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Xaver Pangors Schmerz um Lieschen war der starke, urwüchsige des Naturmenschen. Er stand vor diesem Verluste erschreckt wie ein Kind. Und wie ein Kind gab er sich seinen Gefühlen haltlos hin. Er konnte nicht essen, nicht schlafen, nicht arbeiten; weinte, bis ihm die Tränen versiegten. Wie von schwerem Schlage betäubt, blieb er liegen, fand nicht die Energie, sich zu ermannen.
Allmählich, ganz allmählich fing er an zu verstehen, was ihm eigentlich widerfahren sei, wie dieses unerhörte Ereignis sich einordne in die übrigen Erscheinungen des Lebens.
Xaver dachte zurück an die Jahre, die er im Guten und Schlechten mit Lieschen verlebt. Jung war er gewesen, unerfahren, von den Frauen hatte er wenig gewußt. Sie neckten ihn auf der Akademie mit seiner Weiberverachtung. Seine Sinnlichkeit war jene edelste, künstlerische, die, das Gegenteil von Lüsternheit, Genüge findet an der Form und ihrer keuschen Bewunderung.
Aber seine ganze frische, reine, ungebrochene Mannesnatur sehnte sich dennoch nach dem Weibe. Da war sie ihm begegnet. Sie wohnten auf demselben Flur: der Kunstakademiker und die Volksschullehrerin. Lange hatte es gedauert, ehe er die erste Anrede wagte, länger noch, ehe sie ihm Vertrauen schenkte: denn sie waren beide scheue, zurückhaltende, spröde Geschöpfe.
Aber als sie sich endlich zueinander gefunden hatten, dann war das Verhältnis unlösbar, dann wurden sie einander zum Schicksal.
Nun fing er an zu begreifen, was er beweine. Einsam war er geworden, mutterlos, verwaist, obgleich ihm die Eltern noch lebten. Die hatten ihm nur das Leben geschenkt: zum vollen, seiner selbst bewußten Menschen hatte ihn erst die Geliebte gemacht.
Eisig wehte ihn die Luft an aus der Gruft, die nichts zurückgibt. Nachträglich gingen ihm die Augen auf über das, worüber er niemals nachgedacht. Furchtbare Einsicht: Lieschen hatte sich für ihn aufgeopfert. Ihr Leben an seiner Seite hatte vom ersten Augenblicke an nichts anderes bedeutet als: geben und wieder geben. Er sollte glücklich sein, wachsen und groß werden, während sie mit ihrem stillen Lächeln dem Grabe zuschritt.
Wie angedonnert stand er vor dieser Erkenntnis. Er verstand sich selbst nicht mehr, noch sein Tun. Wie konnte man schuldig werden, ohne es zu wissen und zu wollen? –
Sein Atelier war ihm verleidet. Die angefangenen Werke klagten ihn an. Um ihretwillen, weil sie alle seine Gedanken in Bann geschlagen, weil er ihnen seine Liebe geschenkt, hatte er die höchste Pflicht vernachlässigt, die Pflicht, für das zu sorgen, was kostbarer war als alle Kunst.
Darum war seine Kraft jetzt wie gelähmt. Die Reue machte ihn unfruchtbar.
Das Grübeln, die Selbstvorwürfe waren seiner Natur eine fremde Sache. Die Reue erfaßte ihn wie eine Krankheit des Körpers, brachte ihn von Kräften. Jede philosophische Ader ging ihm ab, er vermochte nicht, sein Geschick als etwas Notwendiges, Unabwendbares aufzufassen, sich in erhabener Resignation damit abzufinden. Er sehnte sich vielmehr nach Trost, nach Teilnahme, wollte, wie die Kinder, bedauert sein. Irgendwem mußte er bekennen, daß er sich schuldig fühle. Sich mit diesem Bewußtsein in der Einsamkeit herumzuschleppen, war furchtbar. Menschliche Teilnahme brauchte er, eine Seele, in die er seinen Kummer ausschütten könne.
Er kam daher ganz von selbst zu dem Entschlusse, Jutta Reimers aufzusuchen, als den einzigen Menschen, der außer ihm Lieschen wirklich nahegestanden hatte. Wenn Jutta ihn auch nicht trösten konnte, man würde mit ihr sprechen dürfen, und das war doch schon etwas.
Die Beziehungen, welche ihn ehemals mit Jutta verknüpft, lagen in seinem Gedächtnisse verschüttet unter dem letzten, ihn ganz beherrschenden Ereignisse. Von allem, was das Mädchen ihm bedeutet hatte, war nur übriggeblieben: Lieschens Freundin. Ihre Beziehungen hatten durch den gemeinsamen Schmerz neue Weihe empfangen. Die Erinnerung an die Tote verband sie, wies sie aufeinander hin; wie Menschen, die ein furchtbares Unglück zusammen durchgemacht haben, einander fernerhin nicht mehr fremd sein können.
Gerade das, was Jutta von ihm trieb, zog ihn zu ihr hin.
Daß ihn das Mädchen neulich gebeten hatte, sie nicht aufzusuchen, hatte er schon fast vergessen, weil er den Grund dafür nicht begriffen. Er glaubte an ein Mißverständnis, das leicht zu beheben sein würde.
In der Reimersschen Wohnung, die er zum ersten Male betrat, wurde ihm jedoch gesagt, daß Jutta verreist sei für unbestimmte Zeit. Man konnte oder wollte ihm dort nicht einmal ihre genaue Adresse angeben.
Niedergedrückt durch diese Enttäuschung, begab sich Xaver in Lieschens Wohnung. Er hatte sich noch nicht entschließen können, das Quartier zu kündigen. Alles stand da, wie sie es verlassen. Stunden verbrachte er in dem Raume, kramte in ihren Sachen, träumte an leerer Stätte von dem, was gewesen.
Heute blätterte er in einem Buche, das er ihr selbst einmal geschenkt hatte, suchte nach den Spuren ihrer Blicke darinnen. Da fand er zwischen den Seiten einen Briefbogen, von Lieschens Hand beschrieben, folgenden Inhalts:
»Mein lieber Freund! Nimm Dir's nicht zu sehr zu Herzen! Sieh, wir sind ja so glücklich gewesen miteinander, so glücklich, wie Menschen nur sein können. Ich gehe so gern. Mache mir's Sterben nicht schwer! Wenn ich dächte, daß Du Dich um meinetwillen sehr betrübtest, das würde mir ein Kummer sein. Ich will Dich glücklich wissen, frei und glücklich! Die Erinnerung an mich soll Dich nicht bedrücken, hörst Du! Ich bete für Dich! Und wenn noch etwas übrigbleibt von mir, was empfinden kann, so wird es Dich umschweben. Bleibe groß und gut, mein Geliebter! Gehe Deinen Weg aufwärts! Beglücke und werde beglückt! Mein Segen, der Segen Deiner Geliebten, die Du so glücklich gemacht hast, ist bei Dir auf allen Deinen Wegen.«
*
Xaver entschloß sich, nachhause zu reisen. In Hast verkaufte er eine Anzahl seiner Sachen an einen Kunsthändler. Einem Kollegen ließ er einen Marmorblock, den er daliegen hatte, unter dem Selbstkostenpreise ab, zerschlug eine Menge Formen, Tonmodelle und Gipsskizzen – als wolle er alle Erinnerung auslöschen an früher Geplantes –, schloß sein Atelier ab und wandte der Stadt den Rücken.
Sein Vaterhaus war noch ganz das alte. Hinter dem weit vorspringenden Schindeldache, das an der Bergseite fast bis zur Erde hinabreichte, lag es auf gewölbtem Hange. Dunkelbraun schimmerte das Holz der mächtigen Balken, Träger und Pfosten. Das Grundgeschoß weit überragend, lief die Holzgalerie um das Stockwerk. Wohlversorgt waren die kleinen Fenster mit Läden. Das Dach hatte man vorsorglich mit Steinen beschwert. Denn hier oben, inmitten baumloser Matten, trieben die Winde ein für sie selbst lustiges, für die Anwesen der Menschen aber gefährliches Spiel.
Auch die Bewohner waren dieselben geblieben. Der alte Bauer, ein Hüne von Gestalt, in der Jugend mit Riesenkräften begabt, jetzt durch die Jahre gekrümmt und von mancherlei Gebresten geplagt, die er nicht Herr werden lassen wollte über sich, weil er, rechthaberisch, trotzig und geizig, wie er nun mal war, den Gedanken ans Abdanken nicht vertragen konnte. Seine drei Töchter war er glücklich durch Verheiratung losgeworden. Von den beiden Söhnen war Xaver der ältere. Der jüngere, der sich nun auch schon den Dreißigen näherte, half in der Wirtschaft. Er blieb unverheiratet, weil er kein Nest hatte, wo eine Frau hinführen; die alten Vögel gingen nicht davon herunter. Hansl hieß er und war dem Vater ähnlich im Gesichtsschnitt, wenn auch nicht an Wuchs. Er hatte eine verschlossene, mißtrauische Art; nur der Gedanke an Gelderwerb und Besitz vermochte ihn lebendig zu machen.
Von ganz anderer Art war die Mutter. Ihre freundlichen, phantasievollen Augen blickten noch sehr hell in die Welt. Da sich das Haar zu lichten begann, trug sie eine Haube mit mächtigen Schleifen, am Wochentag von schwarzer, des Sonntags aber von lila Farbe. Darunter erstrahlte mit rötlich gesprenkelten Wangen und rundem Kinn ein frisches, heiteres, gesundes Altweibergesicht.
Xaver war der Liebling seiner Mutter: kein Wunder, denn sein Bestes besaß er von ihr. Nie hatte diese schlichte, derbe Bauernfrau mit hoher Kunst etwas zu tun gehabt, aber doch waren durch sie hindurch Handwerkstüchtigkeit und Formensinn von ganzen Generationen wackerer Meister auf ihn vererbt worden. In ihm hatte sich diese wohlerhaltene, unverfälschte Kraft gesteigert zu etwas Höherem. Wie ein Samenkorn sich zu ungeahnter Größe und Pracht auswächst, weil es auf frischen, kernigen Boden gefallen ist, der ihm aus unbekannten Tiefen ursprüngliche Nährkräfte zuführt.
Die alte Frau war klug; nicht von der Klugheit, die aus Wissenschaft stammte oder Routine, sondern von jener biederen, hellen Aufgewecktheit, die ebensosehr aus dem Herzen wie aus dem Kopfe stammt, die aus den Augen leuchtet und vom Munde sprudelt, an der alle Sinne gleichen Anteil haben.
Sie verstand ihren Jungen. Ihr war er weder durch die Jahre entfremdet worden, die er fern von der Heimat in den Städten zugebracht hatte, noch durch die fremdartigen Sitten, die er sich da angewöhnt, auch nicht durch sein Wollen, das neuen, weit außerhalb ihrer Welt gelegenen Zielen zustrebte. Sie war eben Frau, brauchte gar nicht sehen, fühlen und begreifen, um zu glauben. Sie liebte ihn, und darum traute sie ihm alles Große und Gute zu. Ihr Herz war jung geblieben, trotz ihrer Sechzig: ihre Begeisterungsfähigkeit und Hoffnungsfreudigkeit kannte eine Grenze nicht.
Die Mutter hatte manches um Xavers willen erdulden müssen. Wiederholt bekam sie von dem Bauer zu hören, daß sie Schuld daran trage, wenn aus dem ältesten Buben ein Nichtsnutz werde. War sie es doch gewesen, die mit Hilfe des Herrn Pfarrers dem Alten die Einwilligung abgerungen hatte, Xaver nach der Stadt zu schicken, damit er dort auf der Akademie die Kunst erlerne. Übrigens würde der eigenwillige Mann schwerlich seine Einwilligung dazu gegeben haben, wenn ihm nicht von anderer Seite eingeflüstert worden wäre, daß man durch Künste, wie Xaver sie trieb, reich werden könne. Allein dieser Gesichtspunkt hatte bei dem Geizhals den Ausschlag gegeben. Geld sollte ihm der Bub verdienen: Geld brauchte er, denn sein Hof war von alters her arg verschuldet.
Mit dem Geldverdienen hatte es freilich gute Weile. Verwünschungen gab's und Vorwürfe, wenn Xaver aus der Stadt kam und die erhofften Banknoten nicht mitbrachte. Was nützte ihm der Ruhm des Buben, von dem neuerdings sogar in den Zeitungen zu lesen stand; damit zahlte man keine Hypotheken ab. Xaver war für den Alten eine verfehlte Spekulation.
Was der Vater sagte, redete Hansl nach. Er setzte noch mancherlei hinzu, verleumdete den Bruder als einen, der in der Stadt in Freuden lebe, Geld verprasse, nichts schaffe, und wenn er gar abgebrannt sei, nachhause komme, um sich am väterlichen Tische wieder heranzumästen.
Schwer genug war Xavers Stand von jeher gewesen in der Familie. Einzig die Mutter nahm seine Partei gegen die Mäkelei des Alten und die Mißgunst des Jungen.
Das änderte sich diesmal mit einem Schlage. Als die beiden Männer mal gerade wieder dabei waren, mit plumpen Bemerkungen gegen den »großen Künstler« zu sticheln, der mit seiner Kunst keinen Hund vom Ofen locke, zog Xaver, ohne ein Wort zu verlieren, seine Brieftasche heraus, entnahm ihr eine Handvoll blauer Scheine, legte sie vor den Vater auf den Tisch und bat, das als vorläufigen Ersatz anzunehmen für gehabte Auslagen; später hoffe er noch mehr zu bringen.
Damit war Xavers Stellung in der Familie mit einem Schlage wie umgewandelt. Dem Vater galt er nun wirklich als großer Mann; ja, der Alte empfand von diesem Augenblicke an eine gewisse Ehrfurcht vor seinem Ältesten. Hansl aber mußte wohl oder übel den Mund halten, wenn ihn auch der Neid gegen den Bruder bösartig kitzelte.
Niemand freute sich mehr über diese Wandlung als die alte Mutter. Sie hatte ja nie daran gezweifelt, daß Xaver eines Tages auch daheim anerkannt werden würde. In ihrem mütterlichen Herzen lebten mancherlei geheime Wünsche und verschwiegene Hoffnungen für ihren Liebling. Vor allem wünschte sie ihm eine Frau und sich selbst Enkelkinder.
Früher, wenn sie ihm nach dieser Richtung hin Andeutungen machte, waren seine Antworten ausweichend gewesen. Der Grund, daß er keine Familie ernähren könne, war doch nun hinfällig geworden: er verdiente ja Geld.
Ob er sich die Liebste schon erwählt hatte? Mütter haben in dieser Beziehung feinen Instinkt. Die alte Frau hatte eine Ahnung, als müsse ihr Xaver irgendwie gebunden sein. Aber es war ihrer Neugier niemals geglückt, ihm irgendein Geständnis zu entlocken.
Diesmal nun beschloß die Mutter, Ernst zu machen. Xaver war über dreißig. Es schien hohe Zeit, daß er sich weibe. Wenn er selbst keine Braut brachte, mußte man sich nach einer umsehen für ihn. Und sie hatte auch schon Brautschau gehalten unter den mannbaren Töchtern der Nachbarn und Freunde. Aber da war keine, die ihr gut genug gewesen wäre für ihren Xaver. Der mußte etwas ganz Besonderes haben, das fühlte sie wohl. Eine gewöhnliche Dirn, selbst die schmuckste konnte dem unmöglich genügen. Die alte Frau begriff vollständig, daß der Sohn auch in dieser Beziehung berechtigte Bedürfnisse höherer Art habe.
Dann mochte er sich nur in der Stadt umsehen; sicherlich mußte es doch dort Mädchen geben, die seinen Ansprüchen genügten. Daß eine jede, die er wollte, froh und geehrt sein werde, ihn zum Manne zu bekommen, daran zweifelte sie, als echte Mutter, keinen Augenblick.
Sie stellte den Sohn zur Rede. Xaver bat sie, ihn damit zu verschonen, brachte die alten Ausflüchte vor. Aber die Alte war nicht so leicht abzuschütteln diesmal. Alle Auswege verstellte sie ihm, für jede seiner Entschuldigungen hatte sie einen schlagenden Gegengrund.
Bis sich Xaver entschloß, offen mit der Mutter zu sprechen. Sie sollte alles wissen. Wer auf der Welt konnte ihn verstehen, wenn nicht die Mutter! Sie würde nicht richten, würde verzeihen und begreifen. Vielleicht auch würde sie ein Wort des Trostes für ihn finden.
Und so erzählte er ihr denn alles vom Anfang bis zum traurigen Ende. Die alte Frau hörte schweigend mit gefalteten Händen die Beichte des Sohnes an. Er sah Tränen in ihre Augen treten, Tränen des Mitleids und der Liebe für die Frau, die ihren Sohn so geliebt hatte. Kein Wort des Vorwurfs kam über die Lippen der Mutter, nicht einmal die Frage, warum sie das jetzt erst erfahre.
Xaver hatte die Mutter richtig geschätzt. Tiefes Verständnis fand er bei ihr für sein Herzeleid. Und Trost spendete sie ihm, wie ihn nur eine Mutter zu spenden vermag.
*
Wenn die mütterliche Hand, die lindernd über die seine strich, ihm auch unendlich wohl tat, so blieb das immer nur menschliche Tröstung. Edleren Balsam, weil ewigen Ursprungs, reichte dem Verwundeten die eine große Mutter Natur. Zu ihr, die noch keinen Hilfesuchenden mit leeren Händen von sich gelassen hat, flüchtete sich Xaver.
Tagelang streifte er in den Bergen umher, die Ortschaften und menschlichen Anwesen umgehend, die Wege und Plätze meidend, wo er Eingeborenen oder Helfenden hätte begegnen können. Er kannte ja in der Umgebung des Vaterhauses meilenweit jeden Steg, jeden Berg, jedes Wasser, jede Aussicht. Mit allem und jedem verknüpften ihn Erinnerungen. An jenem Wiesenhange hatte er als Knabe das väterliche Vieh gehütet. Jener groteske Baumstumpf, einstmals eine stolze Tanne, war vor seinen Augen vom Blitze zerschmettert worden, als er vorwitzig das Obdach der Schutzhütte verlassen hatte, um ein Gewitter heraufziehen zu sehen. In jenem weißen Kirchlein da drunten mit dem spitzen, schindelgedeckten Turme stand seine Grablegung Christi, ein Votivbild, das er als Fünfzehnjähriger mit einem einfachen Messer aus Holz geschnitzt hatte.
Mit allem hier war er verwandt, und doch fühlte er sich ein Fremder auf diesem Boden. Ein anderer war er hierher zurückgekehrt, als der er gewesen, da er vor Jahren zum letzten Male in der Heimat geweilt. Von seiner Jugend, von allem, was er bisher erlebt und gesehen, schied ihn eines: sein Schmerz.
Mit veränderten Augen blickte er in die Welt. Die Dinge sprachen eine neue, noch nie vernommene Sprache. Tiefer, bedeutungsvoller, vielsagender war alles geworden.
Die vielen kleinen und kleinlichen Formen der Nähe, die ihn früher verwirrt hatten im Leben, in der Landschaft, wie am Menschen, störten ihn nicht mehr: alles bewegte sich jetzt in großen, freien, kühnen Linien. Ein Grundton ging durch die ganze Schöpfung: die Vergänglichkeit des einzelnen und die Ewigkeit des Ganzen.
Eine gedämpfte Melodie hörte er jetzt, wo er ging und stand, einen Schatten erkannte sein Auge, selbst in dem heitersten, sonnigsten Bilde.
Vergänglich war alles; am vergänglichsten das Glück. Hinter dem Erhabensten, was uns das Leben schenkte, hinter der Liebe, stand einer mit der Knochenhand. Aber wir sehen erst, daß er die ganze Zeit über gelauert hat, wenn's zu spät ist zum Lieben und Beglücken.
Nicht zurückrufen wollte Xaver die Freundin aus der Gruft. Über dieses erste Stadium des Schmerzes war er hinaus. Ihr Leib war dem Tode verfallen und sollte es bleiben. Um ihre Auferstehung würde er nicht gebetet haben, selbst wenn die Erweckung zum Leben in eines Gottes Macht gelegen hätte. Er machte die befremdlichste aller Erfahrungen durch: zu erkennen, daß wir uns an das Totsein des geliebtesten Menschen mit der Zeit gewöhnen, daß wir seinem Nichtsein schließlich Berechtigung einräumen.
Xaver kämpfte tapfer mit diesem Einbrechen des Alltäglichen, Gewöhnlichen in das Heiligtum des Schmerzes. Er haßte den Gedanken, daß Lieschens Andenken diesem Verwittern und Überwachsen und schließlichen Verfallen ausgesetzt sein solle. In seiner Seele sollte sie lebendig bleiben, in seinem Leben ihre Auferstehung feiern. Alles wollte er von sich tun, was ihrer nicht würdig war, jeden Gedanken an ein anderes Weib, jeden Gedanken, selbst an seine Kunst. Sie, nur sie allein, sollte herrschen auf dem Altare, den er ihr errichtet hatte in seinem Herzen, vor dem er täglich in Andacht opferte. So wollte er sich ihr ganz hingeben, ausschließlich ihr leben, gut machen, was er, da sie noch unter Lebenden wandelte, versäumt hatte.
Stundenlang konnte er am sonnenbeschienenen Berghange liegen, dem Brausen des unsichtbaren Wasserfalles in der Tiefe lauschen, die Wolken frei und leicht über sich ziehen und ihre Formen wie aus eigener Kraft und Phantasie sich verwandeln sehen, das Spiel der Lichter auf den jenseitigen Hängen über Wald, Felsen und Abgründen beobachten, die Insekten belauschen, die Schmetterlinge und Vögel, die Blumen bewundern, die Gräser und Moose in ihrer unschuldigen Pracht. Und alles führte ihn zurück zu ihr; sie war in diesem allem. Ihr Schicksal war das der ganzen Welt. Alles was lebte, lebte der Liebe, und hinter allem kam ein Schatten: Tod.
Er konnte ihr Geschick nicht mehr beklagen. Es war nicht grausam, es war natürlich, ja es war gut so. Das Ewige ihrer Erscheinung lebte ja weiter. Sie brauchte nicht tot sein; es kam nur auf ihn an, ob sie lebe.
Von jetzt ab würde er sie sehen, gereinigt von allem Zufälligen, zur edelsten Form vergeistigt, in jeder Erscheinung. Jeder glückliche Augenblick, jede noch so flüchtige Schönheit, würde ihm ihre verklärten Züge zeigen.
Klarer und klarer wurde ihr Bild für ihn. Er glaubte sie schließlich zu sehen, so wie Gott sie gewollt hatte: ein Wesen, ganz Güte, ganz Hingebung, das lächelnd ins Grab stieg, dessen letzter Hauch Liebe gewesen war.
Er ließ das Bild völlig in sich ausreifen. Strich für Strich, Zug um Zug wuchs es empor, von selbst gleichsam; er tat nichts dazu. Bis es schließlich groß, einfach und klar vor ihm stand, würdig des einzigen Wesens, dessen Monument es werden sollte.
Als es nun aber so weit war, als er fühlte, jetzt sei der Prozeß des Empfangens, des heimlichen Heranwachsens zur Reife gelangt, da wollte der Künstler auch nicht länger seine Hände zurückhalten, greifbar zu machen, was zitternd vor ihm stand und um Leben bat.
Da eilte er nach München zurück in sein Atelier. Denn jetzt würde er das gestalten, was draußen im Anblick der Berge und Wolken und Blumen in ihm herangewachsen war: Lieschens Denkmal.