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Es war wie eine Befreiung für Jutta, als Bruno sich endlich anschickte, zu reisen. Die Trennung würde ihnen beiden gut tun. Vielleicht würde sich in seiner Abwesenheit manches zurechtrücken, sie selbst das richtige Verhältnis finden zu ihm. In dieser Stimmung wurde sie weicher, warmherziger und zugänglicher. Und Bruno konnte, der besten Hoffnungen voll, Abschied nehmen von seiner Braut.
In diesem Winter führte Jutta ein völlig zurückgezogenes Leben. Niemand erwartete oder verlangte von ihr, daß sie ausgehe. Sie war ja verlobt und sollte im Frühjahr heiraten. Eine Braut aber ohne Bräutigam erscheint in Geselligkeit wie ein halbes Ding.
Professor Wälzers Malklasse besuchte sie auch nicht mehr. Die Lust war ihr vergangen an der Malerei. Farbentuben, Palette, der ganze Apparat lag unausgepackt, wie sie die Sachen im Sommer von ihrem Ausflug zurückgebracht hatte.
Ihr Vater erinnerte sie halb im Scherz, halb im Ernst daran, daß man nun anfangen müsse, sich um die Ausstattung zu kümmern. Jutta hatte damit keine Eile. Anders geartet als manche andere Braut, interessierte es sie sehr wenig, wie sie ausgestattet, wie sie eingerichtet sein würde.
Herr Reimers nahm die Tochter mit in allerhand modische Geschäfte, ließ ihr Muster vorlegen und Stoffe. Sie stand den Sachen ratlos gegenüber. Schließlich bat sie den Vater, nur alles nach eigenem Ermessen auswählen zu wollen.
Der wunderte sich über das Mädel, das in anderen Dingen doch meist nach dem eigenen Kopfe ging. Mit dem Auswählen einer Ausstattung für die Tochter war es eine eigene Sache. In manchen intimeren Fragen der Hauswirtschaft oder auch der Frauentoilette war man doch nicht Kenner genug. Da bedurfte man weiblichen Rates. So wandte er sich denn wieder mal an die allezeit willige Vally Habelmayer, mit der er noch immer gut zu Fache gekommen war.
Fortan sah man den stattlichen Herrn Reimers, dessen Bart bereits stark ins Graue zu spielen begann, mit der üppigen Vally von Geschäft zu Geschäft ziehen. Und die neckischen Bemerkungen und vertraulichen Späße wollten bei solcher Gelegenheit zwischen den beiden kein Ende nehmen.
Eine große unerwartete Freude wurde Jutta noch im Anfang des Winters zuteil; ihre Freundin Lieschen Blümer kehrte von Paris nach München zurück. Sofort lebte der Verkehr zwischen den beiden in alter Lebhaftigkeit wieder auf.
Es war Lieschen anzusehen, daß die Zeiten, die sie durchgemacht hatte, keine leichten gewesen seien. Die Schatten um die schönen Augen des Mädchens waren tiefer geworden. In dem einstmals schwarzen Haar zeigten sich silberne Fäden. Die Stirn war nicht mehr glatt; aber das feine Gesicht von milchzarter Farbe hatte mit seinen Kinderlippen genau den innigen, ein wenig melancholischen Zauber von vordem. Auch jenes eigenartige Lächeln, das dem Weinen so nahe verwandt schien, war noch das alte.
Der Bildhauer Pangor war nicht mit ihr gekommen. Er hielt sich bei seinen Eltern im Hochgebirge auf, zur Kräftigung seiner Gesundheit. Von dem schweren Nervenfieber, das ihn nahe an den Rand des Grabes gebracht, war er dank Lieschens aufopfernder Pflege genesen.
Lieschen Blümer stürzte sich, sobald sie angekommen war, Hals über Kopf in die Arbeit. Pangors Krankheit und das Leben in Paris hatten das Geringe, was die beiden sich verdient, verschlungen. Lieschen dachte nicht mehr daran, Professor Wälzers Malklasse zu besuchen. Sie kopierte jetzt in der alten Pinakothek einen Rubens für einen Händler, der nach Amerika lieferte.
Die beiden Mädchen hatten während ihrer Trennung in Briefwechsel gestanden, waren also über ihre beiderseitigen Erlebnisse unterrichtet. Lieschen kam erst nach München, als Juttas Bräutigam bereits abgereist war. Sie hatte natürlich eine Menge Fragen auf dem Herzen, das Glück der Freundin betreffend. Aber Jutta war in dieser Beziehung nicht sehr mitteilsam. Sie wunderte sich manchmal selbst, wie wenig es sie drängte, von Bruno zu erzählen. Beim besten Willen vermochte sie kein lebhaftes charakteristisches Bild von ihm zu entwerfen. In der Erinnerung kam ihr seine Persönlichkeit so verschwommen, so unwesentlich vor.
Brunos Briefe, die zahlreich waren und lang, trugen auch nicht dazu bei, ihr sein Bild zu verdeutlichen. Sie saß oft davor und fragte sich, was er von ihr wolle, was dieser Aufwand von pathetischer Umständlichkeit eigentlich solle. Ihre Briefe fielen im Gegensatz zu den seinen äußerst kurz aus.
Zu Neujahr kam Pangor. Lieschen hatte Atelier und Wohnung für ihn gemietet. Sie selbst blieb in ihrem äußerst beschränkten Dachstübchen wohnen.
Jutta war voll Begier, den Mann kennenzulernen, den ihre Freundin über alles liebte und mehr bewunderte als sonst irgendeinen Menschen auf der Welt.
Inzwischen hatte Jutta auch Lieschens Geheimnis erfahren: daß sie ein Kind besessen und verloren habe. Das junge Mädchen war nicht in dem Maße betroffen davon, wie Lieschen Blümer erwartet hatte. Nur noch bewunderswerter, geweihter erschien die Freundin für Jutta, da sie das höchste Glück und den gewaltigsten Schmerz des Weibes durchgekostet hatte. Jutta überraschte Lieschen durch die Bemerkung, daß sie etwas Ähnliches im stillen längst vermutet habe. Seit dieser Aussprache war die Sympathie zwischen den beiden noch tiefer begründet als zuvor.
Die Bekanntschaft mit dem Bildhauer Xaver Pangor brachte für Jutta nicht gerade eine Enttäuschung, aber was sie erwartet hatte, fand sie auch nicht in ihm verkörpert. Sie hatte sich einen von Geist und Genialität gleichsam sprühenden Menschen gedacht, einen Mann, dem man den großen Künstler auf den ersten Blick ansehe, eine berückende, vielleicht dämonische Persönlichkeit.
Er war ein zurückhaltender Mensch, ein wenig unbeholfen und scheu beinahe. Merkwürdig genug kontrastierte solches Wesen mit seiner hohen, männlichen Gestalt. Man sah ihm den Bauernsohn an; muskulös und ausgearbeitet waren die Gliedmaßen. Nun kam er gerade aus seiner Heimat, wo er sich neue Kraft geholt hatte in der starken Bergluft. Der Abglanz der Firne lag auf seiner wie altes Metall eingedunkelten Haut. Die Stirn, in der Mitte durch eine Falte geteilt, sprang vor wie ein Helm und schützte gleichsam die tiefliegenden Augen. Ein Paar starke Backenknochen lagerten sich wie Hügel zwischen die kräftige Nase und die entwickelten Ohrmuscheln. Der Mund mit schönen Zähnen wurde in seinen feineren Linien versteckt durch den blonden Vollbart. Den Künstler konnte man schließlich nur an den ungemein wandlungsfähigen, bald träumerischen, bald scharf beobachtenden Augen erkennen.
In seiner schlichten Kleidung war Xaver Pangor ganz der Alpensohn geblieben. Man sah ihn nie anders als im Lodengewande. Seine Kleider schienen zu ihm zu gehören und er zu ihnen. Diese Kleider waren so eigenartig in ihrem Schnitt, hatten von ihrem Träger soviel Individuelles angenommen, daß sie seinen Körper wie eine durchaus natürliche zweite Haut umschlossen.
Zur Kunst hatte Xaver frühzeitig ein Verhältnis gewonnen. Sein Vater zwar war ein echter und rechter Bauer, aber von mütterlicher Seite her stammte er aus einer Familie, die seit Generationen bereits in schlichter Kunstübung ihren Lebenserwerb gefunden hatte. Kruzifixe, Leuchter, Heiligenbilder, Kanzeln, Altäre, ungezählte profane wie kirchliche Gegenstände waren aus der Werkstätte dieser bäuerlichen Künstlerfamilie hervorgegangen, schmückten ringsum die Kirchhöfe, Kapellen, Dorfkirchen, Kalvarienberge oder standen als »Marterl« irgendwo am Kreuzwege.
Xaver war bei dem Bruder seiner Mutter, einem Schreiner, in die Lehre gegangen. Manchen Sarg, manches einfache Möbelstück hatte er zusammengefügt. Aber früh schon war in ihm der Trieb erwacht, das einfache Handwerk zu veredeln; Zierat anzubringen, Bildwerke statt nützlicher Geräte zu formen. Die Vorbilder dazu nahm er sich, wo er sie fand: aus der Natur, von den paar Kunstwerken benachbarter Kirchen, aus der Bücherei des Pfarrers, die ihm zugänglich war. Bald genügte ihm das spröde Holz nicht, er griff zu anderem Material für seine Entwürfe, zu Ton, Metall, schließlich zum Stein.
Die Werke, die seine ungeschulte Hand schuf, roh und unbeholfen, waren doch so ungewöhnlicher Natur, daß sie selbst in der ländlichen Umgebung ein gewisses Aufsehen erregten. Sein Vater, von dem er abhing, hatte zwar von dem großen Wollen, das sich in den Entwürfen seines begabten Sohnes aussprach, nicht den geringsten Respekt, immerhin war der alte Bauer pfiffig genug, um zu vermuten, daß man mit solchen Gaben unter Umständen Geld verdienen könne. In den Städten waren die Menschen ja verrückt genug, um an Figuren, wie sie der »Bub« schnitzte und meißelte, Gefallen zu finden und Geld dafür auszugeben. Die Mutter, nicht gebildeter als der Bauer, aber weitherziger und feinfühlender, ahnte, daß in ihrem Lieblingssohne Xaver wohl eine Art Sonntagskind stecke. Der war zu großen Dingen bestimmt vom lieben Gott. Auch der Herr Pfarrer meinte das; er setzte der Familie gelegentlich auseinander, daß die Kunst, welcher der junge Xaver obliege, nichts Geringes oder Verwerfliches sei, da sie der Ehre Gottes diene.
Kurz, nach längerem Hin-und-her entschloß sich die Familie, Geld zusammenzulegen und Xaver nach München zu schicken auf die Akademie.
Dort kam er in die Hände eines Lehrers, der in ihm den Künstler aus seinen rohen Ansätzen befreite, ihn aus einem nach Gestaltung Ringenden zu einem Gestalter machte.
Der Vater daheim hatte geglaubt, daß es mit dem Verdienen schneller losgehen würde; auf ein jahrelanges Studium, das Geld kostete, statt welches einzubringen, war er nicht gefaßt gewesen. Xavers Zuschuß war sehr knapp, aber mit Hilfe seiner Lehrer, die ihm Stipendien, Freitische und dergleichen verschafften, schlug er sich durch.
Nachdem er die Lehrzeit durchlaufen hatte, suchte er als selbständiger Künstler in der Isarstadt festen Fuß zu fassen. Aber die Aufträge kamen nicht zu ihm, und um auf Lager zu arbeiten, fehlten ihm die Mittel. Schund herzustellen für den Händler, womit mancher seiner Kollegen das Leben zu fristen verstand, erlaubte ihm sein künstlerischer Stolz nicht.
In dieser schwierigsten Periode des Lebens, die wir alle einmal durchmachen, wo wir am rauschenden Strome stehen, durstig, und doch nicht trinken dürfen, weil das Wasser sich vor uns zurückzieht, sobald wir uns danach bücken; in dieser Zeit, wo so mancher scheitert oder seinen Grundsätzen ungetreu wird, fand Xaver Pangor die Geliebte.
Lieschen Blümer, selbst arm und mit dem Leben ringend, gab ihm alles, was sie hatte, zu eigen. Äußerlich wuchs dadurch nur beider Armut und Elend, sie kam um ihre Stellung.
Aber Xaver gewann unendlich viel. Ohne daß er es wußte, vollbrachte sie das große, ewige Werk des Weibes an ihm, machte den Mann zum Menschen. Den halb Zivilisierten zähmte sie, nicht bloß äußerlich in Sitten. Jene innere Reinigung von allerhand Schlacken, die so zähe sind, daß sie nur im stärksten aller Feuer, der Liebe, schmelzen, widerfuhr auch ihm. Und dem Diamanten seiner Kunst gab diese feine Hand erst die letzte Facettierung. Dabei war Lieschen Blümer keineswegs Künstlerin von Anlage, aber sie war unendlich mehr: ein fühlendes, mit dem Herzen denkendes Weib. Das Beste, was Xaver besaß, verdankte er ihr; sie erst hatte seinen inneren Reichtum zutage gefördert.
Im Alter waren sie ungefähr gleich. Aber Lieschen machte in Erscheinung und Wesen den fertigeren Eindruck. Ihm haftete, seiner männlichen Gestalt zum Trotze, immer ein wenig vom großen Jungen an.
Wenn Lieschen mit Xaver zusammen war, verstärkte sich unwillkürlich der mütterliche Zug ihres Wesens. Für die übrige Welt war sie dann wie verschlossen; die Sorge um ihn beherrschte sie ganz. Wenn er kam, hellten sich ihre Züge auf, ihr Auge leuchtete, nichts mehr von versteckten Tränen war dann in ihrem Lächeln zu finden. Man sah es, Lieschen Blümer war in ihrem eigensten Element, wenn sie Liebe betätigen durfte, ohne dem glich sie einem Fisch auf dem Trockenen.
Jutta fing erst an, die Freundin zu verstehen, seit sie sie mit Xaver sah. Wunderliche Gefühle wollten das junge Mädchen beschleichen. Es war die erste Liebe, deren Zeuge sie wurde, das erste Verhältnis zwischen zwei Menschen, das diesen hehren Namen verdiente. Vieles dabei war für Jutta befremdend, neu, unverständlich. Die beiden legten nichts von der äußeren Zärtlichkeit an den Tag, mit der sonst Liebende ihre Neigung füreinander zu betätigen pflegen. Keine Küsse, keine Umarmungen, keine verliebten Neckereien! Aber dafür herrschte Innigkeit zwischen ihnen, zarte Rücksichtnahme, ein gegenseitiges Verstehen und Ineinanderaufgehen.
Und diese Leute waren nicht durch das Band der Ehe miteinander verbunden.
Jutta war von ihrer Umgebung her gewöhnt, daß man derartige Verhältnisse als höchst unmoralisch verwarf und mit den häßlichsten Namen brandmarkte. Sie war sich klar darüber, daß ihr Vater zum Beispiel ihr niemals gestattet haben würde, mit Lieschen umzugehen, wenn er von ihren Beziehungen zu dem Bildhauer Kenntnis gehabt hätte.
Auch Jutta machte sich im stillen Gedanken darüber, warum eigentlich diese beiden nicht heirateten. Es schien ihr so einfach, so wünschenswert. Eine ganz andere Stellung hätte Lieschen dann gehabt, hätte mit ihm leben können. All das Unklare, was jetzt ihrem Verhältnisse anhaftete, wäre alsdann mit einem Schlage beseitigt gewesen.
Doch brachte es Jutta niemals übers Herz, Lieschen nach diesen Dingen zu fragen. Die Freundin fing eines Tages ganz von selbst davon an.
Sie hatten von Xaver gesprochen. Jutta wußte, daß Lieschen an ihn als an einen großen Künstler glaubte. Wieviel davon auf Rechnung der Liebe zu setzen sei, konnte Jutta nicht beurteilen, da sie noch nichts von seinen Werken gesehen hatte.
»Oh, wenn es ihm doch endlich glücken wollte!« rief Lieschen. »Daß er nun endlich durchdränge, damit alle erkennten, wer er ist und was er kann! Ich verstehe nicht, daß die Menschen es gerade ihm so schwer machen wollen, an ihre Herzen heranzukommen. Seine Werke sind doch so groß, so innig, so aus der Tiefe herausgeholt! Noch nie, glaube ich, hat ein Künstler so ringen müssen, um durchzudringen. Er ist so voll Kraft, voll Schaffensdrang, voll neuer Hoffnung von zuhaus zurückgekehrt. So habe ich ihn noch nie gesehen! Der Anblick seiner Berge hat ihn gestärkt. Er bringt immer Großes zurück vom Vaterhause. Xaver braucht diese Berührung mit der Mutter Erde. Seine besten Entwürfe, seine größten Pläne wurzeln dort.«
Lieschen schwieg. Jutta kannte diesen freudetrunkenen Ausdruck an ihr. So blickte sie, wenn sie von ihm sprach.
»Bist du denn einmal mit ihm gewesen, dort?« fragte Jutta. »Hat er dich mit den Seinen bekannt gemacht?«
Lieschens Züge verdüsterten sich. Es tat Jutta leid, die Frage gestellt zu haben.
»Weißt du, Jutta, es wird dich wundern, das zu hören: ich bin noch nie bei seinen Eltern gewesen, kenne niemanden von den Seinen, nicht einmal Xavers Mutter. Es sind einfache Bauersleute, der Vater ist wohl auch etwas eigen. Xaver soll Geld verdienen, vor allem Geld! Vater und Bruder werfen ihm häufig vor, daß er viel kostet und nichts ins Haus bringt. Seine gute Mutter kann gegen die Männer nichts machen. Es sind sehr schwierige Verhältnisse für ihn; und wenn er mich da hineinbrächte, dann würde alles noch viel, viel schlimmer werden. Damit darf er um keinen Preis auch noch belastet werden! Der Arme hat so schon zu kämpfen mit allerhand Mißgunst und Mißverstehen fremder Menschen. Ich will ihn nicht auch noch mit den Seinen verfeinden. Die Heimat ist schließlich immer noch seine letzte Zuflucht gewesen, seine Rettung in Not. Ins Vaterhaus flüchtet er sich, wenn's ihm zu arg wird draußen in der Welt. Das will ich ihm nicht rauben! Er wäre wie ein entwurzelter Baum, wenn man ihn von der Heimat trennte. Und daß das geschehen würde, wenn er mich heimführte, weiß ich besser, als er es weiß. Niemals würden mich die Seinen für voll anerkennen. Wir stammen aus verschiedenen Welten. Nur wenn ich Geld mitbrächte, möchten sie vielleicht entschuldigen, daß ich so anders bin als sie. Verstehen würden sie mich niemals, und darunter müßte er leiden. Er würde dann meine Partei nehmen, sich zu mir stellen, um meinetwillen brechen mit den Seinen; das soll er nicht, das will ich nicht! Lieber mag alles so bleiben wie es ist! Mögen die Menschen schlecht von mir denken! Er soll nicht leiden! Er soll nicht aus seiner Bahn geworfen werden! Denn siehst du, Jutta, er ist ein Künstler. Er ist noch im Wachstum begriffen, die ganze Zukunft liegt vor ihm. Mein Geschick ist längst erfüllt. Ich habe mit ihm gelebt, bin durch seine Liebe glücklicher gewesen als irgendeine andere Frau. Sollte ich mich ihm dafür, daß er mir das Höchste geschenkt hat, nicht dankbar erweisen? Ich muß ihm die Steine aus seinem Wege räumen. Aber ich darf mich ihm nimmermehr selbst in den Weg legen. Denke nur nicht, daß er egoistisch ist! Wirf ihm nicht Berechnung vor oder Rücksichtslosigkeit! Dann kennst du ihn schlecht! Wie oft hat er mir die Ehe angeboten! An ihm liegt es nicht, wenn wir vor dem Gesetze nicht verbunden sind. Ich bin es, ich allein, die nicht gewollt hat. Wäre das Kindchen damals am Leben geblieben, ja dann, vielleicht; dann hätte ich's getan! Ich kann ihm ja etwas sein, auch so! Und darauf allein kommt es doch an!«
Lieschen hielt einen Augenblick inne. Sie lächelte in sich hinein. Dann sagte sie mit leicht zitternder Stimme: »Ich würde für Xaver alles tun, alles hergeben, alles auf mich nehmen, wenn ihm damit geholfen würde, wenn es ihm wirklich frommte. Nie aber möchte ich etwas tun, was ihn belasten könnte. Eine gewisse Fessel würde ihm die Ehe doch auferlegen. Seine Liebe würde dann nicht mehr ein freies Geschenk sein, das mich immer wieder wie eine köstliche Überraschung ergreift. Es könnte der Augenblick kommen, wo ihm die Liebe zur Angewohnheit würde – oder – wo er mich aus Mitleid liebte. Dann wäre alles aus!
Lieber sterben, als aus Liebe Großmut werden sehen! Unerträglich ist der bloße Gedanke, wenn man so geliebt worden ist wie ich.
Vor allem aber kein Mitleid! Denn Mitleid ist das Grab der Liebe.«