Gunther Plüschow
Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau
Gunther Plüschow

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Hinter Mauern und Stacheldraht

Der englische Offizier beruhigte mich: »Seien Sie versichert,« sagte er mir, »Sie können heute noch in Gibraltar Ihren Schweizer Konsul sprechen; wenn der die Richtigkeit Ihres Pass bestätigt, dann sind Sie am selben Tage frei.«

Was es damit auf sich hatte, erfuhr ich nur zu bald. Die Dampfbarkasse rauschte dem Lande zu, und bald legte sie am inneren Teil des Kriegshafens an.

Zehn Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr standen an der Anlegestelle bereit. Einige kurze Befehle, die paar Sachen, die wir mitgenommen hatten, nahmen wir selbst auf den Buckel, dann mußten wir uns in zwei Reihen aufstellen, die zehn Soldaten umringten uns, und auf das Kommando »Quick marsh« setzte sich der traurige Zug in Bewegung.

Alles mit mir und um mich herum geschah wie im Traum. Ich war überhaupt kaum fähig, einen Gedanken zu fassen, so war ich niedergeschmettert.

Gefangen!

War es wirklich wahr? Gab es so etwas überhaupt?

Es war entsetzlich, unfaßbar! Wie ein Verbrecher wurde man hier entlang geführt, und wie Verbrecher wurden wir von der Bevölkerung, an der wir vorbeigehen mußten, angesehen. Die Soldaten trieben uns zur Eile an. Ich war 149 schwach zum Umsinken, da ich das Fieber noch nicht ganz überwunden und seit drei Tagen außer Chinin nicht das geringste in den Magen bekommen hatte. Die Sonne brannte auf die Felswände herab, und dann der seelische Zustand, die Hoffnungslosigkeit!

Trostlos!

Immer höher ging's durch schmale, erhitzte Gassen, bald verschwanden die Häuser unter uns, steile, nackte Felsen an beiden Seiten. Nach einer Stunde hatten wir die höchste Spitze des Gibraltar-Felsens erreicht. Kommandorufe erschollen, Drahthindernisse und eiserne Tore wurden geöffnet, dumpf schlugen sie wieder ins Schloß, Ketten und Riegel klirrten.

Gefangen!

Nun wurden wir zuerst zur Polizeiwache gebracht und einem Verhör unterzogen. Ich protestierte energisch und verlangte, umgehend vor meinen Konsul geführt zu werden, wie mir von dem englischen Offizier ausdrücklich zugesichert war. Ein bedauerndes Lachen war die Antwort. Ach, wir waren ja nicht die ersten, die so heraufgebracht waren und dasselbe Ansinnen gestellt hatten. Wie unendlich viele haben wohl hier oben gestanden und endgültig ihre Hoffnungen begraben müssen!

Jetzt begann die körperliche Untersuchung.

»Hat jemand von den Gefangenen Geld bei sich?«

Keiner antwortete selbstverständlich. Wir 150 mußten uns ausziehen, und jedes Kleidungsstück wurde eingehend auf Geld, Doppelgläser, Photographenapparate und besonders auf Schriftstücke untersucht. Ich kam als dritter an die Reihe, mein Hemd durfte ich anbehalten.

»Haben Sie Geld?«

»Nein!«

Der Feldwebel tastete an meinem Körper herum, plötzlich klimperte etwas in der linken Brusttasche meines Hemdes.

»Was ist das?«

»Ich weiß nicht!«

Nun griff er in die Tasche hinein, und was holte er heraus?: ein wunderschönes Zwanzigdollarstück aus bestem amerikanischem Golde und außer dem ein kleines Perlmutterknöpfchen, welches mich durch das Gegenschlagen gegen das Geldstück bei der Untersuchung verraten hatte. Ich sage ja, das hat man von der Ordnungsliebe! Hätte ich das Knöpfchen zwei Tage früher fortgeworfen, statt es sorgfältig aufzubewahren, wäre dies nicht passiert. Der englische Soldat freute sich, derlei Scherzchen schienen recht oft vorgekommen zu sein. Doch nun untersuchte er genauer. Und zu meinem Kummer holte er mir auch aus der anderen Hemdentasche und aus den beiden Hosentaschen noch je ein schönes Goldstück heraus; und dazu leider auch noch meine kleine Browningpistole, die mich nun schon so treulich all die Monate lang begleitet hatte.

Als ich fertig ausgeplündert war, durfte ich 151 mich wieder anziehen und zu den anderen Leidensgenossen in den Gefängnishof treten.

Dann ging's in unsere zukünftigen Quartiere. Etwa fünfzig zivilgefangene Deutsche empfingen uns mit lautem Hallo. Diese saßen schon seit Beginn des Krieges hier und hatten ihren Humor scheinbar vollständig wiedergefunden. Unsere neuen Kameraden luden uns gleich zum Essen ein, und wie die Wilden stürzten wir auf den von den Gefangenen selbst hergestellten Brotpudding.

Dann ging's an die Arbeit.

Erst mußten wir Kohlen und Wasser schleppen. Wir wurden ungefähr der Größe nach verteilt, und durch Zufall kam der schmierige Schweizer, vor dem ich mich auf dem Dampfer schon geekelt hatte, mit mir zusammen. Es stellte sich heraus, daß er auch Schlosser war, also denselben Beruf wie ich erwählt hatte.

Später, wo wir beide dann dauernd zusammen waren, korrigierten wir etwas unseren Beruf, und zwar waren wir dann nicht mehr Schlosser, sondern Schloßherr.

Damit übervorteilten wir keinen, und die Sache hatte vor allen Dingen den Vorteil der Billigkeit, und daß sie sich durch eine einfache Änderung in der Aussprache bewerkstelligen ließ.

Vorläufig aber schleppten wir noch Kohlen, und daß die einzelnen Kiepen nicht zu voll wurden, dafür sorgten wir schon. Wir waren ja auch so schwächlich!

Nachdem wir Kohlen und Wasser genügend 152 geschleppt hatten, empfingen wir unsere dreiteiligen Soldatenmatratzen, hart wie Stein, dazu zwei wollene Decken. Dann hatten wir für diesen Abend Ruhe. Das erste jetzt war das Waschen. Ich sehe die Szene heute noch.

Mein schmieriger Kollege von derselben Fakultät setzte sein Waschbecken neben das meine und zog in aller Seelenruhe sein Hemd aus. Donnerwetter, so viel Sauberkeit hatte ich doch nicht erwartet, und ich musterte ihn kritisch. Tadellos gewachsener Körper und sogar sauber, ja blitzsauber! Aber Kopf, Hals und Hände, brrr! Mitten im Waschen hörte ich plötzlich auf. Mein Gesicht wurde immer länger, mein Erstaunen war groß. Das Waschwasser meines Kollegen war schwarz wie Brühe, aber er? Das war ja ein ganz anderer, der jetzt neben mir stand. Die vorher schwarzen und schmierigen Haare leuchteten in hellstem Blond, das Gesicht war frisch und weiß und zeigte feine Züge, und die Hände waren schlank und wohlgebaut. Und, war es möglich? Quer über die Backen und über die Schläfen da zogen sich Schmisse, richtige, echte deutsche Studentenschmisse hindurch. Das Hallo, und das Gefrage und Erzählen, das nun folgte. Mein Kollege war ein echter deutscher Student gewesen, hatte jetzt in Amerika eine schöne Automobilfabrik sich gegründet und hatte dort drüben alles stehen und liegen gelassen, um als Reserveoffizier seinem Vaterlande zu helfen. Schnell schlossen wir uns aneinander an und sind treue, 153 unzertrennliche Freunde geblieben durch viele Wochen der Gefangenschaft, bis das Schicksal uns leider wieder trennte. Wir beiden Schloßherren waren aber bald bekannt.

Abends um zehn Uhr wurde Zapfenstreich geblasen, Licht aus in allen Räumen.

Ich hatte meine Schlafstelle an einem Fenster aufgeschlagen, welches bis dicht auf den Fußboden herunterreichte. Auf der Erde liegend konnte ich bequem aus dem Fenster heraussehen.

Der Tag hatte so viel Neues gebracht, jetzt erst kam ich zur Ruhe und zur Überlegung.

Die Kaserne, in der wir untergebracht waren, lag hoch oben auf der höchsten Spitze von Gibraltar, da wo die Felsen steil nach Süden zu ins Meer herabfallen.

Durch das Fenster erblickte ich jetzt tief unter mir das wunderbar blaue Wasser der Meerenge von Gibraltar.

Drüben, ganz fern am Horizont, grüßte fein und hell die Küste von Afrika herüber.

Da unten war die Freiheit, Schiffe fuhren hin und her, auf denen Menschen lebten, freie, ungebundene Menschen, die fahren konnten, wohin sie wollten, und – – – nicht wußten, wie wunderbar und kostbar Freiheit war!

Es war zum Wahnsinnigwerden!

Die Gedanken jagten sich, die Ereignisse des Tages zogen im Geiste an mir vorüber, und wenn ich daran dachte, daß ich jetzt auch dort unten auf 154 einem der Dampfer schwimmen könnte, dann hätte ich am liebsten aufbrüllen mögen vor Wut.

Ach ja, heute war ja der achte Februar, mein Geburtstag, den Tag hatte ich nur allerdings anders vorgestellt!

Wie ein Irrsinniger wälzte ich mich auf meinem Lager herum, und wenn ich nachsann, wie jetzt alles hätte sein können, was ich alles von diesem Tage erhofft hatte, und wie ich mir die Zukunft ausgemalt hatte, dann packte mich die wilde Verzweiflung, und vor ohnmächtiger Wut liefen mir die Tränen aus den Augen, ohne daß ich es verhindern konnte.

Sehnsucht, o du furchtbare Sehnsucht!

In dieser Nacht war ich nicht der einzige, dem es so ging.

Aus vier anderen Lagern sahen bleiche Gesichter heraus, weitgeöffnete Augen starrten zur Decke, und manch unterdrücktes Schluchzen biß sich in die Decken hinein. Am nächsten Morgen um vier Uhr wurden wir plötzlich alle geweckt. Die englischen Unteroffiziere gingen die Räume entlang, und es wurde der Befehl gebrüllt, daß alle deutschen Gefangenen sich sofort klar zu machen hätten, in zwanzig Minuten abzumarschieren und mit einem bereits klar liegenden Dampfer nach England zu fahren.

Nach England, das war doch gar nicht möglich, wir waren doch Schweizer, wir sollten doch heute unseren Konsul sprechen!

An der stoischen, unerschütterlichen Ruhe der 155 Engländer prallten alle unsere Versuche ab. Nun schnell alles zusammengerafft, und genau eine halbe Stunde später marschierten wir sechsundfünfzig Zivilgefangene, umringt von hundert schwer bewaffneten englischen Soldaten, in den leuchtenden Morgen hinein und den Felsen von Gibraltar hinab.

Aber daß unser Stolz nicht gebrochen war, das wollten wir den Engländern beweisen. Und schmetternd und hell, verstärkt durch die Wut, die in uns kochte, jubelte »Die Wacht am Rhein« und »O Deutschland hoch in Ehren« zum Himmel empor.

Unten lag ein riesiger Transportdampfer, bis an den Rand gefüllt mit englischen Truppen. Durch die Menge der Abschiedgebenden und der Abschiednehmenden wurde eine schmale Gasse gebahnt, und im Gänsemarsch liefen wir Spießruten. Doch das muß ich sagen, es gab niemanden, der uns belästigte, nicht einen einzigen, der uns etwas zurief. Stumm wurde uns Platz gemacht, stumm ließ man uns passieren, ja hier und da traf sogar ein Blick des Bedauerns und des Mitleids diesen traurigen Zug.

An Bord war vorne in der ersten Abteilung im Ladedeck notdürftig ein Raum gezimmert worden. Bänke und Tische und Hängematten waren vorhanden, alles wie an Bord eines Truppentransportschiffes.

In dem Raum befanden sich zwei Posten mit aufgepflanztem Seitengewehr, oben am Luck 156 standen ebenfalls zwei Posten, das Luck wurde von außen dicht gemacht und verschlossen, und drinnen saßen wir in der Falle. Die Bullaugen unseres Aufenthaltsraumes waren mit eisernen Blenden fest verschlossen, damit ja keiner von uns heraussehen oder womöglich aus einem geöffneten Bullauge Lichtsignale geben könnte. Nach kurzer Zeit schon ging ein leises Zittern durch das Schiff, die Maschinen setzten sich in Bewegung, und dann fing unser schwimmendes Gefängnis an, sich sanft und leise zu heben und zu senken.

Wir waren in freier See.

Tagelang ging es so weiter. Wir saßen streng bewacht, eingeschlossen in unserem Raum, einmal am Tage wurden wir hinaufgelassen und durften für eine Stunde frische Luft schöpfen. Eine recht primitive Bedürfnisanstalt war auf dem Vordeck aus ein paar Brettern zusammengeschlagen worden, und wer diese benutzen wollte, mußte sich beim Posten melden. Zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr geleiteten ihn dann und behielten ihn auch die ganze Zeit über im Auge. Mehr als einer gleichzeitig durfte dazu nicht an Deck erscheinen. Das Essen war gut, richtige Schiffskost, besonders gut war das Brot, die Butter und der überaus reichliche, vorzügliche Jam. Die Zeit vertrieben wir uns, so gut es ging, mit Lesen oder Erzählen, und vor allen Dingen wurde die Frage unserer Zukunft und das, was uns in England erwartete, lebhaft erörtert. Die beiden Posten, die ständig unten im Raum 157 standen, freundeten sich bald mit uns an, und wir haben den armen Tommies mit unseren Erzählungen, wie es an der Kampffront in Frankreich aussähe, ganz furchtbare Angst gemacht.

In der Biscaya bekamen wir sehr schlechtes Wetter.

Das war ein Zustand! Zu sechsundfünfzig in dem kleinen Raum eingepfercht, ohne Licht und Luft, und dazu der größte Teil seekrank. Am schlimmsten seekrank waren aber unsere englischen Posten und die Soldaten, die uns das Essen brachten. Sie boten ein Bild des Jammers. Als wir in die Nähe des Englischen Kanals kamen, bemächtigte sich eine allgemeine Nervosität und Unruhe der englischen Schiffsbesatzung. Täglich wurde Musterung mit Schwimmwesten abgehalten. Unsere Erholungsstunden an Deck fielen aus, und die englischen Soldaten hörten mit ihrem ängstlichen Gefrage nach unseren U‑Booten überhaupt nicht mehr auf. Was haben wir denen die Hölle heiß gemacht!

Endlich nach zehn Tagen lief der Dampfer in Plymouth ein. Als die Ankerkette rasselte und wir sicher vor U‑Booten in dem schützenden Hafen lagen, konnten wir durch die Schottür sehen, wie die englischen Soldaten auf die Knie sanken, und hörten, wie sie kirchliche Lob- und Danklieder sangen zum Dank für die Errettung aus deutscher U‑Boots-Gefahr.

Gleich nach der Ankunft kam ein Tender längsseit und nahm uns Gefangene mit 158 selbstverständlich der doppelten Anzahl der Bewachung auf und brachte uns an Land.

Auf die Ankunft so vieler Gefangenen schien man nicht vorbereitet zu sein. Die Engländer waren einfach kopflos. Kein Mensch wußte, was mit uns geschehen sollte, kein Mensch, der Rat schaffen konnte.

Endlich wurden wir in einen Zug verladen, ich selber kam allein in ein Abteil, rechts und links von mir und mir gegenüber je ein Unteroffizier mit aufgepflanztem Seitengewehr, die den strengen Befehl erhalten hatten, mich scharf zu bewachen. Der Grund zu dieser besonderen Ehre war folgender:

Als ich eingesehen hatte, daß es gänzlich ausgeschlossen war, daß ich jemals wieder freigelassen würde oder man mich als Schweizer anerkannte, hatte ich mich auf dem Dampfer ebenso wie die anderen Gefangenen dem führenden Offizier zu erkennen gegeben und verlangt, daß ich meinem Range entsprechend behandelt würde. Der englische Offizier erklärte mir, mich sofort in die erste Klasse aufzunehmen, wenn ich mein Ehrenwort geben würde, niemals einen Fluchtversuch zu machen und in diesem Kriege nicht mehr mitzukämpfen. Da ich dieses Ansinnen selbstverständlich mit Entrüstung ablehnte, wurde ich wieder in den Laderaum geschickt. Der einzige Erfolg war die strengere Bewachung.

Abends bei Dunkelheit kamen wir in Portsmouth an. Auf dem Bahnhof und auch sonst wußte 159 keiner, was mit uns anzufangen. Auch hier schien alles durch die ungeheuer große Gefangenenzahl (wir waren sechsundfünfzig Männekens) vollständig den Kopf verloren zu haben.

Schließlich wurden wir in das Arresthaus (ein etwas besseres Gefängnis) geschafft. Auch hier große Überraschung und Verwirrung. Das Arresthaus ist dazu da, betrunkene Soldaten und Matrosen, die nachts auf den Straßen oder im Lokal aufgesammelt werden, unterzubringen, um sie ihren Rausch ausschlafen zu lassen und dann am nächsten Tage, nach Verabfolgung einer gehörigen Tracht Prügel, ihren Kommandos wieder zuzustellen. Ein alter, widerlicher Gefängniswärter und zwei ebenso alte, aber gemütliche und biedere Soldaten hatten die Aufsicht. Auf drei Zimmer wurden wir verteilt. Die Räume waren vollständig leer, eine elende Gasflamme erhellte sie notdürftig. Die Fenster waren zum großen Teil zerbrochen, es herrschte eine grimmige Kälte, und die Kamine hatten selbstverständlich kein Feuer. Den ganzen Tag hatten wir nichts zu essen bekommen, und hungrig wie die Wölfe hatten wir uns auf die Abendkost gefreut.

Abendbrot? Auch nicht vorhanden!

Da gingen wir denn zu den beiden alten Soldaten, und in kurzer Zeit hatten wir mit ihnen Freundschaft geschlossen. Ein kleines Trinkgeld bewirkte Wunder. Die alten Knacker rissen sich fast die Beine für uns aus. Wir gaben ihnen Geld mit, und schon nach einer halben Stunde 160 keuchten sie schwer beladen mit Brot, Butter und Aufschnitt hinein. Zwei riesige Töpfe Tee, in Milch und Zucker gemischt, wurden aufgesetzt, Holzkohle konnten wir uns selber holen, und bald prasselte in allen drei Kaminen ein wundervolles Feuer. Die Eßvorräte waren ganz ausgezeichnet und so reichlich, daß selbst wir Ausgehungerten etwas übrigließen.

Verbrennen des Flugzeuges nach der Landung auf chinesischem Boden.

Unsere gute Laune erreichte ihren Höhepunkt, als die Soldaten uns einige englische Zeitungen zusteckten. Der geistige Hunger war ja noch größer gewesen als der körperliche, denn seit Wochen hatten wir nicht das geringste von dem, was in der Welt vorging, gehört. Wenn auch in den Zeitungen natürlich nur von englischen, französischen und russischen Siegen berichtet wurde, so wußten wir doch wenigstens, wo was los war.

Streng verboten war uns auch der Alkohol. Doch auch in England schien ein Verbot nur zum Übertreten da zu sein. Einer von unseren Posten war nämlich Mitglied einer in England und Amerika weit verbreiteten Freimaurerloge, in der zufällig auch mein Freund, der andere Schloßherr, Meister war. Als der Soldat das Freimaurerabzeichen im Knopfloch meines Freundes erkannte, da war die Freundschaft besiegelt. Im Erdgeschoß unseres Gefängnisses war eine kleine Kantine, und einer nach dem anderen von uns wurde von dem guten Logenbruder heruntergeführt, stärkte sich unten und konnte auch seine Tasche mit Bierflaschen gefüllt heraufbringen. 161

Das Beste war, daß unsere Posten, die mit aufgepflanztem Gewehr vor unserer Tür Wache gingen, uns ruhig weggehen ließen und uns gar baten, wir möchten ihnen einige Flaschen Bier mit heraufbringen. Um neun Uhr abends waren unsere Posten bereits so weit, daß wir mit ihnen zusammen Gewehrgriffe übten, um elf Uhr abends ließ der eine Posten sogar sein Gewehr fallen und kippte selber mit dem ganzen Kohlenkasten, auf dessen Rand er sich gesetzt hatte, um.

Wenn ich damals schon die Erfahrungen besessen hätte, die ich mir nach fünfmonatiger Gefangenschaft angeeignet hatte, ich wäre da schon ausgerückt.

Die Landung in Hai-Dschou (China).

Sowohl in diesem Gefängnis wie auch in allen anderen Lagern, wo wir mit den englischen Tommies zusammenkamen, war deren erste Bitte, nachdem wir uns etwas angefreundet hatten, ihnen einen Zettel zu überlassen mit unserer Adresse und womöglich noch der Adresse von Bekannten in Deutschland und der Bescheinigung, daß der englische Soldat Soundso uns gut behandelt hätte. Diese Zettel wurden von ihnen wie Heiligtümer aufbewahrt, damit sie sie vorzeigen könnten, wenn sie an die Front kämen und in deutsche Gefangenschaft gerieten.

Zum Schlafen erhielten wir winzige Zeltstrohsäcke, die so kurz waren, daß unten die Füße von den Waden ab herausragten, und so schmal, daß nur ein ganz geschickter Zirkuskünstler mit dem 162 Rücken darauf balancieren konnte. Dazu gab's zwei wollene Decken. Wie die Bären haben wir geratzt. Allerdings lagen wir am nächsten Morgen alle neben den Matratzen. Am nächsten Morgen, es war Sonntag, erschien ein hoher Armeeoffizier, um uns zu besichtigen. Er fragte nach unseren Wünschen. Ich berief mich nochmals darauf, daß ich Offizier wäre und als solcher das Recht hätte, zu verlangen, als kriegsgefangener Offizier behandelt zu werden. Der Mann war sehr liebenswürdig, versprach mir alles, wenn wir erst am nächsten Tage an unserem Bestimmungsort an gelangt wären, und – – hielt nichts.

Endlich am Montag wurden wir aus unserem Gefängnis befreit. Wie immer dicht umringt von unserer Wachmannschaft, marschierten wir zum Hafen, nahmen auf einem kleinen Dampfer Platz und fuhren auf die Reede hinaus.

Nach einer einstündigen Fahrt legten wir an einem riesigen Dampfer an, der als Gefangenenlager diente. Nach einer längeren Verhandlung mußten wir wieder ablegen, da der Kommandant des Dampfers erklärte, er wüßte von uns nichts und hätte außerdem keinen Platz. Bei dem nächsten Dampfer, es war der Cunard-Liner »Andania«, dasselbe Schauspiel. Ob nun der englische Offizier, der uns führte, ein englischer Major, besser schimpfen konnte als der Lagerkommandant, oder woran es lag, jedenfalls gingen wir nach einer halben Stunde an Bord. 163

Ein dicker aufgeblasener englischer Armeeleutnant, der die Stellung des Lagerkommandanten und gleichzeitig Dolmetschers auf diesem Schiff bekleidete, nahm uns in Empfang.

Als ich an der Reihe war, gemustert zu werden, brachte ich in höflichem Tone mein Anliegen vor und verlangte energisch, daß ich den Bestimmungen gemäß in ein Offizierslager gebracht würde. Die Antwort dieses Gentleman war unerhört und zeigte seinen gemeinen Charakter recht deutlich.

»Sie werde ich ganz besonders schlecht behandeln, ich habe schon von Ihnen gehört, Sie sind aus Tsingtau ausgekniffen und haben mehrere Male Ihr Ehrenwort gebrochen; wenn Sie noch einen Ton hier sagen, sperre ich Sie ein und lasse Sie so lange hungern, bis Sie überhaupt nicht mehr reden können. Die englischen Offiziere werden in Deutschland so schlecht behandelt, das sollen Sie jetzt büßen.«

Das waren mir nette Aussichten. Was sollte ich dagegen machen?

Auf dem Dampfer waren über tausend Gefangene. Die Unterbringung das Schamloseste, was ich jemals gesehen. Ohne Licht und Luft saßen die Leute in den unteren Räumen des Schiffes zusammengepfercht, und die einzige körperliche Bewegung bestand im Aufundablaufen auf dem schmalen Vor- und Achterdeck. Als wir in den für uns bestimmten Raum geführt wurden, packte mich ein wahres Grauen. Ich glaube, ich wäre verrückt geworden, hätte ich 164 da längere Zeit hausen sollen. Unser englischer Unteroffizier schien ein vernünftiger Mann zu sein. Ich hatte sogar das Glück, durch ihn mit meinem Schlosserkameraden eine kleine Kabine an der Bordwand zu erhaschen, die sogar ein Bullauge besaß. Das Leben an Bord war höchst eintönig. Morgens um sechs Uhr Wecken und abends um zehn Uhr Licht aus. Vor- und nachmittags mußten wir je zwei Stunden an Oberdeck herumstehen, und jeden Mittag war Appell. Die Mahlzeiten nahmen wir in den riesigen Speisesälen des Dampfers ein. Wir saßen zu zwölf an einem Tisch, und genau wie alle anderen ging ich meinen Stubendienst, holte aus der Kombüse das Essen für den ganzen Tisch und wusch auch das ganze Speisegeschirr mit ab.

Unser Kommandant hieß übrigens Maxstedt; er war Whiskyreisender von Zivilberuf und hatte dabei wohl so viel Geld verdient, daß er sich sein Offizierspatent kaufen konnte. Über eins hatte er sich besonders geärgert. Gleich nach unserer Ankunft wurden wir gefragt, wer von uns täglich zwei Mark fünfzig Pfennig bezahlen wolle. Dafür könnten die Betreffenden in einem Raum für sich allein und etwas Besseres essen und brauchten ihr Eßgeschirr nicht selbst abzuwaschen. Daß keiner von uns auf diesen Schwindel hineinfiel, hatte ihn besonders erbost.

Am zweiten Tage hatte ich meinen englischen Bericht an die englische Regierung fertig und stieg damit zum Herrn Maxstedt hinauf. Höhnisches 165 Grinsen seinerseits. »Sie wissen doch, Ihr Gesuch gebe ich weiter, aber was ich dazu schreibe, das können Sie sich wohl denken. In Deutschland müssen die englischen Generale wie die Pferde vor dem Pflug hergehen, das sollen Sie jetzt büßen.«

Es war vergeblich, ihn von der Torheit seiner Behauptungen zu überzeugen. Jeden Abend bei der Ronde nach dem Zubettgehen kam er extra in meine Kammer, drehte das Licht an und sagte: »Still here?« Zu kindisch!

Eines Tages wurde uns fünfzig Zivilgefangenen von Herrn Maxstedt befohlen, das Deck der ersten Klasse zu scheuern und die dortigen Bullaugen zu putzen. Unser Streik war selbstverständlich. Als wir bei unserer Weigerung blieben, wurden wir mit zweimal Mittagessenentbehren und abends um neun Uhr Zubettgehen bestraft. Dabei war der Maxstedt so feige, daß er nicht wagte, bei der Musterung an unserer Front vorbeizugehen und uns die Strafe selbst aufzubrummen. Vielmehr blieb er in respektvoller Entfernung und sandte nur seinen Unteroffizier als Herold.

Maxstedt schäumte.

»Natürlich,« sagte er, »ist wieder dieser flying man dran schuld, der stachelt noch die ganze Besatzung zur Meuterei auf, aber ich werd's ihm eintränken, ich werde ihn schon vor das Kriegsgericht bringen.«

Die Sache wurde mir doch zu bunt, ich war vollständig unschuldig und schrieb Maxstedt einen recht 166 energischen Brief, in dem ich unter anderem betonte, ich hoffte, er sei nur temporary lieutenant, nicht aber auch temporary gentleman. Das half!

Maxstedt behauptete, mit diesem flying man nichts mehr zu tun haben zu wollen, und schon nächsten Tage lag ein Dampfer längsseit und führte mich mit noch einigen Leidensgenossen der »Andania« und seinem gemeinen Gefängniswärter fort.

Wie wohl war mir da zumute! Mit der Eisenbahn ging es wieder stundenlang westwärts. Ich natürlich wieder in einem Kupee allein, diesmal außer den drei Unteroffizieren auch noch von einem Offizier bewacht.

Abends langten wir in Dorchester an.

Hier wehte eine andere Luft, das merkte man gleich. Ein englischer Kapitän namens Mitchell vom Gefangenenlager trat auf mich zu und fragte mich höflich, ob ich Offizier sei.

»Ja!«

»Dann wundert es mich aber sehr, daß Sie in ein Mannschaftslager gebracht werden. Bitte verzeihen Sie, daß ich Ihnen keinen Offizier zu Ihrer Begleitung stelle, ich gebe Ihnen aber meinen ältesten Feldwebel, wollen Sie dann bitte allein hinter den anderen Gefangenen hergehen.

Ich war sprachlos.

Als wir durch das entzückende, saubere Städtchen hindurchmarschierten, da erscholl plötzlich hinter uns frisch und hell und klar und mit Begeisterung geschmettert »Die Wacht am Rhein«, 167 dann schönste Soldatenlieder und »O Deutschland hoch in Ehren«. Wir wähnten zu träumen, und als wir uns verwundert umsahen, marschierte hinter uns ein Trupp von zirka fünfzig strammen deutschen Soldaten, die von dem Lager zum Bahnhof kommandiert waren, um unser Gepäck abzuholen.

O wie schwoll einem das Herz! Mitten in Feindesland trotz Wunden und Gefangenschaft diese helle Begeisterung, dieser schmetternde Gesang! Das muß ich den Engländern lassen, sie waren außerordentlich tolerant, und die Bevölkerung hat sich stets mustergültig betragen. Stumm stand sie dicht gedrängt zu beiden Seiten der Straße, aus allen Fenstern schauten blonde Köpfchen hervor, nirgends eine verächtliche Bewegung, nirgends ein Schimpfwort. Ja zum Teil schien man den alten deutschen Melodien wie einem Wunder zu lauschen.

Im Lager erhielten wir Zivilgefangene zu je dreißig eine kleine Holzbaracke angewiesen, die unseren Schlaf-, Wohn- und Eßraum bildete. Ein winziger Zeltstrohsack, der direkt auf dem Fußboden lag, und zwei wollene Decken bildeten unseren Schlafplatz. Mein Kapitän bat mich, mit dem zur Verfügung Stehenden vorlieb zu nehmen, da er leider für mich aus Platzmangel kein Extrazimmer frei hätte.

Das Lager von Dorchester faßte rund zwei- bis dreitausend Gefangene und bestand zum Teil aus alten Rennställen und aus Holzbaracken. In denselben Ställen hatten bereits vor hundert 168 Jahren deutsche Husaren gelegentlich des Besuchs des Feldmarschalls Vorwärts in England als Gäste gehaust!

Die Gefangenen fühlten sich hier sehr wohl, Essen war gut und reichlich, die Behandlung einwandfrei, und für sportliche Betätigung war gesorgt.

Besonders der Kapitän Mitchell und Major Owen haben sich um das Wohlergehen unserer Leute verdient gemacht. Beide waren prächtige alte Soldaten von echtem Schrot und Korn, hatten viele Kriege und Kämpfe mitgemacht und wußten den Soldaten richtig anzufassen. Diese beiden und der englische Arzt haben dann auch unseren Leuten eine Musikkapelle, Turngeräte und Sportspiele geschenkt und, wo sie konnten, den Leuten Gutes getan. Ein ganz hervorragendes Verdienst hat sich der älteste deutsche Gefangene, ein Feldwebelleutnant X. aus München, erworben. Er war Kaufmann von Zivilberuf und sprach fließend Englisch. Ein ganz hervorragender Mann! Eigentlich war er die Seele des Ganzen, die richtige Mutter des Lagers. Auch nicht das geringste wurde gemacht, was er nicht vorher bestimmt hatte. Er war die rechte Hand des englischen Lagerkommandanten, und ohne ihn wären, glaube ich, die Engländer, die auch nicht den leisesten Schimmer von Organisationstalent besaßen, vollends durchgedreht. Es war geradezu erstaunlich, wie dieser Feldwebelleutnant es verstand, für das 169 Wohlergehen unserer Leute zu sorgen und zwischen unseren Leuten und den Engländern zu vermitteln. Allerdings wußten auch die englischen Offiziere sehr gut, was für eine Stütze sie an ihm hatten. Schon am Tage nach meinem Eintreffen in Dorchester reichte ich nochmals mein Gesuch um Überführung in ein Offizierslager ein, denn wie ich vorausgesehen hatte, war mein erstes Gesuch von Herrn Maxstedt nicht weitergegeben worden. Nach vierzehn Tagen kam das Gesuch vom Kriegsministerium zurück mit der Anfrage, ob ich nicht jemand in England namhaft machen könne, der mich kenne. Nun entschloß ich mich zu dem schweren Schritt, schrieb meinen englischen Bekannten, und schon nach drei Tagen kam von ihnen die Nachricht zurück, daß sie mich kennten und mich sehr gern legitimieren würden. Nun ging das Ganze nochmals an das War office, und geduldig harrte ich meiner Versetzung.

Wenn es nach dem alten Spruch gegangen wäre: Mit Geduld und Spucke fängt man eine Mucke, hätte ich Milliarden dieser Fliegerkollegen erlegen können. Vorerst blieb ich noch in Dorchester, und als vierzehn Tage nach unserer Ankunft die übrigen Zivilgefangenen wieder weiter transportiert wurden, da konnte ich es erwirken, in dem Soldatenlager Dorchester bleiben zu dürfen.

Aus meiner Baracke zog ich aber aus und siedelte in ein Stübchen des Stalles über, in das ich vom Feldwebel N. liebevoll aufgenommen wurde. 170

Das Leben in diesem Stübchen war einzig und von bester Kameradschaft beseelt. Außer aus dem Feldwebel bestanden meine Kameraden aus einem riesigen bayerischen Infanteristen vom Leibregiment, der den Spitznamen Schorsch hatte und gleichzeitig unser Koch war, aus einem fixen und gewandten Husaren-Gefreiten, gebürtigen Lothringer, von Zivilberuf Schutzmann, und endlich aus zwei prächtigen Gardeschützen, hünenhaft von Gestalt, echten blonden Friesen. Nach acht Tagen kam noch ein siebenter Gast hinzu, und zwar war dieser der Fähnrich zur See H., der als Flugzeugbeobachter mit seinem Flieger von den Engländern in der Nordsee aufgefischt war, nachdem sie über vierzig Stunden auf dem wracken Flugzeug herumgetrieben waren.

Das Verhältnis auf der Stube war geradezu ideal. Die Mannschaften waren alle bei dem großen Rückzug nach der Marneschlacht gefangengenommen worden und, wie es bei diesen prächtigen Burschen nicht anders zu erwarten war, nur schwerverwundet in Feindeshand gefallen. Eine vornehme Gesinnung, eine Begeisterung und glühende Vaterlandsliebe besaßen diese Leute, daß mir vor Stolz ordentlich das Herz schwoll. Besonders nett waren die Abende. Man hätte uns nur sehen sollen, mit welcher Begeisterung und kindlichen Freude wir abends stundenlang auf einem selbst konstruierten Brett mit selbst hergestellten Korkenpferdchen unserem Pferdchenspiel oblagen. 171

Und wenn erst das Erzählen anging!

Alles war mir ja neu, und ich war glücklich, endlich aus bester Quelle von unseren herrlichen Kämpfen und Siegen etwas zu erfahren.

Jeden Nachmittag wurden drei bis vierhundert Gefangene, selbstverständlich von englischen Soldaten eng umgeben, spazieren geführt. Sehr oft bin ich mitgegangen. Es ging mitten durch das reizende Städtchen, dann im großen Bogen durch die schöne Umgebung. Die ganze Zeit über wurden Soldatenlieder gesungen, beim Hin- und Rückmarsch durch die Stadt mit besonderer Kraft und Begeisterung »Die Wacht am Rhein« und »O Deutschland hoch in Ehren«. Man stelle sich bloß vor, drei- bis vierhundert unserer besten Kerls, unserer Sieger unter General Kluck! Die englische Bevölkerung benahm sich auch hierbei stets einwandfrei. In dichten Reihen stand sie an den Seiten der Straßen, nirgends ein Schimpfwort, nirgends eine Drohung. Eine sehr nette Episode erzählte mir der Feldwebel: Als der Major Owen und Kapitän Mitchell neu zum Lager kommandiert waren, wurden sie von ihren Frauen inständigst gebeten, sich ja nicht ohne Bewachung und ohne schwerste Bewaffnung unter die deutschen Barbaren zu begeben. Die beiden alten Soldaten ließen sich jedoch in ihrer Meinung nicht irre machen, kamen ohne Waffen und wurden – – nicht aufgefressen. Nach einiger Zeit sagten sie zu ihren Frauen: sie sollten doch auch einmal in das Lager kommen und sich davon überzeugen, 172 daß die deutschen Soldaten nicht das wären, zu dem sie in englischen Zeitungen gemacht würden, sondern daß sie wirklich ganz normale Menschen seien.

Die Damen fielen natürlich zunächst in Ohnmacht. Nach vielem Zureden aber, und nachdem ihnen versichert war, daß sie von einer starken Wache umgeben werden würden, wagten sie es die Dienstzimmer ihrer Männer zu betreten und von oben aus dem Fenster herab dem Treiben der deutschen Soldateska zuzusehen. Der Besuch war bekanntgeworden, und stillschweigend hatte sich unser Männergesangverein unter der Leitung eines jungen talentierten Musikers unter den Fenstern eingefunden und fing an, seine schönsten Lieder zu singen. Die Damen sollen vor Ergriffenheit nicht fähig gewesen sein zu reden, sie traten ans Fenster und weinten bitterlich vor tiefstem Weh. Von nun ab kamen sie öfters, und viel Gutes ist durch sie unseren Leuten getan worden.

Eine andere Geschichte ist auch recht bezeichnend. Ein neuer Oberst kam ins Lager. Bei seiner ersten Besichtigung war er bis an die Zähne bewaffnet und hatte vor und hinter sich einen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Als er den Major und den Kapitän vollkommen unbewaffnet und unbegleitet traf, machte er ihnen wegen ihrer Unvorsichtigkeit die größten Vorwürfe.

Er hat sich aber bald gebessert.

An einem Tage ließ dieser neue Kommandant die beiden anderen Herren kommen und sagte 173 ihnen voll Entsetzen: »Ja denken Sie sich, da sind gestern einige neue Gefangene gekommen, und mir ist gemeldet worden, sie hätten Läuse! So was Schreckliches kann doch nur bei diesen Deutschen vorkommen.« Darauf drehte sich der Kapitän ganz ruhig zu dem daneben stehenden Major um und sagte ihm: »Sie, Owen, wissen Sie noch, wie wir beide das letztemal im Feldzuge so voller Läuse steckten, daß wir uns nicht rühren konnten?« Der Oberst war sprachlos. Ich muß allerdings hinzufügen, daß der Oberst zwar Oberst war, aber nie in seinem Leben irgendwo militärisch zu tun gehabt hatte. Das gibt's auch nur in England!

Gegen Ende März hielt ich endlich die erste Nachricht aus der Heimat in der Hand. Im Juli Neunzehnhundertvierzehn, kurz vor Ausbruch des Krieges, hatte ich von den Meinen die letzte Nachricht erhalten, die vom Juni stammte. Nun endlich, nach fast neun Monaten, wieder die ersten Zeilen.

Man kann sich vorstellen, wie mir zumute war, als ich den ersten Brief in der Hand hielt und anfangs zögerte ihn zu öffnen. Alle meine Brüder und Verwandten waren Offiziere, sie alle standen seit Kriegsbeginn im Felde; was für Nachrichten brachten mir diese ersten Zeilen? Die eine Freudennachricht enthielt der kurze Bogen, daß meine Brüder trotz Kampf und Gefahr am Leben waren. Aber auch eine Trauerbotschaft, die mich schwer traf, daß mein geliebtes holdes Schwesterlein, 174 mein treuester Freund und Kamerad, durch Wirkung des Krieges gestorben war.

Kriegsschicksal!

An einem der letzten Tage des März kam endlich der Befehl, daß ich als Offizier anerkannt worden wäre und in ein Offizierslager übergeführt werd sollte. Mein Bündelchen und mein Hockeystock waren bald zusammengepackt, und nach herzlichem Abschied von den braven Kameraden marschierte ich in meinem besten Päckchen mit dem Major Owen zusammen zum Tore hinaus und zum Bahnhof.

Das feine Taktgefühl des alten Haudegen hat mir besonders wohlgetan. Nach mehrstündiger Fahrt langten wir endlich in Maidenhead in der Nähe von London an, wo ich von einem neuen englischen Offizier in Empfang genommen wurde. Und hier, o Wunder, traf ich alte liebe Bekannte wieder. Fünf blanke runde amerikanische Goldstücke, die seinerzeit einem Schlossergesellen, später Schloßherrn Ernst Suse abgenommen waren, wurden meinem neuen Begleiter übergeben und dieser durfte sie mir jetzt, da ich ja nun wieder Offizier war, ohne weiteres aushändigen.

Die Wiedersehensfreude!

Im Auto ging's jetzt zum Offizierslager Holyport. Die Posten präsentierten, das Drahthindernis wurde geöffnet, und schon war ich von einer freudigen Schar von Kameraden umringt.

Ja, wer hätte das gedacht. 175

Sie, die ich fast vor dreiviertel Jahren in Tsingtau zum letzten Male gesehen hatte, die Sieger von Coronel, die wenigen überlebenden Tapferen von den Falklandinseln traf ich hier wieder. Die Freude kann man sich kaum vorstellen. Das Fragen und Erzählen! Kein Ende wollte es nehmen. Und dann geschah für mich ein Wunder. Ich wurde in mein Zimmer geführt, und da standen wahrhaftig sechs bis acht Betten, richtige schöne Betten, weiß und sauber bezogen. Fast acht Wochen war ich gefangen, nun das erste Bett, das ich zu Gesicht bekam. Kann man da verstehen, mit welcher Scheu und Andacht ich mich an diesem Abend hineinlegte?

In der ersten Zeit kam ich mir wie im Paradiese vor. Besonders da ich hier endlich wieder als Mensch behandelt wurde. Ich war wieder unter meinen Kameraden, fand liebe Freunde und viel geistige Anregung.

Die Behandlung im Lager war gut. Der englische Kommandant ein verständiger Mann, bemüht, uns das Leben zu erleichtern.

Das Gebäude selbst war ein altes Kadettenhaus, im ganzen waren hundert kriegsgefangene Offiziere im Lager, und wir waren auf Stuben mit bis zu acht oder zehn Offizieren untergebracht.

Diese Stuben waren gleichzeitig unser Schlaf- und Aufenthaltsraum. Außerdem gab es noch eine große Reihe von Messe-, Lese- und Speiseräumen, in denen wir uns, wenn wir nicht an der frischen Luft waren, meist aufhielten. Das Essen 176 war echt englisch, also dadurch den meisten Deutschen wenig zusagend, aber gut und reichlich. Es wurde eher dadurch verbessert, daß wir am Anfang eigene Meßführung hatten, welche später leider vom englischen War office aufgehoben wurde.

Den ganzen Tag über waren wir ziemlich ungestört. Wir konnten uns im Gebäude und in einem mäßig großen Garten, der das Haus umgab, frei bewegen; morgens um zehn Uhr Musterung und abends um zehn Licht aus und Ronde.

Dem Stacheldrahthindernis, welches das Ganze umgab und Tag und Nacht streng bewacht und beleuchtet war, durften wir uns selbstverständlich nicht nähern, geschweige denn dieses Gehege verlassen. Nur vor- und nachmittags wurde das Hindernis für uns geöffnet, und wir konnten durch ein Spalier von englischen Soldaten zu einem zweihundert Meter entfernt liegenden Sportplatz gehen. Für unseren Sport war mustergültig gesorgt. Zwei prachtvolle Fußball- und vor allen Dingen Hockeyplätze standen uns zu unserem ausschließlichen Gebrauch zur Verfügung, und wir haben da gespielt, daß selbst den Engländern die Augen übergingen. Daß auch dieser Platz selbstverständlich mit Stacheldraht und Posten umgeben war, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.

Sehr angenehm war es, daß wöchentlich zweimal ein sehr guter Schneider und ein Wäschelieferant mit vorzüglicher Wäsche in das Lager kam und es uns dadurch ermöglicht wurde, uns wieder anständig anzuziehen. 177

Als Gehalt bekamen wir monatlich einhundertundzwanzig Mark, wovon gleich sechzig Mark monatlich für unsere Verpflegung einbehalten wurden. Die übrigen sechzig Mark konnten wir für uns ausgeben, außerdem konnte man sich von Hause Geld schicken lassen. Die Post funktionierte tadellos. Die Briefe von Deutschland kamen im allgemeinen regelmäßig an und gebrauchten im ganzen sechs bis acht Tage. Pakete gingen ebensolange.

Mit unseren eigenen Briefen war es allerdings knapp bestellt. Wöchentlich durften wir nur zwei kurze vorgeschriebene Zettelchen schreiben, und wie gerne hätten wir dabei stundenlang unseren Lieben daheim erzählt! Die Briefpost, die war ja unser ein und alles. Nach der Briefausgabe berechneten wir die ganze Tageseinteilung, nach den Briefen richtete sich unser ganzer Seelenzustand, überhaupt hing die ganze Stimmung im Lager von der Post ab.

Jeden Morgen wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Wenn der Dolmetscheroffizier mit den Briefen kam, blieb alles stehen und liegen, alles war vergessen. Von einer lautlosen Menge Harrender war der englische Offizier umgeben. Jeder hatte in seinem Herzen den heißesten Wunsch, daß ihm der heutige Tag einen Gruß aus der Heimat, eine Zeile von lieber Hand geschrieben bringen möge. Und dann die Freude, wenn was da war, und die Trauer und Niedergeschlagenheit, wenn man mit leeren Händen abziehen mußte. 178 Im letzteren Falle sagten wir immer: »Wieder mal ein Tag verloren!«

Als ich rund zwei Monate später in Deutschland war und von vielen Seiten gefragt wurde, womit man dem Kriegsgefangenen eine Freude machen könne, habe ich immer nur gesagt: »Schreibt, schreibt, so viel ihr könnt; die Briefe sind das, wonach der Gefangene sich am meisten sehnt.«

Unser Zusammenleben war den Umständen entsprechend ein äußerst kameradschaftliches. Besonders nett waren die Abende, an denen wir in Gruppen um die schönen großen Kamine saßen. Mächtige Holzkloben brannten, und dann hub ein Erzählen an von Schlachten und Siegen, von Not und Tod und von wilden abenteuerlichen Erlebnissen. Viele gute Bücher, ein Streichquartett und ein Gesangverein, den wir uns gegründet hatten, trugen wesentlich zur Unterhaltung bei.

Auch mancher Ulk wurde getrieben, und wenn man sich endlich wieder einmal so recht herzhaft ausgeschüttet hatte vor Lachen, dann atmete man erleichtert auf, und für kurze Zeit wich dann der furchtbare Druck der Gefangenschaft von uns.

Unser kameradschaftliches Zusammensein wurde Ende April plötzlich gestört.

Eines Abends kam der Befehl, daß fünfzig von uns hundert Offizieren am nächsten Morgen zu dem Offizierslager in Donington Hall übergeführt werden sollten. Die Aufregung bei uns war groß, denn keiner wollte weg. Es half kein Bitten und kein Sträuben, es hieß einfach, Koffer 179 packen und abmarschieren. Der einzige Seeoffizier, der mit wegkam, war leider ich, und zwar auf besonderen Befehl des englischen Lagerkommandanten, da ihm die Nähe Londons für mich zu gefährlich schien.

Da ich fort kam, schloß sich auch der zweite Flieger von der Armee, mein treuer Freund Siebel, an. So blieben wir beiden Flieger wenigstens zusammen.

Am ersten Mai ging's also los. In Autos zu je fünf wurden wir zum Bahnhof Maidenhead gefahren, wo zwei Extrawagen für uns bereitstanden. In den Abteilen blieben wir ungestört für uns allein, die Wagen selbst wurden aber von Soldaten streng bewacht.

Stundenlang rollten wir nun durch die Gegend nach Norden zu. Die Menge auf den Bahnhöfen sah zwar neugierig in unsere Kupeefenster, jedoch verhielt sie sich vollkommen ruhig. Nur hin und wieder streckte uns ein altes Weib, wahrscheinlich Suffragette von Zivilberuf, ihre wenig schöne Zunge aus. Am Nachmittage langten wir endlich auf der Station Donington Castle, in der Nähe von Derby, an, stiegen aus und mußten in Gruppenkolonnen auf dem Bahnhof antreten. Umringt von zirka sechzig bis siebzig Soldaten, marschierten wir auf das Kommando »Quick marsh« ab. Außerhalb des Bahnhofs empfing uns eine johlende Menge. Fast alles Weiber und halbwüchsige Burschen und Kinder, nur wenige Männer. Den meisten von uns war von 180 Frankreich her dies unwürdige Benehmen der Bevölkerung reichlich bekannt, in England war es etwas Neues. Die Weiber und jungen Mädchen, der niedrigen Bevölkerung angehörend, benahmen sich wie die Wilden. Heulend und pfeifend liefen sie neben und hinter uns her, ab und zu flog ein Stein oder Straßenschmutz in unsere Reihen. Aber im großen und ganzen lachten sich die Demonstrantinnen halbtot dabei und schienen sich bei ihrem Gejohle köstlich zu amüsieren. Bei der ersten Straßenbiegung kam ein Automobil hinter uns her gefahren. Am Steuer faß fett und hochnäsig unser englischer Dolmetscher-Offizier, Mr. Meyer, den wir später noch zur Genüge kennenlernen sollten. Herr Meyer wollte sich uns so recht zeigen und schon – – – hatte er einen seiner eigenen Leute, die uns eskortierten, umgefahren. Ein allgemeines Geschrei und Geschimpfe, kein Mensch, der irgend etwas veranlaßte. Schließlich sprangen zwei von uns »Barbaren« hinzu und zogen den unglücklichen Tommy unter dem Auto hervor.

Nun richtete sich die ganze Wut der Weiber gegen Herrn Meyer, und wenn der nicht schleunigst weitergefahren wäre, hätten sie ihn womöglich noch verprügelt. Daß sie es nicht taten, war ein Jammer. Der Zwischenfall war bald vergessen, und weiter johlte die Menge. Immer frecher wurde sie, immer mehr Schmutz wurde auf uns geworfen, als plötzlich – ruhig und behäbig, mit gesenkten Köpfen nachdenklich wiederkäuend vier, 181 fünf Kühe uns entgegenkamen, die an beiden Seiten bei uns vorbei wollten. Was nun folgte, war so komisch, daß wir alle samt unseren englischen Tommies stehenblieben und uns vor Lachen bogen. Kaum daß die bisher so mutigen Weiber die Kühe sahen, fingen sie auch schon an, furchtbar anfzuschreien, machten kehrt und liefen in wildester Flucht davon. Rücksichtslos wurden die Schwächeren von den Stärkeren umgestoßen, und bald lag ein wild strampelndes Knäuel vor Angst kreischender Weiber zu beiden Seiten der Straße im Graben.

Von nun ab hatten wir Ruhe, und unbelästigt setzten wir in ziemlichem Geschwindschritt unseren Weg fort.

Bei dem ganzen Marsch paßte ich scharf auf die Wege und einzelne besonders markante Punkte auf. Man konnte ja nie wissen, wozu einem das mal gut sein würde!

Die Sonne brannte glühend vom Himmel herab, und in Schweiß gebadet langten wir nach anderthalb Stunden in unserem neuen Heim Donington Hall an.

Hier herrschte Disziplin.

Die Tore und Drahthindernisse öffneten sich, die ganze Wache stand unter präsentiertem Gewehr angetreten, der Wachtkommandant und zwei Leutnants auf dem rechten Flügel mit der Hand an der Mütze.

Nachdem wir vom englischen Lagerkommandanten empfangen waren, wurden wir auf unsere 182 Stuben verteilt, und es glückte mir, mit vier anderen Kameraden, darunter selbstverständlich meinem Freunde Siebel, eine sehr nette kleine Stube zu erhaschen.

Auch hier traf ich eine große Anzahl alter Bekannter wieder. Da waren die Geretteten vom »Blücher«, von Torpedobooten und kleine Kreuzern und mehrere Armee- und Marineflieger.

Donington Hall stellte das Mustergefangenenlager von England vor. Nach allem, was wir bereits wochenlang in englischen Zeitungen darüber gelesen hatten, mußte es ein Paradies sein. Täglich fand man spaltenlange Artikel in den Zeitungen, in denen die Regierung angegriffen wurde, daß sie die deutschen Gefangenen zu luxuriös untergebracht habe. Wie immer, so gebärdeten sich die Frauen dabei am wildesten und hatten sogar die Erzwingung der Räumung Donington Halls zu einer Frauenfrage Englands gemacht! Selbst das Parlament mußte sich wiederholt mit diesem Thema beschäftigen. Da sollten Spielsäle sein und mehrere Billards, das Gebäude wie ein Schloß eingerichtet sein, ein besonderer Wildpark sollte für die Offiziere gehegt und für die deutschen Gefangenen sogar Fuchsjagden veranstaltet werden.

Nichts von alledem war wahr. Wohl war Donington Hall ein großes altes Schloß, aus dem siebzehnten Jahrhundert stammend, umgeben von einem prächtigen alten Park, doch waren die Räume vollständig kahl und die Einrichtung so 183 primitiv und kümmerlich, wie nur irgend denkbar. Von Billard und Spielsälen und Fuchsjagden keine Spur. Aber tadellos sauber war alles, und dafür sorgte der englische Kommandant mustergültig. Nach unserer Ankunft waren wir im ganzen rund einhundertzwanzig Offiziere und wohnten schon dicht gepökelt. Das Lager war aber für vier- bis fünfhundert Offiziere berechnet worden. Das hätte ja eine feine Sache gegeben, da jetzt schon die Speiseräume und die Kochgelegenheit, Bade- und sonstige Einrichtungen nicht langten.

Besonders angenehm war der schöne Park für uns.

Unser ganzer Aufenthaltsraum war in zwei Zonen eingeteilt, in die sogenannte Tag- und in die Nachtgrenze. Diese Gebiete wurden begrenzt durch mächtige Drahthindernisse, die zum Teil elektrisch geladen waren, nachts durch mächtige Bogenlampen erhellt und Tag und Nacht durch Posten scharf bewacht wurden.

Das Drahthindernis der Nachtgrenze umschloß das Haus und die davorliegenden Tennis- und Sportplätze; die Taggrenze erstreckte sich auch noch auf den Park.

Abends um sechs Uhr war große Musterung, und nachdem alles anwesend und zur Stelle war, wurde die Taggrenze geschlossen, die sich erst am nächsten Morgen um acht Uhr wieder öffnete. Das Leben in Donington Hall war fast das gleiche wie in Holyport, nur daß wir hier durch den Park sehr viel mehr Bewegungsfreiheit 184 hatten, fast noch mehr Sport trieben, falls es überhaupt möglich war, und drei sehr gute Tennisplätze besaßen. Die Verpflegung war auch hier echt englisch und schmeckte sehr vielen nicht, aber gut und reichlich. Der englische Oberst war recht vernünftig. Zwar knurrte er oft und war ziemlich kommissig, aber ein vornehmer, verständiger Mann, tadelloser Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, und das war die Hauptsache. Er hat alles mögliche getan, um uns das schwere Los zu erleichtern, und hat sich ganz besonders für unsere Sportspiele interessiert. Und das war gut.

Ein unangenehmer Vertreter war der englische Dolmetscher, der Leutnant Meyer (der pampige Autofahrer), ein würdiges Gegenstück zu meinem Freunde Maxstedt von der »Andania«; ebenfalls nicht nur »temporary lieutnant«, sondern auch »temporary gentleman«. Er stammte aus Frankfurt am Main, war vor dem Kriege Schmierendirektor gewesen und tat nichts, um seinen niederen Charakter zu verbergen. Ich glaube, der englische Oberst verachtete ihn geradezu; und die englischen Sergeanten, mit denen wir gelegentlich einige Worte in der Kantine sprachen, sagten uns wörtlich: sie hofften sehr, daß wir nicht glaubten, daß alle englischen Offiziere so wären wie dieser Mr. Meyer.

Eines Abends gegen Ende Juni hatten wir ein köstliches Erlebnis. Draußen, außerhalb des Stacheldrahtes, war sehr viel Reh- und Damwild 185 oft in Rudeln bis zu Hunderten zusammen, die zahm wie die Ziegen herumliefen.

An diesem Abend nun lief ein allerliebstes kleines Kitzlein, welches seine Mutter verloren hatte, am Stacheldraht vorbei, und auf unser Locken und Rufen kroch es geschickt durch das Hindernis hindurch und gelangte in das Lager. Unsere Freude war groß. Geradezu eine Sensation für uns. Das Kitzlein wurde umringt und gestreichelt und geliebkost (die Jäger knurrten), und schließlich wurde es im Triumph auf den Armen eines Leutnants in die Burschenstube getragen, wo sich einer unserer Jäger befand, der es großziehen sollte.

Woher der Meyer davon Wind bekam, weiß ich nicht, jedenfalls ließ er sich plötzlich den deutschen Lageradjutanten kommen, und mit vor Schrecken bebender Stimme fragte Meyer:

»Leutnant S., ist es wahr, es ist ein Tier im Lager?«

»Ja, ein Tier!«

»Und ist durch das Stacheldrahthindernis gekommen?«

»Ja, es ist einfach durchgekrochen.«

»O, das ist ja schrecklich!« meinte Mr. Meyer, und dabei schien ihm die Stimme zu verlöschen.

»Ich muß gleich sehen, wo das Loch ist, wo das große Tier hindurchgekrochen ist, sicher haben die deutschen Offiziere den Stacheldraht zerschnitten, um zu fliehen; das Tier muß auch sofort entfernt werden!« 186

Und so geschah es.

Und, es ist kein Scherz, zwanzig Mann der Wache mit aufgepflanztem Seitengewehr wurden gepfiffen, der eine deutsche Soldat mit dem unschuldigen winzigen Kitzlein wurde von ihnen in die Mitte genommen, und auf »Quick marsh« marschierte der ganze Zug zu dem inneren Tor des Hindernisses. Dann wurde dieses geöffnet, die zwanzig Mann mit dem einen deutschen Soldaten und dem Kitzlein traten in den Zwischenraum, die sogenannte Schleuse, das innere Tor wurde sorgfältigst abgeschlossen, dann erst das äußere geöffnet, der Soldat mußte das Kitzlein ins Freie setzen, und dann wurde die ganze Prozession zurückgemacht. O, Mr. Meyer, wie hast du dich blamiert!

Nun wurde das ganze Hindernis sorgfältigst untersucht, und trotzdem nicht die geringste Lücke gefunden werden konnte, wodurch ein Mensch hätte kriechen können, wollte Meyer sich tagelang nicht beruhigen.

Außer der Post bildete täglich der Zeitungsempfang den Hauptmoment des Tages. Die »Times« und »Morning Post« durften wir uns halten, und wenn sie auch fast nur von Ententesiegen berichteten, so kannten wir die Zeitungen bald so gut, daß das, was wir zwischen den Zeilen lasen, uns ein ungefähr genaues Bild der Sachlage gab.

Und die Wut in den Zeitungen, als die »Lusitania« sank, und der Ärger, wenn die Russen, 187 selbstverständlich nur aus strategischen Gründen, weiter zurückgingen!

Wir hatten mehrere riesig große, bis ins kleinste genaue Karten der Kriegsschauplätze angefertigt, und jeden Morgen um elf Uhr waren unsere »Generalstäbler« bei der Arbeit und steckten die Fähnchen um. Und oft stand selbst der englische Oberst davor und schüttelte bedenklich den Kopf. 188

 


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