenn man immer von Ort zu Ort wandern muß.«

Frau Biba schien nicht ganz einverstanden, aber sie sagte nichts, sondern nähte mit so großem Eifer, als müsse Carlottas Aussteuer bis Mitternacht vollendet bereitliegen.

Nach einer Weile wandte sie sich wieder an Pave. »Und was hat Ihre Familie in Dalmatien angefangen, nachdem sie aus Bergamo gekommen war?«

Pave dachte nach. »O Gott, alles Mögliche. Gutsbesitzer waren sie vor allem, reiche Gutsbesitzer. In der Gegend von Nona in Norddalmatien und südlich von Zara hatten sie ihre Güter. Aber manche wurden auch Priester, sogar Bischöfe, und einer war Gesandter der Republik Venedig beim Sultan. Aber die Töchter, von denen mußten viele ins Kloster gehen, damit die Brüder ihr Erbe besser beisammen behielten. So hörte ich wenigstens erzählen.«

Frau Biba fand das höchst interessant. »Wirklich, so schlimm waren Ihre Herren Vorfahren?«

»Ja, und da gibt es eine Sage, die fand ich immer sehr schauerlich. Eine von den Töchtern vor hundert oder zweihundert Jahren, die hatte einen jungen Mann lieb 315 und er sie. Aber die Brüder wollten ihr keine Mitgift geben und zwangen sie, ins Kloster zu gehen. Beim Abschied soll die Arme das ganze Geschlecht verflucht haben, weil die mächtigen Brüder ihr aus lauter Geiz ihren Anteil an Glück und Leben nicht vergönnen wollten. Von dieser Zeit an soll der Reichtum der Familie abgenommen haben, so behauptete wenigstens unsere Kinderfrau.«

Pave hatte etwas lebhafter gesprochen, was Frau Biba mit großer Genugtuung feststellte. »Eine weise Sage ist das wahrhaftig!« rief sie aus. »Geiz und Lieblosigkeit führen zu nichts. Soviel ich aber von Ihnen und Ihren Geschwistern weiß, haben sich diese Eigenschaften nicht in Ihrer Familie erhalten.«

»Nein, das haben sie nicht. Aber manchmal denke ich«, Pave sprach wieder leise und wie erloschen, »manchmal denke ich, ob nicht der Fluch doch noch auf uns liegt. Zum Beispiel auf mir. Habe ich nicht vielleicht deshalb so schweres Blut, hat mich deshalb niemand lieb, habe ich deshalb zwei Kinder verlieren müssen, weil der Fluch jener armen Tochter unseres Hauses über mir steht?«

Frau Biba fuhr empört von ihrem Sitz auf. »Was soll das für ein Unsinn sein, daß niemand Sie lieb hat? Hat man jemals etwas Ähnliches gehört? Liebt Sie nicht Ihr Mann? Werden Sie nicht von Ihren süßen Kindern geliebt?«

»Mein Mann liebt mich aus Güte und Barmherzigkeit, aber welche Last bin ich nicht für ihn, da ich kränklich und untüchtig bin und mich so schwer in neue Verhältnisse schicke! Hätte er eine andere Frau, wieviel leichter fiele ihm dies harte Leben! Und meine Kinder! Ja, Cotietta, die hat mich lieb gehabt. Aber die anderen! Wäre ich eines Tages nicht mehr da, sie würden mich nicht vermissen. Bepi wäre ihnen eine bessere Mutter, als ich es jemals sein könnte.«

Frau Biba war ernsthaft entrüstet und eine ehrliche und tiefe Sorge saß ihr in den alten Augen. »Was für ein Unsinn, was für ein Unsinn!« wiederholte sie mit 316 seltsam inbrünstiger Betonung. »Und so spricht eine Frau, die nicht nur innerhalb ihrer Familie vergöttert wird, sondern die sich weithin alle Herzen erobert. Schwärmt nicht mein Bruder Antonio Loro für Sie? War nicht Bianca, dieses hochmütige Ding, die für alle Menschen nur Spott bereit zu haben pflegt, ganz hingerissen von Ihnen? War nicht Herr Lorenzoni, der Tenor, von Liebe entbrannt? Nun, und die alte Biba, ist sie nicht ganz vernarrt in ihre kleine Signora?«

»Die Menschen sind viel zu gut und lieben mich, weil sie nicht wissen, wie wenig ich es verdiene.« Pave sagte diesen Spruch, der alle Kleingläubigkeit, alles Minderwertigkeitsgefühl ihrer Natur in einen Satz zusammenfaßte, mit einer so abgründig müden Stimme, daß Frau Biba sie entsetzt von der Seite ansah. Im Bestreben, Pave zu zerstreuen, fing sie wieder zu reden an.

»Jetzt hätte ich beinahe vergessen, daß ich Ihnen erstens eine große Neuigkeit und zweitens eine kleine Pikanterie mitzuteilen habe.«

Pave blickte von der Arbeit auf, aber sie schien nicht besonders neugierig zu sein.

»Die kleine Pikanterie erzähle ich zuerst«, fuhr Frau Biba fort. »Der Professor Lorenzoni hat aus Wien an meinen Bruder um Ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort geschrieben. Er scheint zu glauben, daß Sie in Wien sind, und wünscht Sie wahrscheinlich dort zu besuchen, Sie armes Frauchen, das niemand lieb hat.«

Pave sagte nur: »Ach, der«, und nähte weiter.

»Die große Neuigkeit aber ist«, Frau Biba sprach leise und betonte jedes Wort, »daß Bianca ein Kind erwartet. Ich bin so froh«, schloß die alte Mutter, und Pave glaubte zu bemerken, daß sich in ihren etwas tiefliegenden scharfen, unsentimentalen Augen etwas Feuchtes vorwagte.

Paves Herz klopfte, und Blut schoß ihr in das in diesen Tagen so blasse Gesicht. »Ah, Bianca erwartet ein Kind!«

Sie legte die Arbeit nieder und sah nachdenklich vor 317 sich hin. »Bianca ist guter Hoffnung! Das ist gut!« Dabei aber stieg eine brennende und bange Frage in ihr auf, eine Frage, die sie an niemand in der Welt stellen durfte, am wenigsten an Bianca selbst: ob Bianca ihre abwegige Liebe besiegt und überwunden, ob sie zum Rechten und Echten, zu ihrem fröhlichen, schwarzen, zähneblitzenden Gatten gefunden hatte, oder ob sie dem Unrechten und Fragwürdigen, dem wortkargen Lächler und hintergründigen Verführer nun doch erlegen war. Diese Frage erfüllte und erregte sie so sehr, daß sie nichts weiter zu sagen vermochte und Frau Biba durch ihren Mangel an Teilnahme zum äußersten enttäuschte.

Unterdessen war es Abend geworden. Santa war mit Duschan längst wiedergekehrt, die meilenlangen Bänder häuften sich, in fröhliche, ungebärdige Rüschen verwandelt, auf dem Tisch zu einem zerklüfteten Berg, von dem letzte Ausläufer in den Händen der immer noch eifrig Nähenden mündeten.

Vizza schaute herein. »Jetzt kommen die Herrschaften«, lächelte sie. »Die Kinder werden hungrig sein!«

Das stille Zimmer war plötzlich von Lärm und Leben erfüllt. Carlotta, die draußen erfahren hatte, daß ihre Mutter hier unten war, erschien als erste mit luftroten Wangen und glänzenden Augen. Schon unter der Tür rief sie: »Denkt nur, wo wir gewesen sind! Bei Bianca in Oderzo!« Ihr folgte Bepi mit dem kleinen, schläfrig, aber glückselig dreinblickenden Miro an der Hand. Den Abschluß bildete Miho, der die heimkehrende Gesellschaft vor dem Hause getroffen hatte. Er trug Miliza, die müde blinzelte und ihr Köpfchen an seine Schulter legte, auf dem Arm. Er neigte sein gebräuntes, gutmütiges Gesicht zu ihr nieder, scheuerte seine Wange an der des kleinen Mädchens und sagte: »Miliza muß gleich zu Bett. Sie ist nun sehr müde. Die lange Fahrt war viel für sie.«

Bepi rief aus ihrem Schlafzimmer heraus, wo sie den Hut ablegte: »Ich werde Miliza ein wenig Milch geben, sobald sie zu Bett gebracht ist, damit sie gleich zum Schlafen kommt!« Damit kam sie wieder zum Vorschein 318 und sagte: »Schön war es in Oderzo! Ein herrliches Haus hat Bianca! Und der Herr Tagliapietra, was für ein freundlicher, fröhlicher Mann!« Carlotta rief dazwischen: »Bianca ist ein wenig blaß, aber sehr vergnügt. Sie grüßt dich vielmals, Mama, und auch Sie, Frau Pave.«

Der kleine Miro, der seiner Mutter überallhin nachging und dabei mit einer imaginären Peitsche knallte, sagte: »Die Tante Bianca hat mir gute Frittoli zu essen gegeben, und der Onkel hat mich die Pferde im Stall anschauen lassen. Und dann ist noch ein Onkel gekommen, der hat eine kleine Pfeife im Mund gehabt.«

»Er meint Ettores Nachbar, mit dem sie so befreundet sind«, erklärte Carlotta, die, ihr neues himmelblaues Kleid über dem Arm, gemeinsam mit ihrer Mutter unter vielfacher Begrüßung die Wohnung verließ.

Pave aber sagte zu Miho und Bepi, die an Milizas Bett standen und ihr zusahen, wie sie schlaftrunken ein Glas Milch leerte: »Ihr könntet rein die Eltern meiner Kinder sein, so lieb habt ihr sie.« – –

*

Pave lag in der Finsternis und konnte nicht einschlafen. Die langen Gespräche mit Frau Biba gingen ihr wirr durch den Kopf, die Nachricht von Biancas beginnender Mutterschaft, der Brief des Tenors an Herrn Antonio Loro, die Vorfahrin, die das Geschlecht verflucht hatte. Und dann fühlte sie wieder Duschan auf ihrem Arm, der zu Santa hinstrebte, sie sah Miliza an Mihos Schulter schlafen und endlich fiel es ihr in seiner ganzen Schauerlichkeit ein, daß Pero noch immer nichts von Cotias Tode wußte. Wo, um aller barmherzigen Heiligen willen, sollte dies enden? Sie hatte Pero seit einer Woche nicht geschrieben, morgen oder übermorgen würde es sich nicht vermeiden lassen, daß sie sich hinsetzte und wieder einen dieser kunstvollen Briefe verfaßte, in denen sie alles Erdenkliche zu schreiben pflegte und nur das Eine nicht, worauf es ankam. 319

Was sollte sie wohl morgen schreiben? Daß die andern in Oderzo gewesen waren und sie nicht hatte mitfahren wollen? Daß das Frettchen groß und stark war, aufrecht saß und bald seinen zweiten Zahn bekommen würde? Daß die Wiesen voller Margueriten standen und daß sie vorgestern einen großen Strauß davon gepflückt und auf Cotias Grab gelegt hatte? Sollte sie so schreiben, als wüßte er es, als sei es eine Selbstverständlichkeit, daß es Cotias Grab gab und man Blumen darauf legen konnte? War dies vielleicht ein Ausweg? Oder sollte sie doch Miho bitten, zu schreiben? Sollte sie das staunende Entsetzen in seinen und Bepis Augen, ihre Vorwürfe und entrüsteten Ausrufe auf sich nehmen? Dann aber wäre es geschehen und Miho in seiner unerschöpflichen Gutmütigkeit, er würde sich trotz seines Widerwillens gegen das Briefschreiben augenblicklich daranmachen, den Schwager zu benachrichtigen.

Er würde ihr den Brief abnehmen, gut. Aber was wäre damit gewonnen? In vier oder fünf, vielleicht, wenn es schnell ging, schon in drei Tagen, würde Pero den Brief in der Hand halten, er würde erfahren, was sie ihm verborgen hatte. Er, der einsam in Wien saß, den der General quälte, dem diese Qual die Nerven zerrüttete, so daß seine Gesundheit in Gefahr war: er würde nicht nur erfahren, daß Cotia, sein liebstes Kind, tot war, nein, noch darüber hinaus, daß Pave, seine Frau, die ein Leben, ein Leib, eine Seele mit ihm war oder doch sein sollte, ihn seit langen Wochen betrogen, getäuscht, hinters Licht geführt hatte. Würde er ihr jemals wieder vertrauen können? Würde er ihr noch jemals glauben, daß sie ihn liebte, daß sie ihn nicht betrog, da sie ihm länger denn fünfmal sieben Tage verhehlt hatte, daß Cotia tot war, würde er nicht denken, sie sei schuld am Tode des Kindes? Und war sie denn nicht tatsächlich schuld? Ach ja, ja, ja, großer, allwissender, barmherziger Gott, freilich war sie schuld, und verdiente nicht länger, daß die Sonne sie beschien. Was hatte Don Raffaello gesagt, der gute, väterliche Mann, dessen Weisung sie nicht befolgt hatte: 320 »Dein Gatte wird noch denken, Ihr hier habt das Kind umgebracht!« Und mehr noch hatte er gesagt: »Geh und schreibe! Entsetzliches Unheil entsteht, wenn du nicht schreibst!« Sie hatte nicht geschrieben, und nun war das Unheil da.

Ihr himmlischen Gewalten, was würde Pero sagen, wenn sie ihn wiedersah? Würde er sie jemals wieder in die Arme schließen können, sie, die fähig gewesen war, am Tage, da man Cotia in die Erde gebettet hatte, einen Brief von vier langen Seiten an ihn zu schreiben, der die Trauerkunde nicht enthielt? Pero, Pero, du mußt es doch wissen, daß deine Pave nur aus Liebe, Angst und Rücksicht geschwiegen hat, daß sie vermessen und töricht das Leiden von dir fernhalten wollte, das Leiden, das nun sie selbst mit seinem fürchterlichen Rachen verschlungen hat. Siehst du denn nicht, Pero, daß das Vertuschen und Verschweigen zu einer schwarzen Mauer geworden ist, die bald, bald, jetzt gleich vielleicht, einstürzen und deine Pave begraben wird?

Während sie in der Finsternis lag und Stunde um Stunde vom Campanile herüber schlagen hörte, sah sie mit einem Male Peros Gestalt deutlich vor sich. Sie sah ihn sich in seiner ruhigen und bestimmten Art bewegen, sie sah den schmerzlich gesammelten, tiefträumerischen und doch flammenden Blick seiner Augen unter der hohen Stirne, sie sah die schmale, scharfe Nase und den heißen, liebevollen Mund. Sie sah den Menschen Pero vor sich, losgelöst von Beruf und Familie, den Einmaligen, Auserkorenen in seiner Ganzheit und Einsamkeit, den Liebenden und Geliebten, dessen Gesellin und Gattin zu sein das Schicksal sie erwählt hatte. Das Herz brach ihr fast vor verlangender Sehnsucht, vor Reue und Schmerz. Zugleich aber wußte sie von dieser Stunde an, daß sie es nicht wagen würde, beladen mit ihrer Schweigeschuld noch jemals unter Peros Augen zu treten. Nie würde er ihr verzeihen, so raunten die wirren Stimmen dieser Nacht es ihr entgegen, daß sie ihre heilige Gemeinschaft verletzt und das Vertrauen verraten hatte. 321

Weil sie in die größte und letzte Sünde gefallen war, in die Verzweiflung; weil ihre liebende Lüge das ewige Zwei-Sein zerbrochen und ihr Zweifel den Glauben an die Großmut seines männlichen Herzens angefressen hatte; weil sie sich an der heiligen Hoffnung, der Trägerin des Lebens, versündigt hatte, ward ihr Urteil gesprochen und ihre Fackel gelöscht.

Als sie endlich einschlief, sah sie eine Vielfalt sich jagender Bilder. Zuerst erblickte sie Bepi und Miho, die Duschan zwischen sich hielten, so wie auf Altartafeln mitunter die Heilige Familie dargestellt wird. Dann sah sie Bianca am Arm eines großgewachsenen, von Gesundheit strotzenden jungen Mannes, und Pave wußte, daß dies Ettore, ihr Gatte, war, und Freude erfüllte Paves Herz, denn sie hielt es für ein Zeichen, daß Bianca den rechten Weg gegangen war. Ein Mann in Reithosen und mit kurzer Pfeife und der Tenor Lorenzoni kamen dem Paar entgegen, doch Bianca rief ihnen zu: »Hier habt Ihr nichts zu suchen! Geht fort!« Endlich sah sie eine Nonne mit weißem Stirnband und schwarzem Schleier, sie blickte Pave böse an und sagte: »Du bist auch eine von denen, die mir mein Erbe genommen haben.« Pave erschrak sehr, doch als sie näher hinsah, bemerkte sie, daß die Nonne Cotia an der Hand führte. Cotia aber war unbeschreiblich süß und hold, sie streckte das Händchen aus und sagte mit ihrer unvergeßlichen, stillen Stimme: »Wann kommst du, Mau?«

*

Als Pave erwachte, war es entschieden.

Sie stand auf wie jeden Tag, sie weckte Miliza, wusch sie und kleidete sie sorgfältig in frische Wäsche und eines ihrer besten Kleider. Sie ging zu Duschan hinein, spielte mit ihm, und als Santa ihm reine Windeln und einen frischen Tragrock geben wollte, schob sie sie wortlos zur Seite und versorgte ihn selbst. Die ganze Zeit über war sie ungewöhnlich heiter. Doch als Bepi sie nach 322 dem Frühstück bat, ihr beim Nähen der Vorhänge behilflich zu sein, die sie bis zum frühen Nachmittag vollendet haben mußte, da für diese Zeit der Tapezierer bestellt war, und Pave sich zur Arbeit im mittleren Zimmer niederließ, überkam sie wieder eine so schneidende Traurigkeit, daß es ihr die Tränen in die Augen trieb und sie mit zitterndem Kinn leise weinte, während sie die Nadel durch den steifen Mull gleiten ließ. Was die ganze dunkle Nacht über, im Wachen und im Träumen so grausam gedroht, so unheilschwanger über ihr gehangen hatte, nun in der sonnigen Morgenstunde, im frühlingsheiteren, stillen Zimmer kam es wieder, mit letzter und wildester Gewalt. Pave vermeinte, das messerscharf schneidende Weh nicht länger ertragen zu können. Da aber kam, lang vertraut und barmherzig, die Flut, die seit Tagen ausgeblieben war, und umfing sie von allen Seiten. Pave versank selig, getrost vermochte sie ihre Tränen zu trocknen und die von Bepi gewünschte Arbeit zu leisten. Alles was ihr begegnete, war unwirklich geworden und nicht mehr imstande, sie zu treffen und zu verwunden. Sie fühlte keinen Schmerz mehr und sehnte sich einzig danach, sich endlich den wundertätigen Wellen anheimgeben zu dürfen, die sie von allem Leid fort zu Cotia tragen sollten.

Bepi hatte für alle Zimmer neue weiße Mullvorhänge genäht und fürchtete nun, der Tapezierer könne kommen, bevor die Gardinen bereit waren, aufgemacht zu werden. Sie saß schon seit frühem Morgen im mittleren Zimmer und brachte die Volants an den weißen Mullbahnen an. Frau Bibas braunes Rüschengebirge von gestern war unansehnlich gewesen, gemessen an den leicht- und hochgebauschten Wolkenburgen, die nun allenthalben auf Tischen und Betten lagen.

Bepi sah wohl, daß Pave in wehmütiger Stimmung war, aber sie war es an ihr nun nicht anders gewöhnt und überdies war sie im Augenblick völlig erfüllt von der Sorge, die Gardinen könnten bis zur Ankunft des Tapezierers noch nicht bereit sein. Während sie links 323 von Pave auf dem Ledersofa saß, gab sie ihrem lebhaften Bedauern Ausdruck, Pave, die doch am gestrigen Tage zu Hause gewesen sei, nicht ersucht zu haben, sie möge indessen an den Vorhängen arbeiten; ja, sie ließ durchblicken, sie wundere sich, daß Pave nicht von selbst auf diesen Gedanken gekommen sei. Pave gab mit großer Nachgiebigkeit zu, daß sie dies selbst nicht recht begreife, aber sie sei eben zu nichts nütze. Da Pave derartige Aussprüche nicht selten tat, nahm Bepi sich nicht die Mühe zu widersprechen, sondern nähte eifrig darauflos.

Miliza spielte mit Miro Verstecken; die Kinder liefen in den drei aneinanderstoßenden Zimmern hin und her, bald war das eine, bald das andere für eine Weile verschwunden, bis es unter schadenfrohem Geschrei in irgendeinem Winkel aufgefunden wurde. Einmal, als an Miliza die Reihe war, ein Versteck zu suchen, und Miro mit krampfhaft und nachdrücklich verdeckten Augen »einschaute«, wollte Miliza sich zwischen Mutter und Tante unter dem Sofa verbergen. Sie drängte sich an Pave heran, diese jedoch, in der Sorge, der Vorhang könnte zerdrückt werden, verwies es ihr und schickte sie weg. Als sie dann aber das traurige Gesicht des Kindes sah, stand sie auf und suchte mit ihm ein gutes Versteck in einem Winkel zwischen Anrichte und Mauer. Sie kehrte nun nicht mehr zu der Näharbeit zurück, sondern ging in ihr Zimmer, wo sie längere Zeit blieb. Bepi, die ihre Arbeit um jeden Preis gefördert sehen wollte, wurde über ihr Ausbleiben ungeduldig und gedachte sie zurückzurufen, doch als sie sich erinnerte, wie niedergeschlagen Pave am Morgen gewesen war, unterließ sie es.

Nach kurzer Zeit erschien Pave zum Ausgehen gekleidet in der Tür. Sie trug einen kleinen Strohhut mit rundem, herabgelassenem Schleier und über dem Kleid die Pelerine des schwarzen Mantels, den sie zur Reise getragen hatte. Sie war blaß, sah aber so schön aus, daß es Bepi trotz ihrer Versunkenheit in die Näharbeit auffiel. Sie lobte den Schleier, der die Schwester 324 vorteilhaft kleide, und Pave antwortete: »Ja, es ist ein hübscher Schleier.«

Wohin sie gehe, fragte Bepi und ob sie nicht Santa zur Begleitung mitnehmen wolle.

Santa sei mit Duschan ausgegangen, und sie könne sehr gut allein gehen. Sie wolle nur für einen Augenblick zum Fräulein Marietta Zannoner hinüber.

»Grüße das Fräulein von mir«, bat Bepi. »Wäre ich nicht so beschäftigt, so würde ich mich dir anschließen.«

Pave wandte sich zum Gehen, da bemerkte Bepi, daß ihr rückwärts die Haare unordentlich unter dem Hut hervorhingen, und sie ermahnte die Schwester, vor dem Spiegel ihre Frisur in Ordnung zu bringen.

»Ich gehe gleich in mein Zimmer zum Spiegel.« Sie küßte Miliza, die jetzt an der Reihe war, Miro zu suchen, und eifrig spähend durch die Stuben glitt, und schloß rasch und leise die Tür hinter sich.

Pave ging ohne Eile die gewohnte Treppe hinab. Im Vorgarten traf sie auf Santa, die mit Duschan vom Spaziergang heimkehrte. Der schon ziemlich schwere Knabe saß ihr müde auf dem Arm und blinzelte schläfrig unter seinem kleinen Strohhütchen hervor. Santa fragte sogleich, ob sie die Signora Padrona begleiten solle; Pave jedoch antwortete, es sei nicht nötig, sie gehe nicht weit und werde bald wiederkommen. Dann machte sie sich auf den Weg, kehrte aber nach wenigen Schritten zurück und küßte Duschan kurz auf die heiße kleine Wange, worauf die Amme mit dem Knaben in das Haus verschwand.

Auf der Straße angekommen, sah Pave Titta herankommen, der Mihos Pferd in den Stall zu führen im Begriff stand und die Schwägerin seines Herrn mit strahlender Fröhlichkeit begrüßte. Pave erschrak bei seinem Anblick, denn sie war seit der Ankunft in Motta die Angst nie losgeworden, die Kinder könnten unter das Pferd geraten, und sie rief dem Burschen zu, er möge acht haben, daß Miliza nicht unter die Hufe komme. Titta blickte sich nach Miliza um und war sehr 325 verwundert, sie nicht zu sehen. Also grüßte er nochmals, fragende Ratlosigkeit im Gesicht.

Endlich traf Pave niemand mehr und konnte ihren Weg gehen. Sie schritt die Straße gegen die Brücke hinab, die sie an so vielen schönen Winternachmittagen mit ihren beiden kleinen Töchtern gegangen war, sie überquerte den Monticano und sah vom Brückengeländer aus, wie die langsam fließenden Wellen, die an jenem Tag fehlerlos blau einen noch blaueren Himmel spiegelten, fröhlich dahintanzten.

Nun schlug sie ihren Lieblingsweg ein, das Steiglein am Monticano. Die Weiden waren hellgrün belaubt, unzählige Bienen summten und kreisten um die weißen Blütenteller der Holunderbüsche, und die Wiesen, die sich zum Fluß niedersenkten, waren rechts und links vom Weg bis zum Wasser hinab von Margueriten übersät.

Pave schritt langsam dahin. Das Wasser floß zu ihrer Rechten, es schien emsig bemüht, von der Stelle zu kommen, als sehnte es sich nach seiner Mündung. Nun werde auch ich bald dort münden, wo es mir wohl sein wird, dachte es in ihr. Lauter lang zurückliegende Dinge durchwogten ihr Hirn, sie sah plötzlich die nördliche Gartenmauer in Lukoran mit den Myrtenbüschen vor sich, dann ein Stückchen von dem Zimmer, das sie in Agram zu Beginn ihrer Ehe mit Pero bewohnt hatte. Dann verschwand auch dies, und sie hörte die Stimmen gleichgültiger Menschen, halbvergessener Bekannter aus den verschiedenen Garnisonen, die lächerliche Gespräche führten. Es war ihr leicht und wohl zumute, sie fühlte weder Leid, noch Angst, noch Verantwortung.

Während sie ging und sich nach einem Platze umsah, wo der Damm sanft zum Flusse niederglitt, erblickte sie mit Schrecken den langhaarigen Maler Carlo Satti, der ihr auf dem schmalen Wege entgegenkam. Er trug sein gewohntes Kostüm und war barhaupt. Er bezeigte schon von weitem große Freude, als er Pave erblickte, und grüßte sie ehrerbietig, doch verbot ihm ein ablehnender und verlorener Zug in ihrem Gesicht, sie anzusprechen 326 und sich nach ihrem werten Befinden zu erkundigen. Mit seinem kindlichen und etwas leeren Lächeln sah er die schöne Frau an, die bei seinem Herannahen begonnen hatte, rechts und links vom Pfad Margueriten zu pflücken, und ihm undeutlich und versonnen für seinen Gruß dankte. Sie fuhr fort, Blumen zu pflücken, bis sie den Maler die Brücke überschreiten und in der Richtung gegen das Trevisanische Tor verschwinden sah.

Sie befand sich nun gegenüber dem zum Franziskanerkloster gehörigen Wäldchen. Die Böschung unterhalb des Dammes war hier ganz sacht, und ein kleiner Pfad führte zum Wasser nieder.

Ohne Furcht oder Zaudern stieg sie leichtfüßig hinab. Das blaue Wasser floß heiter dahin, einige weiße Schmetterlinge hielten sich nahe über den Wellen. Pave blickte sich um und sah keinen Menschen. Da nahm sie rasch den Hut mit dem Schleier und die schwarze Mantille ab und legte alles mitsamt den Margueriten ins Gras. Dann sah sie vollkommen ruhig auf das sonnenglitzernde, sanftfließende Wasser. Sie trat mit ihrem kleinen Schuh in die flutende Nässe und spürte sogleich, daß die Stelle tief war . . . 327

 


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