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Von Kurt waren in letzter Zeit schlechte Nachrichten gekommen, nachdem es eine Zeitlang geschienen, als wolle das Klima von Nordafrika doch noch ein Wunder an ihm verrichten. Schließlich traf eines Tages die Depesche ein, welche seinen Tod mitteilte.
Hart wurde von diesem Falle eigentlich nur der Vater betroffen. Für Jutta war es doch nicht viel mehr als ein augenblicklicher Schreck, ein in Wehmut schnell verblassendes Bemitleiden des armen Bruders, der so jung hatte Abschied nehmen müssen vom Leben.
Reimers senior aber hatte eine teure Hoffnung begraben mit diesem Sohne.
Es war das erste wirkliche Unglück, das auch als solches empfunden wurde, welches den Mann ereilte. Der Kelch der Lebensfreude, an dem er sich leichten Herzens erlabt hatte, bekam einen bitteren Beigeschmack. Nicht bloß in seiner Vaterliebe war er verwundet; für Leute seines Schlages hat der Tod an sich etwas Erschreckendes. Sie fühlen sich in ihrer Sicherheit erschüttert und finden sich in der Rolle des Leidtragenden schwer zurecht.
Reimers alterte in den Wochen, die dem Tode seines Ältesten folgten, zusehends. Schlaf und Appetit flohen ihn: er änderte Gewohnheiten und Liebhabereien. Seine Stammtischbrüder und Klubgenossen kannten sich nicht mehr aus mit ihm: so war die Laune des sonst gesprächigen, jovialen, nie um einen Witz oder eine Anekdote verlegenen Mannes ins Gegenteil umgeschlagen.
Eine Sorge kam hinzu, mehr geschäftlicher Natur: von jeher war Kurt dazu ausersehen gewesen, einstmals Chef der Firma Reimers und Knorrig zu werden. Dieser schöne Plan sank mit Kurt ins Grab. Wer sollte ihn ersetzen?
Der Gedanke, daß der Sohn des Kompagnons das Haus vertreten solle, welches seine Blüte doch schließlich seiner, Reimers', Initiative verdankte, war für den alternden Mann im höchsten Grade peinlich, ja geradezu unerträglich.
Seine Hoffnung blieb jetzt nur noch der zweite Sohn. Zwar Eberhards Studium war Medizin, und er hatte schon eine ganze Menge Zeit darauf verwandt: aber der Junge war schließlich nicht so alt, um nicht mit Erfolg umsatteln zu können. Reimers senior konnte sich nicht denken, daß ein vernünftiger Mensch den mühevollen, ärztlichen Beruf nicht leichten Herzens mit dem freieren und vor allem einträglicheren des Großkaufmanns vertauschen sollte.
Er schrieb in diesem Sinne an Eberhard. Die Antwort, die auf den Brief einlief, war für Reimers eine arge Enttäuschung.
Eberhard erwiderte, daß er gar nicht daran denke, umzusatteln. Ob denn der Vater meine, daß man seinen Beruf wechsle wie einen Rock! Zum Kaufmannspielen fühle er weder Neigung noch Begabung, während er seinem medizinischen Studium mit Leib und Seele ergeben sei. Im übrigen wäre es ganz überflüssig, darüber weiter zu verhandeln, da sein Entschluß unerschütterlich feststehe, zu bleiben, was er sei.
Mehr noch als der Inhalt, war es der Ton, in dem dieser Brief gehalten, der wegwerfende, kalte, nahezu feindliche Ton, der den Vater befremdete. Reimers senior meinte, daß er das nicht um den Jungen verdient habe.
In dieser Stimmung fand ihn ein Vorschlag, den ihm sein Kompagnon machte, und der wie alles, was der alte Knorrig sich ausdachte, nicht unpraktisch war.
Knorrig senior schlug nämlich vor, man möchte doch, um auch für die nächste Generation die Verbindung von Reimers und Knorrig sicherzustellen, aus Jutta und Bruno ein Paar machen. Ziffernmäßig setzte er dann auseinander, was für Vorteile daraus erwüchsen, wenn das Geld, welches Jutta mal als Mitgift bekäme, nicht nach auswärts gehe, sondern im Geschäft bleibe. Auch deutete er an, daß Bruno, der an sich schon eine schätzenswerte Stütze des Hauses sei, voraussichtlich mit erhöhtem Eifer arbeiten werde, wenn er durch Juttas Hand Aussicht habe, einstmals alleiniger Chef des Hauses zu werden. Und wiederum würde durch Jutta die Verbindung des Geschäfts mit der Familie Reimers für absehbare Zeit aufrecht erhalten.
Die Richtigkeit der Kalkulation leuchtete Herrn Reimers ein. Allerdings, den zukünftigen Schwiegersohn hatte er sich etwas anders gedacht. Bruno Knorrig schien ihm doch etwas hausbacken für seine Jutta. Aber auf der anderen Seite war Solidität eine nicht zu unterschätzende Tugend an einem Manne, dem man seine Tochter anvertrauen sollte. Jutta war noch jung. Wenn man sie jetzt vergab, sparte man sich Mühe und Sorge und ging vielleicht unangenehmen Überraschungen aus dem Wege. Daß ihr Herz noch frei sei, glaubte der Vater zu wissen. Im Laufe des vorigen Winters, wo er sie in Gesellschaft geführt, hatten sich ihr zwar einzelne Herren genähert: aber etwas Ernsteres hatte sich aus solcher Courmacherei nicht entsponnen.
Je länger sich Reimers den Plan bedachte, desto mehr gewann er seinen Beifall.
Nachdem sich die Väter über das Glück ihrer Kinder geeinigt hatten, beschlossen sie, daß weder Jutta noch Bruno von dem Geplanten zunächst etwas erfahren sollten. Junge Leute gingen häufig auf das, was ihnen von den Alten wohlmeinend vorgeschlagen wurde, gerade nicht ein. Besser, man schaffte ihnen Gelegenheit, sich zu sehen: das übrige würde sich dann wahrscheinlich von selbst finden.
Die warme Jahreszeit war angebrochen, und Herr Reimers ging, wie alljährlich, für einige Monate auf Sommerfrische ins Gebirge. Diesmal hatte man sich Berchtesgaden ausersehen zum Standquartier, von wo aus weitere Ausflüge in die Berge hinein geplant waren.
Knorrigs Vater, der sonst meist in München oder seiner nächsten Umgebung geblieben war, fühlte in diesem Sommer auf einmal das Bedürfnis nach Bergluft. Auch er mietete sich in Berchtesgaden ein.
Jutta war von dem Plane entzückt. Auf diese Weise würde sie doch endlich mal erreichen, was sie solange ersehnt hatte: Aufnahmen im Freien machen zu dürfen. Im vorigen Sommer war sie ja nicht dazu gekommen. Und dabei hatte ihr Professor Wälzer wiederholt gesagt, daß ihre Malweise nicht luftig, nicht sonnig genug sei: ihren Sachen merke man viel zu sehr das Atelierlicht an, in dem sie gemalt seien.
Das war eine Scharte, die ausgewetzt werden mußte!
Was lohnte sich mehr zu Aufnahmen als das Gebirge mit seinen charakteristischen Formen, seinen klaren Lüften, seinen warmen Farbentönen und seiner kräftigen Vegetation! – Sie wollte tüchtig arbeiten, alles nachholen, was sie vordem versäumt hatte, und nahm zu diesem Zwecke einen großen Vorrat von Leinwand, Farbentuben, Pinseln und sonstigen Malutensilien mit auf die Reise.
Man wohnte in einem vom Orte etwas abgelegenen, villenartigen Hause. Hotel oder Pension aufzusuchen, hatte Herr Reimers vermieden, um nicht mit Fremden zusammenzukommen. Jutta zog jeden Morgen aus, mit Hocker, Staffelei, Malschirm, Palette und Farbenkasten bewaffnet. Der Vater begleitete sie. Wenn sie an der Arbeit war, warf er sich nicht weit davon ins Gras und vergrub sich in Zeitungen, deren er stets ein großes Paket bei sich hatte. Die Mahlzeiten nahm er gemeinsam ein mit Vater Knorrig. Die beiden Herren sprachen dann entweder von Politik oder vom Geschäft: weder dem einen noch dem anderen Thema vermochte Jutta Geschmack abzugewinnen.
Eines Tages hieß es, Bruno werde in der nächsten Zeit erwartet. Auf Jutta machte diese Nachricht keinen tieferen Eindruck. Sie hatte den jungen Menschen seit jenem Kostümfeste, wo er ihr als »rettender Engel« dienen mußte, zwar öfters wiedergesehen, aber eine ähnliche Bevorzugung, wie an dem Abende, hatte sie ihm nicht wieder angedeihen lassen.
Bruno kam. Seine Tracht war diesmal glücklicher gewählt als das blaue Trikot, das er bei jenem denkwürdigen Kostümfest getragen. Er trat in einem flotten Touristenanzuge auf, der ihm nicht schlecht stand. Bruno hatte sich im Auslande stark verändert: sein unreiner Teint war unter dem Einflusse der Tropensonne einer gleichmäßigen Bronzefarbe gewichen. Den ehemals struppigen Bart trug er jetzt modisch gestutzt. Der ganze Mann sah fertiger aus, war mehr ins Gleichgewicht gekommen.
Auch nachdem Bruno da war, ging Jutta tagein, tagaus ihren Malstudien nach. Ja, ihr Eifer schien sich zu verdoppeln. Nur bei den Mahlzeiten sah man sich für kurze Zeit. Alle Versuche der beiden Väter, die Sitzungen am Eßtisch auszudehnen, einen gemeinsamen Ausflug daran zu schließen, scheiterten an Juttas Erklärung: sie sei zum Arbeiten hier und nicht zum Bummeln. Bruno mochte die interessantesten Dinge von drüben erzählen, glühende Naturbeschreibungen geben, Abenteuer berichten, die er angeblich erlebt hatte, das Mädchen horchte nur mit halben Ohren hin. Ihr Lächeln, ihre traumverlorenen Blicke galten etwas ganz anderem, Besserem: ihrer Kunst.
Sie schrieb in dieser Zeit an Lieschen Blümer, daß sie zum ersten Male in ihrem Leben wirklich glücklich sei. Sie wisse nun, daß sie etwas könne, sie fühle, wie sie täglich weiter vorwärts komme. Dieses Bewußtsein, dieses Erleben des eigenen Wachstums, sei etwas Herrliches. Sie sehne sich nach nichts anderem.
Als Regenwetter eintrat, das nach Ansicht der Wetterkundigen nicht sobald aufhören werde, schöpften Reimers senior und Vater Knorrig neue Hoffnung. Aber das Mädchen schlug ihren Erwartungen wiederum ein Schnippchen. Sie benutzte die schlechten Tage, wo an ein Draußensitzen nicht zu denken war, ihre Studien, von denen sie nun schon eine ganze Anzahl beisammen hatte, im Zimmer von neuem vorzunehmen, zu korrigieren, wo es nötig war, auszuführen, kurz in Wert zu setzen.
Das Unglück wollte, daß Bruno Knorrig von allem anderen mehr verstand als von der Malerei. Es wurde ihm hin und wieder gestattet, sich Juttas Arbeiten anzusehen. Dann brachte er allerhand aufgeschnappte und nicht immer richtig verstandene Ausdrücke vor, wie: »ausgezeichnet flotter Vortrag! Echtes plein air! Großartig abgetönt in den Farben!« und so weiter. Redensarten, welche die Malerin anfangs belustigten, mit der Zeit aber doch langweilten und verdrossen. Sie ließ ihm, als er es sich angewöhnte, öfters zu kommen, deutlich merken, daß sie bei der Arbeit ungestört zu sein wünsche.
Die Aussichten auf Erfüllung des von den Vätern weise eingefädelten Planes waren also vorläufig ziemlich gering. Nur etwas wurde erreicht – und das hatte sich ohne Zutun der beiden Alten vollzogen – Bruno war bis über die Ohren verliebt in Jutta.
Es war das eigentlich nur ein Wiederaufleben alter Gefühle. Jutta hatte bereits im Backfischalter dem Freunde ihres Bruders das Blut in Wallung versetzt. Aber damals war es nichts Tieferes gewesen als jene verfrühte Beunruhigung, die in einem gewissen Alter jede hübsche Mädchenerscheinung im Jüngling hervorruft.
Inzwischen hatte Bruno die Welt gesehen, sich mit Schwierigkeiten herumgeschlagen und mit Gefahren gemessen. Nun kehrte er zurück in die alten Verhältnisse, mit erweitertem Gesichtskreise und gekräftigtem Selbstbewußtsein. Dazu war er ein zäher, kräftiger Mensch von ungebrochener Gesundheit. Das traurige Schicksal von Kurt Reimers mochte ihn gewarnt haben: er hatte sich drüben vor Ausschweifungen gehütet. Seiner tockneren, kühleren, phantasielosen Natur hatte die Versuchung dazu auch nicht so sehr auf dem Wege gelegen.
Und wie es bei Leuten zu gehen pflegt, deren Gefühlsleben unentwickelt, vernachlässigt oder zurückgedrängt ist, wenn einmal eine Leidenschaft sie packt, dann füllt sie sie auch bis zum Rande aus.
Bruno Knorrig fand die Jugendgespielin wieder als erwachsene Dame, die er »Sie« nennen, die er zeremoniell behandeln mußte, so fremd ihm das auch anmutete.
Er sah sie mit den Augen des jugendstarken Mannes, dessen Sinnlichkeit noch nicht erschlafft ist. Er sah sie mit dem Blicke Adams, dem unter allen Wundern des Paradieses als Letztes, Höchstes der strahlende Leib der jungen Eva entgegentritt.
Wie geblendet war er. Die Liebe kam über ihn wie ein Fieber, warf ihn gänzlich aus dem Gleichgewicht, verwandelte seine ganze Natur. Er, der Nüchterne, Hausbackene, wurde sentimental und schwärmerisch. Flügel wünschte er seinem Wesen zu geben, versuchte sich zu steigern, außerordentliche Eigenschaften in sich zu entwickeln. In solchen Farben wünschte er zu schillern, solche Töne anzuschlagen, die, wie er meinte, dem herrlichen Geschöpfe gefallen mußten, welches sein Sehnen so mächtig geweckt hatte.
Mit der Zeit konnte Brunos Seelenverfassung ihr nicht verborgen bleiben. Vielleicht wirkte es ungünstig, daß sie ihn von Jugend auf kannte. Dadurch wurde der Erkenntnis, daß er Mann sei, und daß dieser Mann sich für sie interessiere – etwas, das ein Mädchen niemals gleichgültig lassen wird – viel von der starken Wirkung genommen.
»Es ist ja nur Bruno Knorrig!« war Juttas häufiger Gedanke. Bruno war es, mit dem sie als kleines Mädchen bereits so manchen Strauß in Scherz und Ernst ausgefochten hatte. Als Liebhaber aber vermochte sie ihn nicht ganz ernsthaft zu nehmen. Aus seiner Männlichkeit leuchtete für sie immer noch die altbekannte Unbeholfenheit des Knaben hervor.
Herr Reimers sah, daß Bruno, so sehr er sich auch anstrengte, bis jetzt bei Jutta keine Gegenliebe erwecke. Eigentlich machte ihm die Sache Spaß. Obgleich er dem jungen Knorrig schließlichen Erfolg wünschte, stand er im Herzen doch auf Seiten der Tochter. Jutta imponierte ihm, wie sie überlegen und kühl den Bewerber kaltzustellen, wie sie sich seiner Annäherungsversuche geschickt zu erwehren verstand. Und dabei war sie eigentlich niemals schroff oder auch nur unhöflich gegen ihn. Wo hatte das junge Ding diese Sicherheit, diese Lebensart her? –
Eines Tages überraschte Jutta den Vater mit einem Wunsche. Sie wollte von Berchtesgaden fort; denn sie habe nun genug Motive aus dieser Gegend in ihrer Studienmappe angesammelt. Sie bat, sich nach einem Dorfe am Chiemsee begeben zu dürfen, wo sich Professor Wälzer mit seiner Malklasse für die Sommermonate niedergelassen hatte. Ihm wollte sie vorlegen, was sie in letzter Zeit geschaffen hatte. Sein Urteil sei für sie von höchster Wichtigkeit.
Juttas Wunsch fiel zusammen mit einem ähnlichen bei ihrem Vater. Auch Reimers fühlte das Bedürfnis nach Luftwechsel. Der Anblick der Berge, die er nicht bestieg, langweilte ihn. Mit seinem Kompagnon Knorrig tagein, tagaus zusammenzusitzen, von der Kaffeeernte zu sprechen und darüber, wann die nächste Revolution in Südamerika ausbrechen werde, seine Vermutungen zu äußern, nachmittags wiederzukäuen, was man im Handelsteile der Blätter frühmorgens gelesen hatte, wirkte auf die Dauer auch nicht gerade anregend. Vielleicht gab es am Chiemsee bessere Unterhaltung: die Aussicht, dort mit den jungen Damen von Juttas Professor zusammenzukommen, hatte für Herrn Reimers auch ihr Verlockendes.
Man reiste also. Vater Knorrig blieb in Berchtesgaden zurück, während Bruno einer Aufforderung von Herrn Reimers, ihn und seine Tochter auf der Fahrt zu begleiten, nur zu gern Folge leistete.
*
Am Orte angekommen, einem malerisch am Seegestade gelehnten Dorfe, wurde der Aufenthalt des Professors schnell ausfindig gemacht. Und während Herr Reimers und Bruno gingen, um Quartier zu suchen, begab sich Jutta in Begleitung eines Führers, der ihr die umfangreiche Mappe trug, nach dem großen, oben am Berghange gelegenen Bauernhofe, der den Professor mit seinen malbeflissenen Damen beherbergen sollte.
Jutta war voll Ungeduld, das Urteil ihres Lehreis zu hören. Wie die meisten talentvollen Anfänger, empfand auch sie ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung. Sie glaubte etwas zu können, aber dieses Bewußtsein genügte ihr nicht: die Welt sollte auch darum wissen, sie wollte berühmt werden. Der Ruhm, den sie sich innerhalb der Malklasse schnell erworben hatte, machte sie, statt sie zu sättigen, lüstern auf mehr.
Nun war als bitterer Tropfen in ihren Wein der Tadel ihres Lehrers gefallen. Wochenlang hatte sie nichts anderes erstrebt, von nichts Höherem geträumt, als dem Manne den Beweis zu liefern, daß er ihr unrecht getan. In Staunen wollte sie ihn setzen, er sollte überrumpelt werden, überwältigt sein durch ihre Leistungen, eingestehen, daß er sich geirrt habe.
Mit diesem Plane im Kopfe schritt sie siegesgewiß einher. Der Führer ging ihr viel zu langsam mit seinem bedächtigen Gebirgsbauernschritt. Sie spornte ihn zu größerer Eile an, lief ihm, als das keine Wirkung hatte, auf dem steilen Wege voraus.
Zunächst einmal freute sie sich auf die Überraschung der Damen, wenn sie, Jutta, die bewunderte Jutta Reimers, so ganz unerwartet auftreten würde. Sie war nämlich von Professor Wälzer ebenfalls aufgefordert worden, an dem Sommerkursus teilzunehmen, hatte aber abgelehnt. Ihrem Vater hätte das in seine Reisepläne nicht gepaßt, und außerdem hoffte sie, auch allein ganz andere Fortschritte zu machen und eine viel größere Ausbeute von Studien mitzubringen, als in Gesellschaft von soundsovielen Minderbegabten, welche die wirklichen Talente nur hemmten.
Sie kam gerade zur Mittagspause auf dem Bauernhofe an. Die Damen, ohne Hüte, hielten Siesta in ihren Hängematten: einige andere waren dabei, sich in einer Gartenlaube Kaffee zu bereiten. Die Kinder des Professors, der mit Familie hier war, spielten, mit Dorfkindern untermengt, vor dem Stallgebäude.
Jutta schritt sofort auf das Haus zu, da sie es vermeiden wollte, von den Kolleginnen angesprochen zu werden. Erst wenn sie ihren Triumph dem Professor gegenüber voll ausgekostet haben würde, sollte auch diesen vergönnt sein, Einblick in ihre Mappe zu erhalten.
Der Professor hielt sein Mittagsschläfchen »droben in der Logierstuben«, wie die Bäuerin dem Fräulein berichtete, und die Frau Professor sei bei ihm.
Jutta ließ sich anmelden. Es dauerte eine Weile, bis oben Leben wurde und der Professor, in Hausschuhen, ohne Kragen und Krawatte, schlaftrunken auf dem obersten Tritt der hölzernen Stiege seine Erscheinung machte.
Wälzer war als Künstler nicht übertrieben reich an Ideen, hingegen war er ein vorzüglicher Lehrer. Er erdrückte das Talent des Schülers nicht durch die Wucht seiner Eigenart, wie es bei genialen Lehrern vorkommt.
Von der Frauenmalerei hielt Wälzer im Grunde nicht viel. »Weibliches Genie« gab es für ihn nicht; er würde erst daran glauben, pflegte er zu sagen, wenn ihm eines begegnete. Den Malkursus für Damen hielt er ab, weil er ihm ein schönes Stück Geld einbrachte. Er hatte Renommee als Damenlehrer, und zwar aus einem höchst eigentümlichen Grunde: er war unmanierlich. Ärzte und Lehrer, die bei den Frauen etwas erreichen wollen, müssen grob sein. Der Zudrang zu seiner Malklasse mehrte sich von Jahr zu Jahr. Eigentlich langweilte ihn die Arbeit auf einem seiner innersten Überzeugung nach hoffnungslosen Gebiete.
Professor Wälzer starrte Jutta eine Zeitlang mit öden Blicken verständnislos an. Dann erst erkannte er sie.
»Jessas!« rief er, »de Fräulein Reimers! Das is gescheit! Haben Se sich's doch anders überlegt, wollen 's bei mir malen?«
Jutta mußte ihm erklären, daß sie nicht gekommen sei, um sich dem Kursus anzuschließen, sondern um sein Urteil über ihre Arbeiten einzuholen.
»Haben's gemalt? Auf eigene Faust! Wird was Rechts geworden sein! Na, lassen's mal sehn!«
Er fuhr sich mit den Fäusten ein paarmal durch das Haupthaar und über den roten Bart, was diesen auch kein wohlgepflegteres Ansehen verlieh. Dann öffnete er die Tür zur Logierstube. Eine korpulente Dame in loser Flanellbluse, seine Frau, entschwand schleunigst in die anliegende Kammer.
Jutta begann auszupacken.
»Blitz hinein!« rief Professor Wälzer, »das wird ja die reine Ausstellung! Wieviel Meter Leinwand haben 's denn da eigentlich vollgeschmiert? Sakra! Das is a Bescherung!«
Das junge Mädchen schwieg, rot vor Stolz auf ihre Leistung und vor Spannung auf die Anerkennung, die sie finden würde.
Der Professor nahm Blatt um Blatt vor, musterte jedes Stück mit jenem scharfen, kühlen Blicke, den Jutta an ihm kannte. Er war für gewöhnlich burschikos und manierlos, aber als Lehrer ernst und streng sachlich. Jutta wußte das, darum war ihr sein Urteil so wichtig.
»Hm!« machte Wälzer, sich stark räuspernd, als er den Inhalt der ganzen Mappe durchgesehen hatte. »Ich will vorausschicken, daß Sie sehr fleißig gewesen sind, Fräulein Reimers.«
Daß er für seine Verhältnisse so höflich war und hochdeutsch sprach, war für Jutta, die seine Angewohnheiten kannte, bedenklich.
»Aber wenn Sie sich einbilden, etwas erreicht zu haben bei der Pinselei da, dann täuschen Sie sich!« fuhr er fort. »Schade um die Arbeit! Schade um die viele Farbe! Wahrscheinlich sind Sie sehr stolz darauf, denken wunderweiß, was Sie geleistet haben! Sieht ja auch soweit ganz sauber aus: neunundneunzig von hundert Leuten werden finden, daß es etwas Echtes ist. Und ich sage Ihnen: es ist nichts! Originell haben Sie sein wollen! – Daß auf euch Weibsleut' nimmer kein Verlaß ist! Wenn mal eine a bisserl Talent hat, dann bild' se sich gleich ein, sie braucht nix mehr zu lernen. Ehrfurcht sollt's haben vor der Natur, Ehrfurcht! Ernst will's genommen sein! Aber ihr Damen studiert's immer, wie man die Natur wohl am End' a bisserl ausbessern möcht'. Flicken, ausputzen, zurechtstutzen, net wahr? Als ob man so a Stückerl Landschaft hernehmen könnt', es reinigen und zurechtschneiden wie a Kleid! A Berg is a Berg, und nicht a Kulisse! A Baumgruppe is a Baumgruppe, und nicht a Bukett von getrockneten Blumen. Und Felsen sind nicht von Watte oder Pappe. Denken Sie, mein Kind, daß man dem lieben Gott seine große Schöpfung nachmachen kann in ein paar Sommerwochen, und dann die ganze Geschichte nach Haus tragen in einer Studienmappe? – Was eine Schülerin im Atelier leistet, wie oft habe ich Ihnen das gesagt, ist mir gar kein Beweis für ihr Können. Im Freien zeigt sich der Meister, Hic Rhodus, hic salta! Da gilt es, sehen lernen, eindringen, schnell erfassen, disponieren, Wichtiges vom Unwichtigen unterscheiden, sich zur Enthaltsamkeit, Geduld, Bescheidenheit erziehen. Vor allem gilt es da, wahrhaftig sein. Ehrfurcht vor der Natur, ohne dem keine Kunst! Aber von dieser Bescheidenheit und Pietät kann ich in Ihren Sachen da nichts entdecken. Äußerlich ganz nett und flott sind die Bildchen. Aber gerade das sollte Sie bedenklich machen, mein Fräulein! Andere mögen dergleichen milde beurteilen: ich kann es nicht! Für mich gehört es in die Kategorie des Dilettantismus!«
Jutta hatte ihm zugehört, schweigend, mit großen Augen. Sie war wie erstarrt. Ganz deutlich hörte sie jedes Wort, aber sie fühlte sich nicht überzeugt.
Für sie galt es jetzt vor allem, sich keinen Ärger anmerken zu lassen. Ihr Lehrer sollte nicht sehen, wie enttäuscht sie sei, wie hart sein wegwerfendes Urteil sie getroffen habe. Eine furchtbare Blamage wäre das gewesen, und ihr Stolz haßte die Blamagen.
Voller Hast machte sie sich daran, ihre Sachen wieder einzupacken: alles durcheinander, wie es ihr gerade in die Hände kam. Der rotbärtige Professor ging inzwischen mit großen Schritten auf und ab und donnerte gegen den Dilettantismus im allgemeinen und gegen den weiblichen im besonderen.
Jutta war sehr blaß geworden, sie zitterte. Doch nahm sie sich zusammen, brachte es sogar fertig, zu lächeln, als sie jetzt auf ihren Lehrer zuschritt, ihm die Hand zu reichen und für seine Mühe zu danken. Im stillen wunderte sie sich selbst, wo sie die Kraft dazu hernahm.
Er mochte ihr die innere Erregung ansehen. Gutmütig, wie er im Grunde war, meinte er, es werde schon besser werden, wenn sie seine Regeln befolge. Sie solle den Mut nur nicht sinken lassen.
Trost! – Das hatte ihr gerade gefehlt! Als er sie aufforderte, mit ihm zu den Damen zu kommen, lehnte sie das hastig ab. Der Führer, welcher gewartet hatte, mußte die Mappe wieder auf den Rücken nehmen; so schritt sie aus dem Gehöft, stolzerhobenen Hauptes, als habe sie den größten Triumph hinter sich.
Ihr Vater und Bruno kamen ihr auf halbem Wege entgegen. Sie hatten Quartier gefunden.
Aber Jutta bat den Vater, nicht hier zu bleiben. Sie schlug anstatt dessen eine Fahrt ins Salzkammergut vor. Herr Reimers zeigte sich anfangs diesem Wunsche abgeneigt, den er für unbegreifliche Laune hielt. Aber Bruno, der mit dem Instinkte der Liebe die für ihn verbesserte Situation schnell erfaßt hatte, half dem Mädchen bitten.
Der Plan wurde also geändert. Man fuhr zunächst nach München, um sich mit neuen Kleidern für Bergtouren zu versehen. Jutta holte ihr Rad hervor, und auch Bruno besorgte sich eines. Mappe aber und Malutensilien wurden weggepackt wie etwas, das sie nie wieder in ihrem Leben ansehen würde.