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Gibt es viele Straßen auf der Welt, die so herrlich sind wie der Stradon von Ragusa?
Gibt es viele Straßen, die mit so glatten, glänzenden Fliesen belegt sind, ganz wie ein Festsaal? Ja, und ein Festsaal ist der Stradon, die große, feierliche Empfangshalle der Stadt. Kein Pferdehuf darf ihn zertreten, kein Wagenrad seine Spur in ihn zeichnen, niemals haben gemeine Roßäpfel sein weißes Pflaster entehrt. Auf dem Stradon wird gegangen, gewandelt, geschritten, promeniert, marschiert, aber nicht gefahren. Zum Fahren ist auf der weiten, großen Welt Platz genug, auf den breiten Reichsstraßen und Karrenwegen, auf der Karawanenstraße zum Beispiel, die südlich vom Kloster San Giacomo nach Osten abbiegt und auf der dereinst die goldbestickten, waffenblinkenden Gesandtschaften der Republik Ragusa quer durch den ganzen Balkan nach Byzanz gezogen sind, wie viele der alten Leute es dir noch erzählen können. Oder auf den Straßen etwa, die Marmonts Armee auf Napoleons Befehl in die dalmatinische Erde graben mußte und die nun wie breite weiße Bänder die Küsten entlang ziehen. Oder auf allen den Straßen, die durch die fremde, reiche, große Welt führen, wo fremde, reiche, gebildete Leute in prächtigen Reisekutschen dahintraben; man erzählt sich sogar, und in den Journalen magst du es im Bilde sehen, daß man dort draußen in den Ländern, wo man so klug ist und vieles erfindet, nun schnurgerade Wege zu ziehen beginnt, die mit eisernen Schienen belegt werden, und über diese Schienen laufen schaurige Dampfrosse, und ziehen lange Reihen von Wagen hinter sich her.
Gut also, dort überall magst du fahren, wenn es dich gelüstet, wenn du aber den Stradon betrittst, dann sei ein wenig ehrfürchtig und geh zu Fuß. In deiner Mutter 30 bestes Zimmer oder in die Kirche gar würdest du ja auch nicht mit einem Ochsenkarren hineinfahren.
So sag es mir nun aufrichtig, gibt es eine schönere Straße? Sehr lang ist sie freilich nicht, nein, wahrhaftig, wie sollte sie auch sehr lang sein, da doch ganz Ragusa mit all seinen riesigen Wällen, seinen herrlichen Kirchen und Klöstern, seinen Standbildern, Brunnen, Treppen und Höfen, dem Rektorenpalast mitsamt seinen sieben Säulen und den vielen steinernen weißen Häusern auf einer ganz kleinen Halbinsel Platz haben muß. Und sage mir, was hättest du denn auch von einer Straße, die lang ist, aber nicht schön?
Nein, sieh ihn dir an, diesen Stradon! Ist es nicht herrlich, wie er gerade und gelassen von einem der großen wichtigen Tore zum anderen führt, von der Porta Pile, die die Franziskaner in Kriegsläuften verteidigen mußten, bis zur Porta Ploce, für deren Sicherung die weißen Dominikaner aufzukommen hatten. Sieh es dir an, wie die edlen, alten weißen Häuser, die ihn umsäumen, einander ähnlich sind, nicht anders als die wilden Gladiolen auf einer Wiese von Lapad, und wie doch jedes vom andern verschieden ist, so wie du ja auch keine Gladiole finden wirst, die völlig ihrer Schwester gleicht, wohl aber im Laden der Blumenmacherin lauter ganz gleiche Rosen und Nelken aus leblosem Kattun.
Hast du es schon einmal bemerkt, daß am Stradon jedes Haus ein Eckhaus ist? Und kannst du mir in den berühmtesten Städten der Welt eine Straße nennen, die sich eines so merkwürdigen Vorzuges rühmen könnte? Freilich, wenn du bloß rasch hinblickst, dann siehst du eine ununterbrochene Front von weißen Häusern. Aber gehst du langsam vorbei, dann merkst du, daß zwischen jedem Haus und seinem Nachbar ein ganz enger, dunkler Gassenschlitz hinläuft, so schmal, daß man ihn kaum gewahrt, der aber doch den beiden Häusern einen stolzen Adel der Selbständigkeit verleiht. –
Es war ein Hochsommertag des aufgeregten Jahres 1848. Während draußen im Oberitalienischen die 31 österreichischen und piemontesischen Heere einander gegenüberstanden, Jellačić seine Kroaten gen Wien führte, die Ungarn und Tschechen turbulent ihre Rechte geltend machten und in Frankfurt das erste deutsche Parlament beisammensaß, leuchtete, ohne sich um all diese Neuheit und Unruhe zu kümmern, eine sengende, aber sonst friedliche Sonne über dem mittägig leeren Stradon. Hinter den herabgelassenen Jalousien ergab sich der Siesta, wer immer es sich leisten konnte; in den Gewölben saßen die Kaufleute schläfrig herum, und manch einer hatte seinen Laden über Mittag geschlossen und sich gleichfalls zur Ruhe gelegt. Dicke Fliegen summten umher und suchten nach irgend etwas Leckerem, leicht Fauligem, worauf sie sich mit Lust setzen könnten, und mitunter flogen ein paar Möwen mit Gekreisch und Gelächter vom Hafen her über die Stadt.
In dem schmalen Schattenstreifen, den die westliche Häuserfront bereits zu werfen begann, schritt Pave in einem lustig geblümten Sommerkleid, einen breitrandigen Florentinerhut auf der dunklen Lockenfrisur und durchbrochene Halbhandschuhe an den bräunlichen Mädchenhänden, mit eiligen und zierlichen Schritten in der Richtung gegen den Onofrio-Brunnen. Sie ging nun in ihr einundzwanzigstes Jahr. Ihr Körper hatte sich noch gestreckt in den zwei Jahren, seit wir sie im Garten von Lukoran ihren Bräutigam haben erwarten sehen; ihre Gestalt war noch schlanker, ihr Gesicht schmäler und sehnsüchtiger geworden; ihre tiefbraunen Augen blickten mit reizender Sanftmut unter den rundgeschwungenen Brauen hervor. Während sie dahintrippelte, spähte sie eifrig um sich, als erwarte sie jemand zu sehen. Ein Perlbeutelchen, das sie in der Hand trug, schwang bei jedem ihrer Schritte leise hin und her. Auf dem kleinen Platz vor dem Pile-Tor, wo der Onofrio-Brunnen der Franziskanerkirche schräg gegenübersteht und der nichts ist als eine kleine Ausbuchtung des Stradon, gab es in einem Winkel ein wenig Schatten. Hier stand, vom Stradon aus nicht zu sehen, ein junges Paar. Ein bartloser, 32 langgliedriger Mann anfangs der Dreißig, einen gelblichen Manilahut auf dem Kopfe, mit lichtem Schoßrock und weißen Beinkleidern und eine in hellblauen Musselin gekleidete junge Frau, deren zartes sommersprossiges Gesicht von einer weißen, bebänderten Schute beschattet war. Auch sie schienen auf jemand zu warten, aber sie blickten nicht zuversichtlich und freudig wie Pave, sondern sie sahen einander mit sorgenvollen Blicken an, und es schien, als fürchteten sie dasjenige, worauf sie warteten.
»Also, Carolina, es bleibt dabei, wir sagen ihr noch nichts«, sagte der Mann mit dem Manilahut eindringlich zu der jungen Frau. »Wir bereiten sie langsam vor. Solange wir im Wagen fahren, lassen wir sie noch in Ruhe. Sieh nur zu, daß du nicht zu weinen anfängst. Wir müssen zunächst ganz heiter erscheinen, langsam und behutsam müssen wir sie vorbereiten. Sie ist ja ganz ahnungslos.«
»Warum müssen gerade wir es sein, die es ihr sagen?« fragte Carolina und tupfte sich mit einem zarten Tüchlein die kleinen Schweißperlen von der Stirne. »Warum gerade wir? Es kommt mir vor, ich habe noch nie in meinem Leben ein so schreckliches Ding vor mir gehabt. Warum sagt es ihr nicht ihre Schwester? Warum nicht ihr Schwager? Ich sehe es nicht ein.«
»Carolina, ich verstehe dicht nicht. Ich war Peros Freund. Ich rechne es mir zur Ehrenpflicht, dieses traurige Amt auf mich zu nehmen. Ihre Schwester hat uns doch heute morgen vorgeweint, sie fühle sich nicht imstande, der armen Pave die fürchterliche Nachricht mitzuteilen. Und wissen muß sie es endlich. Mein Vater schreibt doch, daß das Gerücht, das er aus einem Brief aus Agram erfahren hat, durch zwei vom italienischen Kriegsschauplatz heimgekehrte Offiziere bestätigt worden ist. Jeden Tag kann ein Kondolenzbrief sie erreichen. Soll sie Peros Tod durch Fremde erfahren?«
»Und wenn es nicht wahr ist? Es ist schon manch einer totgesagt worden.«
»Du hörst doch, daß das Gerücht bestätigt worden 33 ist. Und seit drei Wochen ist keine Nachricht von ihm gekommen.«
Frau Carolina seufzte statt einer Antwort. Sie trat auf den offenen Stradon hinaus, hielt Ausschau und flüsterte über die Achsel ihrem Manne ängstlich zu: »August, sie kommt.«
Mit fröhlichem Lächeln begrüßte Pave ihre Freunde: »Ah, Sie warten schon. Guten Tag, Frau Carolina. Guten Tag, Herr Doktor Kaznačić. Ich weiß, ich bin verspätet. Aber Adelaïde betrug sich so merkwürdig, als ich fortging. Sie war es doch, die mir heute früh die Einladung zu diesem Ausflug überbracht hat. Sie hat mir zugeredet, sie anzunehmen. Und nun, als ich fortging, stellte sie sich an, als ginge ich auf eine Weltreise. Sie umarmte und küßte mich, nannte mich ein armes Kind, rief mich noch auf der Treppe zurück und benahm sich wie närrisch. Vielleicht kommt es daher, weil sie ein Kind bekommen soll.«
Doktor Kaznačić ging den beiden Damen voraus durch die schmale Pforte beim Pile-Tor, und nach der gleißenden Helligkeit des Stradon umfing dunkler, windbewegter Blätterschatten die Hinaustretenden. Im mächtigen Bogen zog die Stadtmauer nach Norden und Süden, der Mincetaturm dräute her; auf der Straße stand ein Wägelchen, auf dessen Bock ein Kutscher in Canaleser Bauerntracht sanft eingeschlafen war und sich nun erschrocken aufrüttelte.
Ich war ein Dummkopf, wir gelehrten Leute sind wahrhaftig oft die Albernsten von allen, dachte Doktor Kaznačić, während der Wagen zwischen vornehmen Landhäusern und Gärten den ziemlich steilen Weg hinanfuhr. Im Freien wird es leichter sein als im dumpfen Zimmer, habe ich mir eingeredet, und nun? Ist es nicht abstrus? Ist es nicht grausamer als alles, mitten in diesem Leuchten, in diesem Blau und Grün, unter all diesen hängenden Blüten und jauchzenden Vögeln das arme junge Herz zu brechen? August, August, wer hätte das gedacht, daß du so dumm bist? Ist das deine 34 Freundschaft für den Gefällten? Ist das deine Liebe zu dem unvergeßlichen Freund? Zart mußt du die bräutliche Witwe anfassen, das arme verlassene Mädchen, das da lacht und plaudert und nichts ahnt. Unten in Lapad vielleicht, wo es so still ist, abseits vom Wege, in Gondolas Ölgarten, dort wird der rechte Platz sein. Nicht hier auf der Bellavista, wo das Meer tief unten so süß und selig gleißt. Wo die Klematis und die roten Tütenblumen in verschwenderischer Fülle von den Gittern niederhängen, wo die weißen Möwen fliegen und Ragusa mit seinen Mauern und Türmen so prangend herüberschaut. Laß ihr noch diese Spanne Glück, August Kaznačić! Sieh sie an, wie sie mit Carolina scherzt, wie sie glücklich um sich schaut, wie sie sich heiter zurücklehnt und mit dem Tüchlein Kühlung zufächelt. Wenn wir abends dieselbe Strecke heimfahren werden, dann wird sie weinen. Arme Pave!
Pave hatte aus ihrem Perlbeutel ein zusammengefaltetes Papier zutage gefördert und sagte zu Frau Carolina: »Endlich heute habe ich nicht vergessen, Ihnen das Gedicht des Conte Zamagna mitzubringen.« Sie reichte der Freundin das in schöner und verschnörkelter Schrift beschriebene Blatt mit vergnügtem und etwas verlegenem Lächeln.
»Ah! Ah!« sagte Carolina, als sie die ersten Zeilen gelesen hatte. »An das schöne Fräulein Pave zu ihrem und ihres Bräutigams gemeinsamem Namenstage am 29. Juni 1848«, las sie laut. »Zamagna verehrt Sie sehr. Jeder kann es sehen.« Im stillen dachte sie: Jung ist er zwar nicht mehr, aber vielleicht kann das arme Kind bei ihm ein neues Glück finden, wenn das große Leid überwunden sein wird.
»August, lies du die Verse vor, du kannst so schön Poesien lesen,.«
Doktor Kaznačić, der kurzsichtig war, seine Brille aber nicht sofort finden konnte, hielt sich das Quartblatt dicht vor die Augen, überflog zuerst die wenigen Zeilen und las sodann mit belegter Stimme das kurze Gedicht: 35
»Oktave
Nicht fürder, reizende Pauline, quäle
Dein Herz um den geliebten Helden sich.
Denn daß sein Mut sich deiner Huld vermähle,
Schirmte der Himmel ihn vor Blei und Stich.
Bald ruhn die Schlachten. Deine sanfte Seele
Sei nahen Friedens sicher. Ewiglich
Bleib' euer Bund von Waffenlärm bewahrt,
Und Hymens Fackel leuchte eurer Fahrt.«
Als er geendet hatte, räusperte sich Doktor Kaznačić umständlich, und Frau Carolina trocknete sich die Augen. »Rührend, wirklich rührend«, meinte sie. Und Pave, die sie ein wenig erstaunt ansah, sagte, indem sie den Bogen wieder in dem Perlbeutel verstaute:
»Er will mich trösten, der Gute, möge er recht behalten. Haben Sie auch etwas von einem Waffenstillstand gehört, Herr Doktor?«
»Nichts als Gerede, Fräulein Pave. Der Krieg geht weiter.«
Der Wagen hatte den Bellavista genannten höchsten Punkt überschritten und fuhr nun rasch und erleichtert der Bucht von Gravosa zu. Pave sah freudig um sich. Ihre immerwache Sorge um Pero, ihr Hangen und Bangen um Nachrichten vom Kriegsschauplatz, die schreckhaften Ahnungen, die sie oft zu überfallen pflegten, seit die Kämpfe lebhafter und die Briefe spärlicher geworden waren, – in dieser Stunde war sie ihrer ledig. Sie gedachte ihres Geliebten mit jubelndem Herzen, sie fühlte sich und ihn sicher geborgen, sie ahnte nichts von der furchtbaren Nachricht, die den beiden freundlichen Menschen, die sie zu dieser Fahrt eingeladen hatten, bitter wie Chinarinde auf der Zunge lag. Sie merkte nicht, wie starr ihre Gesichter waren, wie ängstlich sie auf ihren Sitzen hin und her rückten, mit welcher schmerzlichen Verlegenheit sie von ihr fortsahen.
In Gravosa angekommen, entließ Doktor Kaznačić den 36 Wagen, die verstreut am Hafen und am ansteigenden Berg gelegene Stadt wurde nicht berührt, und die drei wanderten zunächst die runde Bucht entlang und sodann auf dem von Ölbäumen, Zypressen und Eukalyptusbäumen umstandenen Fußpfad nach links abwärts, wo sich alsbald der stille und fehlerlose Spiegel einer einsamen Bucht vor ihnen öffnete. Von Süden her schatteten die Pinien des Monte Petka; die »Pettine«, was soviel heißt wie »Zähne eines Kammes«, zackige Felsen am Eingange der Bucht, stachen feucht und rötlich aus der ruhigen Flut.
Hier ist es noch zu hell, zu freudig, dachte August Kaznačić. Ich lasse ihr nach eine Galgenfrist. »Gehen wir ein wenig hier hinunter«, wandte er sich an seine Damen und war ihnen behilflich, über die weißen, natürlichen Felsenstufen zum Strande niederzusteigen. Die Ebbe war soeben überwunden, und mit sanften harmonischen Stößen, bei jeder Welle ein wenig schäumend, begann das Meer die mit knochenbleichen runden Kieseln und fauligem Tang bedeckte Bucht zu überspülen. Ein vorspringender Felsen bot Schatten. Ihre Röcke vorsichtig ausbreitend setzten sich die beiden Frauen auf den feuchten Stein und empfanden wohltätig die Kühle des verborgenen Ortes.
»Warum sind Sie so traurig, Carolina?« redete Pave die Freundin an. »Ich bin heute so froh. Es ist herrlich, ins Freie zu kommen. Adelaïde hat niemals Lust dazu. Wenn ich einmal mit Pero verheiratet bin, dann müssen wir oft Ausflüge machen.«
Carolina sah an Pave vorbei auf das Wellenspiel, sie folgte mit den Blicken einer Bö, die sich auf dem Meere als ein wanderndes Gekräusel bemerkbar machte. »Man kann nicht immer fröhlich sein«, sagte sie ausweichend, »manchmal hat man ein schweres Herz. Aber ich bin glücklich, wenn Sie froh sind, Pave.«
»Eigentlich habe ich keinen Grund zur Freude«, sagte Pave, »denn das gestrige Schiff hat wieder keinen Brief von Pero gebracht. Ich müßte ihn schon bekommen 37 haben. Die Post von den Dampfern wird immer am nächsten Morgen ausgetragen. Aber ich weiß nicht, woher es kommen mag, ich bin nun nicht mehr so ängstlich, wie ich es noch vor wenigen Tagen war.«
Die Eheleute warfen einander einen langen Blick zu, und August Kaznačić sagte sich: Lieber Gott, warum machst du es mir so schwer. Eben jetzt wollte ich beginnen, sie ein wenig vorzubereiten, aber wie kann ich es, da sie so glücklich und ahnungslos ist?
Pave schob den Arm in den Frau Carolinas. »Arme Dragojlica!Kroatische Form von Carolinchen. Nur lustig! Was fehlt Ihnen denn? Ach, sieh die schönen Feigen, die Ihr guter Mann mitgeschleppt hat!« Sie nahm herzhaft von den kleinen braunen Feigen, die Doktor Kaznačić ihr aus einem runden geflochtenen Korb, den er treulich mitgetragen hatte, anbot. »Ich vertrage die Hitze nicht«, sagte Frau Kaznačić, und ihr Gatte, der sich jetzt etwas abseits damit unterhielt, kleine flache Steinchen über die Wasserfläche tanzen zu lassen, wobei er große Geschicklichkeit entfaltete, kam ihr zu Hilfe, indem er herüberrief: »Es ist unerträglich schwül heute. Es muß etwas in der Luft liegen. Ich denke manchmal, daß wir all das Leid und das Elend der Schlachtfelder bis hier herunter spüren.«
»Sprechen Sie nicht davon, das Meer ist so herrlich heute!« sagte Pave. »Pero liebt es auch so sehr. Kennen Sie die schönen Meergedichte, die er geschrieben hat?«
»Freilich kenne ich sie«, entgegnete der Arzt, aber seine Stimme klang so rauh, daß Pave bei sich dachte: Peros Meergedichte scheinen ihm nicht zu gefallen. Merkwürdig, und ich liebe sie so sehr.
»Ach, hier ist es so schön«, rief sie wieder aus, »ganz wie bei uns zu Hause in Lukoran, nur daß wir kein offenes Meer haben, sondern über dem Stretto drüben Zara und dahinter den Velebit liegen sehen. Ist Lukoran nicht schön, Herr Doktor? Sie haben uns ja dort besucht. Auch Frau Carolina muß es sich einmal ansehen.«
Doktor Kaznačić hatte den Korb mit den Feigen 38 ergriffen und bat die beiden Damen, nun wieder die Felsen hinaufzuklimmen. Er wolle sie nun in die weiten Ölgärten und in den Park des Baron Gondola führen, wo wahrscheinlich der berühmte Oleander noch nicht ganz verblüht sein würde. Die Sonne stand jetzt tiefer und brannte weniger sengend. Auf dem schmalen Pfad zwischen der die Halbinsel überwuchernden Macchia und den zum Meer abfallenden Klippen wanderten sie angesichts des weitgerundeten Himmelsbogens langsam dahin. Die Freundinnen hatten zierliche Schirme aufgespannt, Möwen flogen weiß blitzend über ihnen hin, eine Schafherde, geleitet von einem uralten Hirten mit rotem Fez und breiten blauleinenen Pluderhosen, der an einen hohen Krückstock gelehnt dastand, fraß das kurze, von der Sonne gelb gebrannte Gras ab.
»Es ist der alte Ivo, Gondolas Schafhirte«, sagte Kaznačić und grüßte zu dem Alten hinüber.
Nun schlagen wir uns in das Dickicht, und so wahr mir Gott helfe, drinnen unter den Ölbäumen will ich es ihr sagen, gelobte er sich. Sind die Ölbäume nicht traurige Bäume? Hat Jesus Christus nicht unter Ölbäumen Blut geschwitzt? Ja, dort wird der richtige Ort sein! Während der Doktor so dachte, sprang Pave auf dem schmalen Steig, der vom Strandweg abzweigend in den Ölwald hineinführte, leichtfüßig voran.
Frau Carolina zupfte ihren Gatten am Ärmel und hielt ihn ein wenig zurück.
»August«, sagte sie, »ich halte dieses Schweigen und Lügen, dieses Heucheln und Versteckenspielen nicht mehr aus. Entweder wir sagen es ihr jetzt, oder wir hätten sie niemals mit uns nehmen dürfen.«
»Freilich, jetzt werde ich anfangen. Sei nur geschickt und springe mir bei. Es ist furchtbar, daß sie so ahnungslos ist.«
August Kaznačić hatte es eben auf der Zunge, zu der an ein Myrtengebüsch gelehnten Pave zu sagen: »Die Verluste in diesem Kriege sollen sehr groß sein«, als Pave ihm entgegenrief: »Alle Myrten sind schon 39 abgeblüht. Schade, schade! Gibt es etwas Schöneres als eine blühende Myrte? Dieser Busch muß vor einem Monat wunderbar gewesen sein. Zu Hause habe ich mir Myrten gezogen. Denn wenn Pero aus dem Kriege heimkommt und wir endlich heiraten, dann will ich einen selbstgezogenen Myrtenkranz tragen.«
Für einen Draufgänger wäre es jetzt wohl am Platze gewesen, zu sagen: »Sie werden Pero nicht heiraten, Fräulein Pave, denn er ist irgendwo im Lombardischen oder Venezianischen begraben.« Aber ein solcher Draufgänger war Doktor Kaznačić nicht. Was er hatte sagen wollen, starb ihm auf den Lippen. Er betrachtete den Myrtenstrauch und sagte leise und gedrückt: »Ja, sehr viele Myrten müssen hier geblüht haben. Ein herrlicher Strauch.«
Sie gingen weiter durch das Dickicht. In kleinen gemauerten Stufen, zwischen denen Rasenplateaus sich hinzogen, stieg der Ölgarten bergan. Es raschelte in einem seitlichen Gebüsch. Eine stattliche braune Fasanhenne, der sechs oder sieben Junge folgten, brach aus dem niedrigen Gezweig und floh mit tänzelndem Gange schrill girrend in die Deckung dichten Wacholders.
»Ach, die süßen kleinen Fasanen«, rief Pave, »wie vertrauensvoll sie ihrer Mutter nachgelaufen sind. Ich freue mich darauf, selbst Kinder zu haben. Adelaïde ist glücklich, daß sie eines erwarten darf.«
Wieder sahen die Gatten einander an, und was Doktor Kaznačić hatte sagen wollen, daß heutzutage ein hartes Geschick viele Liebende auseinanderreiße, er verschluckte es und riß verzweifelt einen großen Grashalm ab.
Die fahlen, gewundenen Stämme der Ölbäume stiegen aus der dämmerigen Wildnis des Unterholzes empor und hielten das schüttere Dach ihrer silbrigen Kronen ins Spätnachmittagslicht hinauf. Aus verborgenen Nestern tönten die leisen Stimmen brütender und sorgender Zeisige, mannshohe Wolfsmilchsträucher entfalteten das vielgestufte Grün ihrer Blüten und Blätter.
Der Arzt tat ein paar entschlossene Schritte und kam 40 neben Pave zu stehen. Nun helfe mir Gott, es muß sein! Aber ehe er den Mund öffnen konnte, hatte Pave ihn am Arm gefaßt, sie legte den Zeigefinger an die Lippen und deutete sacht und vorsichtig mit dem Kopf nach einem der Steinmäuerchen. Eine lange und dicke braune Schlange wand sich mit lautlos urweltlichem Gleiten zwischen den grauen, locker geschichteten Steinen hervor und ließ sich leise raschelnd im trockenen Ölbaumlaub nieder, das den eisenroten Erdboden bedeckte. Sie hob ihr nächtiges Gesicht, schaute mit ihren wie Jettperlen glänzenden Augen starr ins ungewohnte Licht, züngelte graziös, glitt weiter zwischen den Gräsern, die durch sie in wogende Bewegung versetzt wurden, und verschwand hinter einem großen Stein.
»Eine Äskulapnatter«, sagte Doktor Kaznačić leise.
»Ah, wie freut mich das!« Pave sah noch immer nach der Stelle im Mäuerchen, aus der die Schlange sich herausgeringelt hatte. »Ich habe noch nie im Leben eine gesehen. Ist es wahr, daß die großen Äskulapnattern die bösen Sandvipern verschlingen? Ist es wahr, daß sie die Schutzgeister der Gegend hier sind, wie zu Zeiten des alten Äskulap? Pero hat es mir einmal gesagt. In Ragusa Vecchia soll ja das Heiligtum des Äskulap gewesen sein. Ist es so oder schwätze ich Unsinn?«
»Es ist so. Ragusa Vecchia war eine Kolonie des griechischen Epidaurus, wo der große Äskulaptempel stand, und die Kolonisten haben ihren Gott mit hierhergebracht. Auf der siebenten Säule am Rektorenpalast können Sie ihn sitzen sehen.«
Unter den Bäumen erschien jetzt abermals der alte Hirte mit seiner Herde. Nun war er es, der Doktor Kaznačić zutraulich grüßte und ihm sein Leid wegen eines hartnäckigen Hustens zu klagen begann, der in diesem Jahr auch im heißen Sommer nicht weichen wollte. Er sei selber ein Heilkundiger, rühmte er sich, und er habe noch niemals einen der gelehrten Herren in Anspruch zu nehmen brauchen, aber diesmal – drüben in Solitudo lobten sie den Herrn Doktor als einen 41 guten neumodischen Arzt –, diesmal erlaube er sich die Frage.
Doktor Kaznačić vertiefte sich sogleich in ein eifriges Gespräch mit dem Alten, während die Schafe, die langsam nachgekommen waren, mit deutlich reißendem Geräusch das kurze Gras abfraßen. O Gott, du hast mir eine Frist gewährt, dachte Doktor Kaznačić, und er wurde nicht müde, dem Alten, der mit in Leinenfetzen umwickelten Füßen, die in riesigen Opanken staken, neben ihm herschlurfte, Ratschlag um Ratschlag zu erteilen. Ja, er setzte sich sogar auf einen Stein und schrieb ein Rezept auf, er griff in die Tasche und verabreichte dem Hirten Ivo einen Gulden, damit er sich den heilenden Trank in der Apotheke von Gravosa besorgen könne.
Frau Carolina war unterdessen mit Pave vorausgeeilt. Die Wildnis hatte sich gelichtet, ein weiter Gartenplan, bestanden von riesigen Palmen und einer langen, in allen Abstufungen von Rosa und Rot erglühenden Oleanderallee, lag im Abendlicht.
»Wir laufen August davon«, sagte Frau Carolina, denn nun wollte sie des Hangens und Bangens ledig sein. Heute sagen wir es ihr nicht mehr, dachte sie listig. Wir gehen zum Wagen voraus und setzen uns hinein. Morgen ist auch noch ein Tag. Als Doktor Kaznačić die beiden leichtfüßig Voranschreitenden heftig schwitzend im Hafen von Gravosa eingeholt hatte, waren sie eben dabei, den Wagen zu besteigen, der Canaleser Kutscher knallte mit der Peitsche und wandte das Gefährt.
Nun kommt die Heimfahrt, und sie weiß es noch nicht, sagte sich August Kaznačić mit nagendem Gram. Hier im Wagen kann ich es ihr doch nicht sagen. Oder doch! Es wird sein müssen! Wir können sie nicht ahnungslos zu ihrer Schwester zurückbringen.
Der Wagen fuhr bergan. Kühle entstieg dem Boden. Die Natur atmete auf nach dem brennenden Sommertag. Allenthalben saßen Menschen vor ihren Häusern, sie gossen ihre Gärten, Kinder spielten vor den Türen. 42
Pero, Pero, tapferer Soldat, geliebter Dichter deines Volkes, auf dem Schlachtfeld hast du dein kostbares Blut vergossen, ein Opfer und Held. Und ich, dein Freund, bin zu feige, es deiner Pave zu sagen.
»Fräulein Pave«, begann er, »es war nicht ohne Absicht, daß wir Sie zu diesem Ausflug eingeladen haben.«
Frau Carolina aber, die die Freundin für heute schützen wollte, rief dazwischen: »Freilich war es nicht ohne Absicht. Immer schon wollten wir Ihnen Lapad zeigen. Es ist doch unser liebster Ort. In Lapad haben wir uns verlobt.« Doktor Kaznačić warf seiner Frau einen bitterbösen Blick zu. Und abermals war es ihm unmöglich, weiterzureden. Stumm fuhren die drei dahin. »Wir kommen schon nach Bellavista, und noch immer weiß sie es nicht, dachte der Mann. Da, gerade an dem Punkte, wo man rechts zum alten Friedhof der Seeleute hinuntersehen kann, kam ein Reiter dem Wagen entgegen. Er grüßte schon von weitem, lüftete seinen hohen grauen Zylinder und lächelte die Freunde strahlend an. Es war ein vielleicht vierzigjähriger Mann mit pechschwarzem Haar, sein geistreicher Kopf mit scharf vorspringender Nase und ein wenig traurig gesenkten Mundwinkeln wirkte häßlich, aber einnehmend.
»Der Conte Zamagna«, rief Pave überrascht. Und das Ehepaar Kaznačić erwiderte höflich den Gruß.
»Guten Abend! Guten Abend!« rief der Reiter und umfaßte mit erstauntem und glücklichem Blick die Gruppe. »Schon auf der Heimfahrt? Ich sehe Sie alle hier guten Mutes! Welche Freude! Also komme ich nicht zu spät!« Er griff in seine Rocktasche und zog einen Brief hervor. »Ein Brief von ihm! Fräulein Pave, das Schiff gestern hat doch einen Brief für Sie gebracht! Ihre Schwester hat mich Ihnen entgegengeschickt, damit Sie ihn keine Minute später als nötig erhalten.«
Die Freunde sahen einander entgeistert an. »Von wann ist der Brief?«
»Nur fünf Tage alt!« Pave hatte den Umschlag aufgerissen und begann sich seligen und glühenden 43 Gesichtes in die Lesung zu vertiefen. Der Reiter hatte das Pferd gewandt und ritt neben dem Wagen her. Er beugte sich zu dem auf dem Rücksitz sitzenden Doktor Kaznačić nieder. »Sie haben ihr noch nichts gesagt? Gottlob! Denn er lebt ja! Das Gerücht war falsch.« Pave sah erstaunt auf. »Was redet ihr da?« fragte sie geistesabwesend. »Pero ist Hauptmann geworden. Im Oktober kommt er, und wir heiraten.«
Aus dem Munde des Arztes brach ein grundtiefer Seufzer der Erleichterung. Seine Frau sah ihn triumphierend an, trat mit ihrem kleinen Fuß auf seinen staubigen Schuh und flüsterte: »Siehst du! Es war doch nicht wahr!« Der Conte Zamagna hatte seinen gerührten Blick auf die den Brief von neuem Lesende gerichtet, er lächelte und flüsterte den Eheleuten zu: »Sie soll überhaupt nichts erfahren. Noch im nachhinein würde ihr das Herz brechen«, worauf August und Carolina nickten.
Sie fuhren über die Bellavista, das Meer lag blau und seidig unter ihnen, die gelblichen Mauern von Ragusa rundeten sich um die herrliche Stadt, aus den Gärten stiegen süße Abenddüfte, Vögel sangen ihr spätes Lied, und Pave sah glücklich vor sich hin.
Eine finstere Wolke, schwanger von allem Bösen, war über sie hingesegelt. Ein Schwert war gezückt gewesen, ihr süßes Herz zu durchbohren. Noch aber war ihr nicht bestimmt, zu leiden. Noch waren alle Schutzgeister aufgeboten worden, Trauer und Tränen von ihr fernzuhalten. Das ängstlich zaudernde Wort auf den Lippen des Freundes, ein verblühter Myrtenstrauch, eine Fasanhenne mit ihrer Brut, eine braune Natter und ein alter hustender Schafhirte, sie alle waren von schützenden Engeln vorgeschickt worden, die Entsetzensnachricht aufzuhalten.
Beschwingten Ganges eilte Pave heim über den jetzt von vielen Schritten hallenden, in Schattenkühle getauchten Stradon. Aus dem Franziskanerkloster strömte Volk, denn die Abendandacht war zu Ende. Heitere 44 Spaziergänger, Mädchen in adretten Kleidern, Bürger, Matrosen, wallten hin und her, dazwischen schritten eilig ein paar hochgewachsene Dominikanermönche mit wichtigen Gesichtern. Von der Blasiuskirche begann jetzt die Angelusglocke zu läuten.
Pave ahnte nichts von dem, was gedroht hatte und abgewendet worden war. Sie lächelte in tiefer Beglückung und hastete, der Schwester die gute Kunde zu bringen.
Noch war ihr Herz beschirmt worden. 45