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In den Stuben der Frau Biba war es hell und sehr behaglich. Schon das ovale Messingschild an der weißen Wohnungstür im zweiten Stockwerk, auf dem in schwungvoller Schreibschrift der Name Zannoner stand, machte einen freundlichen und Zutrauen erweckenden Eindruck. Der Hausrat in den vielfenstrigen Zimmern stammte aus der Zeit vor etwa fünfundzwanzig Jahren, da Frau Biba von ihrem nunmehr auf dem Friedhofe San Giovanni in Gott ruhenden Gatten heimgeführt worden war. Die Möbel waren nüchtern und steif, wie es der Mode jener Tage entsprochen hatte, es gab nichts neumodisch Geschwungenes, Gedrechseltes, Quasten- und Fransenbehängtes in diesen Zimmern. Polsterungen und Tapeten waren in lichten, friedlichen Streifenmustern gehalten, auf runden Kirschholztischen lagen genetzte und gehäkelte Decken, bunte perlgestickte Glockenzüge baumelten mit gläsernen Griffen neben den Türen. In dieser Umgebung thronte Frau Biba, grobknochig und großgewachsen, mit gescheiteltem Haar, hoher Stirne, breiten Backenknochen, gütigen und wissenden Augen und einem großen, ausdrucksvollen Mund. Obwohl sie weit davon entfernt war, schön zu sein, hatte ihre Erscheinung etwas Gebietendes und Königliches, während ihre jüngste Tochter Carlotta, die zwanzigjährig und noch unverheiratet im Hause lebte, zwar hübsch und feingliedrig, aber unbedeutenden Aussehens war. Sie schien nach der Familie ihres verstorbenen Vaters geraten zu sein, der ein bescheidener, stiller Mann gewesen war, wie Pave gehört hatte, während Frau Biba selbst eine Loro war, Tochter der unantastbaren und angesehenen Familie und Schwester des Herrn Antonio Loro, der die höchsten Würden der Stadt in sich vereinigte. Das Haus vor dem Trevisanischen Tor in Motta di 1406 Livenza, das sie bewohnte und dessen erstes Stockwerk sie an Paves Schwager vermietet hatte, stammte ebenfalls aus Loroschem Besitz. Es stand in einer Reihe mit einer Anzahl ähnlicher zweistöckiger, weiträumiger weißer Häuser, die, etwa zur Napoleonischen Zeit erbaut, die von der Stadt fort und über das Flüßchen Monticano führende Straße bildeten.
In Frau Bibas Zimmern pflegte sich zu jeder Tageszeit Besuch einzufinden, der hauptsächlich aus Damen und Kindern bestand. Ihre umfangreiche Verwandtschaft, die Freundinnen ihrer Tochter, sowie die im ersten Stock eingemieteten Damen pflegten, Strick- und Nähbeutel in der Hand, voll frohen Vorgefühles der sie erwartenden Geselligkeit an der weißen Tür zu klingeln und sich auf den Kirschholzmöbeln mit dem gestreiften Polstermuster um einen der runden Tische niederzulassen. In allen Nöten und Angelegenheiten des weiblichen Herzens spendete Frau Biba Teilnahme und Rat, jedes Kind durfte ihrer mütterlichen Zärtlichkeit sicher sein, jede öde Stunde fand Verkürzung und Erhellung im Umkreis ihrer fraulichen Nähe.
Von dem Augenblick an, da Pave vor nunmehr neun Tagen bei strömendem Regen todmüde und noch halb krank von der tags zuvor überstandenen Schiffahrt durch den aufgeweichten Vorgarten das Haus betreten hatte, war Frau Bibas gastliche Freundschaft ihr zuteil geworden, und hatten Miliza und Cotia sich ihrer zärtlichen Zuneigung erfreuen dürfen.
Zwischen den gebauschten Mullvorhängen durch sah man stetigen Regen auf die Dächer der Stadt und auf einige von Nässe triefende Gärten niederfallen. Im Zimmer befanden sich außer der Hausfrau Pave und ihre jüngere Schwester Giuseppina, genannt Bepi, deren Gastfreundschaft sie genoß, ferner das Mädchen Carlotta und eine ältliche Verwandte Frau Bibas von der Zannonerschen Seite her, eine unbedeutende, geschwätzige alte Jungfer, deren Mausgesicht durch einen auf Scheitelhöhe angebrachten grauen Haarknoten noch länger und 147 spitzer wirkte. Doch war sie die Gutmütigkeit selbst, und ihr Laster war einzig eine unersättliche Neugierde. In einem Winkel des Zimmers spielten Miliza und Cotia in Gesellschaft ihres fünfjährigen Vetters Miro mit alten Bausteinen.
Frau Biba saß an dem größten der runden Kirschholztische, der in die Mitte des Zimmers gerückt war, und befaßte sich mit einer umfangreichen Schneiderei.
Sie nähte alle Kleider für sich und ihre Töchter, auch für die beiden verheirateten, selbst und war in dieser Kunst sehr bewandert. Sie ließ sich in deren Ausübung durch keinen Besuch, außer durch den ihres von ihr hochgeschätzten Bruders Antonio Loro stören. Erschien dieser, so legte sie den schönsten Stoff, Zuschneideschere, Metermaß und Fingerhut augenblicklich fort und begab sich mit ihm in das benachbarte feierliche Sitzzimmer. Den weiblichen Kreis aber, der sie für gewöhnlich umgab, beherrschte sie von ihrem Schneidertisch aus.
Paves Schwester Bepi war größer und voller als diese, glich ihr aber im ebenmäßigen Schnitt des Gesichtes. Sie war eine phlegmatische Frau von sechsundzwanzig Jahren, ihre Haut zeigte nicht die frischen Farben, die Pave trotz ihres leidenden Zustandes nie verließen, sondern war von gleichmäßiger Blässe. Die Schwestern saßen nebeneinander auf einem gestreiften Sofa; Bepi hatte einen runden Weidenkorb mit Flickwäsche vor sich auf einem rohrgeflochtenen Schemel stehen, dessen Inhalt sie in langsamer, aber stetiger Arbeit zu bewältigen bestrebt war. – Pave hielt ein Stück bunten Wollstoff in der Hand, das sie lässig einsäumte, während Carlotta, die Haustochter, in einer Fensternische halb verborgen, im strengen Dienst ihrer Mutter voll fieberhafter Eile die Nadel fliegen ließ. Das alte Fräulein Marietta Zannoner jedoch strickte an einer umfangreichen Decke von unbestimmbar grauer Farbe, wobei sie nach der Art italienischer Strickerinnen die eine Nadel im Gürtel befestigt hatte.
»Cotia, mein Engel, alles darfst du tun, nur mit den 148 Schuhen auf das Taburett darfst du nicht!« Frau Biba rief es voller Bestimmtheit, aber mit warmem Wohlwollen, und Cotia gehorchte augenblicklich. Mit dem ihr eigenen stillen Blick sah sie nach der am Tisch thronenden Frau hinüber und gab ihre Kletterübungen widerstandslos auf.
»Ein gehorsames Kind! Ein braves Kind!« Es war das alte Fräulein Zannoner, das unter ihren hochgeschobenen Brillengläsern hervor nach dem Spielwinkel der Kinder blickte und sich in bewunderndem Ton solcherart ausließ. Wie alle alternden Frauen, die, aus dem lebendigen Kreislauf der Geschlechter ausgeschaltet, einsam und familienlos leben müssen, war Fräulein Marietta eifrig und ehrlich beflissen, im Hause der mächtigeren, dem Leben eingegliederten Verwandten nützlich und unentbehrlich zu sein, vor allem aber deren Interessen und Beziehungen so sehr zu ihren eigenen zu machen, daß die Leere ihres Daseins davon ausgefüllt wurde. Am Rande des Lebens der ihr weitläufig verschwägerten Frau Biba zu sitzen, unter hochgeschobener Brille eifrig deren Freuden und Sorgen mitzubetrachten, deren Familie mitzulieben, deren Freunde mitzukennen, die wohl nicht stürmisch geliebte, aber stets herzlich willkommene Tante dieses lebensvollen Kreises zu sein: mehr Inhalt hatte das Schicksal den reiferen Jahren des würdigen Fräuleins Marietta nicht zugebilligt. Sie aber genoß diesen, so reichlich sie konnte, und vergalt ihn den Verwandten durch unermüdliche Treue und Hilfsbereitschaft.
Seit Pave in Motta aufgetaucht war, erfreute sie sich der emsig forschenden, aber herzlichen Teilnahme der alten Jungfer, die nicht müde wurde, sich von ihr die Einzelheiten ihrer mühevollen Reise erzählen zu lassen. Auch jetzt trat sie, ohne im Herbeischreiten auch nur einen Augenblick ihre Strickarbeit zu unterbrechen, an das Sofa heran, wehrte das Angebot eines Sitzplatzes eindringlich ab und forschte:
»Wie viele Tage waren sie unterwegs, Frau Pave? Die 149 Carlotta sagte, vier. Das wäre entsetzlich! Ich kann es nicht glauben.«
»Wir sind fünf Tage gereist und haben viermal übernachtet, einmal in Laibach, zweimal in Triest, einmal in Venedig. Von Wien bis Laibach sind wir mit der Bahn gefahren, von Laibach bis Triest in einer Kutsche, von Triest nach Venedig mit dem Schiff, das versteht sich, von Venedig nach Treviso wieder mit der Bahn, nun, und von Treviso hierher mit dem Postwagen. In Venedig hat mein Schwager mich erwartet. Vorgestern vor acht Tagen sind wir mit der Abendpost angekommen.«
Pave erzählte ein wenig mechanisch. Sie hatte schon allzuoft von ihrer Reise berichten müssen und es begann sie nachgerade zu langweilen.
»O Gott, Gott, fünf Tage mit den kleinen Kindern! Arme Mutter, arme Kinder! Und allein, ohne den Herrn Gemahl!«
»Leider!« Pave seufzte. Sie hatte einen Augenblick lang vergessen gehabt, wie schmerzlich sie auf einen Brief von Pero wartete. Seit sie sich in Wien von ihm getrennt hatte, war sie ohne Nachricht von ihm.
»Wann kommt die Post aus Udine?« wandte sie sich an Bepi.
»Um diese Zeit herum muß sie kommen.« Bepi zog stetig und ruhig wie eine auf langsames Tempo abgestellte Maschine Fadengitter auf Fadengitter über zerrissene Strumpffersen. »Sorgst du dich schon wieder? Warum? Er wird schon schreiben. Von Wien zu uns her ist es weit. Du weißt doch selbst, wie lange ihr gereist seid.«
Pave machte ein ungeduldiges Gesicht. In ihrer unerschütterlichen Ruhe war Bepi stets bestrebt, alle Sorgen fortzuschwatzen, alle Berechtigung zu Kummer und Unruhe zu leugnen. Man hatte wenig von einer solchen Schwester.
»Alle Zeitungen sind voll von Nachrichten über die Cholera. Soll ich mich da nicht sorgen?« 150
»Unsinn, warum sollte gerade Pero die Cholera bekommen? Es ist immer irgendwo die Cholera, aber noch nie hat ein Mensch, den man kennt, sie bekommen. Wenn du dir nur Sorgen machen kannst!«
Obwohl Frau Biba mit großer Aufmerksamkeit dabei war, ein papierenes Schnittmuster auf den breit in Grau und Lila gestreiften Mohair aufzuheften, der den Tisch bedeckte, entging ihr keines der im Zimmer geführten Gespräche.
»Hat unsere kleine Signora noch keinen Brief von ihrem Herrn Major bekommen?« rief sie herüber. »Nur Geduld! Nur Geduld! Alle Briefe kommen schließlich an, meine Damen, die Briefe aus Wien und auch die Briefe aus Padua!« Die Anspielung auf Padua bezog sich auf ihre sich erglühend hinter der Gardine duckende Tochter, die einen unglücklichen Blick in der Richtung nach ihrer Mutter schoß.
»Übrigens habe ich eine Neuigkeit!« fuhr die Hausfrau fort. Sie hatte das Schnittmuster aufgeheftet und begann den Stoff in daumenbreitem Abstand von der Schablone zu durchschneiden. »Ich habe eine Neuigkeit!« Ihre Stimme lockte und buhlte um Aufmerksamkeit. »Was glaubt Ihr?«
Niemand konnte ahnen, was Frau Biba wissen mochte.
Sie warf einen Blick durchs Zimmer, schmunzelte fröhlich und legte los: »Im Dezember bekommen wir eine Stagione. Was sagt ihr nun?«
Vor allem war es Fräulein Marietta, die vor Freude strahlend eilig herbeikam und der Ansicht Ausdruck gab, daß diese Schicksalsgunst gewiß Herrn Antonio Loros Umsicht zu verdanken sei.
Aber auch die junge Carlotta verließ ihr Versteck am Fenster und wollte wissen, ob es denn schon ganz sicher wäre und ob man sich eine gute Gesellschaft erwarten dürfe.
»Es sind dieselben, die im vorvorigen Karneval hier gewesen sind, nur ein neuer Tenor soll dabei sein.«
Bepi schnitt ein Gesicht: »Die Primadonna wird nicht 151 jünger geworden sein. Erinnert ihr euch, wie sie sich immer affektiert umgewendet und den Kopf in den Nacken gelegt hat, die alte Schachtel!«
»Die Stimme war gut, und in der Oper kommt es auf die Stimme an. Und der neue Tenor soll großartig sein. Als erstes wird Rigoletto gespielt werden.«
Wieder mußte Pave schmerzvoll an Pero denken. Rigoletto war seine Lieblingsoper. Wo hatte sie übrigens kürzlich von einer Rigoletto-Aufführung reden gehört? Ach ja, damals in Laibach bei dem angenehmen Souper mit Dobner und Oresković. Ob Pero wohl den beiden treuen Freunden für ihre Dienstbereitschaft gedankt hatte? Wenn der gute Dobner hier wäre, wüßte er ihr gewiß einen Trost in ihrer ungeduldigen Sorge. Wie hatte er doch gesagt: unseren Willen einem höheren unterordnen, das ist das einzige auf Erden mögliche Glück. Ach ja, das waren solche Reden, die schön und erhaben klangen, aber den wirklichen, lebendigen Kummer eines wirklichen, lebendigen Menschen doch nicht beschwichtigen konnten. Oder war nur ihr der Zugang zu solcher Weisheit verschlossen? Jedenfalls sehnte sie sich nach Trost und es ward ihr keiner geboten.
Es regnete nicht mehr. Die Nässe floß von den Dächern ab, und zwischen den sich langsam teilenden Wolkenfetzen kam die rote Abendsonne zum Vorschein.
Pave stand auf und verabschiedete sich von der Hausfrau. Sie wollte noch ein wenig spazierengehen, ihr Schwager wünschte, daß sie sich Bewegung mache. Sie rief ihre kleinen Mädchen heran, diese aber erhoben ein flehentliches Bitten, die Mutter möge sie noch weiter mit den Bausteinen spielen lassen. Da Frau Biba sich ihrem Anliegen anschloß, ging Pave allein fort.
Vom Fenster des Treppenhauses sah sie, daß die untergehende Novembersonne den wolkigen Westhimmel in ein rosenrotes Feuerwerk verwandelt hatte. Ein Schleier von Feuchtigkeit lag über der Landschaft, aus dem langsam fließenden Wasserlauf des Monticano, der nahebei die Straße kreuzte, stiegen Dunstschwaden. 152
Pave betrat Bepis Wohnung im ersten Stock, die weniger hell war als die höher gelegene der Frau Biba, erfuhr, daß der Postbote nicht dagewesen sei, überzeugte sich, daß Duschan unter der Aufsicht der Amme ruhig schlief, und trat ins Freie hinaus. Die Luft war mild und angenehm, die Straße aber war zu einem zähen Brei aufgeweicht. Vorsichtig Fuß vor Fuß setzend, ging sie die Häuser entlang, bis innerhalb des Stadttores große Pflastersteine trockenes Gehen ermöglichten. Der weitläufige Hauptplatz spiegelte in seinen feuchten Fliesen das Rot des Sonnenunterganges, während durch das Dunkel der Gewölbe schon trübes Licht aus den kleinen Kramläden sickerte. Einige Leute schlenderten auf dem Platz umher, wahrscheinlich wurden sie, wie sie selbst, von dem Verlangen getrieben, sich nach den langen Regentagen ein wenig Bewegung und frische Luft zu verschaffen. Vor der Posthalterei mit dem Doppeladler über dem Tor war es still und leer, also dachte Pave, die Post aus Udine könne noch nicht gekommen sein.
Unter dem Torbogen ging eine sonderbare Mannsperson mit kleinen, gezierten Schritten hin und her. Der Mensch war barhaupt, lange blonde Haare fielen ihm in Locken auf die Schulter. Er trug einen samtenen Rock, Kniehosen und helle Strümpfe. Mit einer Selbstgefälligkeit, die auf den ersten Blick kindlich wirken mochte, Pave aber sogleich widerlich war, lächelte er sie an, und da sie in dem Bestreben, Genaues über das Eintreffen des Postwagens zu erfahren, vor dem Tor zögerte und nach einem der hier beamteten Männer ausblickte, sprach der Langhaarige sie mit eitlem Augenaufschlag an und fragte, ob die Signora etwas suche. Pave fühlte eine Art Ekel beim Anblick des weibischen Mannes, dessen Gesicht nicht erkennen ließ, ob er noch ziemlich jung oder etwa schon über die Mitte der Dreißig hinaus war, und sie wollte sich keinesfalls von ihm beraten lassen. Mit kaum hörbarem Dank glitt sie an ihm vorbei und gedachte von der Livenzabrücke Ausschau nach der Postkutsche zu halten. Die Sonne war nun untergegangen, aber fast das 153 ganze Himmelsgewölbe war von den rosa Wellen der Wolken bedeckt, die namentlich gegen Osten zu ins Violette und Graue hinüberzublassen begannen. Auf den träge fließenden Wassern des vom langen Regen hoch angeschwollenen und lehmbraun gefärbten Flusses tanzte ihr zitternder Widerschein. Pave lehnte sich auf die Brüstung der Brücke und blickte flußabwärts. Die Stadt mit ihrem Campanile lag zur Rechten, zur Linken bildeten einige vornehme kleine Landhäuser von südlicher Bauart mit Gärten, Steinbalustraden und schmiedeeisernen Gittern eine anmutige Uferzeile. Die Ränder des Flusses waren dicht umbuscht, freilich zeigten sich die Erlen und Weiden, die zur Sommerszeit herrlich grünen mochten, jetzt als traurig starrendes graues Gestrüpp.
Das leise Fließen des Livenza schien Pave wie ein süß einlullendes Lied. Sie liebte die Laute des Wassers mehr als alle Musik dieser Welt. Freilich war nichts so süß vertraut und vertrauenswürdig, so sehnsuchtsstillend und aller Sehnsucht wert, wie das Lied des Meeres, da es daheim an den Garten von Lukoran angeschlagen, da es die Insel umbraust, umflüstert, umschmeichelt hatte, da es Tag und Nacht als der holde Goldgrund, vor dem das Leben sich abspielte, in ihrem Ohr gewesen war. Aber auch dies sachte Gleiten des Flusses war schön. Wie ein sanftes Gespräch floß es dahin, es schien alle Schwere fortzunehmen, alle Trauer einzulullen, auf alle Fragen eine leise und linde Antwort zu wissen. Pave erinnerte sich, daß Pero einmal gesagt hatte: »Nichts auf der Erde kann schöner sein als das Spiel des Lichtes auf einer Wasserfläche.« Pero bedurfte keines Trostes. Er beherrschte das Leben und riß Rausch und Schönheit an sich. Sie aber, die sie nicht so sehr der Schönheit als der lindernden Hilfe bedurfte, wollte sein Wort dahin abwandeln, daß es nichts Beschwichtigenderes gab als das heimliche Reden eines Gewässers.
Aus der Landschaft ertönten Pferdegetrappel und Räderrollen. »Nun kommt die Post«, dachte Pave, doch 154 als sie sich umwandte, erblickte sie den Wagen ihres Schwagers Miho, den dieser selbst lenkte. Sie winkte ihm, und er hielt augenblicklich an.
»Ich gehe spazieren, wie du es befohlen hast«, rief sie ihm zu. »Bravo!« antwortete er mit seiner freundlichen Stimme, »aber willst du nun nicht zu mir einsteigen? Ich habe etwas für dich.« »Einen Brief von Pero?« fragte sie mit Herzklopfen, indem sie sich zu ihm setzte. »Jawohl, ich traf den Postboten schon vor zwei Stunden, da ich heimzufahren gedachte. Dann aber hat man mich nach Quartarezza gerufen, und ich kam nicht mehr nach Hause. Der Brief hat mir schier den Rock durchgebrannt, da ich wußte, wie heiß du ihn erwartest.« Pave seufzte nur: »Gott sei Dank, daß er da ist.«
Die Räder bespritzten bei jeder Umdrehung den Wagen und seine Insassen mit dem zähen Kotbrei, sodann fuhr der Wagen hallend durch die Stadt, und hinter dem Trevisanischen Tor versank er abermals im Schmutz, um alsbald vor dem Loroschen Hause anzuhalten. Pave eilte die Treppe hinauf, der kleine bläuliche Umschlag von Peros Brief lag heiß in ihrer Hand.
*
Eine Anzahl von größeren und kleineren Schüsseln bedeckte den Abendtisch, und Vizza, die magere und humorvolle Magd, brachte eilenden Laufes und mit eifrigem und pfiffigem Gesicht noch weitere herein.
Frau Giuseppina pflegte allen Familienmitgliedern vorzulegen. Sie tat es stehend und leicht über den Tisch gebeugt. Berge von in Öl gebackenen Sardellen, Bratkartoffeln, Salaten, eingelegten Oliven und sonstigem Gemüse bedeckten die Teller, die sie jedem zuschob. Ihrem Söhnchen Miro, das rotbackig und zufrieden neben ihr saß, zerlegte sie die Speisen sorgfältig.
»Alle die Speisen von zu Hause bekommt man bei dir«, sagte Pave bewundernd. 155
»Was willst du, Miho hat das dalmatinische Essen gern! Er plagt sich den ganzen Tag, soll er dann nicht wenigstens zu essen bekommen, was ihn freut?«
Bepi hatte sich nun gesetzt, und alle aßen andächtig. Pave dachte mit Reue, daß sie sich nie darum gekümmert hatte, Pero heimische Gerichte zu verschaffen. Dem Zufall ihres jeweiligen Aufenthaltsortes war der Speisezettel der Familie überlassen gewesen, und Pero hatte geduldig gegessen, was die unzulänglichen Dienstmädchen gekocht hatten.
»Was hat also Pero geschrieben? Siehst du, daß er nicht die Cholera bekommen hat!« Bepi lachte die Schwester an.
»Nein, gottlob, er ist gesund. Ich glaube, er ist fast froh, daß wir fort sind. Er hat nun ein wenig Ruhe. Die letzte Zeit war schwer für ihn. Aber er ängstigt sich um unsere Gesundheit. Möchtest nicht du, Miho, ihm schreiben? Dir als dem Arzt wird er es glauben, daß es dem Frettchen und mir besser geht.«
Mihos gutmütig frisches, breit gebautes Gesicht mit den runden Augen und dem kurzen schwarzen Schnurrbart wandte sich vom Teller fort Pave zu.
»Alles tue ich für dich, Pave, du weißt es. Mit Bepis Erlaubnis bin ich dein standhafter Verehrer. Nur schreiben, nein, schreiben mußt du selbst. Ich habe einen solchen Widerwillen gegen das Briefschreiben, daß ich wahrhaftig nicht wüßte, was mich bewegen könnte, ihn zu überwinden. Ich lasse Pero sagen, daß ich Duschans Entwicklung günstig beurteile, wie ich es dir schon gesagt habe, und daß ich auch deinen Husten nicht gefährlich finde. In ein paar Wochen wirst du gesund sein. Nimmst du die Medizin?«
Natürlich nahm Pave sie.
»Also, dann iß nur ordentlich. Nimm noch von den Sardellen und hier, Bepis eingelegter Kürbis ist vortrefflich. Und geh in die Luft! Wenn mein Wagen frei ist, könnt ihr immer ausfahren, hörst du, Bepi! Pave ist wohl zu bescheiden, ihn zu verlangen.« 156
»Danke, Miho, du bist sehr gut. Übrigens schreibt Pero, daß der Wagen, den wir in Karansebes hatten, endlich verkauft werden konnte. Ein Wirt in Orsova hat ihn genommen.«
Bepi war begeistert. »Nun also! Wegen des Wagens hast du dich doch auch abgequält. Siehst du, alles löst sich aufs beste.«
»Ja, verkauft«, seufzte Pave, »aber schlecht. Nur zweihundertvierzig Gulden haben wir bekommen. Es war ein schöner, neuer Wagen. Wir haben mit Sicherheit auf vierhundert gerechnet.«
Bepis Ruhe war unerschütterlich.
»Was man kauft, muß man teuer bezahlen, verkauft man es, so bekommt man nichts. Das ist der Lauf der Welt.«
Vizza, die stets so rasch aus- und einlief, daß ihre unordentlichen Haare sie umflogen, stellte Südfrüchte und eine Schüssel mit runden Mandelplätzchen, die zum Teil weiß belassen, zum Teil rosa und braun gefärbt waren, auf den Tisch.
»Ah, Fave di morte!« sagte Miro, der bisher still und eifrig gegessen hatte. »Ich habe nicht gewußt, daß noch Fave da sind.« Er strahlte.
Auch Pave war entzückt. »Wie habe ich mich immer zu Allerseelen danach gesehnt, Fave essen zu können.« Zu Miho gewandt sagte sie: »Alles Gute weiß Bepi sich zu verschaffen.« Sie biß mit nachdenklichem Gesicht in eines der rosa Plätzchen, das mürb knirschte und würzig nach bitteren Mandeln schmeckte. »Ach, Bepi, man soll nicht fortgehen und in fremden Ländern hausen, wo alles anders ist, als man es als Kind gewohnt war . . .«
Bevor sie sich niederlegte, zog Pave den Brief Peros noch einmal aus der Tasche ihres Kleides.
Sei gelobt, großer, guter, unbegreiflicher Gott, daß ich wieder einen Brief von Pero in der Hand halten darf! versuchte ihre ungeübte Seele sich in einem Dankgebet. Die Lippen der Frau drückten sich heftig auf das blaue Papier. Im Licht der Kerze auf dem Nachttisch 157 sah sie auf Peros schöne, feste und doch zarte Schrift, die so klar und unbeirrbar über das Papier lief, sie blickte hingerissen auf den englischen Briefbogen mit dem Wasserzeichen Bath links oben in der Ecke (Pero bevorzugte seit einiger Zeit dieses Papier), und auf die Unterschrift am Ende der dritten Seite, auf dieses geliebte P, das aus einem unbeugsamen geraden Stamm ohne alle Verzweigung und aus einem weit ausholend geschwungenen oberen Rundteil bestand.
Daß sie eigentlich über die Kürze des Briefes enttäuscht gewesen war, gestand sie sich nicht voll ein. Pero fragte mit Sorge wiederholt und eindringlich nach ihrer und der Kinder Gesundheit. Er mahnte sie zur Sparsamkeit, ernst, fast streng stellte er ihr vor, daß sie, ebenso wie er es tue, jede Ausgabe überlegen müsse, da es nötig sei, schon jetzt das Geld für ihre und der Kinder Heimreise zurückzulegen. Und er räumte schließlich ein, daß er nach allen sorgenvollen Mühen der letzten Zeit das Alleinsein nun zunächst fast als ein Aufatmen empfinde. War es nicht begreiflich? War er in den letzten Monaten nicht gezwungen gewesen, ohne Unterlaß Reisen und Übersiedlungen vorzubereiten? Die Geburt des Knaben, sein schlechtes Gedeihen, ihre, Paves Erkrankung – war nicht Pero es gewesen, auf dessen Schultern zuletzt alles gelastet hatte, der, wenn er müde und verärgert von der Berufsarbeit heimgekehrt war, sich sogleich in ein neues Joch von Sorge und Unrast gespannt fand? War es ein Wunder, wenn er nun aufrichtig schrieb: Fast atme ich auf, die Qual der letzten Zeit war beinahe zuviel gewesen.
Aber wenn er es vermochte, so zu schreiben, liebte er sie dann noch?
Pave saß auf ihrem Bett, die Kerze brannte still. Schlafrot und hold schlummerten die Mädchen in ihren Gitterbetten.
Sie legte im Sitzen ihr Haupt auf die Kissen. Wie schwarze Flut stiegen Trauer und Einsamkeit bis zu ihrem Herzen hoch. 158
Oh, wie haßte sie sich selbst, wie widerwärtig war ihr dieses Wesen, das Pave genannt war und von dem es mitunter hieß, es sei liebenswert, hübsch oder gar schön, zu dem die Kinder zärtlich Mutter sagten und dem Pero in seltsamer Verblendung dereinst seine Liebe geschenkt hatte! Wie haßte sie dieses trügerisch blühende Fleisch, dies schön frisierte Haar, diesen unzulänglichen Geist, diesen trägen Willen, diesen ganzen Menschen, der wahrlich das letzte der Geschöpfe war!
War es ein Wunder, daß Pero sie nicht mehr liebte? Oder liebte er sie doch noch? War ihre Verzweiflung Trug und Täuschung?
Sie entfaltete abermals den Brief. Wie schloß er?
»Leb wohl, meine Liebe, küsse mir meine Mädchen und schreibe bald Deinem Pero.«
Sie stand auf, ging zu den Kindern hin und küßte sie zart und leise, um sie nicht zu wecken. Miliza schlief weiter, Cotia schlug die Augen auf, lächelte die Mutter an, sagte »Mau«, den süßen Kosenamen, mit dem sie von kleinauf die Mutter gerufen hatte, und schloß sogleich wieder die Augen.
Ein wenig getröstet begann nun auch Pave sich zu entkleiden.
*
Am ersten Sonntag im Dezember sandte Frau Biba frühmorgens ein Brieflein herab, darin es hieß, sie bitte Pave sowie Giuseppina und deren Gatten zum Abend auf ein Glas Wein. Ihre Tochter Bianca aus Oderzo sei für einige Tage zu Besuch anwesend, und auch Herr Antonio Loro, sowie möglicherweise der eine oder der andere fremde Gast würden sich einfinden.
Bepi war nicht wenig erfreut. Die Bianca werde ihr gefallen, sagte sie zu Pave, das sei etwas anderes als diese langweilige Carlotta, die zwar ganz hübsch, aber ohne alles Leben sei, die demütige Sklavin ihrer Mutter. Bianca, die sei erstens bildschön und dann so interessant. Nun, sie würde ja sehen. Wer wohl von Fremden da sein 159 würde? Vielleicht jemand von den Roccos oder jemand ganz Neuer. Frau Biba hatte immer Überraschungen bereit. –
Frau Bibas Stube war feierlich verändert, als man sie des Abends betrat. Die Türe zu dem danebenliegenden Salon war weit geöffnet, vor allen Spiegeln brannten hohe Kerzen in silbernen Leuchtern, der Schneidertisch stand, seines werktätigen Charakters völlig entkleidet, festlich da, das rötliche Gelb seiner blanken Kirschholzplatte leuchtete durch die lockeren Maschen einer schön genetzten Decke. Karaffen mit Wein, geschliffene Gläser und Berge von vielfältigem Backwerk, die sich in silbernen Körben häuften, standen auf dem steifen Empirebüfet.
»Ah, Frau Biba, wahrhaftig, ein Fest haben Sie da gerichtet!« Bepi drückte der Hausfrau begeistert die Hand. So ruhig sie sonst wirkte, so ging sie doch lebhaft aus sich heraus, wenn eine Sache sie überraschte oder erfreute. Frau Biba in grauem Moiré mit mächtigem Reifrock empfing mit gelassener Würde die Begrüßungen der Neuangekommenen.
Schon auf der Schwelle war Pave von Überraschung und jenem Gemisch von mutwilliger Befriedigung und zornigem Verdruß befallen worden, das ihr von den ersten Reisetagen her vertraut war, denn auf dem Sofa sah sie neben einem sich sehr gerade haltenden älteren Herrn niemand anderen als ihren Verfolger von der Reise, den Tenor Lorenzoni, sitzen. Sie war so verblüfft, daß sie zu träumen meinte. Wie kam der unglückselige Mensch hierher, in die entlegene kleine Stadt, in Frau Bibas Stube? Sollte er der Tenor der Stagione sein, die übermorgen ihren Eröffnungsabend feierte? Und würde er sie nun wegen ihrer unliebenswürdigen Sprödigkeit zur Rechenschaft ziehen?
Die Hausfrau übernahm die Vorstellung. In derselben Fensternische, in der sie sonst nähend zu sitzen pflegte, stand Carlotta in einem weißen Kleid, das der Kunst ihrer Mutter alle Ehre machte, und unterhielt sich mit 160 einer sprühend lebhaften, dunkelhaarigen jungen Frau und mit einem mageren jungen Mann in schlotterndem Gehrock.
»Kommen Sie, Frau Pave, Sie kennen meine Tochter Bianca noch nicht.« Pave blickte in zwei ungewöhnlich große, langbewimperte schwarze Augen, die ein olivenbleiches, schmales Gesicht mit brennrotem Munde beherrschten, und ihre Hand wurde von einer heißen Frauenhand ungestüm gedrückt. »Und dies ist Herr Luigi Lippi, der in Padua studiert.« Frau Biba betonte die Worte »in Padua« auf eine spitzbübische Weise und bewirkte dadurch, daß ihre Tochter Carlotta hilflos errötend zum Büfet flüchtete, wo sie sich zu schaffen machte. Herr Luigi Lippi verbeugte sich und stotterte, die Universitätsferien hätten begonnen und er sei nun bei seinen Eltern daheim.
Die beiden Herren auf dem Sofa hatten sich erhoben. Herr Antonio Loro, ebenso groß und gebietend gewachsen wie seine Schwester, aber schmäleren und zarteren Angesichts, mit feiner Nase und ergrauten Schläfen, verneigte sich ritterlich vor den Schwestern und begrüßte Miho vertraulich. Er drückte Pave seine Genugtuung darüber aus, daß es ihm endlich vergönnt sei, ihre Bekanntschaft zu machen, da doch seine Schwester nicht müde werde, ihm von ihr vorzuschwärmen.
»Und nun kommt die Überraschung!« Frau Biba trat mit wichtigem und verschmitztem Gesicht auf den Sänger zu, der noch bleicher als sonst mit seltsam starrer Miene dastand. Sie wies mit einer ebenso graziösen wie gravitätischen Handbewegung auf ihn und sprach zu Miho und den Schwestern gewandt:
»Ich habe die Ehre, Ihnen den vorzüglichen, ja berühmten Tenor unserer diesjährigen Stagione vorzustellen, Herrn Arturo Lorenzoni, der bis vor kurzem in Laibach die Zuhörer entzückt hat und dessen Verpflichtung an die Kaiserliche Oper in Wien mit Wahrscheinlichkeit bevorsteht.« Bepi und ihr Gatte begrüßten die unerwartete Erscheinung mit erstaunter Verbindlichkeit und 161 sparten nicht mit Ausdrücken der Überraschung und der Anerkennung für Frau Biba, die ihnen eine so interessante Bekanntschaft vermittelte.
Pave, die sich ein wenig abseits gehalten hatte, empfing als letzte die Begrüßung des Sängers. Mit durchaus gesellschaftlichem Lächeln, das weder Freude noch Ablehnung offenbarte, reichte sie Herrn Lorenzoni die Hand und sagte leichthin:
»Welcher Zufall! Wir sind ja bereits von der Reise her bekannt.«
»Sie sagen, es sei ein Zufall, Signora, ich sage ein anderes. Wort: endlich, sage ich, endlich ist mir das Glück Ihrer Bekanntschaft vergönnt worden.«
Er sprach gepreßt und behindert, an seinen Schläfen spielten die Muskeln wie in verhaltenem Krampf und seine runden Frauenaugen starrten Pave ebenso fassungslos an wie damals, da er ihrer auf dem Wiener Bahnhof zum erstenmal gewahr geworden war.
»Ich muß mich entschuldigen, weil ich Sie in Laibach nicht in unserem Wagen habe mitfahren lassen. Aber mit den drei kleinen Kindern wäre es kein Vergnügen für Sie gewesen.« Sie lächelte ihn harmlos an.
»Signora, Ihre Kinder hätten mich nicht gestört! Sie wollten nicht mit mir fahren, ich begreife es. Aber sagen Sie mir nur dies: wohin sind Sie auf dem Weg von Adelsberg nach Triest geraten? Mein Kutscher ist so schnell gefahren, wie er nur konnte, wir hätten Sie einholen müssen. In allen großen Einkehrgasthäusern und Posthaltereien haben wir nachgefragt. Ich mußte schließlich glauben, die Göttin Diana, die mir um die Gunst Ihres Anblickes neidisch war, habe Sie in die Wolken entrückt.«
Nun lachte Pave hellauf.
»Warum nicht gar! Nein, die hohen Göttinnen haben sich nicht um mich arme Sterbliche gekümmert. Wir hatten einen Radbruch mitten auf der Straße, und eine gute Frau lud uns in ihr Haus, bis der Schaden behoben war. Möglicherweise sind Sie eben damals 162 vorbeigekommen.« Daß sie ihn »wie den Teufel« hatte vorbeifahren sehen, behielt sie für sich.
»Per bacco, das nenn ich ein Pech!« Der Tenor hatte sich nachgerade etwas von seiner anfänglichen Erstarrung erholt. »Einen Radbruch hatten Sie? Wo war es, daß Sie unterbrechen mußten, Signora?«
Den Namen des nächsten Dorfes wußte Pave nicht zu nennen. Nur daß es schon tief am Nachmittag gewesen war und daß ein großer dunkler Berg, der Nanos, damals ihren Weg begleitet hatte, konnte sie berichten. Herr Lorenzoni aber hatte der Berge nicht acht gehabt. Nur immer vor sich hin, vor sich hin auf die Straße hatte er gelugt, ob nicht endlich, endlich ihr Wagen vor ihm auftauchen würde.
Frau Biba trat hinzu und bat den Herrn Professor, wie sie den Tenor titulierte, doch jetzt, seinem Versprechen getreu, etwas von seiner berühmten Kunst zum besten geben zu wollen. Ihre Tochter, Frau Bianca Tagliapietra, sei eine gute Pianistin und werde ihn begleiten.
Die Gesellschaft verfügte sich in den Salon, wo vor dem geöffneten Pianino bereits die Kerzen entzündet waren. Herr Antonio Loro geleitete Pave mit ausgesuchter Höflichkeit zu einem der kleinen, steifen Sofas, die übrige Gesellschaft verteilte sich auf die dünnbeinigen Stühle und auf ein zweites Sofa, das zwischen den Fenstern aufgestellt war. Frau Biba nahm in einem tiefen Armstuhle Platz.
»Und was werden wir hören?« rief sie dem Künstler zu. »Welche Arie, welches Lied haben Sie uns zugedacht?«
Arturo Lorenzoni wandte sich der Hausfrau mit leichter Verneigung zu: »Wenn Sie mir nichts anderes befehlen, gütige Dame, so möchte ich gewissermaßen als Vorgeschmack unserer Vorstellung von übermorgen die Canzone des Herzogs ›La donna è mobile‹ singen.«
Allgemeiner Beifall, Geflüster und Händeklatschen erwiderten diese Ankündigung. 163
»Der Herzog in Rigoletto ist seine Glanzrolle«, sagte Herr Loro, zu Pave hingeneigt.
Frau Bibas schöne Tochter begann das Vorspiel, und alsbald entströmte Herrn Lorenzonis geschwungenen Lippen in unerhörtem Wohllaut das trügerisch traurige, neckisch verlogene Lied des gekrönten Schürzenjägers. Es kam Pave vor, als schleudere der Sänger ihr die bald schmachtend wogenden, bald herrisch fordernden Töne in leidvoller Anklage und bitterlichem Vorwurf ins Gesicht, er sang auf sie hin und schien sie, just sie, der Untreue und Flatterhaftigkeit zu zeihen. Nun straft er mich für den verweigerten Platz im Wagen, für sein Zuspätkommen in Adelsberg und für unsere Unsichtbarkeit auf der Reichsstraße. Aber er singt herrlich! So dachte Pave, während die gewaltigen Töne, die die Fenster erzittern ließen, sie umwogten. Sie saß in der Ecke des Sofas, ihr linker Ellenbogen war auf die Seitenlehne gestützt, und ihr Kinn lag leicht in den sanft gebogenen Fingern.
Als Arturo Lorenzoni geendet hatte, herrschte nicht die Lautlosigkeit, die in bestimmten Fällen das einzige Zeichen tiefer Wirkung sein kann, sondern es entstand sofort jenes Gesumme, das eine andere Art der unmittelbaren, beifälligen Ergriffenheit darstellt.
»Welche Stimme! Welche göttliche Stimme!« ließ sich Frau Biba aus der Tiefe ihres Lehnstuhles vernehmen, während ihr schlanker Bruder auf den Sänger zutrat, seine Hände faßte und schüttelte und mit vor Wohlgefallen strahlendem Auge und indem er seinen schmalen und kleinen Kopf ein wenig in den Nacken legte, und die Oberlippe beim Sprechen von den blitzend weißen Zähnen zurückzog, sagte: »Ja, meine Schwester hat recht. Göttlich ist diese Stimme. Ein wahrhaft günstiges Gestirn hat Sie in unser bescheidenes Städtchen geführt, Maestro. Und Verdi! Was für ein Meister! In ihm ist dem Genius des italienischen Volkes ein gottbegnadeter Künder erstanden!«
Herr Lorenzoni bemerkte, er habe in Mailand die Ehre 164 gehabt, den unübertrefflichen Meister zu sehen und zu sprechen, und er wisse, aus seinem Munde, auf welche Art er den Rigoletto aufgeführt sehen wollte.
Paves Schwager wünschte zu hören, ob der Maestro, der wahrhaftig Besseres gewöhnt sei,- mit dem hiesigen Ensemble seine Not habe und ob das Theater ihm allzu unzulänglich erscheine.
Der Tenor wehrte ab. Die Kollegen seien brave Leute, echte italienische Musiker, mit denen es sich arbeiten lasse. Und das Politeama? Singen könne man überall, und es werde ihm zur Ehre gereichen, gerade hier in dieser zwar kleinen Stadt, die jedoch ein so feines, kunstsinniges Publikum beherberge, sein Bestes zu leisten.
Die schöne Bianca, die noch am Klavier saß, drehte sich herum und fragte, was Herr Lorenzoni nun zu singen vorhabe, worauf er zur allgemeinen Enttäuschung erklärte, er fühle eine leise Rauheit, eine unbedeutende, aber immerhin spürbare Heiserkeit und bitte untertänigst, für heute verstummen zu dürfen. Der morgige Tag mit der Generalprobe und gar der Dienstag mit der ersten Vorstellung werde bedeutende Anforderungen an seine Stimme stellen, und da er, wie gesagt, gerade hier um nichts in der Welt versagen wolle, bitte er allseits um Vergebung.
Obwohl zumal Frau Biba und ihre Töchter, die diesem Hauskonzert mit großen Erwartungen entgegengesehen hatten, über die Kürze der Darbietung empfindlich enttäuscht waren, begegnete der Sänger allenthalben zwar lebhaftem Bedauern, aber keinerlei Gekränktheit oder Groll. Er regte an, Frau Bianca, die in der Tat eine vorzügliche Pianistin sei, möge doch etwas zum besten geben, was die Zuhörer vollkommen für sein leidiges Verstummen entschädigen werde. Ohne sich drängen oder bitten zu lassen, wandte sich die junge Frau wieder dem Pianino zu, ließ die schmalfingrigen Hände einen Augenblick auf den Tasten ruhen und begann ein Nocturno von Chopin mit ausgezeichneter Technik und klugem musikalischen Empfinden vorzutragen. Sie hielt 165 ihr bleiches, berückendes Gesicht leicht hintüber geneigt und holte schlafwandlerisch, ohne einen Blick auf die Tasten zu werfen, alle süße Trauer und Leidenschaft aus Chopins schwermütigem Werk.
Bei Beginn des Klaviervortrages hatte Arturo Lorenzoni sich nach einem Sitzplatz umgesehen und war ohne Zaudern auf das Sofa zugetreten, auf dem Pave allein saß.
»Gestatten Sie, Signora, daß ich mich hier bei Ihnen niederlasse?« Um das Spiel nicht zu stören, neigte Pave nur lächelnd das Haupt, ohne doch das Kinn von der stützenden Hand und den Ellenbogen von der Sofalehne fortzunehmen. Sie spürte eine deutliche Erschütterung der Polsterbank, als der trotz seiner Jugend ziemlich schwere Mann sich darauf niederließ, sah aber, stetig dem Genuß von Biancas Spiel hingegeben, vor sich hin. Gleich darauf aber hörte sie den Tenor flüstern: »Und Sie, Signora? Und Sie? Hatte mein Gesang das Glück, Ihnen zu gefallen?«
Wieder nickte Pave lächelnd und stumm, sie legte dabei den rechten Zeigefinger auf den Mund und deutete mit dem Kopf nach dem Klavier, worauf der Tenor, die gespreizte Hand auf der Brust, die Augenbrauen hochzog und sich wortlos verneigte. Nach dieser kleinen Pantomime verharrten beide regungslos, bis Biancas Spiel mit einigen brausenden und tief sehnsüchtigen Akkorden geendigt hatte.
Während sich abermals Beifallsgewisper erhob, einige in die Hände klatschten und die junge Pianistin, von ihren bewundernden Verwandten und Freunden umgeben, sich vergnügt auf ihrem Taburett drehte, fand Pave es angezeigt, dem Sänger die vorher verwehrte Antwort zu erteilen.
»Wunderbar, Ihr Gesang, Herr Lorenzoni«, wandte sie sich an den noch tiefer als sonst Erbleichenden. »Nie hätte ich gedacht, daß mir hier in diesem kleinen Städtchen ein so großer Kunstgenuß bevorstehen würde. Welcher Zufall, daß wir uns hier wiederfinden.« 166
Bei den letzten Worten hatte sie das Gefühl eines kleinen, mutwilligen Wagnisses, und sie bereute sie sofort, als sie sah, mit welcher Eindringlichkeit der Tenor darauf einging.
»Zufall, Signora! Zufall! Sie sagen das Wort heute schon zum zweitenmal.« Herr Lorenzoni sprach wieder langsam und wie behindert. »Darf ich Ihnen sagen, daß es kein Zufall ist, wenn wir uns hier getroffen haben! Ich erfuhr durch Herrn Jak, den Wirt vom ›Kaiser von Österrreich‹ in Laibach, der es wieder durch die Herren Offiziere, Ihre Bekannten, wußte, daß Sie hierher reisen würden, und deshalb habe ich mich in Venedig der kleinen, und ich kann wohl sagen, meiner nicht ganz würdigen Truppe angeschlossen und meinen Vertrag für die Stagione in Bologna gebrochen, nur um der Hoffnung willen, Sie wiedersehen, vor Ihnen singen und möglicherweise Ihre Bekanntschaft machen zu können.« Er zog ein seidenes Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß ab, der reichlich auf seiner Stirne perlte.
Pave erschrak und dachte: Was will er denn von mir? Doch dann wandte sie ihm höflich ihr Gesicht zu. »Ach, Herr Lorenzoni, das hätten Sie nicht tun sollen! Einen Kontrakt gebrochen haben Sie! Das kann für Ihre Karriere sehr schädlich sein. Ich fühle mich schuldbewußt, obwohl ich wahrlich nichts dazu beigetragen habe. Auch werde ich nicht das mindeste tun können, um Sie für das gebrachte Opfer zu entschädigen. Ich bin eine bescheidene Frau, meine Gesellschaft ist anspruchslos, ich lebe nur meinen Kindern. Sie werden enttäuscht sein.« Sie bemühte sich, so streng und konventionell wie möglich dazusitzen und Herrn Lorenzoni keinerlei Anlaß zu dem Glauben zu geben, als hätten seine Eröffnungen sie auch nur im mindesten berührt.
Der Sänger aber ließ sich durch die gesellschaftliche Kühle ihres Tones nicht einschüchtern. Er neigte sich ein wenig vor, sah Pave mit den weit aufgerissenen Augen, die sie nun schon an ihm kannte, an und sagte beschwörend: 167
»Enttäuscht? Oh, Signora, enttäuscht? Wie sollte ich enttäuscht sein, da mir schon der erste Abend hier das Glück Ihrer Bekanntschaft gebracht hat! Denn wenn ich zuvor gesagt habe, meine Anwesenheit in Motta sei kein Zufall, so ist es doch ein Zufall, und zwar ein völlig wunderbarer, daß ich Sie hier getroffen habe. Niemals würde ich imstande sein, den Aufruhr der Gefühle zu schildern, die mich bewegt haben, als ich Sie, Signora, hier durch die Türe treten sah. Herr Loro hatte die Güte, mich hierher zu seiner Schwester einzuladen, ich bin der Einladung gefolgt, um mich Herrn Loro dankbar zu bezeigen und auch, weil ich mir sagte, der einzige Weg, mich Ihnen zu nähern, sei der, hier in der kleinen Stadt möglichst viele der angeseheneren Leute kennenzulernen. Aber ich wußte nichts, nicht wo, nicht bei wem Sie wohnen, nicht einmal, ob Sie in der Stadt oder in der Campagna Quartier genommen haben. Und nun sind Sie hier! Nirgends, in keiner Fabel, in keinem Märchen, in keiner Komödie gab es jemals einen schöneren Zufall!«
»Auch ich war freilich nicht wenig erstaunt, als ich Sie neben Herrn Loro auf dem Sofa sitzen sah. Nichts hätte ich mir weniger träumen lassen, als daß Sie hier sein würden.« Pave fand es durchaus vergnüglich, in dem leichten Ton, den sie in versunkenen Zeiten ihren jungen Tänzern und Verehrern in Zara gegenüber angeschlagen hatte, mit diesem fremden Manne zu reden. Konnte irgendein Mensch es ihr verübeln, Pero etwa? Sie mußte lächeln. Pero war ihrer sicher, allzu sicher vielleicht, und nichts als Zustimmung zu einer kleinen Zerstreuung, die das Geschick ihr gönnte, wäre in dieser Angelegenheit von ihm zu erwarten gewesen, hätte er ihr Zeuge sein können.
Herr Lorenzoni sah mit inbrünstiger Aufmerksamkeit auf Paves Lippen, während sie sprach. Er neigte sich zu ihr und stieß hervor: »Und waren Sie freudig erstaunt, Signora? Gestatten Sie mir die Frage. Waren Sie freudig erstaunt oder hat Abscheu Sie erfüllt, als Sie mich sahen?« 168
Nun mußte Pave herzlich lachen: »Abscheu, Herr Professor! Warum hätte mich denn Abscheu erfüllen sollen? Freudig erstaunt war ich freilich auch nicht. Ich kannte Sie ja nicht. Ich habe mich ganz einfach sehr gewundert.«
Herr Lorenzoni seufzte wie jemand, der bei einer schwierigen Aufgabe nicht recht vom Fleck kommt. Er neigte sich wieder vor und begann von neuem: »Und jetzt, Signora? Sie kennen mich jetzt. Sie haben mich singen hören. Fühlen Sie nun ein wenig Freude darüber, daß ich hier bin?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß Ihr Gesang mich begeistert hat.«
Der Sänger rückte so nahe heran, daß Pave erleichtert aufatmete, als sie Herrn Antonio Loro, der seine Nichte Bianca untergefaßt hatte, auf das Sofa zukommen sah. Er zog sich einen Stuhl herbei, Pave stand auf, um Frau Tagliapietra ihren Platz einzuräumen, was diese nicht zulassen wollte. Erst nach einem kleinen Höflichkeitskampf, in welchem durch Pave ins Treffen geführt wurde, daß Frau Bianca sich nun an der Seite ihres Künstlerkollegen von der Anstrengung ausruhen müsse, die der den übrigen vermittelte Genuß ihr verursacht hatte, ließ sie sich neben dem Sänger nieder. Herr Lorenzoni verneigte sich vor Frau Tagliapietra, jedoch nicht ohne gleichzeitig einen düster vorwurfsvollen Blick auf Pave zu werfen. Diese lächelte ihn unbefangen an und wollte die Gruppe verlassen, was nun aber Herr Loro nicht zugab. Er rückte einen zweiten Stuhl herbei und fragte, ob Pave durch ihren verehrten Gatten in Wien interessante Neuigkeiten über den Stand der Affäre in Sebastopol und über den Fortgang des Krieges erhalten habe.
»Ach ja, Herr Loro, in der Welt sieht es schlimm aus. Mein Mann schreibt mir, daß die Dinge sich immer mehr verwickeln. Wenn Rußland mit den westlichen Mächten zu keiner Einigung kommen kann, so wird wohl auch Österrreich in den Krieg eintreten müssen. Es sollen schon alle Vorbereitungen getroffen sein.« 169
»Wieder ein Krieg!« seufzte die schöne Bianca. »Ich glaube, seit die Sansculotten in Paris und Napoleon der Erste die Welt aufgerührt haben wie Buben, die mit dem Stecken in einen Ameisenhaufen stechen, kann sie nicht zur Ruhe kommen. Ist es nicht so, Onkel?«
Herr Loro antwortete nicht sogleich. Er sah Pave nachdenklich an, dann wandte er sich seiner Nichte zu und antwortete mit einem ganz leichten Lächeln, das sich ihm nur wie ein Schein auf Augen und Wangen legte und auf den Lippen kaum sichtbar war:
»Sind solche schlimme Jungen, die mit einem Stecken in die uralten Welten hineinstoßen, nicht mitunter wohltätiger als ein Ruhezustand, der ewig dauert und in dem das Schlechte besser gedeiht als das Gute?«
Frau Bianca hob schnell den Kopf und sah den vornehmen, alternden Mann an: »Ja, Onkel, ja. Du hast recht. Du hast immer recht.«
Herrn Lorenzonis Gesicht hatte sich während dieses Gespräches belebt. Es zeigte nicht mehr die frühere Blässe und hingerissene Verstörtheit, sondern war in einer neuen Weise gespannt und durchblutet. Herr Loro wandte sich gedämpft an den Sänger:
»Sie wissen, Maestro, daß Cavour Piemont in diesen Krieg der Freiheit gegen die Despotie eintreten lassen will? Er hat alle gegen sich, den König, das Kabinett, die Kammer, alle. Aber er will es, und wenn Cavour etwas will! . . . Die Schande von Novara muß ausgewetzt werden!«
Pave horchte auf. Die Schande von Novara? Sie hatte von dem Treffen von Novara immer nur im Ton der gerührtesten Begeisterung als von einem glänzenden Sieg des Marschalls Radetzky reden gehört. Ja, sie erinnerte sich, ein Bild gesehen zu haben, das den piemontesischen Thronfolger Viktor Emanuel nach der Schlacht in demütiger Haltung vor dem salopp und gemütlich dastehenden greisen Sieger zeigte. Das Bild mußte in einem illustrierten Blatt zu sehen gewesen sein, sie erinnerte sich nicht, wann und wo Pero es ihr gezeigt hatte. 170
Waren diese hier, mit denen sie sprach, Feinde des Kaisers, Feinde Österreichs, Feinde der Armee, der Pero angehörte? Hielten sie etwa zu denen, die im Vorjahre in Mailand den tückischen, abscheulichen Aufstand verursacht hatten, in dessen Verlauf einzelgehende Offiziere und Soldaten durch die Haufen der Empörer in feiger Weise überfallen und mit riesigen Nägeln an die Tore der Häuser genagelt worden waren? Sie erinnerte sich der Erbitterung, mit der ihr Bruder Toni, der als Hauptmann in Mailand stand, und auch Pero von der Revolte gesprochen, wie sie die harten Strafen, die ihr folgten, noch zu milde genannt hatten.
Es war doch ausgeschlossen, daß die freundlichen Menschen hier in diesem Zimmer, der vornehme Herr Loro, der Sänger, der sich um ein Engagement an der Wiener Oper beworben hatte, und Frau Bibas junge Tochter für ruchlose Revolutionäre und Staatsfeinde Sympathie haben sollten.
Herr Loro fuhr fort, von Cavour zu reden. Er nannte ihn eine Naturgewalt, einen Vulkan, ein sprühendes Feuer, und die beiden anderen stimmten ihm zu. Auch sie schienen über den piemontesischen Minister genau unterrichtet zu sein und ihm ihre Bewunderung zu zollen.
Indessen waren aus dem Nebenzimmer die Karaffen und die Gläser sowie die Silberkörbe mit dem Backwerk gebracht worden. Frau Biba goß einen dicken, messinggelben Wein in die geschliffenen Kelche; Carlotta, unterstützt von dem Paduaner Studenten, reichte die Süßigkeiten herum. Pave erhob sich, gesellte sich zu Frau Biba und wählte aus der Fülle der Leckereien einige besonders knusperige Stücke. Nun begann ein allgemeines Gläseranstoßen, und es bemächtigte sich des Kreises jene gelöst fröhliche Stimmung, die in einer Gesellschaft einzutreten pflegt, wenn nach künstlerischen Darbietungen und ernstem Gespräch leibliche Genüsse angeboten werden.
Bepi, die, ein Glas vor sich, fröhlich dastand, sagte lobend: »Alle diese Plätzchen, Kringel, Mandelbogen und Schokoladekrapfen hat Carlotta gemacht. Ein fleißiges 171 Mädchen!« Miho pries den Wein. Er sei aus der Gegend von San Vito, stellte Frau Biba fest, dort koche ihn die Sonne am süßesten gar. Carlotta und der Paduaner standen einander, Gläser in Händen, gegenüber. Sie lächelten beide, redeten aber nur dann und wann ein leises Wort.
Frau Biba schob ihren Arm in den Paves und betrachtete sie wohlgefällig. »Ein hübsches Kleidchen, das grüne da, kleidet Sie vortrefflich. Aber altmodisch. Eine so schöne Frau wie Sie muß nach der Mode gekleidet sein.«
»Leider habe ich nichts anderes außer einem richtigen Ballkleid.«
»Nun, dann nähen wir etwas!«
Pave war herzlich beschämt. Sie habe keinen Stoff und gar kein Geld, um einen zu kaufen.
»Wer wird einen Stoff kaufen! Liegt gar nichts im Schrank, keine schwarze Seide, nichts Schöngestreiftes?«
»Nichts.«
»Und kein älteres großes Kleid, das man zertrennen könnte?«
»Keines.«
»Nun, dann wird die alte Biba in ihren Schubladen kramen, ich möchte wetten, daß sich da etwas finden wird. Und wir nähen. Basta!« Die mächtige Matrone zog Pave an sich.
»Es ist nämlich an dem, daß ich Sie herzlich gern habe, kleine Signora«, sagte sie. »Die alte Biba ist unersättlich. Sie kann nicht genug Töchter haben.«
In der Gruppe, die Pave vorhin verlassen hatte, wurde das Gespräch interessiert fortgesetzt. Ja, es schien sich immer heimlicher zu gestalten. Frau Biba warf einen aufmerksamen und langen Blick hinüber, und als habe der Anblick der drei eifrig Redenden die Notwendigkeit neuer Entschlüsse in ihr gezeitigt, ließ sie sich ihrerseits auf dem zweiten Sofa nieder, drückte Pave auf den Sitz neben sich und lud sowohl die junge Carlotta mit ihrem langschößigen Seladon, als auch Bepi und Miho nachdrücklich ein, sich um sie zu scharen. Sie schenkte 172 neuerdings die Gläser voll, ließ das Backwerk reichen, zog Miho in ein lebhaftes Gespräch über seine ärztliche Praxis und verbreitete sich mit Herrn Lippi über den Erfolg seiner letzten Prüfung. Als Carlotta Anstalten machte, auch die abseits Sitzenden erneut mit Wein zu versehen, hielt Frau Biba sie mit den Worten zurück:
»Laß sie, sie sind im Gespräch!« Eine Wendung, über deren Bedeutung Pave einen Augenblick lang nachsann. Was sprachen sie drüben? Noch immer von Cavour? Waren sie Verschwörer? Wußte es Frau Biba und wünschte sie ihnen Ungestörtheit zu verschaffen? –
Übrigens begann Pave sich müde zu fühlen, und sie hätte sich gern zurückgezogen. Plötzlich saß bittere Sehnsucht nach Pero in ihrem Herzen, sie sorgte sich, ob die Kinder unten ruhig schlafen mochten, eben wollte sie Bepi verstohlen fragen, ob es noch zu früh sei, um aufzubrechen, als Herr Loro drüben sich steil und plötzlich erhob, sein Gesicht, das während des leisen Gespräches vollkommen ernst gewesen war, einen heiter-verbindlichen Ausdruck annehmen ließ, und sich der Gruppe seiner Schwester zugesellte. Auch Herrn Lorenzoni litt es nun nicht mehr auf seinem Sofa. Er bot seiner Partnerin den Arm und führte sie zu dem Tischchen mit den Gläsern, worauf Carlotta sich sofort ans Einschenken machte und der Sänger sich neben Pave stellte.
»Wann, Signora, werde ich wieder das Glück und die Möglichkeit haben, Sie zu sehen?« fragte er mit gedämpfter Stimme und indem er sich zu ihr herniederneigte.
»Nun, am Dienstag abends werde ich Sie singen hören! Sie werden dann nicht so geizig mit den Gaben Ihrer Stimme haushalten wie heute, hoffe ich.«
Diese Antwort versetzte den Tenor in verzweifelte Bedrängnis. »Haben Sie es mir übel genommen, Signora, daß ich nur die eine Arie gesungen habe? Ach, was für ein Unglück! Aber Sie müssen begreifen! Ich fühlte mich plötzlich überanstrengt. Sie müssen bedenken, daß ich morgen Proben habe und Dienstag Premiere. Die Kehle 173 eines Sängers ist ein Tyrann, Signora. Aber nichts ist mir furchtbarer, als Ihre Unzufriedenheit zu erregen.«
Pave versicherte, sie sei weder unzufrieden noch habe sie es übelgenommen, und sie freue sich auf übermorgen.
»Aber morgen, Signora, morgen ist auch ein Tag! Kann ich Sie morgen nicht sehen?« Pave schüttelte den Kopf. »Schwerlich. Ich bin mit meinen Kindern beschäftigt, und überdies bin ich leidend. Es ist spät geworden. Ich werde morgen müde sein. Ich höre Sie Dienstag.«
Aufs neue zeigte Herr Lorenzoni sich von Traurigkeit überwältigt.
»Sie sind leidend? Was fehlt Ihnen, Signora? Ihnen fehlt doch nichts Gefährliches? Sie sehen so blühend aus, Sie haben so entzückend frische Farben; wenn Sie sagen, Sie seien leidend, dann muß ich denken, daß Sie geschminkt sind. Nein, nein, Sie wollen mich erschrecken. Sagen Sie, ich flehe Sie an, daß es so ist.«
»Wie Sie wollen, Maestro. Ich bin keine so wichtige Person, daß es sich lohnte, so lange über sie zu sprechen. Und nun gute Nacht und vielen Dank!«
In dem allgemeinen Aufbruch, der jetzt stattfand, den Begrüßungen und Danksagungen an die Hausfrau und an die Künstler, verhallte Herrn Lorenzonis flehend abwehrendes, beschwörendes »Nicht wichtig?! Sie, Signora, nicht wichtig?!« wie die einsame Schalmei eines Hirtenknaben, die vom Brausen eines Kataraktes verschlungen wird. Und als man gemeinsam die Treppe hinunterging und die im ersten Stock Wohnenden bei ihrer Tür anhielten, flüsterte Herr Lorenzoni, bleicher denn je, Pave zu: »Oh, Sie wohnen schon hier! Schade! Schade! Und vergessen Sie nicht, Signora, daß ich Dienstag einzig und allein für Sie singen werde!«
*
Nach dem langen Regenwetter war seit einigen Tagen leichter Maëstral eingefallen, der den Himmel reingefegt und die Wege getrocknet hatte. Eine warme 174 Frühnachmittagssonne durchstrahlte den südlichen Dezembertag.
Pave schritt mit Miliza und Cotia gemächlich auf einem kleinen Pfad dahin, der das Ufer des Flüßchens Monticano entlanglief. Hier lag zu dieser Stunde warme Sonne, und wenige Menschen gingen des Weges.
Der kleine Miro lief voran, ohne sich um die Tante und die Kusinen zu kümmern. Er machte kurze, tänzelnde Schritte, sprang zuweilen etwas vom Wege ab, beugte sich zu Boden, wobei er mit den Kiefern mahlende Bewegungen vollführte, und stieß dann und wann meckernde Laute aus.
»Gib acht, Miro, daß du nicht ins Wasser fällst«, rief Pave ihm zu.
Der kleine Knabe wandte sich einen Augenblick um.
»Du darfst nicht mit mir reden, Tante«, rief er streng. »Ich bin doch eine Ziege!«
»Ah, Miro ist eine Ziege, da müssen wir ihn in Ruhe lassen.« Pave lachte herzlich, die kleinen Mädchen aber fanden diese Verwandlung und Entrückung ihres Vetters ganz in Ordnung.
Wie an den Ufern des Livenza, mit dessen Wassern der Monticano sich kaum zwanzig Gehminuten weiter östlich vereinigte, wuchs auch hier allerhand kahlstruppiges Buschwerk, da und dort ließen Erlenbäume ihre entlaubten Zweige wie dichte Büschel dünner, geschwungener Ruten nach abwärts hängen. Am jenseitigen Ufer stießen winteröde Gärten, denen nur einige immergrüne Pflanzen Frische und Freudigkeit verliehen, an das Ufer, die Häuser einer Stadtstraße wandten ihre Rückseiten her, und der graue Bau des Franziskanerklosters zog sich in einem Wäldchen von Zypressen und Steineichen länglich hin. Diesseits des langsam fließenden Wassers aber störte nichts die Feldeinsamkeit. Pave liebte diesen friedlichen, sonnigen Weg. Seit das schöne Wetter eingesetzt hatte, war sie schon oftmals hier gegangen, und auch heute hatte sie den Weg von der Mündung bis zu der Stelle gegenüber dem Kloster bereits zweimal zurückgelegt. 175
Miliza war bestrebt, von den wintergrünen Arbutussträuchern, die da und dort zwischen dem kahlen Gebüsch wuchsen, die roten, rauhen Früchte zu pflücken. Sobald sie einige in ihrer warmen, kleinen Hand gesammelt hatte, versuchte sie, ihre Beute Cotia, die den Muff der verstorbenen Teresina an einer himmelblauen Schnur um den Hals trug und ihre Händchen darein vergrub, in den Mund zu stecken. Diese war anfangs entzückt gewesen, wurde jedoch der fade schmeckenden Beeren bald überdrüssig. Sobald Milizas Hand sich ihrem Munde näherte, preßte sie diesen so fest zusammen, daß ihre hold geschwungenen Lippen wie dünne, gerade Striche wirkten, schüttelte den Kopf und versuchte Miliza wegzustoßen, bis diese es aufgab und ihre Beeren selbst aß.
Pave fühlte sich glücklich. In ihrer Tasche knisterte ein Brief von Pero, den sie am Morgen erhalten hatte, die kleinen Mädchen umzwitscherten und umsprangen sie, das Wasser floß still in der Sonne, und in ihrer Seele brauste noch die Musik des Rigoletto, die sie am Abend zuvor gehört hatte. Die Eröffnung der Stagione war ein Ereignis für das kleine Städtchen gewesen. Pave und Bepi hatten die Vorstellung in Herrn Loros geräumiger Loge und in Gesellschaft von Frau Biba und ihren Töchtern sowie von Fräulein Marietta Zannoner beigewohnt. Im Parkett hatte Pave außer Miho auch Herrn Loro, den jungen Lippi und sogar den unsympathischen Mann mit den langen blonden Haaren, der ihr neulich vor dem Posthause aufgefallen war, sitzen sehen. Der Langhaarige war in den Zwischenakten mit eitel einfältigem Lächeln hin und her gegangen, hatte Grüße ausgeteilt, zu den Logen hinaufgeblickt und ein deutliches Kielwasser von nachsichtiger Nichtachtung hinter sich gelassen. Auf Paves Frage, wer der langhaarige Stutzer sei, hatte Frau Biba mit dem Ton so abgründiger Verachtung, daß Pave fast erschrocken gewesen war, geantwortet, das sei Carlo Satti, Gott sei's geklagt, ein sogenannter Maler, Sohn einer Witwe, deren Gut er vertue. Es sei eine Schmach für Motta, daß es 176 einen solchen Hanswurst und widerlichen Nichtstuer in seinen Mauern beherbergen müsse.
Die Aufführung war allerdings bis auf die Leistung Herrn Lorenzonis recht mittelmäßig gewesen, obwohl das Orchester temperamentvoll gespielt und einige Sänger mit nicht ungeschulten Stimmen dem Werk nach Kräften gedient hatten. Mit Gilda freilich waren alle unzufrieden gewesen. Es war schwer möglich, in der dicken, ältlichen Person Rigolettos kinderjunge Tochter zu sehen, und Bepi war nicht müde geworden, ihre ausgesungene Stimme und die abgeschmackte Koketterie ihrer Bewegungen abfällig zu kritisieren.
Der Tenor jedoch hatte allen Zuhörern und auch Pave, sie mußte es zugeben, die höchste Achtung abgerungen. Kein Mensch konnte leugnen, daß hier ein wirklicher, ein begnadeter Künstler am Werke war, wenn die Töne in höchster Reinheit wohllautend, stark und schwebend seinem Munde entquollen, wenn er der Gestalt des verspielten und gewissenlosen Herzogs zugleich bestrickende Verführungskraft und abgefeimte Verruchtheit verlieh. Das ganze Haus war erfüllt von den tänzelnden, trällernden, mörderischen Liebeleien dieses Mannes, und wenn sich die Sympathien der Mottaner von der häßlichen und lächerlichen Gilda und dem ausgesungenen und übertrieben schurkischen Rigoletto fort einzig ihm zuwandten, so war es klar, daß dies einzig auf Rechnung seines überragenden Könnens zu buchen war.
Übrigens hatte Herr Lorenzoni seine Vorhersage, er werde nur für Pave singen, wahr gemacht. Er hatte wiederholt nach ihr hingeblickt, so daß es ihr peinlich gewesen war, und hatte seine Arien, soweit es die Bühnensituation nur irgend ermöglichte, nach ihrer Loge hin gesungen. Er hatte als Herzog in schönen Kostümen, die sich von den verblichenen der übrigen Sänger durch Glanz und Neuheit hervorgehoben hatten, eine wahrhaft gute Figur abgegeben, und als Pave in Gesellschaft ihrer Verwandten und Freunde kurz vor Mitternacht nach 177 Hause ging, hatten Anerkennung und Wohlwollen für den Künstler ihr Gemüt erfüllt.
Heute freilich war durch Peros Brief dieser Eindruck völlig zurückgedrängt, und sie zweifelte sogar, ob sie an diesem Abend das Theater besuchen und sich die »Regimentstochter« von Donizetti anhören wollte. Sie war müde, und ein Brief an Pero schien ihr das Wichtigste zu sein.
Vom Campanile herüber schlug die Uhr vier. Pave bog über die Brücke und ging, die Kinder zur Eile ermunternd, rasch nach Hause. Schon an der Tür sagte ihr Vizza, Frau Bianca Tagliapietra sei hier gewesen und lasse die Frau Majorin bitten, recht schnell zu ihr hinaufzukommen. Die Frau Majorin möge beruhigt sein, sie, Vizza, werde den kleinen Mädchen gerne ihre Jausenmilch geben.
Ohne erst abzulegen, stieg Pave die Treppe empor. Bianca erwartete sie allein und schien schon ungeduldig ihrer geharrt zu haben. Sie machte den nervösen Eindruck eines Menschen, der mindestens die letzte halbe Stunde ausschließlich mit Warten zugebracht hat. Auf einem Tischchen hatte sie Gläser mit Himbeersaft und Tellerchen mit Backwerk bereitgestellt, sie schoß auf Pave los, kaum daß diese die Schwelle überschritten hatte.
»Gottlob, daß Sie kommen«, rief sie mit Emphase. »Ich war schon verzweifelt, denn wenn sie auch zu Mama Lippi zum Kaffee gebeten sind – Sie sehen, die Angelegenheit marschiert! –, so kann man doch nicht wissen, wie bald sie wiederkommen.« Pave begriff, daß mit »sie« Frau Biba und Carlotta gemeint waren und daß Bianca in deren Abwesenheit eine kleine Privatgeselligkeit in der leeren Wohnung veranstalten wollte.
»Und Sie sind nicht mitgegangen?«
»Nein, ich bedanke mich. Zur Mutter von diesem Ladstock, von diesem getrockneten Stockfisch! Verhüte Gott, daß Carlotta ihn heiratet! Eine solche brausende Unterhaltung kann ich in Oderzo auch genießen, wenn ich 178 zur Frau des Podestà auf Visite gehen muß. Haben Sie Zeit, Frau Pave? Bitte, bleiben Sie bei mir! Ich mochte so gerne mit Ihnen sprechen. Legen Sie den Mantel ab! Auch den Hut! Und setzen wir uns hierher. Mutters Stuben sind so schön, wenn einmal nicht mindestens fünfzehn Personen darin versammelt sind.«
Pave lächelte ein wenig gezwungen. Sie fand es unschön von Bianca, die herzliche, wohltuende Geselligkeit ihrer Mutter hinter deren Rücken herabzusetzen, und Bianca verstand ihre Ablehnung sofort.
»Sie finden, daß ich nicht so reden sollte? Vielleicht sollte ich nicht, aber sehen Sie . . .« Pave bemerkte betreten, daß die riesigen schwarzen Augen der jungen Bianca sich plötzlich mit Tränen füllten. – »Sehen Sie, ich bin aus Oderzo hierhergekommen, um endlich mit einem Menschen zu reden. Und nun soll ich den ganzen Tag in einem Bienenkorb sitzen und mitsummen!«
Sie erfaßte Paves rechtes Handgelenk und preßte es leidenschaftlich.
»Mit Ihnen muß ich reden, Frau Pave. Ich hatte sofort Vertrauen zu Ihnen, als ich Sie Sonntag abends hier sah, obwohl wir damals wenig miteinander gesprochen haben. Sie sind nicht von hier, Sie haben die Welt gesehen, Sie sind eine schöne Frau, die im Leben steht. Sie werden vielleicht begreifen, was hier in meinem Kreis niemand begreifen würde. Denn ich kann nicht mehr schweigen.«
Nun weinte sie rückhaltlos. Pave sah ängstlich auf das schöne Wesen, das sich auf die Lippen biß und sich mit einem winzigen Batisttüchlein, das bald völlig durchnäßt war, wieder und wieder die Tränen trocknete.
»Ach, liebe Bianca, was fehlt Ihnen denn? Was ist Ihnen geschehen? Wollen Sie es mir nicht sagen? Zwar bin ich nicht so weltläufig, wie Sie glauben, und das Leben, in dem ich stehe, ist das einer armen Offiziersfrau, die mit ihren kleinen Kindern immer umherwandern mußte. Aber ich bin immerhin eine Frau, und ich hoffe, daß ich Ihr Leid begreifen werde.« 179
Pave legte schüchtern ihre Hand mit dem breiten Rücken und den schmalen spitzen Fingern auf Biancas Arm. Als diese der leisen Liebkosung gewahr wurde, war es vollends um ihre Fassung geschehen. Zu Paves Bestürzung ließ sie sich auf die Knie fallen und kauerte nun neben Paves Stuhl, Paves Hände krampfhaft ergreifend und das schwarzlockige Haupt, das sich in ungezähmten Schluchzen auf und nieder bewegte, auf die Stuhllehne gestützt. Pave streichelte der Weinenden Stirn und Wangen und redete ihr zu wie einem kleinen Kinde. Sie bat sie, aufzustehen, und trocknete ihr zart mit dem eigenen Tuch die Tränen.
Es gelang Bianca langsam, sich zu fassen; sie sprang nun auf und ging schnell und gequält im Zimmer hin und her, um sich nach kurzer Zeit wieder niederzulassen.
»Gott, Gott, die Zeit vergeht, gleich werden sie heimkommen!«
»Nicht doch! Aber wollen Sie mir jetzt nicht zu erzählen versuchen?« sagte Pave und legte in den Ton ihrer Worte alle Sanftmut und Güte, deren sie fähig war.
Bianca straffte sich ein wenig, schluckte hinunter, sah einen Augenblick vor sich hin und stieß mit krampfhaftem Entschluß hervor: »Ein schreckliches Unglück hat mich getroffen.«
Pave erschrak. Was für ein Unglück konnte Bianca meinen? Soviel Pave wußte, lebte sie in günstigen äußeren Verhältnissen auf dem Gute ihres Gatten, einen Todesfall hatte es in der Familie in letzter Zeit ebenfalls nicht gegeben. Sollte die schöne Frau die Liebe ihres Mannes eingebüßt haben? Da Pave stets in der Furcht lebte, Pero könnte aufhören, sie zu lieben, so lag diese Annahme für sie nahe.
Da Bianca wieder verstummt war, wagte Pave die Frage, ob es sich vielleicht um ihren Gatten handle.
Bianca fuhr auf: »Ja, um ihn handelt es sich, das heißt, auch um ihn. Um mich, um ihn und um noch jemand.«
Pave glaubte eine Bestätigung ihrer Annahme 180 herauszuhören und fragte: »Verzeihen Sie, Frau Bianca, wenn ich so frage: Ist er Ihnen vielleicht untreu?«
Nun geriet Bianca völlig außer sich.
»Nein, nein, nein!« rief sie wild. »Wenn es nur das wäre! Das wäre ein Schmerz, den man ertragen könnte, eine Schande, die man schlucken müßte, nein, es ist etwas anderes, etwas tausendmal Schlimmeres. Ich bin ihm untreu, nicht mit Worten und Werken, wie die Priester sagen, sondern tief innen in meinem Herzen, mit jedem meiner Gedanken und Gefühle!«
Pave saß stumm und erschrocken da, und die Beichtende fuhr fort zu sprechen, indem sie wiederholt den Kopf mit wilder Gebärde zurückwarf und die Hände aneinanderpreßte:
»Das Unglück, das mich betroffen hat, ist dieses, daß ich einen fremden Mann lieben muß, einen, der mit mir spielt wie die Katze mit der Maus, daß ich allen Halt, alle Ruhe, daß ich mein gutes Gewissen verloren habe.«
Pave sagte verzagt: »Es wird vorübergehen!« Angesichts von soviel Leidenschaft fiel ihr durchaus nichts anderes ein. Sie kam aber mit dieser Zumutung schlecht an.
»Vorübergehen!« stieß Bianca hervor. »Wissen Sie denn, wie lange es schon dauert? Drei Jahre dauert es, denken Sie, drei Jahre! Mit Achtzehn habe ich geheiratet, als ich Neunzehn war, hat es angefangen, heute bin ich zweiundzwanzig. Und wissen Sie, warum es nicht vorübergehen wird, so sehr ich auch kämpfe, so sehr ich auch leide und mich martere: weil er, er, derjenige eben, der der Grund dieses Unheils ist, es versteht, mich in einem unsicheren Schwebezustand zu erhalten, in einer ewigen Unruhe, die die Glut immer wieder neu aufflammen läßt. Ich sage: er versteht es. Vielleicht aber weiß er gar nichts davon. Ach, das ist ja das Entsetzliche!«
Auf Paves leise und vorsichtige Frage, wer denn eigentlich den Grund von Biancas Kummer bilde, erfuhr sie, daß der in Frage Stehende ein Gutsnachbar sei, ein 181 älterer Freund ihres Gatten, ein verwitweter Mann, nahe der Vierzig oder schon etwas darüber hinaus.
»Ach«, rief die unglückselige Bianca, »Sie dürfen sich nichts Blendendes vorstellen, nichts besonders Stattliches, Auffallendes. Ein mittelgroßer Mann mit fahlen braunen Haaren, unter denen schon graue sitzen, mit einem länglichen, stillen, lächelnden Gesicht. Mein Mann ist tausendmal schöner, ist groß, schwarz, blühend, hat rote Lippen, schneeweiße Zähne. Der andere hat nichts als seine Augen, aber mit denen durchsticht er dich, nagelt er dich fest, schleuderte er dich in den Himmel, stößt er dich in die Hölle. Graue Augen sind es!«
Bianca stöhnte.
»Als ich heiratete, fand ich ihn vor, wie ich die Möbel in den Zimmern, die Pferde im Stall, die Familiengruft in der Kirche vorgefunden hatte. Ganz leise pflegt er angeritten zu kommen, oft mehrmals am Tage. Zuweilen tritt er ein, wenn wir beim Frühstück sitzen, zuweilen des Abends, wenn wir schon zu Bette gehen wollen. Er kommt herein, er redet wenig und langsam, lacht ein bißchen und schaut einen an. Er hat immer Reithosen an und so eine kleine Pfeife im Mundwinkel. Alles geht still und leise bei ihm, aber doch schnell und gewaltig. Er regiert die ganze Gegend bei uns, obwohl er sich aus niemand etwas zu machen scheint. Mein Mann kann ohne ihn überhaupt nicht existieren. Alle laufen sie auf sein Gut und wollen von ihm lernen. Manchmal glaube ich, er ist ein verkleideter Erzengel, manchmal glaube ich, er ist der Teufel.«
Bianca stand wieder auf, sie preßte die Hände auf die Schläfen und atmete schwer.
»Es regt mich so auf, von ihm zu reden, ich habe ja noch nie, nie zu einem Menschen in dieser Weise von ihm gesprochen.«
»Weiß er?« fragte Pave, und diese kurze Frage beschwor einen neuen Ausbruch von seiten Biancas.
»Wenn ich das wüßte, dann wäre die Qual doch nicht halb so groß! Im Anfang, da war er immer aufmerksam 182 gegen mich, es machte ihm solchen Spaß, daß Ettore, das ist mein Mann, geheiratet hatte, er interessierte sich dafür, wie wir miteinander lebten und wie ich alles anfing. Seine Frau war damals schon längst tot. Er gab kleine Feste für uns in seinem Hause, er brachte mir Geschenke und gab mir Reitstunden. Ich glaube, damals war er bestimmt in mich verliebt. Damals geschah das Unglück bei mir. Damals habe ich mein Herz an ihn verloren. Das ist ein so dummes Wort, aber es ist doch richtig. Er hat mein Herz, er kann damit tun, was er will, er kann es tränken oder verdursten lassen, liebkosen oder zu Tode martern, ganz wie es ihm beliebt. Manchmal scheint es mir, daß er mich bewußt und absichtlich quält, ein anderes Mal wieder macht er mir irgendeine rührende, kleine Freude, er kommt zum Beispiel und bringt mir die ersten Artischocken aus seinem Garten, weil er weiß, daß ich das ganz junge Gemüse gern esse. Das Fürchterliche ist, daß ich nicht weiß, was er über mich denkt. Wenn ich zum Beispiel Klavier spiele, glauben Sie, ich bekomme je heraus, ob es ihm gefallen hat? Er sitzt da, mit seiner Pfeife, er hört zu, und nachher, wenn mein Mann ein großes Geschrei anfängt, wie herrlich ich gespielt hätte, dann sagt er höchstens: ›Schön!‹ oder auch gar nichts. Manchmal macht mich das so verzagt, daß ich am liebsten das ganze Klavierspielen aufgeben möchte, aber dann spornt es mich doch wieder an, immer mehr zu lernen und zu üben, damit er eines Tages doch zugeben muß, daß ich eine Künstlerin bin. Begreifen Sie denn nicht, Frau Pave, begreifen Sie denn nicht, daß es einen mit der Zeit umbringt, wenn man nicht weiß, wie man mit einem Menschen daran ist?«
Pave begriff es wohl, denn wußte sie jemals mit Sicherheit, ob Pero sie wirklich noch liebte? Ach ja, in diesem Punkte konnte sie der armen Bianca wohl beipflichten.
Biancas Herz schien ein unerschöpflicher Brunnen zu sein, aus dem sie immer neues Leid heraufholte. 183
»Er ist Witwer«, fuhr sie fort, »ich sagte es schon. In seinem Haus hängt das Bild seiner Frau in jedem Zimmer, Blumen stehen darunter, ihr Todestag und ihre Feste werden feierlich begangen, und doch weiß ich nicht, ob er noch an sie denkt. Damals, als er mir die Reitstunden gab, hat er jedenfalls an mich mehr gedacht als an sie. Aber heute? Man munkelt, daß er Frauen bei sich im Hause hält, jedenfalls hat er sehr hübsche Mägde, das kann ich bestätigen. Aber ob er Liebesverhältnisse mit ihnen hat, wer kann es nachprüfen? Wer kann es wissen? Großer Gott!«
Pave nahm einen Anlauf. Wenn diese um sechs Jahre jüngere Frau ihre Zuflucht zu ihr nahm, war es da nicht ihre Pflicht, alles zu tun, um sie aus ihrer Verirrung herauszuführen?
»Frau Bianca«, sagte sie so liebevoll, als sie es nur irgend vermochte, »Frau Bianca, könnten Sie Ihrer Qual denn nicht dadurch entgehen, daß Sie sich ganz fest an Ihren Mann anschließen? Sie sagen, daß Ihr Mann jung und schön ist und Sie lieb hat, warum müssen Sie denn unbedingt diesen Alten mit der kurzen Pfeife lieber haben?«
»Warum, warum?« entgegnete Bianca bitter. »Das ist ja eben die Frage, um die sich alles dreht. Ich werde Ihnen etwas sagen: seit diese Tragödie dauert, habe ich oftmals mit meinem Manne Reisen gemacht. Wir haben am Gardasee gewohnt, wir haben Venedig, Mailand, Genua besucht, wir sind sogar in Wien gewesen. Wenn ich aber heute an diese Orte denke, wenn ich sie mir vorstellen will, was, glauben Sie, erscheint vor meinem geistigen Auge? Der blaue See bei Gardone? Der Markusplatz? Der Golf von Genua? Nein, nein, nein! Sein Gesicht erscheint mir, nichts anderes, immer nur sein Gesicht. Und warum? Weil ich während aller Reisen und Abwesenheiten nichts getan habe als mit brennender Sehnsucht an ihn zu denken. Je schöner eine Landschaft war, je lieblicher ein Ort, desto wilder und eindringlicher wurde ich auf ihn hingewiesen. Jedes Bild, das sich mir 184 bot, schien mir eine Verkörperung seiner Person zu sein, ein Widerschein seines unentrinnbaren Blickes. So hat mich jedes Fernsein nur tiefer in meine elende Versklavung hineingeschleudert.«
»Es ist fürchterlich!« brach sie erneut los. »Nie werde ich mich befreien können. Es gibt kein Entkommen für mich, weil er immer da ist. Wenn ich Gott Tag und Nacht auf den Knien bäte, mich von ihm zu befreien, so würden unsere Feldmarken doch aneinanderstoßen und die Grabplatten unserer Geschlechter auf dem Boden der Pfarrkirche nebeneinanderliegen. Also werde ich ihn nie aus den Augen verlieren, und wenn ich mich einmal mit Aufbietung aller meiner Kraft aus dieser Leidenschaft, aus dieser Sünde ein wenig emporgereckt habe, wenn ich glaube: jetzt bin ich über den Berg, jetzt bin ich ihn los, jetzt gehört mein Herz wieder mir, dann kommt er ganz leise, lacht ein wenig, spricht etwas Kluges mit seiner tiefen Stimme – denn er ist unermeßlich klug, müssen Sie wissen! –, nur wenig, er brummt nur etwas vor sich hin, und er schaut einen an, lachend, wie ein Spitzbub, und doch so abgrundtief lockend wie ein Meer, in das man sich stürzen muß, ob man will oder nicht. Und dann ist alles vorbei, alle guten Vorsätze, alle trügerische Sicherheit.«
Bianca stützte ihr Gesicht mit der durchsichtigen Haut auf den Handrücken und starrte auf ein Wollflöckchen, das einsam auf dem wohlgebürsteten Teppich ihrer Mutter lag. Pave betrachtete sie besorgt. Ja, dies war wahrhaftig ein Unglück; Bianca hatte den richtigen Namen dafür genannt. Wenn sie selbst zum Beispiel Pero zu spät kennengelernt hätte, wenn sie etwa Gigi Lombardos Frau geworden wäre, des guten Jungen, der ihr soviel standhafte Liebe entgegengebracht hatte, und dann wäre Pero gekommen, der für sie der eine, der einzige, der allein mögliche Gatte war! Hätte sie dann etwas anderes zu sagen vermocht als: ein furchtbares Unglück hat mich getroffen!?
Aber sie durfte diese so grausam Heimgesuchte nicht 185 bestärken, sie durfte ihr nicht Recht geben, sie nicht durch Zustimmung noch tiefer ihrer Verstrickung ausliefern.
Pave runzelte die Stirn. Was konnte sie Wirksames sagen, was für Gründe ins Treffen führen? Vielleicht nützte es etwas, wenn sie den unseligen Mann schlecht machte und herabsetzte?
»Nach allem, was Sie sagen, Frau Bianca, muß derjenige, von dem Sie reden, wohl eigentlich ein unaufrichtiger und hinterhältiger Mensch sein?«
Bianca fuhr blitzschnell von ihrem Stuhl auf.
»Nicht im geringsten!« rief sie leidenschaftlich. »Unaufrichtig? Hinterhältig? Keine Spur davon. Auf niemandes Wort kann man sich besser verlassen, auch in diesen schwierigen Dingen, von denen ich zu Ihnen, Sie Österreicherin, Sie Frau Majorin, gar nicht reden darf. Niemand ist mutiger, die Wahrheit zu sagen. Niemand hält so treu, was er verspricht.« Nach einer ganz kurzen Pause fügte sie hinzu: »Männern nämlich.«
Sie setzte sich wieder und wandte sich Pave zu. Eine scharfe Falte saß zwischen ihren hochgewölbten Brauen.
»Ich grüble soviel über diese Dinge, und ich habe herausgefunden, wie alle Begriffe von Treue, Anständigkeit und Ehre für Männer oft genug nicht mehr bestehen, wenn es sich um eine Frau handelt. Das Verhältnis von Mann und Frau, das ist ein Kampf, ein wilder Krieg, in dem alle Mittel, alle Ränke und Kriegslisten erlaubt sind, der sich außerhalb des Gesetzes abspielt, auf einer grausamen, blutigen, vorweltlichen Ebene.«
Pave sah die junge Bianca verblüfft an. Was wußte sie nicht alles mit ihren zweiundzwanzig Jahren! Hatte diese jahrelange Qual dies Wissen in ihr gezeitigt oder etwa dies, daß sie eine Künstlerin war? Was sie sagte, mochte wahr sein. Aber hätte sie, Pave, es in diesen Dingen jemals zu mehr als zu einer dunklen Ahnung bringen, hätte sie sie jemals ausdrücken, beim Namen nennen und klar umreißen können? Wieder mußte sie 186 an Pero denken. Sagte er nicht oft mitten im Alltag, in irgendeinem harmlos heiteren oder in einem sorgenvollen Gespräch Dinge, von denen sie nicht begriff, woher er sie wissen konnte, weise, jenseitige Worte, von denen Pave nur glauben konnte, ein Engel habe sie ihm ins Ohr gesagt? Deshalb war Pero aber auch ein Dichter und wurde von seinen Landsleuten so hoch geehrt. Doch diese hier, dies junge Wesen, das auf einem bescheidenen Landgut im Venezianischen wohnte! Jedenfalls hatte Pave mit ihrem letzten Argument kein Glück gehabt.
In dem brennenden Wunsch zu helfen, umfing sie Bianca mit ihren Blicken. Sie sah das zauberhaft schöne, zarte Haupt auf dem schlanken Hals sitzen, sie sah die schmale und doch weiblich blühende Gestalt. Einmal, vor Jahren schon, hatte Pero ein besonders schönes Pferd gehabt, eine rassige Stute. Alles an dem Tier war Feuer gewesen, nervöse Spannung, adeliges Leben. An diese vergessene Fatme mußte sie denken, an die ursprüngliche Kraft, die zitternde Bereitschaft, die federnde Sprunggelenkigkeit des herrlichen Tieres, da sie Bianca ansah, wie sie, ohne einen Augenblick lang die edelste Haltung zu verleugnen, die Qual ihrer unglückseligen Liebe ans Licht hob.
Plötzlich durchfuhr es Pave. Sie streckte die Hand aus und streichelte Biancas Arm.
»Könnte es Ihnen nicht helfen, wenn Sie ein Kind hätten?«
»Ein Kind? Von wem?«
Bianca sah Pave nicht an.
Paves Herz klopfte, und Röte stieg ihr ins Gesicht.
»Von Ihrem Mann natürlich! Denken Sie denn, ich würde Ihnen raten, ein Kind von einem fremden Mann zu bekommen? Wenn Sie so von mir denken, muß ich aufstehen und fortgehen.«
Nun weinte Bianca wieder.
»Mich würde nur retten, wenn ich ein Kind von dem Mann haben könnte, den ich liebe«, sagte sie trostlos. »Im ersten Jahr meiner Ehe war ich schwanger. Leider 187 wurde ich krank und die Frucht ging ab. Hätte ich dieses Kind austragen, nähren, aufziehen dürfen, so hätte das Böse vielleicht nicht Macht über mich gewinnen können. Seitdem bin ich nicht mehr in die Hoffnung gekommen. Es tut mir nicht leid.«
Als Bianca dies sagte: es tut mir nicht leid, überkam es Pave plötzlich, daß sie reden konnte, wie es ihr sonst nicht gegeben war. Daß Worte ihr auf die Lippen traten, von denen sie nicht gedacht hätte, daß eine Frau wie sie je imstande sein würde, sie auszusprechen. Sie fühlte eine feurige Leidenschaft, diesem jungen Geschöpf hier zu sagen, wie sehr sie unrecht hatte, in welch heillosen Irrtum sie verstrickt war, und ihr den einzigen Weg zu weisen, der sie retten konnte.
»O Bianca, nicht so! Nicht so!« sagte sie mit einer Wärme und Bestimmtheit, die mit ihrer sonstigen Schüchternheit und Zaghaftigkeit keinerlei Ähnlichkeit hatte. »Bitter leid sollte es Ihnen sein, daß Ihnen seit jenem ersten, das nicht hat leben dürfen, kein Kind mehr erweckt worden ist. Wissen Sie denn, was das ist, ein Kind? Dieses Warme, dieses Liebe, dieses Zärtliche und Weiche! Können Sie denn ahnen, was das ist, was für ein unvorstellbares Glück, wenn sie einem nach all der Qual der Geburt das Neugeborene in den Arm legen? Wenn sie so klein daliegen, die süßen Geschöpfe, die in uns gewohnt, von unserem Blute sich genährt haben, wenn sie zum ersten Male blinzelnd die Augen auftun, zum ersten Male schreien, zum ersten Male an unserer Brust trinken! Bianca, Sie können es ja nicht wissen, was das bedeutet, eine Mutter zu sein! Die Männer sind uns voraus in allen Dingen, nur hierin sind wir ihnen über, daß wir Mütter sein dürfen, daß wir Kinder haben, die uns so nahe sind, so blutwarm nahe, wie unser eigenes Leben.«
Bianca sah sie mit aufgerissenen Augen an.
»Aber da ich einen anderen Mann mehr liebe als meinen eigenen, wie soll ich dann Kinder von dem empfangen, den ich weniger liebe?« Sie biß in ihr Taschentuch. 188
Da kam es über Pave wie ein Blitz, daß sie imstande war, der jungen Frau zu sagen, was sie erlösen könnte.
»Um der Kinder willen, die Sie ersehnen sollen, müssen Sie Ihren Mann wieder so sehr lieben, daß Sie verdienen, die Mutter seiner Kinder zu sein! Sie werden doch nicht um eines Fremden willen, von dem Sie selbst sagen, Sie wüßten nicht, ob er sich etwas aus Ihnen macht, auf das Glück verzichten, eine Mutter zu sein? Und denken Sie, was für eine Heimat Sie Ihren Kindern bieten können!« Pave, die Heimatlose, lächelte schmerzlich.
»In ihrem angestammten Vaterhaus werden sie das Licht der Welt erblicken, auf ihrem eigenen Grund und Boden die ersten Schritte tun dürfen. Sehen Sie mich an! Bald werde ich die Quartiere nicht mehr zählen können, in denen ich mit den Meinen gewohnt habe. Denn, wo wir armen Offiziersleute wohnen, das kann man oft kein Heim nennen. Und doch, wie freudig habe ich jedes meiner Kinder geboren, durch sie wurde mir fremdes Land zur Heimat, die öden fremden Wohnungen, durch sie wurden sie uns zum Heim. Durch sie bekommt unser Leben Freude und Sinn.«
Paves Wangen glühten. Noch nie, soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie es gewagt, einem anderen Menschen so eindringlich ihre eigene Meinung vorzuhalten, mit ihren armen, unzulänglichen Worten etwas ausrichten, bessern und ändern zu wollen. Sie holte tief Atem und griff nochmals auf das zurück, was sie so jählings in sich als das Notwendige, das Wesentliche und Wichtige in dieser Sache gespürt hatte.
»Ja, Bianca«, sagte sie mit tief erregter Stimme, »damit Sie Ihre Kinder verdienen, müssen Sie Ihren Mann so lieben, wie er es verdient! Verstehen Sie mich?« Sie lehnte sich erschöpft zurück.
»Vielleicht«, sagte Bianca, die verwirrt und verstört aussah. Plötzlich stürzte sie auf Pave los und küßte sie wild auf Wangen und Mund, ja sie riß ihre Hände hoch und bedeckte auch diese mit Küssen. »Vielleicht«, stammelte sie, »vielleicht. Ich werde sehen, ob ich das 189 begreifen kann, was Sie mir gesagt haben, und ob es mir möglich sein wird, danach zu leben.« Ihre Zähne schlugen aufeinander, mit den Händen preßte sie Paves Gelenke, daß sie schmerzten.
In diesem Augenblick wurden im Vorzimmer Stimmen laut, die Türe ward geöffnet, auf der Schwelle erschien Frau Biba und ihr folgten Carlotta und der Paduaner. Als Frau Biba die beiden Frauen in dem nun fast finsteren Zimmer erblickte, wandte sie sich nach den jungen Leuten um und sagte, mit einer ihrer runden, altmodischen Gebärden auf diese deutend: »Hier, meine Damen, das jüngste Brautpaar!«
Pave fuhr überrascht von ihrem Sitz auf und eilte auf die erglühende Carlotta zu; Bianca hingegen erhob sich langsam, sie schien aus einer fernen Welt heimzukehren, sie hielt sich an der Lehne des Armstuhles, um nicht zu fallen, und ging Schritt für Schritt durch die Dämmerung, die das Zimmer erfüllte, auf ihre Schwester zu.
*
Wenige Tage später saß Pave mit ihren kleinen Töchtern in dem Zimmer, das ihr und ihnen als Wohn- und Schlafstube diente, und schickte sich an, einen Brief zu schreiben. Sie hatte ihre lederne Schreibmappe aufgeblättert vor sich auf dem ans Fenster gerückten Tisch liegen und hatte soeben auf einem blauen Briefbogen, der, abgesehen vom größeren Format, durchaus denjenigen glich, die Pero zu verwenden pflegte und oben in der linken Ecke gleichfalls das Wasserzeichen »Bath« zeigte, das Datum »Motta, am 19. Dezember 1854« und die Aufschrift »Liebster Pero!« geschrieben. Miliza saß auf einem niedrigen Schemel und war damit befaßt, ihre Puppe Emma zu kämmen, während Cotia unbeweglich neben Pave stand und sich an deren linken Arm lehnte. Das Kind sah mit großen, stillen Augen bald auf das Gesicht der Mutter, bald auf ihre schreibende Hand. Es war Cotias Eigentümlichkeit, sich schweigend an die 190 Mutter zu schmiegen und sie mit süßen und sanften, groß aufgeschlagenen Augen anzusehen.
Nach einer Weile sagte sie: »Schreibst du dem Miu?«
Das Kind sprach im allgemeinen wenig, aber die Worte, die aus seinem holdgeschwungenen Munde kamen, waren von einer zartbeseelten Lieblichkeit, von einem so bezaubernden Ausdruck, daß Pave sich oft hingerissen fühlte, sie für jedes Wort, das sie sprach, stürmisch zu küssen. Die Liebe zu diesem Kinde versengte ihr Herz völlig; stand das kleine Wesen an sie gelehnt, hielt Pave es im Arm, so fühlte sie eine schmerzende Glut, eine heischende Leidenschaft, daß sie das Kind mit ihrer Liebe hätte ersticken und erdrücken mögen. Wohl liebte sie die kluge, reizende Miliza mit aller Wärme ihrer Mütterlichkeit, wohl war mit der Geburt des kleinen Duschan ein neuer Feuerherd von mütterlicher Liebe entzündet worden. Und doch schien es ihr mitunter, als sei ihre Liebe, ihre quellende, brennende Zärtlichkeit für Cotia aus anderem Stoff als alle andere Liebe, die sie jemals gefühlt hatte. Und wußte sie nicht, daß es Pero ebenso ging? War es nicht deutlich geworden, seit Cotia lebte, daß niemand von ihnen allen ihm auch nur von ferne bedeutete, was diese kleine Tochter ihm war?
Auf Cotias Frage: »Schreibst du dem Miu?« hatte Pave ihren Arm fest um den rundlichen kleinen Körper geschlungen, sie hatte ihre Wange an die Wange des Kindes gelegt und in Cotias Ohr hineingeflüstert: »Ja, ja, ja, ich schreibe dem Miu. Was soll ich ihm von der Cotia schreiben?«
»Cotia schickt dem Miu ihre Bonboni. Du mußt sie in den Brief stecken.«
Auf dem Fensterbrett standen, noch teilweise von rosa Seidenpapier umhüllt, die kleinen Geschenke, welche die Kinder zum Feste der heiligen Lucia erhalten hatten, das am 13. Dezember gefeiert wird und in Italien als Fest der Gaben und Geschenke eine ähnliche Rolle spielt wie in nördlicheren Ländern das Weihnachtsfest. Es war allerhand gefärbtes Zuckerzeug, Marzipan und kleine 191 Kuchen, zum Teil schon etwas eingetrocknet und verstaubt, denn das Fest lag nun schon sechs Tage zurück, und die Mädchen hatten ihre Geschenke durchaus nicht in einer Schublade verwahren, sondern auf dem Fensterbrett zur Schau stellen wollen. Der größere Teil der Gaben stammte von Frau Biba. Diese hatte es sich nicht nehmen lassen, mit den leckeren kleinen Kuchen, die für jenes nun verklungene Fest am Sonntag vor Beginn der Stagione so reichlich angefertigt und damals nur zum geringen Teil verzehrt, von ihren sorglichen Händen jedoch in Blechdosen verwahrt und frisch erhalten worden waren, die Strümpfe der kleinen Mädchen und ihres Vetters Miro zu füllen.
Pave versicherte Cotia, sie werde dem Postillon die süßen Sachen geben, damit er sie dem Miu bringe. Nun meldete sich auch Miliza. »Ich möchte dem Miu auch etwas schicken, und du hast gesagt, daß ich ihm schreiben darf.« Pave erklärte ihr, daß sie dem Vater einen Gruß für Weihnachten werde schreiben dürfen, aber erst ein wenig später. Nun müsse die Mutter endlich den Brief beginnen, die Kinder sollten einstweilen aussuchen, was sie dem Vater schicken wollten. Voll Eifer traten die kleinen Mädchen an das Fensterbrett, legten das geglättete Seidenpapier als Unterlage darauf und reihten alle die Zuckerfigürchen, Plätzchen, Kringel und Marzipanstangen nebeneinander, um ihre Auswahl zu treffen. Großmütig wollten sie weitaus das meiste von all den Herrlichkeiten nach Wien schicken, Pave hinderte sie jedoch daran mit der Begründung, daß der Postillon nur ein ganz, ganz kleines Päckchen zur Beförderung annehme.
Während die Kinder am Fenster standen, die Süßigkeiten hin und her rückten, mit dem Papier knisterten und leise wispernd die Frage erörterten, welche Stücke dem Miu wohl die größte Freude machen würden, hatte Pave sich endlich ans Schreiben gemacht. Zunächst bat sie Pero um Entschuldigung wegen ihres langen Schweigens. Denn hatte sie nach ihrer Ankunft neun Tage auf 192 einen Brief aus Wien warten müssen, so war es nun Pero, der in seinen Briefen Pave wieder und wieder bat, in kürzeren Pausen zu schreiben und ihn nicht so lange ohne Nachricht über ihrer aller Wohlbefinden zu lassen. Sie berichtete von Duschans Gedeihen, das sich besonders dadurch äußere, daß er die Nächte durchschlafe und untertags ruhig und freundlich sei. Sie erzählte auch von ihrem eigenen Wohlergehen, von ihrem Husten, der sie immer weniger und weniger belästige, ja sie erwähnte, ein Herr habe ihr kürzlich gesagt, wenn sie leidend sei, so müsse sie wohl geschminkt sein, da sie so gut aussehe. Daß dieser Herr der Tenor Lorenzoni gewesen, dies Pero mitzuteilen, hielt sie nicht für wichtig genug. Sie erwähnte die Stagione, die nun beendet war, erzählte von der Annehmlichkeit, die die Benützung der Loroschen Loge geboten, und bedauerte, daß das Vergnügen der Theaterbesuche nun zu Ende sei. Sie schrieb trübe vom kommenden Weihnachtsfest, das sie ohne den Gatten würde verleben müssen, und bat in zaghaften Worten, ob es Pero nicht doch ermöglichen könnte, auf kurze Zeit wenigstens nach Motta zu kommen. Sie berichtete von dem Vorhaben der Kinder, ihm von ihren zu Santa Lucia erhaltenen Leckereien zu senden, und gestand, daß sie das Päckchen für sich behalten und seinen Inhalt im Gedanken an ihn verzehren würde. Sie beschwor Pero, sich in acht zu nehmen, weil die Gerüchte über die Cholera noch immer nicht zum Schweigen kämen, und bat flehentlich um baldige, wenn auch kurze Nachricht.
Nun rief sie Miliza herbei, hieß sie sich auf ihr Knie setzen, drückte ihr die Feder in die Hand und begann, ihr die Hand führend, zu schreiben:
»Mein lieber Papa, mit Freude höre ich, daß es Dir gut geht, und ich hoffe, Du bleibst auch gesund. Auch mir geht es gut. Ich wünsche Dir alles Gute zu den Feiertagen und bitte Dich, habe immer lieb Deine Miliza.« Miliza glitt vom Knie der Mutter nieder, nun kam auch Cotia herbei, und die Kinder küßten andächtig 193 das Briefblatt, das der Vater in Händen halten würde, wie sie es jedesmal zu tun pflegten, wenn die Mutter nach Wien schrieb. Pave saß da, hatte mit jedem ihrer Arme eine ihrer Töchter umfangen, die Köpfe der Kinder schmiegten sich an die Wangen der Mutter und ein unendlicher Kreislauf von Liebe durchströmte die drei Verschlungenen.
Hierauf kleidete sich Pave eilig zum Ausgehen. Sie faltete den Brief, schrieb auf die Außenseite des Bogens Peros Adresse, siegelte, nahm das rosa Päckchen der Kinder heuchlerischerweise entgegen und eilte davon, um die Post zu erreichen.
Das Wetter war trocken, doch war der Nachmittagshimmel von grauen, lockeren Schirokkowolken bedeckt und die schwüle, drückende Luft ließ baldigen Regen ahnen. In überdeutlichem Föhnlicht standen die Häuser, die Bäume der Gärten und der Campanile, der über die Stadtmauer herübersah, sonderbar farbig und greifbar da. Als Pave sich dem Trevisanischen Tor näherte, hörte sie hinter sich eilige Schritte.
»Signora!« sagte eine Stimme, die sie allsogleich als diejenige Herrn Lorenzonis erkannte. »Signora! Welches Glück, daß ich Sie treffe!«
»Oh, Maestro! Sie gehen spazieren?« Pave wandte ihm ihr Gesicht zu, über das sich der schiffchenförmige Hut kokett und anmutig neigte.
»Spazieren, Signora! Nennen Sie es immerhin spazierengehen. Seit zwei Stunden bin ich hier auf und ab gegangen, immer hin und her, das kurze Stück vom Tor bis zur Brücke. Und warum habe ich das getan? Können Sie raten, Signora, warum?«
Pave gab vor, es nicht zu erraten. »Es ist ein hübscher Weg«, antwortete sie mit gespielter Unschuld, »besonders jenseits der Brücke bis zu der Stelle gegenüber dem Franziskanerkloster. Dort ist es so ländlich und einsam.«
Der Tenor war bleich. Er trug den eng in die Taille geschnittenen Winterrock und den grauen Zylinder wie während der Reise. Er begann wieder: »Signora, denken 194 Sie im Ernst, daß ich hier in Motta spazierengehe, um mir die Gegend zu betrachten? Gestatten Sie mir, daß ich es Ihnen sage, zürnen Sie mir nicht, weisen Sie mich nicht fort: um Ihretwillen bin ich hier gegangen, wie ich seit dem Augenblick, da ich Sie zuerst gesehen habe, alles nur um Ihretwillen getan habe. Was würde ich sonst hier suchen? Die Stagione ist zu Ende. Die Kollegen sind abgereist, meine Stimme ist etwas überanstrengt, denn es war ein Elend, in dem schlechten Haus zu singen. Um Ihretwillen gehe ich hier, in der Hoffnung, Sie noch einmal zu sehen, eine Hoffnung, die mich, gottlob, nicht getrogen hat.«
Pave schritt gleichmütig weiter und fragte: »Wann reisen Sie, Maestro?«
Herr Lorenzoni seufzte und neigte sich ein wenig zu Pave hin: »Ich reise morgen, was bleibt mir übrig. Was sollte ich weiter hier tun. Obwohl, freilich . . .« Er vollendete den Satz nicht.
»Ich bin sehr traurig, daß wir nun keine Oper mehr haben werden«, sagte Pave und war heilfroh, sich nun, wie sie hoffte, auf ein neutrales Gesprächsgebiet begeben zu können.
»Sind Sie traurig, Signora? Soll ich das glauben, darf ich das glauben? Es fällt mir schwer. Denn, Signora, ich habe nie ein härteres Herz gekannt als das Ihre.«
Pave richtete sich gerade auf und wandte ihr Gesicht voll dem Sänger zu: »Herr Lorenzoni, wir sind keine Kinder. Lassen wir doch diese Art von Gesprächen! Sie wissen, daß ich eine verheiratete Frau mit kleinen Kindern bin. Eine Offiziersfrau. Eine Dame von Stand, möchte ich sagen, und doch auch wieder eine geplagte und arme Frau. Was durften Sie von mir erwarten? Sie konnten doch nicht annehmen, daß jemand wie ich sich zu einem Abenteuer bereitfinden würde.« Pave war ziemlich stolz, daß sie es zuwege gebracht hatte, diesen Satz so kühl und klar zu formulieren.
Der Tenor blieb erschüttert stehen. »Oh, Signora, Signora! Denken Sie denn, ich weiß, was ich mir 195 erwartet habe? Im Anfang, als ich Sie nicht kannte, als ich Sie nur gesehen hatte, nur gesehen, damals vielleicht habe ich unsinnige Träume gehegt, Wünsche genährt. Aber seit ich auch nur ein Wort aus ihrem Mund vernommen hatte, ja schon damals, als ich Sie in Laibach mit den Herren Offizieren sitzen sah, schon damals wußte ich, daß Sie unerreichbar sind. Aber fragt man denn nach Erreichbarkeit, wenn man liebt? Man muß lieben, man kann nicht anders, man will sehen, hören, nahe sein und, wenn möglich, nicht ganz verworfen werden. Signora, ich habe viel für Sie geopfert und nichts dafür begehrt. Aber verstehen Sie doch, daß ich verzweifelt bin, nun, da ich mich von Ihnen trennen soll, ohne auch nur jemals richtig mit Ihnen gesprochen zu haben!«
Herr Lorenzoni sah tatsächlich verzweifelt aus. Die Schirokkoluft und die lange Rede hatten ihm Schweiß aus der Stirn getrieben, den er mit heftigen Bewegungen abtrocknete; seine runden, großen, gewölbten Augen hingen mit unsäglicher Betrübnis an Paves Gesicht, die Winkel seines Mundes waren traurig gesenkt.
Pave war es unbehaglich zumute. Sie wünschte dringend, daß irgendein Bekannter kommen möge, Herr Loro etwa, der oft auf der Straße anzutreffen war, oder Miho in seinem Wagen oder selbst der junge Lippi, um sie aus ihrer peinlichen Lage zu befreien. Was sollte sie um Gottes willen mit diesem Menschen anfangen, der ihr Dinge sagte, die sie eigentlich nicht anhören durfte, und der ihr Vorwürfe machte, die keinerlei Berechtigung hatten.
»Was kann man da machen, Herr Lorenzoni! Es ist das Los der Menschen, daß sie voneinandergehen müssen. Ich mußte mich doch auch von meinem Mann trennen, und das ist etwas anderes, etwas Schlimmeres, denn die Familie gehört zusammen. Sie werden nun in eine andere Stadt fahren, Sie werden Triumphe feiern, Sie werden die Herzen der Damen erobern. Meine Freunde in Laibach haben mir erzählt, daß Sie dort die Ursache vieler 196 Tragödien gewesen sind, Herr Herzog von Mantua!«
Lorenzoni ging nicht auf ihren Scherz ein, sondern schritt finster dahin. »Das ist vorbei!« sagte er mit dünnen Lippen, die er kaum voneinandertat. »Wohl, ich werde singen, es ist mein Beruf. Aber es gibt keine Frau mehr für mich außer einer. Diese eine muß ich heute verlassen, sie stößt mich zurück.«
Nun wurde Pave tatsächlich ärgerlich.
»Was soll das heißen: ich stoße Sie zurück! Im Gegenteil. Ich gehe hier freundlich mit Ihnen spazieren. Ich hätte Ihnen ebensogut sagen können, daß Sie mich nicht begleiten dürfen. Dies ist eine kleine Stadt, Geschwätz und Gerede entstehen hier schnell. Trotzdem habe ich Ihnen gestattet, mit mir zu gehen. Also dürfen Sie keine so verrückten und unbescheidenen Reden führen. Übrigens ist hier die Post. Ich muß meinen Brief aufgeben.«
»Darf ich Sie erwarten?« sagte der Tenor, bleich bis in die Lippen, und als Pave ihm mit einem lächelnden Achselzucken eine kurze Zusage gegeben hatte, verneigte er sich tief und todesernst und stellte sich unter dem kaiserlichen Adler auf, den Blick in das Dunkel des Torweges gebohrt, in dem Pave verschwunden war.
Als sie leichtfüßig wiederkehrte, trat er ihr mit einer gewissen Feierlichkeit entgegen.
»Signora!« sagte er mit ruhigem und gesammeltem Ausdruck. »Signora, ich habe Sie vorhin erzürnt. Verzeihen Sie mir! Ich werde keine unvernünftigen Reden mehr führen. Aber gewähren Sie mir eines, Signora, seien Sie barmherzig! Es ist meine letzte Chance. Kehren Sie nicht sogleich nach Hause zurück! Billigen Sie mir einen kleinen Spaziergang an Ihrer Seite zu! Gehen wir noch ein wenig hier über den Livenza hinüber auf der Chaussee gegen Quartarezza!«
Er machte nun einen so rührenden Eindruck, daß Pave ihn versöhnt und freundlich ansah und gewährend sagte: »Warum nicht? Es ist zwar ziemlich schwül, aber wir können immerhin noch ein wenig gehen, wenn es Ihnen Freude macht!« 197
Der Livenza floß bleiern unter dem grauen Himmel hin, die kleinen Landhäuser an seinem Ufer sahen in der feuchten Luft seltsam einsam und unheimlich aus. Die langen Pappelalleen, die da und dort das Land durchschnitten, streckten ihre spitzen Wipfel in die unbeweglich brütende Luft, locker geballte Wolken segelten dahin, getrieben von einem nur in den oberen Luftschichten spürbaren Wind, und ließen, wenn sie sich verschoben, jene dichte und zähe weiße Dunstwand sehen, die jenseits ihrer Wanderschaft den Himmel gefährlich überzog.
»Es wird gleich regnen«, sagte Pave, der Sänger jedoch widersprach ihr heftig.
»Nein, Signora, es wird nicht regnen! Gott kann es nicht wollen. Gott wird mir diese letzte Frist gönnen, dieses letzte Glück, diesen ersten und letzten Weg mit Ihnen.«
»Hoffen wir das Beste«, sagte Pave ergeben. Seit sie verheiratet war, widerfuhr es ihr zum erstenmal, daß ein Mann sich ihr mit deutlicher Werbung nahte, und obwohl sie nicht im geringsten daran dachte, das ohnmächtige Flehen des Sängers auch nur mit dem leisesten Entgegenkommen zu belohnen, so fürchtete sie doch, durch das bloße Anhören seiner bettelnden Beteuerungen irgend etwas anzutasten, das Pero gehörte. Dennoch brachte sie es nicht über sich, dem Tenor den Spaziergang kühl zu verweigern, den er so sehr zu ersehnen schien. Sie selbst schwankte zwischen einer kindlichen Freude über die unverhohlene Bewunderung des begabten Mannes und einem deutlichen Unbehagen, das sich aus schlechtem Gewissen und der Besorgnis zusammensetzte, sie könnte ins Gerede kommen.
Indessen schienen Herrn Lorenzonis Gebete Erhörung gefunden zu haben, denn die nahen und lockeren Wolken zerteilten sich einigermaßen, und das Licht wurde freundlicher. Sie hatten die Brücke überschritten und gingen nun auf der Chaussee weiter, die ausnahmsweise trocken war, unabsehbare Stoppelfelder säumten ihren Weg, in den Weingärten standen inmitten der Stöcke, die nahe 198 der Wurzel abgeschnitten waren, niedere Maulbeerbäume, die ihre kahlen Zweige reckten.
Pave überlegte, welches unverfängliche Gespräch sie beginnen könnte. »Was ist es nun mit Ihrer Berufung nach Wien, Herr Lorenzoni?« fragte sie mit konventioneller Artigkeit, während sie in ihren kleinen Schuhen auf der unebenen Straße einherschritt.
»Die letzte Nachricht steht noch aus«, entgegnete der Tenor, »doch ist es ziemlich wahrscheinlich, daß man mich rufen wird.«
»Nun, Maestro, dann werden wir einander in Wien wieder begegnen. Im Frühjahr holt uns mein Mann zurück. Ich muß nur bis dahin gesund werden.«
Herr Lorenzoni war sehr überrascht. »Wirklich, Signora? Sie kehren nach Wien zurück? Wie kommt es nur, daß ich diese Möglichkeit nicht ins Auge gefaßt habe? Signora, was für eine herrliche Botschaft sagen Sie mir da! Oh, ich Narr, ich dummer Junge, das Herz wollte mir schier brechen, und nun höre ich, daß es eine Möglichkeit gibt, Sie wiederzusehen! Großer Gott, barmherziger Gott, welches Glück, welche Freude!«
Er begann beschwingt auszuschreiten, sein Gesicht blühte auf, er sah Pave mit einem so kindlich glücklichen Ausdruck an, daß sie ihm zulächeln mußte.
»Bis wir kommen, Maestro, werden Sie tausend neue Bekanntschaften gemacht haben. Wollen wir wetten, daß Sie Ihre Reisegefährtin bis dahin vergessen haben!« Es machte Pave ein spitzbübisches Vergnügen, einen leidenschaftlichen Protest von seiten Herrn Lorenzonis herauszufordern, der auch keineswegs ausblieb, doch erfolgte er in anderer Form, als Pave erwartet hatte.
Der Sänger blieb feierlich stehen, wie vorhin, da er sie vor dem Posthause erwartet hatte. Er sah sie ernsthaft an, legte die Hand auf die Brust und begann langsam zu reden.
»Signora, alles ist Ihnen gewährt, kein Scherz, den Sie sich mit mir erlauben, kann Ihnen verwehrt sein. Aber gestatten Sie mir, daß ich zurückweise, was nicht im 199 entferntesten, was in ganz und gar keiner Weise den Tatsachen entspricht. Signora, die Herren Offiziere in Laibach haben Ihnen von den dummen Weibergeschichten erzählt, mit denen ich bisher mein Leben vertrödelt habe. Ich sagte Ihnen schon, daß dies vorbei ist. Seit ich Sie zum ersten Male gesehen habe, seit ich Sie in der Tür des Eisenbahnwagens stehen sah und auf Ihren Herrn Gemahl herunterschauen, seit diesem selben Augenblick hat mein Leben sich geändert. Wohl habe ich viele Frauen gekannt, auch ihrer viele, ich gestehe es, ohne mich dessen zu rühmen, erobert und besessen, wenn Sie mir diesen Ausdruck zugute halten wollen. Aber wer waren sie? Was waren sie? Was haben sie mir bedeutet? Zeitvertreib waren sie, Wolken, Schmetterlinge, Fleisch, Fleisch, Fleisch. Ich war ein Tor, ein Sünder, ein Vergeuder. Aber ich wußte es nicht besser. Nie vorher, nie, hören Sie mich, Signora, habe ich wirklich eine Frau geliebt. Sie mußten kommen, ich mußte Sie sehen, wie liebreich Sie Ihren Gatten anblickten, wie gütig, wie zärtlich Sie mit Ihren Kindern umgingen, damit es mir deutlich würde, was das ist, eine Frau. Ich bin ein unglücklicher Mensch, denn dieselbe Sekunde, die mir das Wundervollste gezeigt hat, hat mich zugleich gelehrt, daß es nicht für mich bestimmt ist, und trotzdem habe ich an jenem ersten Tag, jenem Reisetag, obwohl Sie so beharrlich und mit so strengem Gesicht von mir fortsahen, gedacht und geträumt, ich würde mit Ihnen verfahren können, wie mit den vielen anderen. Aber, ich sagte es Ihnen schon, in Laibach bereits, da Sie mit Ihren beiden Bekannten so vollendet damenhaft, so frei und unbefangen plauderten und scherzten, da wußte ich es, daß Sie aus anderem Holz geschnitzt sind als alle die Frauen, zu denen unsereiner den Blick erheben darf. Da wußte ich es, daß Sie eine Madonna sind, ein Sternbild, zu dem man aufblickt, das man verehrt, dem man sein Leben weiht, aber das man niemals, niemals besitzen wird. Das einen unbeschenkt läßt und doch reicher macht als die feilen Dinge, die einem armen Komödianten sonst 200 in den Schoß fallen. Werden Sie nochmals sagen, Signora, ich würde Sie vergessen haben, bis Sie nach Wien kommen?«
Pave dachte, wie sonderbar es sei, daß sie nun jahrelang im Gehege ihrer Familie gelebt, ihre Pflichten erfüllt und mit Pero, der höher stand als alle anderen, ein oft hartes Leben geteilt hatte, und daß ihr nun hier, in diesem Städtchen, von zwei Seiten, aus Biancas Beichte und aus Herrn Lorenzonis Liebeserklärung ein Gluthauch von Leidenschaft entgegenkam, wie sie ihn seit den Tagen, da Pero in Zara Nachmittag für Nachmittag die Treppe ihres elterlichen Hauses in die Via Sant Antonio emporgestürmt war, fast ein wenig vergessen hatte.
»Maestro«, sagte sie mit stiller und leiser Stimme, »Maestro, in einer Gefühlsaufwallung glaubt man manches, was sich im nüchternen Licht anders darstellt. Sie kennen mich nicht. Ich bin nicht häßlich, ich weiß es, aber sonst bin ich nichts von alledem, wofür Sie mich halten. Glauben Sie mir, Maestro, ich bin ein ganz und gar elender Mensch.«
Der Sänger unterbrach sie stürmisch. »Elend, Sie, Signora, elend!«
Aber Pave redete ruhig weiter: »Haben Sie nicht schon den Ausdruck gehört, ›ein übertünchtes Grab‹? Irgendwo in der Bibel muß es stehen, ich erinnere mich daran von meiner Schulzeit her. Solch ein übertünchtes Grab bin ich. Obwohl ich krank bin, habe ich so blühende Wangen, daß Sie sogar gedacht haben, ich sei geschminkt. Obwohl ich untüchtig bin, furchtsam, kleinmütig und kraftlos, sehe ich flink und niedlich aus, ich weiß es, oh, ich weiß es. Es gibt freilich genug Menschen, die mich lieben, mein Mann, meine Geschwister, meine Kinder und auch sonst manche Leute, Frau Biba zum Beispiel und Frau Bianca, deren Tochter. Alle denken sie, hinter meiner netten Erscheinung stecke etwas, etwas Wertvolles, etwas, das der Liebe würdig ist. Aber es ist nicht so, Herr Lorenzoni, glauben Sie mir um Gottes willen, es ist nicht so! Kein Mensch – ach, wie soll ich es Ihnen nur 201 beibringen, damit Sie es glauben –, kein Mensch kann elender und unwürdiger sein als ich.«
Der Sänger sah die Frau neben sich mit sprachlosem Erstaunen an. »Was sind Sie für ein einzigartiges Wesen!« rief er aus. »Alle Frauen, die ich bisher gekannt habe, wollten besser scheinen, als sie waren. Sie waren geschminkt und taten so, als seien sie es nicht, sie waren liederlich, dumm, treulos und faul und wollten für ehrbar, klug, verläßlich und tüchtig gehalten werden. Sie bildeten sich ein, weiß der Himmel, wie schön zu sein, auch wenn sie es nicht waren; dabei spielten sie die Bescheidenen und stellten sich, als wollten sie nicht für schön gelten. Und Sie, Sie, die Sie die Schönste sind, die Sittsamste, die Getreueste, Sie geben aufrichtig zu, daß Sie von Ihrer Schönheit wissen und tun sich doch nichts darauf zugute. Sie nennen sich untüchtig, kleinmütig und kraftlos; nie aber, solange ich lebe, habe ich einen so kostbaren, einen so edlen, einen so unvergleichlichen Menschen gesehen!«
Pave ließ verzagt die Arme sinken. »Hören Sie doch auf mit Ihren Lobpreisungen!« sagte sie gequält. »Ich meine nicht nur wirklich, was ich sage, sondern es verhält sich auch so. Ich bin ein armer Mensch, der seinem Schicksal nicht gewachsen ist. Wenn Sie wüßten, wieviel Nachsicht mein Mann braucht, um mit mir auskommen zu können! Wenn Sie wüßten, an wie vielem ich es in der Erziehung meiner Kinder fehlen lasse! Ich bitte Sie, Herr Lorenzoni, wenn Ihnen wirklich an meiner Freundschaft etwas liegt, so häufen sie nicht soviel unverdientes Lob auf mich! Sie martern mich, wenn Sie es tun. Übrigens müssen wir umkehren. Es wird spät.«
Der Sänger machte gehorsam kehrt. Sie gingen dieselbe Straße mit den eingetrockneten Radspuren und den vielen lehmigen Unebenheiten, die sie soeben entlang geschritten waren, wieder zurück. Die Stadt lag jetzt vor ihnen, der Turm erhob sich schlank und schön aus dem Gewirr der Dächer, die Wolken hingen wieder bleiern und drohend nieder. 202
»Nun kommt wirklich ein Wetter«, sagte Pave, »kommen Sie, Herr Lorenzoni, gehen wir rascher!«
Der Sänger schritt schweigsam neben ihr, er schüttelte bisweilen den Kopf und sah sie von der Seite an. Als sie sich der Brücke näherten, sagte er: »Ich darf also hoffen, Sie in Wien wiederzusehen, Signora? Als ich heute zwei Stunden lang vor dem Hause, das Sie bewohnen, auf und ab gegangen bin, habe ich nicht zu hoffen gewagt, daß eine so herrliche Botschaft mir das Scheiden von Ihnen erleichtern würde. Aber wie werde ich Sie finden?«
»Schreiben Sie an Herrn Loro, er wird durch meine Schwester meine Adresse wissen. Ich werde mich freuen, wenn ich Sie in Wien singen hören werde.«
Sie hatten die Brücke überschritten und bogen in die Stadt ein. Auf dem Hauptplatz löste sich aus den dunkelnden Lauben eine kindisch tänzelnde Gestalt. Es war Carlo Satti, der »sogenannte Maler«, der sich wie gewöhnlich müßig herumtrieb. Er kam freudestrahlend herbei und grüßte Pave und den Sänger mit eitlem Lächeln.
Ohne viel zu reden gingen die beiden durch das Trevisanische Tor, und vor dem Loroschen Hause reichte Pave ihrem Begleiter die Hand:
»Leben Sie wohl, Herr Lorenzoni, es hat mich gefreut, Sie zu treffen, und ich bitte Sie, denken Sie nicht allzugut von mir!«
»Nie, nie kann ich so von Ihnen denken, Signora, daß es, gemessen an Ihrem Wert, nicht noch immer viel zu gering wäre! Ich danke Ihnen für diesen Spaziergang. Und werden Sie gesund, Signora! Werden Sie ganz, ganz gesund! Dank, Dank! Auf Wiedersehen in Wien!«
Pave durchschritt sehr schnell das schmale Vorgärtchen und verschwand im Hause. Der Sänger stand da, er sah an dem Hause hinauf, als könnte ihm von seiner weißen Wand noch irgendwelches Gute kommen, er drückte beide Hände auf die Brust und verharrte minutenlang in dieser Stellung, bis große Tropfen zu fallen begannen und er genötigt war, mit langen Schritten das Stadtinnere zu gewinnen. 203